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Der Kaufmann und Stadtverordnete Richard Muth kam von seinem in der unteren Stadt gelegenen Geschäft nach Hause. Er wohnte auf dem Schloßberg, wo längst kein Schloß mehr stand und wo um einen kleinen Platz uralte stattliche Häuser, nur von einem mächtigen viereckigen Uhrturm überragt, sich mit ihren Seitenteilen in dunkle enge Gassen zogen. Eine nicht allzubreite Straße ging in Windungen den Berg hinab, sonst führten nur Treppenwege oder im Zickzack laufende schmale gepflasterte Gassen hinunter, mit merkwürdigen Durchgängen durch alte Häuser und Höfe, in denen hier und da ein einsamer Baum stand.
Als Muth seine Wohnung betrat, fand er Frau und Kinder noch nicht zu Hause, und er ging in mancherlei Gedanken durch die dämmernden Zimmer. Er war mittags besonders gut gelaunt gewesen und war jetzt verstimmt; irgendein Eindruck des Geschäftstags, eine halbbewußte Erinnerung, vielleicht der Mann im Lederanzug, den er am Bahnhof gesehen, war die Ursache.
Allein in der Wohnung, öffnete er die Türe zu einer der meist unbenutzten Prunkstuben auf der Westseite; durch die Fenster sah er über Dächer und Gärten in die weite, im letzten Abendschein verdämmernde Ebne mit grünen, violetten und rötlichen Lichtern, fernen Kirchtürmen in gelbem oder silberblassem Duft. Schritt er nach der andern Seite des Hauses, so sah er in düstere, bereits halb nächtliche Gassen, die schnell von den Häusern am Platz, wo ansehnliche Leute von sauberem Ruf und in sauberem Tuch gleich ihm wohnten, in eine üble, viel zu nahe Gegend und in üble Erinnerungen führten.
Öfters in letzter Zeit, wenn der Spiegel ihm ein verdrossenes Gesicht zeigte, wenn er die zu früh ergrauenden Spitzen in seinem dichten braunen Bart sah, fragte er sich, ob das Leben schön oder nicht schön gewesen, und die Antwort fiel verschieden aus, je nachdem er sich an einem sonnigen Morgen oder in schlaflosen Nächten fragte, oder je nachdem er gerade einen Erfolg oder einen Verdruß hinter sich hatte. Eine Buchführung, in der die Saldi nie stimmten! Daß er gescheiter war als mancher andre und die Dinge sah, wie sie waren, nicht wie man sie darstellte, gab man im Stadthaus wie in den Geschäftsstuben zu. Das meiste, was er sich gewünscht, hatte er erreicht, aber, wie bei gewissen Käufen, nie ganz so, wie er es sich gewünscht hatte; zu spät, entwertet, oder mit zu viel Mühe erkauft. Das Leben war ein unverläßlicher Lieferant.
Er sah auf die Uhr und fragte sich, wozu er mit inneren Bilanzen die Zeit verlor. Manches war gut im Leben. Er brauchte nur der Kinder zu denken. Und wenn die Sache mit den Grundstücken, die er zusammen mit Jacob Cortier erworben hatte, gelang, dann konnte Charlotte sich einen Wagen halten, reisen, Brokatkleider kaufen, wie Frau Roos sie trug. Ob sie sich nicht zu jung anzog? ... Sie war reichlich zehn Jahre älter als Frau Roos. Sie war voller geworden, aber noch immer hübsch, sie konnte noch sehr jung aussehen ...
So umhergehend, dies und jenes zurechtrückend, denn er liebte eine vollkommene Ordnung, war er in die kleine Stube gekommen, die neben dem Wohnzimmer lag, und hatte sich in dem breiten alten Lederstuhl unter dem runden Spiegel niedergelassen. Durchs Fenster zwischen den offenen Vorhängen konnte er in dem geringen Licht, das von der trüben Laterne unten in der Gasse heraufkam, dicht gegenüber die großen dunkeln Fenster der alten Tanzschule sehen, wo der Justizrat Madrich seine Bureaustuben hatte. Wo jetzt Registraturen und Aktenschränke in staubiger Finsternis standen, hatten die Hängelampen gebrannt und die Paare sich gedreht, als er, als sie alle jung gewesen waren ... Und nun wußte er plötzlich, an wen der Mann im Lederanzug ihn erinnerte, der an dem Auto vor dem Bahnhofshotel gestanden und ihn, als er neugierig nach dem Auto geblickt, so scharf gemustert hatte. Es waren dieselben kalten blauen Augen mit dem starren angreiferischen Blick, die selbe Art, das Gesicht langsam auf dem Halse zu wenden, wenn er jemanden ansah, wobei er Kinn und Unterlippe höhnisch vorschob. Jedenfalls sah er jetzt dieses Gesicht, und die Erinnerung jagte den Ärger, der seit der Begegnung heute nachmittags in ihm gegärt hatte, klar herauf. Die alte Zeit stieg herauf. Die Lampen brannten drüben, und die Paare drehten sich. Er sah seine Frau als Mädchen und sah, wie ihre Augen leuchteten, wenn der Kranich, – so nannten sie ihn, seit ein Lehrer ihn so genannt hatte, weil er Lütke hieß, – auf sie zukam, um mit ihr zu tanzen. Alle Mädchen waren mehr oder minder in ihn verliebt gewesen. In Neters Konditorei, im Stadtgarten, an den Haustüren in der Dämmerung waren sie mit ihm gesehen worden, die Schwestern den Brüdern entwertet, die Angebeteten den Bürgersöhnen weggelockt, von einem, aus dem nichts geworden war, als ein elender Advokaturschreiber, der zuletzt die Stadt verlassen mußte. Daran dachte er mit einer gewissen Befriedigung. Die Mädchen hatten ihre Liebeleien vergessen und, eine nach der andern, geheiratet. So war er zuletzt der Sieger gewesen und hatte zur Frau bekommen, die er von Anfang an begehrt hatte. In der Erinnerung winzig verkürzt zogen die achtzehn Jahre seiner Ehe an ihm vorüber. Eine tüchtige, eine gut aussehende, eine angenehme Frau. In manchen Dingen zog man an den entgegengesetzten Enden eines unsichtbaren Stranges; und sie wußte ihn still, aber unnachgiebig nach ihrer Seite zu ziehen. Ihre Stimme konnte hart klingen, wenn sie gereizt war. Und nie hatten ihre Augen ihm so geleuchtet, wie er sie dem ... dem Kranich entgegenleuchten gesehen, auf dem alten Tanzboden vor ihm, wo die Akten im Staube schliefen. In gewissen Stunden kehrte der peinliche Gedanke wieder, der nie ausgesprochen wurde.
