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Tugendwacht

In einem üppigen sonnenreichen Sommer hatten sich die Kaninchen so über alles Maß vermehrt, daß die Klagen der Leute bis in das rote Ziegellandhaus drangen, in dem die Familie des Konsistorialrats Mehl wohnte. In der dämmerigen Stube nebenan hörte die Konsistorialrätin ihren Knaben und ihre Schwestertochter die Frage erörtern, ob die Menschen sich unter Umständen ebenso schnell und gewaltig vermehren könnten, und beide Kinder neigten zur Ansicht, daß die Juden es gekonnt haben müßten, da sie doch nach den Worten der Bibel zahlreich werden sollten wie der Sand am Meer. Die entsetzte Mutter gab jedem Kind eine Ohrfeige für die unnützen Reden und sperrte, um sie von ihrer schlechten Neugier zu heilen, jedes in ein besonderes Zimmer ein. Sie war von dem belauschten Gespräch um so mehr betroffen, als sie ohnedies wegen eines peinlichen Vorfalls vom gleichen Tag in Sorgen ging und nicht wußte, wie sie verhüten sollte, daß ein Gerede darüber an die Ohren der Kinder drang. Das hübscheste, blondeste Dienstmädchen, das selbst in einem Pastorhause aufgewachsen war, hatte plötzlich entlassen werden müssen. Beinahe selber weinend, schloß sie die Türen hinter den weinenden Gefangenen ab; dann dachte sie der kleineren Kinder, durchweg Mädchen, die noch im Garten spielten, ging ans Fenster und rief sie ins Haus, da es dunkel und kühl ward und der Tau fiel.

Als all die Kinder nach vielen Ermahnungen und nicht ohne daß manche heiße Träne floß, zu Bett gebracht waren, saß die Mutter bekümmert in der Wohnstube bei der Lampe und nähte. Ihre verheiratete und ihre unverheiratete Schwester, die es allerdings nur vom Vater her waren, denn der Pastor Hotze hatte zweimal geheiratet, saßen, beide ebenso dunkel gekleidet, mit ebenso nüchtern gescheiteltem Haar, ebenso streng in Blick und Haltung, am Tisch und nähten wie sie. Jetzt hielt sie mit Hand und Nadel inne und lauschte: sie hatte den Schritt ihres Mannes gehört, der nicht allein kam. Aus dem Vorzimmer tönte die Stimme ihres Bruders.

»Gerade heute!« dachte sie mit Verdruß.

Der Konsistorialrat trat ein. Seine nicht ganz sicheren Blicke schienen seiner Frau etwas andeuten zu wollen. Ein blasser hübscher Mensch kam mit ihm; nur daß seine Lider schwer über die Augen fielen und um seinen Mund ein höhnischer Zug war.

Der Begrüßung folgte ein kurzes Schweigen, dann fragte die älteste Schwester: »Wie geht es dir, Artur?«

»Danke, schlecht!« war die Antwort.

Die beiden andern Schwestern nickten, und der junge Mann lachte.

Der Konsistorialrat fragte, ob das verlorene Geschöpf schon fort wäre.

»Gott sei Dank, ja!« antwortete seine Frau und berichtete die Einzelheiten der Abreise, wie das Frauenzimmer tränenlos, ohne Dank, fast ohne Abschied auf einem Wagen des Grünkaufmanns fortgefahren sei.

Fräulein Hotze, sagte sie, habe alles kommen sehen; denn das Mädchen hätte schon im Vorjahre einen Federhut getragen und Schuhe mit so hohen Absätzen. Sie zeigte es mit den Händen.

»Und solchen Menschen vertraut man seine Kinder an!« sagte die zweite Schwester.

Da hielt auch die Konsistorialrätin nicht länger an sich, und obwohl sie es ihrem Gatten später allein im Schlafzimmer hatte berichten wollen, erzählte sie schon jetzt am Tische, was sie die Kinder des Abends reden gehört hatte.

