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Erich von Schleyden und Botho Strachwitz hatten als Kinder miteinander gespielt, hatten im gleichen Regiment gedient und waren einander in ihrem jungen Leben in warmer Freundschaft zugetan. Als Knaben hatten sie oft gestritten; denn Botho, sonst der Gutmütigere von beiden, war sehr jähzornig, während Erich sich empfindlicher und oft lange gekränkt zeigte. Aber jeder Zwist hatte mit einer heißen Versöhnung geendet, und wie es oft geschieht, war ihre Freundschaft erst, da sie erwachsen waren, recht innig geworden.
Kurze Zeit jedoch, ehe Strachwitz, der zunächst im Militärdienst verbleiben wollte, wieder zu seinem Regiment einrückte, trat in Schleydens Benehmen eine Veränderung ein. Seine Besuche wurden seltener. Von gemeinsamen Verabredungen sagte er sich unter allerlei Vorwänden los, und es war vorgekommen, daß Strachwitz ihn aufgesucht hatte und ihn dem Diener sagen hörte, daß er nicht zu Hause wäre, um ihn dann rasch herauskommen, ihn herzlich begrüßen, von einem Mißverständnis reden zu hören. Aber seine Herzlichkeit war gezwungen, und oft ruhten seine Blicke forschend auf dem kräftigen Männergesicht des andern und wendeten sich rasch ab, wenn dieser aufsah. All dies hatte Strachwitz nur halb unbewußt gefühlt und zu einer Aussprache war es nicht gekommen.
Er war schon einige Zeit in der Garnison, als er von Schleyden einen Brief erhielt, in dem dieser schrieb: »wenn er in letzter Zeit sonderbar gewesen sei, möge er ihm dies nicht übelnehmen; die Ursache sei ein seltsames, ja lächerliches Erlebnis, das er ihm bei Gelegenheit erzählen werde und das ihn nervös und unliebenswürdig gemacht hätte: er bitte ihn herzlich und dringend, ihm sein Verhalten nicht nachzutragen.« Graf Strachwitz schrieb sogleich heiter zurück, »er habe mehr Gründe, ihm gut zu sein, als je, und hätte ihm nie etwas übel genommen; er selber wisse zwar nicht, was Nervosität sei, aber er wolle sich bemühen, es bei ihm zu verstehen; er möge sich indessen um Gottes willen davon befreien, da dies insbesondere für einen gesunden Nachwuchs, den jeder wünschen müsse, keineswegs günstig sei!«
Bald wurde ihm die Erklärung dieser Antwort. Zu Weihnachten fuhr er nach dem väterlichen Gut, wo seine einzige Schwester ihn froh und zärtlich begrüßte und ihm gestand, sie hätte eine große Überraschung für ihn. Auf seine heiteren Fragen zögerte sie eine Weile scherzend mit der Antwort und verriet zuletzt, sie habe sich mit seinem Freunde Botho verlobt. Wie erstaunte sie, als ihr Bruder, anstatt die herzliche Freude zu zeigen, die sie erwarten mußte, nur überrascht, ja betroffen schien, einsilbige Worte sprach und keinen Glückwunsch für sie fand. Gekränkt wollte sich das Mädchen zurückziehen, als Erich sich zu besinnen schien und sie liebevoll festhielt; indessen kam schon die ganze Familie in der Torhalle zusammen und unter Umarmungen und Fragen und Erzählungen hätte der erste peinliche Eindruck sich verloren, wäre Erich nicht auch in den folgenden Tagen unerklärlich verstimmt gewesen; und völlig betroffen waren alle, als er bei einer Gelegenheit aufgeregt fragte, ob die Sache denn sein müßte, ja Einwendungen gegen die Verbindung erhob. Ein peinliches Schweigen entstand: der Vater erbat sich nähere Erklärungen, die Erich nicht zu geben wußte, die Mutter sagte nur, sie freue sich, daß Maria, die Tochter, jetzt nicht zugegen gewesen sei. Einige Tage später traf Botho selbst ein, harmlos und glücklich, und seine überquellende Herzlichkeit zerstreute die üble Laune, auch bei Erich, und die Stimmung wurde wieder festlich und heiter.
Als die Hochzeit gefeiert werden sollte, kam auch Erich wieder, aber er war nicht mehr der harmlose liebenswürdige Schleyden von einst, sein Benehmen hatte etwas Unsicheres, und wo er hinkam, warf er einen Schatten über die Fröhlichkeit. Seine Eltern verhehlten dem alten Freunde und neuen Sohne nicht ihre Besorgnis um den wirklichen Sohn und baten Botho, in ihn zu dringen, ob er nicht ein peinliches Geheimnis, Schulden, eine Krankheit, eine heimliche Liebe, irgendein Unheil verbärge, von dem sie ihn vielleicht befreien konnten.