Die Zimmer drüben waren jetzt hell, und zwischen den Schränken mit den blauen und braunen Bündeln vergilbten Papiers drehten sich die Paare; deutlich hörte er die Musik. Da war Grete Hüskind, deren weiße Haut so verführerisch aus dem armseligen Kattunkleidchen hervorsah und deren dunkle Augen beständig sprachen. Er, Richard Muth, führte sie und bot ihr Kuchen an; er ging mit ihr die dunkle Gasse hinab, die immer enger wurde ...
Er war wirklich eingenickt. Und was er geträumt, war vorgekommen; er hatte Grete Hüskind geküßt, als sie gerade von Lütke enttäuscht war, aber das zählte nicht. Er war heute in einer der engen Gassen an dem Branntweinladen Max Hollsiefers vorübergekommen, den die Grete geheiratet hatte; er hatte im Fenster die bunten Flaschen und drinnen ihren Mann stehen sehen, gedunsen, Bartstoppeln unter den trüben, geröteten Augen. Von der Frau sprach man schlecht. Der Weg der beiden Hollsiefers und der Lütkes war abwärts gegangen, seiner aufwärts. Und so war es recht. Es konnten nicht alle Menschen in klaren und geordneten Verhältnissen leben, wie es richtig und maßgebend war. »Sauberes Tuch und sauberer Ruf«, wie sein Schwiegervater, der verstorbene Stadtrat Weihlich zu sagen pflegte. Um den Schloßhof, hinter dem Dom, am Rathausplatz, oder in einzelnen alten Häusern abseits, wohnten die Cortiers, die Madrichs, Weihlichs, die Berneckers und andere altsässige Familien, zu denen er mit Bewußtsein die seine zählte.
»Da bist du, Richard, im Dunkeln?« sagte eine Stimme, als die Türe aufging. Er drehte rasch das Licht an. Seine hübsche Frau im schwarzen Federhut stand vor ihm, und wie aus den unangenehmen Traumbildern in angenehmste Wirklichkeit getreten, neben ihr seine blonde siebzehnjährige Tochter, die genau so aussah, wie seine Frau damals ausgesehen hatte, und die jetzt liebevoll die Arme um seinen Hals legte. Sein Sohn trat mit einem Scherzwort ein; das Mädchen rief zum Abendbrot, und um den weißgedeckten Eßtisch, hinter den hüllenden Vorhängen, saß er gutgelaunt inmitten seiner zufrieden fröhlichen Familie.
Zwei Stunden später stand er mit seiner Frau unten auf dem Platz, um mit ihr, wie sie es allwöchentlich an diesem Abend zu tun pflegten, zu seinem Schwager Weihlich zu gehen. Da tönte ein Prusten und Rattern, ein heller Schein glitt blendend über den Platz, der dunkle große Wagen kam an ihnen vorbei, wendete und hielt im bescheideneren Licht der Laterne vor dem Hause des Justizrats Madrich. In dem Wagen saß, wie er sofort erkannte, neben dem Fremden vom Bahnhof der Bürgermeister Roos. In unwillkürlicher Neugier traten Muth und seine Frau näher, als die beiden ausstiegen. Der Fremde sprach mit dem Fahrer; seine kalten blauen Augen fielen auf das Paar; er schritt um das Auto herum, trat näher: »Herr Muth?« sagte er herzlich, und Muth fühlte seine Hand so heftig gepreßt, daß er fast geschrien hätte. »Ich bin Heinz Lütke. – Gnädige Frau!« und er beugte sich küssend über ihre Hand, die er emporhob und die sie fast erschrocken zurückzuziehen suchte. »Wir sehen uns noch«, fügte er hinzu und folgte dem Bürgermeister, der, den Hut lüftend, herübergegrüßt hatte, ins Haus.
»Das ist doch merkwürdig« sagte Muth – nicht mehr, und seine Frau kein Wort. Sie hatten nur zwei Straßen zu ihres Schwagers Haus, das ebenso alt und giebelig mit schmaler Fensterfront am Uhrturm lag. Und obwohl sie solch eine Neuigkeit mitbrachten, erwähnte keiner von ihnen diese erstaunliche Wiederkehr. Sie hörten aber auch schon in dem niedere Vorzimmer des Schwagers laute Stimmen aus dem Innern und fanden alle in einem heftigen Gespräch darüber, daß der neue Stadtbaumeister Krenger behauptet hatte, die alten Häuser auf dem Schloßberg wären baufällig oder würden es in kurzem sein. Er bewies es aus Veränderungen im Gestein oder Rutschungen im Erdboden. Der Stadtbaumeister war von draußen gekommen, ein Fremder, und wollte zu tun haben oder sich wichtig machen. Die alten Häuser der untern Stadt waren feucht und brachten ihren Bewohnern Rheumatismus; hier oben wohnte man gesund, und keinem Hausbesitzer konnte solche Gefahr gefallen oder einleuchten, die einen völligen Umsturz in ihrem Leben bedeuten mußte. Noch auf dem Heimweg sprachen sie darüber.
Auf dem Platz vor ihrem Hause, der jetzt in völliger Nacht lag, verstummten sie. »Diese Wiederkehr ist ja sehr merkwürdig«, sagte Muth an der gleichen Stelle wie vordem, und es lag eine Art Urteil in seinen Worten.
»Ja«, sagte seine Frau, aber ihr Ton war sanft und nachdenklich. Sie stiegen die Treppe hinauf.
»Er scheint es zu etwas gebracht zu haben, wenn es nicht eben Schein ist«, bemerkte er, während er die Wohnungstür aufschloß.
»Wir wollen nicht gleich das Schlimme denken« erwiderte Charlotte, und es verdroß ihn. Vor Jahren hatte er sich oft und scharf über den Niedergang dieses Burschen geäußert; seine Frau hatte nie etwas wesentliches darauf erwidert und das Gespräch gleichsam erlöschen lassen, und auch das hatte ihn geärgert. Es war eine wunde Stelle; die Zeit hatte den Flugsand ihrer Alltäglichkeit darüber gebreitet, aber was unter Sand begraben ist, wird leicht bloßgelegt.
Es war dunkel im Zimmer, und lange wußten beide, daß keiner schlief. Der Mond schien durch die Gardinen, als Muth erwachte und das gleichmäßige Atmen seiner Frau hörte; er stützte sich auf den Ellbogen und beobachtete sie. Unter seinem Blick wurde sie unruhig und fuhr mit dem Wort »Bist du's?« auf, ohne zu erwachen. »Du!« sagte sie nochmals und warf sich auf die andre Seite. Er grübelte, aber seine Gedanken nahmen eine neue Richtung: er fragte sich, warum der Bürgermeister im Auto gewesen und was beide so spät bei Madrich wollten. Darüber sann er fruchtlos, bis er wieder einschlief.