»Die zuchtlose Natur macht vor dem frömmsten Hause nicht Halt«, sagte ihr Bruder.

Da niemand etwas darauf erwiderte – denn man wußte nie, was ihm ernst war und erwartete nichts Erbauliches von ihm, – fuhr er fort: »Sperlinge, Hunde, selbst die Haushühner, ja die Tauben! – und wenn die unschuldigen Tiere sich so benehmen, was soll man von den Menschen erwarten? Das mit den Kaninchen ist eine wahre Heimsuchung!«

Den Blicken der Schwestern hielt er mit gesenkten Lidern stand. Er wollte weiter sprechen, aber ein unheimlicher Hustenanfall hinderte ihn daran. Die Schwestern benutzten dies, um ihm ins Gewissen zu reden. Er hustete, bis sie ihre Mahnungen beschlossen hatten, dann keuchte er nur noch ein wenig; aber der hübsche kleine Mund unter dem Schnurrbärtchen lachte bereits wieder, als er sagte: »Wenn ich früh sterbe, Kläre, so ist nur mein sündhaftes Leben schuld. Dankt dem lieben Gott, daß ich nicht tugendhaft bin: ich muß für meine zeitlichen Sünden in der Ewigkeit büßen, und du erbst die Depots!«

Ein bitteres Schweigen folgte diesen Worten. Die älteste Schwester sah ihren Gatten an, zu ihrem Erstaunen sagte der strenge Mann nur: »Ich glaube, euer ... unser Bruder ist mit dem Munde frecher als im Herzen ... wir haben ja übrigens noch miteinander zu sprechen, Artur.«

Wieder deuteten seine Blicke der Gattin an, daß er ihr später manches sagen würde; dann zog er sich mit dem Schwager zurück.

Erst redete niemand ein Wort, dann sprachen die beiden jüngeren Schwestern ihr Urteil über den Stiefbruder aus; die älteste richtete ihre Blicke empor.

Was ihr Mann später von Regungen ernster Reue bei ihrem Bruder sagte, das glaubte sie nicht. Aber tags darauf erfuhr sie, daß er wirklich schwer krank in seinem Hause lag.

Der Bruder war lange krank. Täglich kam eine oder die andere der Schwestern, ihn zu besuchen. Sie betraten sein Schlafzimmer mit den üppigen Teppichen, den seidenen Bettvorhängen, dem farbigen Glanz der Büchereinbände und den zum Teil verletzenden Bildern, nicht ohne Widerwillen. Sie führten lange, leise Gespräche mit der Diakonissin, die ihn pflegte, und ertrugen die Klagen wie den Spott des Kranken mit Geduld. Nur einmal weinte die Konsistorialrätin, als er ihr wieder von der Erbschaft sprach: da streichelte er ihre Hand und sagte: »Ich weiß, Schwesterchen, du pflegst mich darum nicht weniger gewissenhaft – aber unglücklich wirst du nicht darüber sein: ich werde dir's auch gar nicht übelnehmen!« und er sah ihr mit den fieberglänzenden Augen lange ins Gesicht und freute sich, die widerstreitenden Empfindungen wahrzunehmen, die er aufwühlte.

Sobald es ihm ein wenig besser ging, reiste er nach dem Süden und kam erst nach einigen Jahren zurück.

Die beiden verheirateten Schwestern waren indessen in ihren Formen runder geworden, ohne daß dies die Strenge ihrer Haltung geändert hätte. Fräulein Hotze blieb mager und scharf.