Am nächsten Tag hörte er mit mißtrauischem Lächeln Gerüchte und Erklärungen; dann scholl und hallte das Ereignis durch die Stadt wie eine Fanfare. Bürgermeister Roos gab dem Heimgekehrten ein Abendessen, zu dem Muth und seine Frau geladen waren. Beim Betreten des Empfangsaals im Rathaus sah er Jacob Cortier, d«n reichsten Mann der Stadt, mit seinem kahlen eiförmigen Kopf, neben dem kleinen breitschultrigen Justizrat Madrich stehen, der den schwarzgeränderten Kneifer über der großen Nase zwischen den ergrauenden Kotelettes befestigte, die außer ihm niemand mehr trug, während der Stadtbaumeister Krenger, gleich ihnen im Frack, Haar und Bart seines blonden Künstlerkopfs vorgesträubt, mit großen Armbewegungen auf sie einsprach. Beide suchten sich von ihm zu lösen und nach der Mitte zu kommen, wo der Bürgermeister mit dem Ehrengast des Abends stand. Bürgermeister Roos war ein Fremder und noch sehr jung, aber so tüchtig und beliebt und angesehen, daß die Stadt ihn zu verlieren fürchtete. Seine Frau war nicht eigentlich schön, aber anmutig und von gewinnender Liebenswürdigkeit, besonders gegen die Damen der Stadt, ohne je intim zu werden. Die Damen achteten darauf, wie ihr Tisch gedeckt und geschmückt, wie serviert wurde, wann und wie sie empfing und wie sie sich anzog. Die Jacken wurden lang und die Ärmel breit, weil sie es so trug, die Schneiderinnen mußten sich darnach richten oder beriefen sich auf sie.
Lütke führte Frau Roos zu Tische; er sah sofort, daß sie die einzige tadellos gekleidete, wirkliche Dame hier war, sagte es ihr mit seinem ersten Blick; sie war überaus liebenswürdig gegen ihn und ließ ihn nicht nahekommen. Man erfuhr später, daß sie gesagt hatte: »Das ist ein sehr interessanter Mensch und eigentlich schön, aber ich möchte nicht mit ihm allein sein!« Er war Mittelpunkt der Neugier; alle Herren hatten sich ihm vorstellen lassen; niemand schien ihn zu kennen ... Keine Brücke führte von dem vergessenen Advokaturschreiber zu dem Fremden, der heute gefeiert wurde. Die es noch nicht wußten, erfuhren aus der Rede des Bürgermeisters auf seinen Gast, daß er einer der Direktoren einer der größten Banken des Reichs war; die unwiderstehliche Gewalt des Geldes stand hinter ihm. Aber die kalten blauen Augen hatten das gleiche Lächeln, das jetzt das einer selbstbewußten Liebenswürdigkeit zu sein schien. Er machte den Damen den Hof, »oder vielmehr sie ihm« wie Muth ingrimmig bemerkte; in den witzigen, scheinbar ergebenen Worten, die er an sie richtete, blitzte eine aufreizende Überlegenheit. Durch ihre kleinstädtische Eleganz, die er mit einem Blick abtat, sah er ihre verhüllten Formen unverhüllt, und sie fühlten beides, verletzt oder geschmeichelt. Als man vom Essen aufstand, wendete er sich sehr freundlich an Richard Muth, der karg und trocken antwortete und nicht zu gewinnen war. In seiner Erwiderung auf die Rede des Bürgermeisters hatte Lütke nur Allgemeines gesagt, dem Bürgermeister gedankt, sein Wirken hervorgehoben, von den Aussichten und Möglichkeiten gesprochen, die sich dieser Stadt, seiner Vaterstadt böten, die einzige Anspielung, die er auf die Vergangenheit machte. Als Muth seinerseits halb ironisch zu forschen suchte, sah der andre ihn rasch und scharf an und bat, daß er ihn in seinem Hotel aufsuchen möge. Unwillkürlich, unter seinem Blick, bestimmte Muth die Zeit, und mit einer Entschuldigung wendete sich Heinz Lütke zu Frau Muth, die geduldig neben ihrem Manne gestanden und gewartet hatte. Er sprach lange mit ihr, und ihre Stimme schien leise zu zittern; sie trug ihr bestes Abendkleid, das die volle schöne Büste frei ließ, und sie hatte sich anders frisiert, so daß heute, was sie sonst nicht zu kümmern schien, kein graues Haar zu sehen war. Ihrem Manne war es nicht aufgefallen, aber die Frau des Schwagers hatte es sogleich gesehen, und unterließ es nicht, eine Bemerkung darüber zu machen.
Man brach beim Bürgermeister früh auf, und die meisten gingen noch in den Rathauskeller. Muth, der eigentlich nach Hause gewollt, sah sich mitgezogen. An dem Holztisch des Bürgermeisterstübchens bei dem berühmten Deidesheimer des Kellers sprach Lütke fast allein; die andern lauschten gespannt, wenn sie auch hinter den weinfröhlichen Gesichtern eine gewisse innere Zurückhaltung und das Bewußtsein eigener Schlauheit und patrizischen Mehrwerts bewahrten. Das Abenteurerleben in drei Weltteilen, das er andeutete, imponierte und galt doch als minderwertig. Er war in Marokko, in den niederländischen Kolonien, in Amerika gewesen; hatte Sturme auf dem Meer erlebt und nächtliche Einbrecher im Hotel, war gefährlichen Tieren und noch gefährlicheren Menschen begegnet; er erzählte, wenn man ihn drängte, kurz und kühl, ohne zu prahlen; er ließ nur das Ungewöhnliche ahnen. »Wenn man drin ist,« sagte er, »ist es wie ein Traum, und wenn es vorbei ist, wundert man sich, daß man noch am Leben ist.« Und ganz plötzlich kam er auf seine Jugend zurück und auf das liebe Städtchen, und wie überrascht er gewesen sei, als er gestern mit seinem Automobil angekommen und durch die Straßen gerattert, die ihm so winzig und enge erschienen, und er »an allen Fenstern seine alten Flammen gesehen, bis er begriffen, daß es die Töchter waren, die inzwischen das Ebenbild der Anmut ihrer Mütter geworden!«
Man lächelte oder lachte. Die Uhr stand auf eins. Muth zog die Beine, die eine gewisse Schwere hatten, unter dem Tisch hervor und mahnte ans Nachhausegehen. Irgendwo knurrte ein Ärger in ihm, der in seiner Stimme und in seinen Worten nicht zum Ausdruck kam, die höflich und heiter blieben.
Die kleine elektrische Straßenbahn, die bis zur halben Höhe des Schloßbergs führte, ging längst nicht mehr. Muth nahm eine Droschke, die langsam die gewundene Straße hinauffuhr, deren niedrige Dächer in der kühlen klaren Nacht dunkle Schatten warfen. Charlotte lehnte schweigend in der Ecke des Wagens, während Muth durch die müde Weinstimmung hindurch zu denken suchte. Zu Hause angekommen, sagte seine Frau: »Es freut mich doch, daß etwas aus ihm geworden ist.«
»Du hast ja einmal so viel von ihm gehalten«, erwiderte ihr Mann.
»Ach laß doch die Kindereien, Richard« sagte sie müde.
»Aber ja. Gewiß«, murmelte er, und sie sprachen nicht weiter.
Zwei Tage später wußte Muth, daß Lütke und seine Bank eine städtische Anleihe vermitteln sollten. Nicht nur die langgewünschte Verlegung des Bahnhofs, auch große Umbauten auf dem Schloßberg, ein neues Villenviertel und wichtige Verkehrsanlagen sollten geplant sein. Muth war geneigt, an allem zu zweifeln und jedenfalls nur einen Teil zu glauben. Er wußte, daß Krenger verschiedene Entwürfe ausgearbeitet und vorgelegt hatte, die er im Grunde überflüssig und phantastisch fand. Aber er hielt sehr viel vom Bürgermeister Roos. Wenn solche Pläne ernst wurden, konnten sie für ihn Vorteil und Nachteil bedeuten, konnten sie ihn sein schönes altes Haus auf der Höhe der Stadt kosten, konnten sie den Wert der Grundstücke, die er und Cortier gekauft hatten, unendlich erhöhen.
Er besuchte Lütke. Er traf ihn in seinem Hotelzimmer in einem grauen Anzug, der ihn sehr gut kleidete. Daß er den Kranich oder doch den, der einst der Kranich gewesen und mit den Mädchen in Neters Konditorei gesessen, nicht ohne eine widerwillige innere Achtung »Herr Direktor« ansprach, das hatte ihn schon im Rathaus gewundert. Lütke schien in Gedanken; er war erstaunlich jung geblieben; das Haar, an Stirn und Schläfen ein wenig gelichtet, schien so blond wie einst. Er schrieb zwei Telegramme, klingelte und schickte sie fort, dann wendete er sich zu seinem steif dasitzenden Besucher und sprach von seiner Bank und was in andern Städten mit ihrer Hilfe geschaffen worden, Dinge, die zu hören Muth nicht gekommen war. Erst als er gehen wollte, fragte Lütke ihn plötzlich und nebenbei, ob, wenn die neue städtische Bank hier gegründet und von ihm finanziert werden sollte, Muth sich irgendwie beteiligen würde? Es konnte sich um die Übernahme von Aktien, möglicherweise um eine Aufsichtsratstelle handeln.
Muth erwiderte, daß er es sich überlegen müsse.
»Selbstverständlich,« sagte der andre »soweit sei es auch noch nicht«, und bat, der Frau Gemahlin seinen Handkuß zu bestellen.
Muth ging in tiefen Gedanken. Er war nicht der Kaufmann, der sich einen Vorteil entgehen ließ, und das Wort »Aufsichtsrat« winkte wie ein schöner Stern. Es bedeutete eine vornehmere Stellung in der Geschäftswelt und ein müheloses Nebeneinkommen. Jacob Cortier war der einzige Mann in der Stadt, der irgendwo Aufsichtsrat war. Was mit dem Menschen, der so plötzlich wieder erschienen war, zusammenhing, war ihm zuwider, und doch konnte er nicht außerhalb der Dinge bleiben, die sich in der Stadt vorbereiteten, und kam immer wieder mit jenem zusammen, traf ihn bei Sitzungen im Rathaus, an Frühstückstischen und bewirtete ihn mit andern in seinem eigenen Hause. Ausflüge in die Umgegend wurden unternommen, wo es Kaffeeparks an Teichen und grünen Wiesen gab, die Damen und die Jugend nahmen teil, wobei die bevorzugtesten auf Lütkes Einladung in seinem Automobil mitfuhren. Die Damen waren entzückt von seiner Liebenswürdigkeit, und er hatte nun, wie Clara Weihlich, Muths Schwägerin, sagte, »Gelegenheit, die alten Flammen mit ihren Töchtern zu vergleichen.«
Auf dem Rathaus lagen in großen Mappen die sauber gezeichneten Pläne des Stadtbaumeisters; die Grundrisse und Aufrisse und auch, – wie er selbst zugab, noch halb Phantasie –, in leichten Farben hingeworfene Bilder, die die künftigen Gebäude und Stadtteile zeigten. Muth selbst begann zu glauben, daß es Wirklichkeit werden könnte. Die alten Häuser auf dem Schloßberg sollten fallen, breite Terrassen sollten aufgeführt werden, mit neuen Häusern und grünen Anlagen, bequemen Zufahrten und Verbindungswegen, die dennoch, wie Krenger betonte, an das alte Stadtbild erinnern sollten. Einige davon waren auch in der Röberschen Buchhandlung am Domplatz zu sehen, die Leute standen davor und trugen ihre erregten Gedanken über solche Veränderungen bis in die kleinsten Werkstätten und Dachkammern.
Indessen blieb das hohe und steile Häuserwirrsal oben vorläufig wie es gewesen; der alte Uhrturm sah in die engen finstern Gassen mit ihren kleinen Höfen und Brunnen, um die blasse, schlecht gekleidete Kinder spielten, und an Feiertagen, neben einem gähnenden Hund oder einer stillen Katze, alte Frauen vor dunkeln kleinen Türen saßen. Der Schloßhof lag vornehm verborgen zwischen den Giebelhäusern, und immer noch konnte Richard Muth aus den Fenstern der Seitenfront in die der alten Tanzschule hinübersehen. Aber er zog die Vorhänge zu, und die säuerlich strenge Miene des Geschäftstages, die er nach Hause brachte, fiel rasch von ihm ab, wenn die Kinder mit ihm am Tische saßen. Sie kam nur wieder, wenn er sie erzog oder wenn eine Sorge ihn verfolgte. Sohn und Tochter waren jetzt ganz von dem Gedanken beschäftigt, daß ihr Haus niedergerissen und eine neue Stadt erstehen sollte. Mit der Freude der Jugend an großen Veränderungen sprachen sie davon und bewundernd von dem Mann, der es zuwege gebracht. »Bürgermeister Roos hat diese Ideen zuerst gehabt; seit mehr als einem Jahr wird das meiste im Rathaus erörtert«, unterbrach sie der Vater, mit dem zwiespältigen Gefühl, das diese Fragen in ihm wachriefen. Er sah sich im Sitzungssaal des Rathauses, wo ein gedämpftes Licht durch die hohen gotischen Fenster fiel, Fragen stellen und die Pläne bemängeln. Einen »Nörgler« hatte der Stadtbaumeister ihn genannt, und er hatte es sich erregt verbeten, der Bürgermeister beide freundlich beruhigt. »Als ob es nicht um das Geld der Stadt ginge«, dachte er, »unser aller Geld«; und »ich muß mit Cortier über die Grundstücke reden«. Die Kinder, ohne auf seinen Einwurf zu achten, sprachen weiter über Lütke. Sie hatten ihn vom Fenster aus beobachtet, als er zuerst ins Haus gekommen war, die Eleganz bemerkt, mit der er Mantel und Handschuhe im Vorraum ablegte. Das Mädchen war ihm wiederholt begegnet, wenn sie in ihre, die neue Liesersche Tanzschule in der unteren Stadt ging.