Die Töchter der Konsistorialrätin und ihrer Schwester Klingemann trugen noch immer die gleichen, zu langen Kleider aus schottischem Wollstoff; nur Elsbeth, die damals mit ihrem kleinen Vetter das ärgerliche Gespräch geführt hatte und nun bereits konfirmiert war, trug schwarze und bei besonderen Gelegenheiten sogar helle Kleider, in denen sie anmutig aussah. Es geschah auch, da sie sich selbst wohlgefiel, daß sie das feine blonde Haar, anstatt es, einfach gescheitelt, mit um den Kopf gelegten Zöpfen zu tragen, aufsteckte und es über der Stirne sich zierlich wellen und an den Schläfen weich überfallen ließ. Aber wenn sie der Mutter auswich, so konnte sie sicher sein, daß Tante Hotze dies irgendwie bemerkte und berichtete und bittre Strafreden und strenge Verbote die Folge waren. Denn obwohl ihr Gatte nicht geistlich, sondern nur Kaufmann war, wollte die zweite Tochter des Pastor Hotze vor ihrer Schwester Mehl bestehen und war in ihren Anschauungen wie in ihrer Lebensführung womöglich noch strenger als sie. Und da Elsbeth behauptete, das Haar stünde von selbst auf und lasse sich anders nicht legen, so klebte die Mutter es ihr kurzerhand des Morgens mit etwas Kleister glatt. Das aber ward für das Kind die Quelle vieler heißer Tränen, da sie sich vor den Freundinnen schämte und diesen Kummer auch ihrem Vetter Wilhelm, der sonst ihr vertrauter Gespiele war, nicht mitteilen konnte: er hätte ihn ja doch nicht begriffen und sie vielleicht geneckt und verspottet. Er war in den letzten Jahren ohnedies fremder und störrischer geworden, und daß dies eben an seinen Jahren lag, begriff sie nicht. Trotz alledem wußte sie sich kleine Freuden zu schaffen, und wenn es nur ein zahmer Vogel war oder ein heimliches Seidenband, das sie ungesehen als Schleife aufsteckte; und ob ihr gleich vieles vergällt wurde, ihre Seele ward nicht verbittert: die Eltern und die Tanten waren nun einmal so, böse meinten sie es nicht; die Fünfzehnjährige sang durchs Haus, oder sie pfiff im fernsten Gartenwinkel, versteckt und ungehört, und fühlte nur das glückliche junge Leben.

So lugte sie eines Tags über die Hecke auf die Straße hinaus, die französische Grammatik und das Strickzeug als doppelten Vorwand neben sich im Gras, und pfiff ganz leise vor sich hin, als ein unten vorübergehender wohlgekleideter blasser Herr lächelnd zu ihr heraufgrüßte. Erst wurde sie ganz verwirrt und wußte nicht, was dies bedeuten sollte, dann erkannte sie ihren Onkel Artur, der vom Süden heimgekommen war und seine schöne, von den Kindern nie betretene Wohnung wieder bezogen hatte. Er sagte ihr sogleich von der Straße aus, daß sie bildhübsch geworden sei, und daß er ihr gern schöne Sachen schenken würde, die er aus dem Süden mitgebracht, wenn er nicht fürchten müßte, daß man sie ihr doch nicht zu tragen gestatten würde. Und er begann ihr die wundervollsten Seidenstoffe und Schmuckstücke, Gürtel, Ohrgehänge und Schleier zu schildern, daß all die bunten Schätze dem Kinde vor den Augen flammten. Dann trug er ihr Grüße auf und ließ sie verwirrt zurück mit einer heimlichen Sehnsucht nach den schönen verbotenen Dingen im Herzen.

Aber das nordische Klima schien er auch jetzt nicht ertragen zu können; denn wenige Tage darauf kam ein Brief an den Konsistorialrat: »Es geht mir schlecht. Satan und der Erzengel kämpfen um meine Seele. Bitte, schicke mir die Bücher, die du für geeignet hältst.«

Der unbedachte, an diesem Tage sehr beschäftigte Mann, der die Gelegenheit, eine Menschenseele zu retten, keinen Augenblick versäumen wollte, suchte eilig die rechten Bücher heraus, schrieb ein paar einführende Zeilen dazu und rief seinen Sohn, den er im Garten Früchte verzehrend vor einem Apfelbaum sah, herauf und ließ ihn Bücher und Brief sofort in die Wohnung des Oheims bringen.