»Ihr habt ihn schon früher gekannt?« fragte sie plötzlich. Es war eine der Fragen, mit denen Kinder Räume m den Seelen ihrer Eltern streifen, in denen Menschen und Dinge eine ganz andre Rolle spielen als die, in der die Kinder sie kennen, vergangene Wirklichkeit, die gleichsam in den Boden versunken ist, auf dem sie wandeln, und dort ein unterirdisches halb gespenstisches Leben führt.
Mit einem Achselzucken, einem hingeworfenen »Ja.. wohl« tat der Vater die Frage ab.
»Und du, Mutter?«
Aber die Mutter hatte das Zimmer verlassen. Das Mädchen richtete sich die Zöpfe vor dem Spiegel. »Sie ist wirklich Charlottens Ebenbild« dachte Muth, und der säuerliche Geschmack kam wieder in seine Empfindung. Der andre hatte im Rathauskeller diese Worte gebraucht. Aber er und der Sohn sahen belustigt zu, wie die Tochter Tanzschritte durch das Zimmer machte. »Da drüben lag doch eure alte Tanzschule?« fragte sie stehenbleibend und hob einen Zopf in der Hand, gerade wie Charlotte es oft getan hatte. »Wo ist denn Mutter eigentlich?« fuhr sie fort. »Sie war doch eben noch hier.«
Trude öffnete die Tür zu dem kleinen Nebenzimmer, in dem Muth an jenem Abend gesessen, und legte den Finger auf den Mund. An dem Fenster, im matten Licht der Straßenlaterne, stand die Mutter, ein Schatten, und sah nach den dunkeln Fenstern auf der andern Seite hinüber, und als sie sich umwendete, fiel der Lichtschein durch die geöffnete Tür auf ihr rot werdendes Gesicht.
Sie kam wieder ins Wohnzimmer, beugte sich über die Tochter, die eine Arbeit vorgenommen hatte, setzte sich selbst und begann ein Gespräch über ein Kleid, das sie ändern lassen wollte. Sie fragte auch ihren Mann, der eisig antwortete. Er nahm die Zeitung vor, um seine Stimmung den Kindern zu verbergen. Eine Stunde vorher war er in einer der nahen dunkeln Gassen an Hollsiefers Branntweinladen vorübergekommen. Der Laden war erleuchtet, und gröhlende Stimmen tönten aus dem Innern. Neben den matten undurchsichtigen Scheiben stand eine Frau. Blaß, vergrämt, mit ungepflegtem schwarzem Haar und doch Spuren der einstigen Schönheit in den Zügen, lehnte Grete Hollsiefer an der Türe. Sie kannten sich, aber er grüßte sie schon lange nicht mehr. Mit einem Blick auf sie, war er schweigend vorübergegangen. Jetzt wußte er plötzlich, daß das Weib da unten in der übeln Gasse vor dem Branntweinladen und seine Frau hier am Fenster der freundlich erleuchteten Wohnung, beide an den selben Mann gedacht hatten, von den gleichen Erinnerungen erfüllt waren. Und im Geist gab er allen Weibern einen bösen Namen.
Er begann, seine Frau schärfer zu beobachten. Wenige Tage vorher waren Lütke und Roos und andre in einem der schönen Zimmer an der anderen Seite des Hauses, wo man den weiten sonnigen Blick auf die Ebene hinaus hatte, seine Tischgäste gewesen. Charlotte, heitrer, gesprächiger, anmutiger als je, hatte, neben ihrer Tochter stehend, wie die ältere Schwester ausgesehen, und ein seltsames Lächeln war in ihrem Antlitz gewesen, als Lütkes Blick gleichfalls unter Lächeln über beide glitt. Aber für all dies konnte er ihr keine Vorwürfe machen, und den tastenden Fragen, die er bisweilen stellte, wich sie spöttisch oder geärgert aus.
Er ging zu Jacob Cortier. Der wohnte in einem Hause in einem großen parkähnlichen Garten am Rande der Stadt. Seine Zimmer waren reich und üppig eingerichtet mit alten, guten Bildern, kostbaren Möbeln und wertvollen, aus aller Welt gesammelten Stücken: eingelegten Tischen und alten Schränken, Vasen, Figürchen, nickenden, aus Elfenbein geschnitzten chinesischen Männchen, leuchtenden Kirchenstoffen und Spitzenfächern, buntem Porzellan, fremdartigen Musikgeräten und indischen Waffen; Dinge, für die Muth wenig Sinn hatte. Er wohnte allein, seitdem er von seiner Frau geschieden war; eine Hausdame stand der Wirtschaft würdig vor und empfing, wenn er Gäste hatte, sonst war sie nie zu sehen, und über Cortiers Lebensführung wurde manches erzählt. Er erhob sich, als Muth eintrat, halb aus einem tiefen Klubsessel, in dem er lesend saß; er trug einen feinen Hausanzug, und die Füße staken in bequemen Schuhen aus weichem Leder; auf einem Tischchen standen Zigarren, sowie eine Whisky- und eine Sodaflasche. Aus dem blassen eirunden kahlen Kopf sahen die ein wenig müden Augen dem Besucher entgegen. Whisky und Soda lehnte Muth ab; er kam, über die Grundstücke zu sprechen.
Es sei schwer, darüber etwas zu sagen, meinte Cortier, noch schwerer, heute schon zu wissen, was man tun sollte. Ihr Wert hing davon ab, in welcher Weise die Verlegung des Bahnhofs und die Anlage des neuen Stadteils erfolgte. Krenger hatte zwei Projekte eingereicht; es kam darauf an, welches von der Stadt und mehr noch, welches von der Eisenbahndirektion genehmigt wurde. Eine Minderheit unter den Stadtverordneten vertrat einen dritten Plan und drohte mit Beschwerden; aber darin konnte man sich auf Roos verlassen; schlimmstenfalls wählte man den Ingenieur Knoll, der sie führte, in eine Kommission oder beteiligte ihn. All dies, obwohl sie es beide wußten, sagten sie einander und betrachteten und erwogen die Möglichkeiten von allen Seiten. »Unter Umständen werde es gut sein, noch mehr Grund zu kaufen,« meinte Cortier mit seiner ein wenig gebrochenen Stimme, die einschmeichelnd klingen konnte, »die Preise würden jetzt natürlich höher sein; denn jeder hoffe weit über den Wert zu verdienen ... die Leute schliefen ja nicht mehr vor unsinnigen Hoffnungen.«
»Ja, man müsse es sich überlegen«, sagte Muth, dem dieser Gedanke neu war.