Der Oheim öffnete dem Knaben selber die Tür und empfing ihn mit freundlichstem Dank. Er entschuldigte sich, daß er auf dem Sofa liegen müßte, bot ihm ein Glas Sherry und eine Zigarette an und plauderte mit ihm wie mit einem Erwachsenen und völlig Gleichgestellten, so daß er sich überaus wohl bei ihm fühlte. Während der Knabe, der eben im Begriff war, kein Knabe mehr zu sein, sich in dem Zimmer des Oheims umsah, das für ihn eine befremdliche Schönheit besaß, wurde der Vorhang zum andern Zimmer von einem bloßen weißen Arm zurückgeschoben, und eine weibliche Stimme fragte: »Ist's erlaubt?«

»Nur herein, Bibi!« sagte der Oheim lachend, »ich habe zwar Besuch, aber das macht nichts.«

Darauf erschien eine junge Dame durch den Vorhang: sie trug schwarze Seidenstrümpfe und Beinkleider, und ein schwarzes, tief ausgeschnittenes Leibchen mit gelber Stickerei, das nur durch zwei ganz schmale schwarze Streifen über den Achseln befestigt war.

Dem Knaben stockte der Atem; der Kranke betrachtete ihn lächelnd.

Bibi zündete sich eine Zigarette an: »Wer ist der reizende Junge, Artur?« fragte sie.

»Mein Neffe, Bibi. Er hat mir neue Bücher gebracht. – Bibi liest mir die Bücher deines Vaters vor. Wir kommen ja doch beide in die Hölle, und so wollen wir wissen, wie es darin aussieht.«

Auch der Knabe glaubte, in der Hölle zu sein, und sie hatte einen süßen und schrecklichen Reiz für ihn. Er wollte fortgehen, aber er vermochte es nicht. Bibi war zart und schlank wie Elsbeth, wenn sie auch sicherlich älter war; das zog ihn an. Ihre Stimme war ein wenig belegt, klang aber ganz reizend. Und Bibi war sehr liebenswürdig mit ihm, nannte ihn Herr Mehl, bat ihn um Feuer, als ihre Zigarette ausging, fragte ihn, ob er häufig ins Theater ginge und schlug die Hände zusammen, als sie hörte, daß er nur einmal ein Festspiel »Gustav Adolf, der protestantische Glaubensheld« gesehen hatte. Sie zündete eine Spiritusflamme an und braute ein süßes, starkes Getränk, von dem alle drei tranken. Auch Bibi und Wilhelm stießen miteinander an. »Auf bessere Bekanntschaft!« sagte sie. Dann aber streckte sie sich auf ein Sofa an der andern Wand und schlief rasch ein. Die blonden Haare fielen ihr übers Gesicht.

Der kranke junge Oheim führte indessen ein langes Gespräch mit dem Neffen über das Leben und warf kleine Brandgeschosse in seine, von den Eltern so wohlgerichtete Welt, und ergötzte sich zugleich daran, wenn der Schüler immer wieder den Kopf wendete und heimliche Blicke nach der hübschen Schläferin warf. Endlich erinnerte die Dämmerung im Zimmer den Knaben daran, daß es spät geworden war und daß er eilig fort müßte. Er fuhr für einen kostbaren Groschen aus seinem kargen Taschengelde mit der Straßenbahn, um mit einem Gewinn von einigen Minuten sein böses Gewissen und seine schlimmen Ahnungen zu beruhigen; indessen gelangte er ganz unbemerkt auf sein Zimmer und blieb auch dort und zeigte sich nicht, als wäre er schon lange zu Hause; als zum Abendbrot gerufen wurde, fand die Mutter ihn fest eingeschlafen auf seinem Bette liegen. Was Unschuld schien, war der Punsch, den Bibi gebraut hatte. Der Vater, der sich erinnerte, unvorsichtig gewesen zu sein, stellte keine Frage an ihn, um Vorwürfe von seiten der Gattin zu vermeiden.

Er selbst sprach nie ein Wort von dem, was er gesehen und erlebt hatte; in seinem Innern aber hallte es nach. Bisher war ihm Elsbeth als süßeste Weiblichkeit erschienen; jetzt trat das Bild Bibis in ihrem verruchten schwarzen Anzug mit den schöngeformten Beinen, dem weißen Glanz von Brust und Armen störend und verwirrend dazwischen. Dies bewirkte, daß er sich bald in heimlichem Verlangen enger als früher an die hübsche Kusine gebunden und bald wieder völlig unwürdig und weit von ihr entfernt fühlte.

Er kam erst nach Monaten wieder in die Wohnung des Oheims, traf aber niemanden als den Arzt und die Krankenschwester; Onkel Artur hatte ehrliche Angst vor der Hölle bekommen und Bibi war abgeschafft worden. Dagegen waren der Konsistorialrat und seine Gattin um so häufiger bei ihm. Und eines Tages war Onkel Artur gestorben, und Kläre Mehl beerbte ihn.

Sie trug darum kein besseres Kleid als vorher, kein neues Gericht kam auf ihren Tisch; das einzige, was sie und ihr Gatte sich gönnten, war, daß sie die viel zu eng gewordene Wohnung aufgaben und eine geräumigere bezogen, und daß der Konsistorialrat seiner Frau versprach, zur silbernen Hochzeit mit ihr eine Reise an den Rhein zu machen.

Durch die Übersiedlung hörte die Nachbarschaft der Schwestern und der harmlose tägliche Verkehr ihrer Kinder auf. Aber tiefer noch war die innere Kluft, die entstand, da die Familie des Konsistorialrats Mehl nun zu den wohlhabenden gehörte, während es seinem Schwager Klingemann keineswegs gut ging.

Wilhelm war indessen bereits auf der Universität und studierte Jura. Er war fünf Bahnstunden von seiner Vaterstadt entfernt und fühlte eine ungeheure Freiheit. Gleichsam zur inneren Sicherung war er dem »Bund der Reinen« beigetreten, der von einem mit dem Vater befreundeten Theologen begründet war.

Da sprach ihn eines Tages eine wohlgekleidete junge Dame an, die lachte, als er sie nicht erkannte, und die Bibi war. Er mußte sie bis zum städtischen Theater begleiten, zu dem sie gehörte. So ging denn das Mitglied des Bundes der Reinen mit Bibi durch die Straßen, und Bibi forderte ihn auf, sie zu besuchen und gab ihm Freikarten für das Theater. Er kam auch hinter die Kulissen, und es hätte schlimm werden können, wenn er nicht wirklich ein reiner Mensch gewesen und in dieser Welt der Versuchungen sich als Parsifal erwiesen hätte. Die geschminkten Mädchen und Frauen gefielen ihm auf der Bühne besser als in den staubigen Kulissen und engen Garderoben. Nur Bibi kam ihm immer noch reizend vor, und er wartete in Furcht und heimlichem Verlangen zugleich auf den Besuch, den er ihr machen sollte. Sie hatte ihn bisher selbst immer hinausgeschoben; endlich aber kam er an einem Abend, an dem sie nicht im Theater auftrat, vorsichtig in ihr Haus und in ihre Wohnung. Es war ein recht klägliches Zimmer, und er traf sie in einem schlechten unsauberen Schlafrock, sehr verärgert, weil sie erst bei der Probe und dann mit ihrer Hauswirtin Verdruß gehabt hatte. Sie lieh sich sogleich etwas Geld von ihm aus und ließ dafür ein Abendbrot besorgen. All dies war sehr enttäuschend, besonders aber, daß sie Wurst und Braten aus dem Papier aß und die Butter aus dem Papier aufs Brot strich; nachher braute sie wieder Punsch oder eigentlich Grog wie damals, obwohl es ihm heute nicht so zierlich vorkam; und als sie zwei Gläser davon getrunken hatte, begann sie zu weinen und ihm häßliche Dinge von seinem Onkel Artur zu erzählen, und nannte ihn ein Schwein, von dem sie zugrunde gerichtet und dann auf die Straße gesetzt worden. Als er den toten Oheim zu verteidigen suchte, wurde sie heftig und sagte ihm zuletzt ins Gesicht, daß seine Eltern die Erbschleicher wären, die daran schuld trügen, daß sie im Elend sitze, sonst hätte ihr teurer Artur sie sicherlich geheiratet, und sie wäre jetzt seine Tante. Das war für den Bestürzten zuviel. Er hörte noch ihr krampfhaftes böses Lachen und ihre Schimpfworte, als er die Treppe hinabeilte.