»Man muß im rechten Augenblick handeln,« sagte Cortier und legte sich im Stuhl zurück, »und bares Geld anlegen können.« Muth saß eine Weile schweigend, dann stand er auf und verabschiedete sich. Cortier stand gleichfalls auf und begleitete ihn hinaus. »Meine Empfehlung an die Frau Gemahlin«, sagte er.
Während Muth zwischen den im Herbstwind rauschenden Bäumen des Gartens ging, von denen das gelbe Laub niederwehte, und, als das Gitter sich hinter ihm geschlossen hatte, durch die windigen Straßen seinem Bureau zuschritt, dachte er angespannt nach. Zweieinhalb Monat waren seit Lütkes erster Ankunft vergangen; denn er war, je nach dem Wetter, bald im Auto, bald mit dem Zuge fortgefahren und wiedergekommen. Es war nicht so schnell gegangen, wie der Kranich sich das vorgestellt hatte, dachte Muth befriedigt. Für eine Anleihe waren die Stadtverordneten nicht zu haben gewesen; Zinsen und Tilgung schreckten sie. Aber wenn eine Bank und eine Baugesellschaft gegründet wurden, gab es für die einzelnen soviel zu verdienen, und allen andern, Kaufleuten, Handwerkern und Arbeitern konnte man Aussicht auf Gewinn und Beschäftigung machen, das war durchzusetzen. Des Bürgermeisters Hände blieben rein; er ließ die Andern Geschäfte machen und setzte seine Pläne durch; sein Vorteil war, daß man den Bürgermeister rühmte, dem die Stadt solche Anlagen und Verbesserungen dankte. Muth blieb stehen und lachte säuerlich: er durchschaute das Spiel, wie gewöhnlich.
Statt nach seinem Bureau zu gehen, ging er nach dem Rathaus. Er traf den Bürgermeister allein; alle anderen Beamten waren schon zum Mittagessen gegangen. Er fragte, wie die Dinge lägen.
»Ich sehe auch nicht klar,« sagte Roos, »aber wir werden es erreichen. Wir müssen nur dafür sorgen, daß die Spekulation nicht zu wüst wird«, und er sah Muth mit seinen klugen hellen Augen aus dem vollen, von Hiebnarben durchquerten Gesicht an.
Muth schwieg; dann sprachen sie über die entscheidenden Sitzungen, die bevorstanden; es gab so viele Partei-, Personen- und sachliche Fragen, Bahn, Gemeinderat, Ministerium und Kreisverwaltung, Sachverständige, Kommissionen und Straßenzüge, Hausbesitzer und Wasserleitungen, und viel anderes mehr; man konnte von jedem Gegenstand abweichen und sich in alle verlieren. Der Bürgermeister schloß sein Zimmer ab, und Muth begleitete ihn über Treppen und Gänge des Rathauses nach seiner Amtswohnung. Sie standen vor der Türe; die anmutige Frau Roos kam eben nach Hause, mit frischen Wangen, ihre Augen leuchteten ihrem Gatten zu, und dieses Leuchten gab Muth einen Stich.
Der Herbst ging in den Winter über. Eines Tages, in den Straßen war Nebel, in Häusern und Läden brannte das Licht, Muth, der erkältet war, stand in einen Wollschal gehüllt, vor einer Apotheke, in deren Schaufenster ein schräger Spiegel war; er überlegte, ob er eintreten und sich ein Mittel besorgen sollte, als er in dem Spiegel Grete Hollsiefer in einem Umhängtuch, einen Korb am Arm, kommen sah; sie stieß fast mit einem Herrn im Pelz zusammen, der von der andern Seite kam.
»Guten Tag, Heinz Lütke,« sagte Grete kokett; bei dem Düster, das das Schicksal ihren Zügen aufgeprägt hatte, fiel dies sonderbar auf.
»Guten Tag, Grete,« antwortete Heinz Lütke freundlich.
Sie hatten Muth nicht bemerkt; er ging weiter, und der Nebel nahm ihn auf, kehrte aber wieder um, so daß er abermals an den beiden vorüberkam, die noch vor der Apotheke standen. »Ich bin euch allen heute noch gut«, hörte er Heinz Lütke sagen, in dessen Augen ein milderer und wärmerer Ausdruck war als sonst.
»Was hilft mir das?« gab die Frau mit den verhärmten Zügen zurück.
»Kann ich dir helfen?« fragte Lütke eindringlich. Da sah Grete Hollsiefer den bärtigen Stadtverordneten in Mantel und Schal und wies mit den Augen nach ihm, so daß Lütke sich umsah und grüßte; Muth grüßte zurück und verschwand endgültig im Nebel. Kopfschüttelnd ging er weiter seinem Hause zu. Im Spiegel des Apothekers war ihm aufgefallen, daß sein Haar und Bart zu lang gewachsen waren, und so trat er in den Friseurladen in der Breiten Gasse, gerade unterhalb seines Hauses, dessen Fenster hoch oben darüber wegsahen. Er setzte sich in einen der schwarzen Lederstühle vor den Spiegel. Er war der einzige Klient im Laden: der Lehrling drehte die Gasflamme über ihm auf. Er fand sein Gesicht im Spiegel recht alt für seine siebenundvierzig Jahre. Der Friseur band ihm den weißen Mantel um. »Die Frau Gemahlin war heute auch schon da,« sagte er, nach dem Damensalon weisend, »Herr Stadtrat besuchen heute eine Gesellschaft?«
Muth nickte; die Worte mahnten ihn einer Sorge. Die Art, wie Cortier bei jenem Besuche gesprochen, war ihm nachträglich sonderbar vorgekommen. Seitdem hatte er ihn vergeblich zu erreichen gesucht; denn Cortier war verreist gewesen und erst wieder zurückgekommen; Muth ahnte, warum er heute abend die Gesellschaft gab. Alles kam, wie er es vorausgesehen; er hatte das Spiel durchschaut und gewarnt und sich zuletzt nur zögernd und widerwillig der Mehrheit angeschlossen. Bei jedem Schritt hatte er gesagt, daß man ihn überlegen müsse. Aber seit diesen drei Tagen seiner Erkältung hatte er in der Seele ein fröstelndes Gefühl, ob er nicht zuviel überlegt hatte. Daß es für die Eingeweihten außerordentlich zu verdienen gab, war klar; aber gehörte er noch zu den Eingeweihten? Die plötzliche Einladung für heute abend gab ihm zu denken. Man konnte ihn seiner ehrlichen Warnungen halber doch nicht ausschließen wollen? Während seine Gedanken sich in all dies verloren, war der Friseur mit dem Haarschneiden zu Ende gekommen und hielt ihm einen Handspiegel an den Hinterkopf, so daß er im Glase gegenüber seine eigene Glatze sah. Gleichzeitig fragte er ihn, was der Herr Stadtrat meine, daß man wohl für das Haus geben werde? Muth starrte ihn an; erst allmählich, da der Friseur, während er ihm den Bart kämmte und stutzte, von den Hoffnungen des Bäckers gegenüber sprach, begriff er, daß der Mann sein eignes kleines Häuschen meinte; er zuckte die Achseln. »Das werden die Sachverständigen bestimmen« antwortete er, »er möge nur nicht zuviel erwarten und vor allem nicht spekulieren.« Cortier hatte Recht: die Leute schliefen nicht mehr vor unsinnigen Hoffnungen. Sein eigenes Haus war ein Objekt, das man abschätzen, von dem man sprechen konnte, aber diese Kathen hier!