Von da an sah er die Schauspielerinnen nur da, wo sie ihm schön schienen: auf der Bühne; und als er, ein hübscher Junge von dreiundzwanzig Jahren, mit einem Backenbärtchen auf den frischen Wangen, nach Hause kam, um sich zum Referendarexamen vorzubereiten, da hatte er ein fünfaktiges Stück in Versen in seinem kleinen Koffer mit. Er traf seine Eltern in einiger Aufregung und das Haus ganz von Vorbereitungen erfüllt, denn die silberne Hochzeit stand bevor und fiel gerade ans Ende der Herbstferien, so daß sie die lang besprochene Rheinreise vorher machen mußten. Damit seine jüngeren Schwestern, Mädchen von dreizehn zu siebzehn Jahren, nicht ohne Aufsicht blieben – denn Wilhelm konnte unmöglich als geeignete Aufsicht gelten, und die alte Köchin, die um zehn Uhr unwiderstehlich einschlief, ebensowenig, – so versprach Tante Hotze, so lange ins Haus zu ziehen.

Vier Augenpaare senkten sich und vier Seelen fügten sich, als dieser Beschluß von der Mutter verkündet wurde. Aber als Fräulein Hotze an einem dieser Tage die Treppe ihrer Wohnung hinabstieg, machte sie einen Schritt zu viel oder zu wenig und verrenkte sich in schmerzhafter Weise den Knöchel. Sie mußte sogleich ins Bett gebracht werden, um es nach dem Gebot des Arztes wochenlang nicht zu verlassen. Und da eine Aufsicht sein mußte, so wurde die vernünftige vierundzwanzigjährige Elsbeth, die bereits Lehrerin und Erzieherin junger Mädchen gewesen und eben für die Ferien nach Hause gekommen war, von ihrer Mutter angeboten.

Und sie blieb nach Empfang unendlicher Vorschriften und Ermahnungen zur Tugendwacht über die drei jungen Kusinen im Hause, während der Konsistorialrat im schwarzen Überzieher und Zylinder, den Feldstecher umgehängt, und seine Frau mit einem kleinen Hütchen und einem blauen um Hütchen und Kinn gebundenen Schleier ihre Reise antraten, mit einem ungeheuren Korbe auf dem Kutschbock und einer alten schwarzen Ledertasche im Wagen.

Zwei Tage vergingen stille genug, obwohl der Tisch, um den nur junge Geschöpfe saßen, ungewohnt heiter war. Am Abend des zweiten begannen die Mädchen zu singen. Elsbeth mit ihrer hübschen geschulten Stimme führte; dann las Wilhelm vor. Am nächsten Nachmittag, da Sonnabend und das Wetter besonders schön war, gingen alle nach der Arbeit in den Garten, um auf der Wiese Verstecken und Ball zu spielen; junge frohe Stimmen tönten durch das Haus und aus dem Garten.