Der Friseur nahm ihm mit einer Verbeugung den Mantel ab, und Muth stand mit verkürztem Haar und Bart und mit verjüngtem Aussehen vom Lederstuhl auf. Die grauen Spitzen waren verschwunden. Auch seine Erkältung schien leichter geworden. Er trat in die neblige, fast dunkle Straße hinaus und schritt den kurzen steilen Weg um die Ecke nach seinem Hause, sich festlich anzuziehen. Eine Gesellschaft bei Cortier war etwas Ungewöhnliches. Nach allem, was man sah und wußte, war er von höchster Korrektheit, und niemand hatte abgelehnt. Aber die unterirdischen Gerüchte über ihn, was die Waschfrauen und die Hausschneiderinnen erzählten, sowie die wollüstige Einrichtung seiner Wohnung ließen die Damen sich mit spannender Neugier umsehen. Die grauhaarige, schwarzgekleidete Hausdame überwachte stumm, bescheiden, unscheinbar und beflissen die Dienerschaft und die Vorbereitungen. Die Herren kamen sofort in geschäftliche Gespräche. Daß das Bankstatut genehmigt war, wußte Muth, er hatte selbst eine Anzahl Aktien gezeichnet, ebenso klar war, daß Cortier erster Aufsichtsrat wurde. Ihm selbst war bis nun keine Stelle angeboten worden. Eben traten Herr und Frau Roos zugleich mit Krenger ein. Ein Telegramm ging von Hand zu Hand: die Eisenbahndirektion hatte das eine der beiden Projekte genehmigt. Muths Hand zitterte leicht, als er es las: es war nicht der Plan, der für seine Spekulation günstig war. Aber er fand keine Gelegenheit, mit Cortier allein zu sprechen: die Diener öffneten schon die Türen zum Speisesaal. Das Eis, die Weine, der Sekt waren unübertrefflich. Reden wurden gehalten; zuletzt sprach Cortier auf die Damen; die Bedeutung des Tages, das Gelingen der Pläne wurde nur gestreift.
Nach dem Essen teilte sich die Gesellschaft. Die Herren gingen ins Rauchzimmer. Hier fand Muth Gelegenheit, den Hausherrn in eine Ecke zu ziehen und zu fragen, was mit den Grundstücken sei. Cortier zuckte die Achseln: »wir können sie behalten oder verkaufen« antwortete er und entzog sich ihm rasch, um dem weißbärtigen alten Bernecker Zigarren anzubieten. Muth begriff, daß Cortier das Ergebnis gewußt oder vorausgesehen und Boden auf der andern Seite der Stadt gekauft hatte, ohne ihn zu beteiligen. Er hatte keinen großen Verlust, aber daß der andre und alle hier vermutlich ungeheure Gewinne einsteckten und er nicht, ärgerte ihn unsagbar.
Man setzte sich an die Spieltische; er wollte erst nicht, tat es dann doch, spielte schlecht und verlor. Er stand wieder auf und ging durch die Zimmer. Die strengeren Damen saßen in dem hellen Salon, in dem der Flügel stand; unter ihnen schlank, liebenswürdig, mit feiner Zurückhaltung die Bürgermeisterin. Die kühneren, unter ihnen natürlich auch seine Frau, hatten sich in das halbdunkle türkische Zimmer gewagt, wo man unter farbig umhüllten Lampen auf niederen Sofas saß, von winzigen runden, mit Perlmutter eingelegten Tischchen Kaffee und Likör trank. Alle waren erregt und vergnügt. Einige wenige Herren waren unter ihnen. Lütke saß auf einem Sofa, Cortier auf einem Kissen beinah auf der Erde. »Ich bin allen heute noch gut« hörte Muth Lütke sagen, die gleichen Worte, die er auf der Straße zu Grete Hollsiefer gesprochen hatte, »ihr Frauen seid arme Dinger!«
»Oh! oh!« tönte es zurück.
»Die Frauen? Wir sind arme Dinger!« sagte Cortier mit seiner weichen gebrochenen Stimme, und in seinem blassen Gesicht war ein seltsames, fast verzerrtes Lächeln.
Jetzt erzählte Lütke etwas, und aus dem Halbdunkel tönte das helle Frauenlachen.
Muth fühlte sich allein, bedeutungslos, überall zurückgewiesen. Er fragte sich, warum einem Menschen alle Erfolge zufielen, und andere um alles gebracht wurden. Er wollte nach Hause und sagte es seiner Frau, aber sie hatte keine Lust zu gehen; sie unterhielt sich glänzend und fand es unschicklich, früher aufzubrechen als alle andern; ihre leise Stimme hatte den gereizten Ton, den er kannte; die Worte, die er in ihr Ohr sprach, waren hart und bitter.
Er kehrte ins Rauchzimmer zurück. »Die Enteignungsanträge sind schon ausgefertigt«, sagte der Bürgermeister eben, und da er Muth mit gleichsam erstarrten Zügen vor sich stehen sah, fügte er hinzu: »Um Ihr schönes Haus tut es uns aufrichtig leid, aber es ist ohnedies gefährdet und hat böse Mängel. Das ganze Viertel erinnert zu sehr an Folter und Blutgerüst; und heute«, sagte er halblaut, »dient die ganze Gegend mit ihren Schnapsläden der geheimen Prostitution. Sie werden froh sein wegzukommen und in die neuen schönen Häuser zu ziehen, die wir bauen werden.«
Als sie endlich aufbrachen, Cortier ihm freundlich die Hand reichte und er ihm, konnte er das Wort »Gemeiner Schwindler« nur schwer unterdrücken. Das waren die Leute mit sauberem Ruf und sauberem Tuch, Cortier, der von geflüchteten Hugenotten stammte, dessen Urgroßmutter, wie er erzählte, eine Baronin Latour war. Welche Ruchlosigkeiten sagte man ihm nach! Den alten Bernecker, den weißhaarigen Patriarchen, der nächst Cortier die meisten Aktien zeichnete, hatte man vor zehn Jahren mit einer jungen Magd überrascht. Die Weihlichs selbst hatten einen geisteskranken Bruder bei der Erbschaft übervorteilt. Das Wohl der Stadt lag in guten Händen.