Wenn Wilhelm im Garten studierte und Elsbeth nähend auf einer Bank saß, ließ er die Bücher, um mit ihr zu plaudern. Sie hatten eine alte Kinderfreundschaft zu erneuern. Elsbeth hatte noch immer die feinen Glieder und das zarte blonde Haar, und wenn sie nicht auffallend hübsch war, so hatte sie doch ein klares Gesicht, und ihr anmutiges, immer heiteres Wesen gefiel allen. Er fühlte den alten Zauber und wußte plötzlich, daß die Gedichte, die er an eine ersehnte Geliebte verfaßt, ihr gegolten hatten. Die Verse waren auf seinen Lippen, sowie sie im Hause verschwunden war. Wenn sie da war, erzählte sie allerlei: es war im Grunde Verdrießliches, klang aber heiter in ihrem Munde. Sie sah auf, da er vom Theater erzählte. Er verriet, daß er ein Stück geschrieben, und versprach ihr, daraus vorzulesen.

Furchtbar zählten die Stunden in solcher Nähe. Die Abende waren schön und warm, und der Mond wurde größer. Wilhelm kam spät abends noch in den Garten, und auch Elsbeth, wenn die müden Kinder schlafen gegangen waren.

Da sie schüchtern auf und nieder gingen oder standen, ohne sich einander zu nähern, begann er, von der halben Dunkelheit ermutigt, ihr seine Gedichte vorzusagen. Elsbeth war hingerissen. Da gestand er, daß diese sehnsüchtigen Verse an sie gerichtet, die gepriesenen Locken die ihren waren. Erschrocken und beseligt sprang sie auf und wich zurück; dann sagte sie tief atmend und herzlich: »Gute Nacht, Wilhelm«, und floh ins Haus.

Der Mond wurde heller und heller, aber er ging immer später auf. Sie trafen sich jede Nacht.

Als die Eltern nach drei Wochen zurückkehrten, fanden sie ein stilles, zufriedenes Haus, aus dem fromme Lieder tönten. Nun wurde auch die silberne Hochzeit mit einem schlichten Familienfest gefeiert, und in seiner Rede wies der Konsistorialrat darauf hin, daß sie alle in deutscher Zucht und Sitte ein einigendes Band umschlinge.

Es war Fräulein Hotze, die einige Wochen später entdeckte, daß das Band enger war, als ihrer Schwester Mehl erwünscht sein mochte. Erst gaben ihr die Beobachtungen und die wachsende Gewißheit manchen boshaften Genuß. Dann klärte sie ihre Schwester Klingemann auf. Der kam, da Elsbeth gar nicht wohl war, ein schrecklicher Verdacht; die Lehrstunden zu entschuldigen, die die Tochter an der Schule nicht geben konnte, war das Zeugnis eines Arztes nötig – mit gleichmütigem Nicken sagte der Arzt nach kurzer Untersuchung der entsetzten Mutter die Wahrheit.

Das unglückliche Mädchen lag, allem elterlichen Zorn preisgegeben, zu Bett. Dann aber ging Frau Klingemann mit aus Wut und Befriedigung gemischten Gefühlen zu ihrer Schwester Kläre hinüber. Sie sah das eichene Büfett, den roten Teppich, nicht überreiche, aber doch Dinge, die sie sich in ihrem armen Hausrat nicht gönnen konnte.

Kläre lud sie zum Kaffee ein.

»Danke, danke, darum komme ich nicht ...« sagte die Schwester.

Die Konsistorialrätin sah sie an. Die beiden strengen, schwarzgekleideten Frauen mit den runden ernsten Gesichtern, den gescheitelten, nun schon stark ergrauten Haaren, standen einander gegenüber. Kläre ahnte, daß etwas bevorstand, vielleicht eine Bitte um Hilfe, die sie schon einmal hatte verweigern müssen. Aber nun kam unter Tränen und heißen Zornausbrüchen die ganze schreckliche Tatsache. Und »dein Wilhelm hat das Unheil angerichtet!«

Aber das glaubte die Mutter nicht. Sie wollte den Sohn rufen: er war nicht zu Hause. Die Klingemann legte ihr heiße Liebesbriefe vor, die sie in der Bibel ihrer Tochter gefunden und der Weinenden unter mehreren Ohrfeigen weggenommen hatte.