»Sie reisen übermorgen?« sagte neben ihm der Bürgermeister zu Lütke. Frau Roos, im Spitzenschal und schwarz und weißem Pelz, stieg mit ihrem Gatten in Lütke's Automobil ein. Muth und seine Frau nahmen eine alte Droschke, die auf Fahrgäste wartete.
Als sie durch den kristallenen Schnee, der leise zu fallen begann, heimfuhren, lehnten Muth und seine Frau getrennt in den Ecken des Wagens. Er hatte ihr Vorwürfe gemacht, auf die sie nur die Achseln gezuckt hatte, und jetzt dachte er nach. Er mußte mit Madrich sprechen, die Rechtslage prüfen. Madrich hatte mit ihm die gleichen Interessen; sein Haus stand gegenüber; mit allen, die dort oben ihren gefährdeten Besitz hatten, zusammen könnte man etwas ausrichten, und wenn man nur mit Beschwerden und Instanzen drohte.
Am andern Tage sagte er sich bei Madrich an, aber der war zu einer Gerichtsverhandlung in der nächsten Stadt gefahren und sollte erst nach fünf Uhr zurückkommen. Um fünf Uhr trat Muth in das alte Wartezimmer; die Schreiber waren im Gehen; nur einer, der in einer kleinen Kammer neben dem Bureau des Justizrats saß, sollte auf diesen warten. Muth schloß die Türe hinter sich und setzte sich in den dämmernden Raum, der rasch dunkel wurde. Er saß trübe da, am Fenster der alten Tanzschule, mitten in der Vergangenheit, als hätte er dort, vergessen, zwanzig Jahre verbracht, saß in Qual und Unruhe, wie einst. An der Wand mit der schadhaften braunen Tapete standen die Aktenschränke mit ihren verstaubten Papierbündeln. Ein Lichtschein fiel ins Zimmer. Er kam aus dem Fenster gegenüber, und Muth konnte über die Gasse in seine eigene Wohnung sehen. Seine Frau und Heinz Lütke saßen im Gespräch im Wohnzimmer; sie hatten offenbar eben das Licht angedreht. Charlotte saß, die beiden Hände auf den Stuhllehnen, mit dem Fuße wippend da, wie sie gerne tat. Beide bewegten sich, sprachen und lachten sichtbar, aber lautlos hinter dem Glas, wie in einem Traumspiel. Einmal sah er, daß sie ein wenig rot wurde. Jetzt stand seine Frau auf, ging ans Fenster, aber sie zog den Vorhang nicht zu. Den Zuschauer, der im Dunkeln saß, konnten sie nicht sehen, während für ihn die Glaswände hell und durchsichtig waren.
Charlotte war am Fenster vorübergegangen; er sah sie nicht mehr. Lütke schien allein; denn er nahm etwas zur Hand und sah darauf. Jetzt aber lächelte er und sprach; offenbar war Charlotte wieder eingetreten. Eine ganze Weile redete er lebhaft, aber mit völlig verändertem Ausdruck in den nicht sichtbaren Teil des Zimmers. Und jetzt sah Muth, sich den Tisch entlang schiebend, mit der einen Hand eine offene Haarsträhne hebend, das Ebenbild Charlottens in der Vergangenheit, seine Tochter Trude, blutrot, ein wenig bestürzt, die Augen zu dem Mann emporgehoben. Der beugte sich vor, faßte ihre Hände, zog sie an sich und küßte die Erglühte innig und lange auf den Mund.
Es wurde dunkel vor Muths Augen; er hatte mit der Faust in die Scheibe geschlagen; drüben hörten sie das Klirren und Splittern nicht. Er selbst hörte es nicht. Die Häuser, die Stadt, sein Leben, alles brach, wie bei einem Erdbeben zu Schutt rollend, über ihm zusammen. Allmählich kam er zur Besinnung. Der Mann und das Kind hatten sich jäh getrennt; seine Frau war wieder im Zimmer.
Eine Türe ging. Justizrat Madrich war eingetreten. »Was, Sie sind im Finstern?« fragte er. »Wer hat Sie denn im Finstern gelassen? Das ist ja unerhört!« Er drehte das Licht auf. »Was haben Sie denn? Ja, was ist denn das?« Muth fühlte Nässe und einen scharfen Schmerz. Überall war Blut; große Splitter staken noch in seiner Hand.
»Ihre Leute haben mich wohl vergessen. Ich hatte einen Schwindelanfall und schlug gegen die Scheibe. Mir ist schon einige Tage nicht wohl.« Er legte den Finger auf den Mund. »Nichts davon!« Er versuchte das Taschentuch an die Hand zu halten, das sich von Blut rötete, und die Splitter zu entfernen.
»Kommen Sie zu meiner Frau!« sagte Madrich, »oder noch besser, ich telephoniere um den Doktor.«
Als Muth sich noch einmal umsah, waren drüben die Vorhänge zugezogen. Eine Wutwelle stieg in ihm auf, und er fiel wirklich hin.
Als er aufwachte, war der Arzt bereits da. Er nähte einen Stich und verband ihn. Eine Magd wusch den Boden auf. Die Unterredung wurde verschoben.
Er kam nach Hause, gab die gleiche Erklärung und sprach fast nichts. Am andern Tage hatte er leichtes Fieber und blieb zu Bett, ließ aber niemanden zu sich. »Was man auch tut, nützt nichts,« sagte er vor sich hin. »Charlotte, Grete, Trude.. es ist alles das Gleiche ...«
Am zweiten Tage ging er wieder ins Geschäft und blieb über Mittag dort.
Als er des Abends den Schloßberg hinaus nach Hause ging, traf ein Schein seine Augen: um die Ecke kam das Automobil, das durch die schlecht beleuchtete Gasse rasch abwärts fuhr. Muth trat geblendet zur Seite. An der Mauer neben ihm lehnten Eisenstangen. Er hatte das Gefühl, er müsse eine dieser Stangen fassen und in das Rad stoßen, er sah im Geist das Auto sich überschlagen und den Mann darin unter sich begraben, aber er tat es nicht, wie er einst so oft wilde Angriffe auf den Kranich geplant, aber nie ausgeführt hatte.
Wenige Minuten später sah er die hellen gleitenden Lichter durch die untere Stadt in die Ebene hinausschießen.
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