»Also darauf hattet ihr es angelegt,« sagte die ältere Schwester schneidend, »darum habt ihr sie mir ins Haus geschickt, meine armen Kinder zu überwachen!« Sie lachte laut. »Denn das wirst du mir doch nicht einreden wollen, daß der arme Junge sie verführt hat: sie ist doch die ältere!«

Frau Klingemann lachte noch bitterer; jemand hatte ihrem Mann erzählt, in welcher Gesellschaft man ihren Neffen in der Universitätsstadt gesehen hatte. An dem war nichts zu verderben gewesen.

In diesem Augenblick trat der Konsistorialrat, durch das Geschrei der Frauen gestört, ins Zimmer, und fast zugleich mit ihm Wilhelm, der eben nach Hause gekommen war. Nun fuhren alle auf den Erblaßten los.

»Lausehund!« sagte die Tante.

»Du vom Bund der Reinen!« sagte der erschütterte Vater, »du ... nein, du bist mein Sohn nicht mehr, ich kenne dich nicht mehr, ich verstoße dich!«

Da stellte die Mutter sich schützend vor ihren Ältesten: »Nein nein, Mehl! das ist zuviel!« rief sie.

Elsbeths Mutter aber sagte kühler, das sei alles recht schön, sie aber wolle wissen, wann die Hochzeit sein würde!

»Hochzeit? Hochzeit?!« schrie Frau Kläre. »Niemals!« Und nun fielen Worte über die arme Elsbeth, daß Frau Klingemann zunächst das Fenster schloß, dann sich aufschluchzend hinwarf und zuletzt zur Hausbibel im Zimmer des Konsistorialrats flüchtete und Gott zum Zeugen anrief.

Aber Wilhelm trat für die Geliebte ein. Fest und blaß erklärte er, daß er allein der Schuldige sei und Elsbeth zur Frau nehmen müsse und werde ...

Frau Klingemann horchte auf.

Da verboten die Eltern dem Sohne solche Absichten: »Eine Gefallene zur Frau nehmen! in ihr Haus bringen! niemals!«

Wilhelm antwortete, er wisse wohl, daß sie ihm jede Unterstützung weigern und ihn noch durch anderthalb Jahre an der Heirat hindern könnten; dennoch werde er Elsbeth nachher unfehlbar heiraten und sie schon jetzt zu sich nehmen, und da das Kind, – er wurde ganz rot, als er dies sagte, – indessen würde geboren werden, so werde der Skandal nur noch größer sein. Er aber werde unbedingt dies alles tun, um ihre und seine Ehre wiederherzustellen; und damit ging er auf Frau Klingemann zu, nannte sie »Mutter!« und bat sie um Verzeihung.

Da trat auch der Konsistorialrat auf des Sohnes Seite und sagte: wie schmerzlich seine Schuld auch und ihre Folgen für sie alle seien, so freue es ihn doch zu sehen, daß er seine Pflicht tun wolle.

So blieb Frau Kläre mit ihrem Widerstande allein.

Es gab noch viele Tränen, viel Zorn und Aufregung, dann trat eine beruhigtere Stimmung ein. Eine ganz kleine Hochzeit wurde im November gefeiert, bei der eine unter dem Schleier und unter Tränen übermütige Braut saß, und der Konsistorialrat eine kleine Rede hielt, in der er zwar diesmal nichts von Zucht und Sitte, dafür aber von dem doppelten Bande sprach, das sich nun um die Familie schlinge.

Jedem Menschen ward gesagt: »Ja, wissen Sie denn nicht, daß die schon lange heimlich verlobt waren?« und manche glaubten es sogar. Und sieben Monate später erhielt Wilhelm, der am 1. April als Einjähriger zu seinem Regiment eingerückt war, die Nachricht, daß seine Frau entzückende Zwillinge geboren hätte.

»Wie die Kaninchen!« sagte Fräulein Hotze.

*


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