Die beiden Schwäger gingen lange auf und ab, ohne daß aus Erich etwas herauszubekommen gewesen wäre; einmal sah er den andern an: sein Geheimnis, wenn er eines hatte, schien ihm auf der Zunge zu sein, aber er schwieg.
Nach der Hochzeit sahen sie einander lange nicht. Die Schwester hatte schon einen Sohn, als Erich ihrer dringenden Einladung endlich folgte und sich zu einem Besuche entschloß. Botho, der ihn von der Bahn abholte, erschrak, als er sein faltiges junges Gesicht sah, die langen nervösen Hände, das unstete Lächeln um den Mund, der fortwährend Scherze sprach, die zu bitter waren, um wohlzutun. Aber er kam zu solchem Glück, zu solcher Ruhe und Gesundheit, in ein so stilles Landleben zwischen Obstgärten und Feldern und Büschen; so fruchtreich war alles um ihn, daß er sichtlich aufatmete.
Am Abend des zweiten Tages kam das Gespräch auf abergläubische Gebräuche und seltsame Ereignisse, und Botho spottete der Leute, die an solche Dinge glaubten. Erich stimmte ihm heftig bei, ja er konnte sich nicht daran genug tun, auseinanderzusetzen, wie unsinnig dergleichen sei.
»Du hältst ja einen Vortrag, Erich«, sagte die Schwester neckend.
Da sprach zu aller Überraschung Erichs Vater, der gleichfalls anwesend war, ihnen entgegen. Ihm war einmal eine Prophezeiung in Erfüllung gegangen; er erzählte die ganze etwas umständliche Geschichte. Botho lächelte höflich, die Tochter schwieg, nur Erich widersprach so heftig, ja fast unartig, daß alle die Partei des alten Herrn gegen ihn ergriffen, und Botho eine vernunftgemäße Erklärung des erzählten Falles gab, in der alles Übernatürliche ausgeschaltet war. Er zeigte, wie der Glaube an solche Ereignisse, ja die Angst vor ihnen zu ihnen führe, und wie Prophezeiungen sich erfüllen könnten durch Vorgänge in der Seele des Abergläubischen, die erst nachher und völlig natürlich entstünden, so daß man sagen könnte, daß derjenige, der an unheilvolle Verkündungen glaube, selbst das Unheil verschulde.
»Blödsinn!« rief Erich heftig.
Botho verstummte, dann sagte er lächelnd: »Jetzt müßte ich dich ja eigentlich fordern ... Wenn das unserm alten Oberst zu Ohren käme!«
Erich wurde kreideweiß und stammelte eine Entschuldigung.
»Der arme Erich!« sagte die Gräfin, als der Bruder den Tisch verlassen hatte.
In dieser Nacht wurde die junge Frau durch Schritte auf dem Kiesweg im Garten vor ihrem Fenster erschreckt. Sie weckte ihren Gatten, der, als er das gleiche Geräusch deutlich vernommen hatte, seinen Revolver zur Hand nahm und ans Fenster trat. Erst war alles still, dann hörte er abermals Schritte, die sich entfernten. Der Graf warf einen Mantel über und eilte hinaus.
Eine Gestalt schien sich dem Eingang des Landhauses zu nähern.
»Halt! Stehen bleiben, oder ich schieße!« rief der Hausherr nacheilend.
»Schieße nicht, Botho! ich bins, Erich«, sagte sein Schwager.
»Was treibst du denn, zum Teufel? – Warum sprichst du nicht?«
»Ich habe nicht schlafen können und ging daher ein wenig ins Freie«, erklärte Erich. Der Graf war indessen ganz nahe herangekommen und sah, daß der andere an allen Gliedern zitterte. »Warum fürchtest du dich so?« fragte er mißmutig.
»Ich weiß nicht – ich pflege mich doch sonst nicht zu fürchten, wenigstens nicht vor natürlichen Dingen«, erwiderte dieser. »Gute Nacht, Botho.« Er lehnte die angebotene Begleitung ab und ging auf sein Zimmer.
»Du solltest einen Arzt fragen!« rief sein Schwager ihm nach. Am nächsten Morgen war Erich abgereist.
Am Tage nach seiner Ankunft in Berlin hörte er im Klub eine Nachricht besprechen, die in allen Abendzeitungen der Welt gestanden hatte. Ein junger österreichischer Offizier hatte eine Prinzessin aus kaiserlichem Hause geheiratet. Jeder wußte eine andere Version, andere Begleitumstände. Da machte ein Diener die Redenden aufmerksam, daß ein Herr auf dem Sofa neben ihnen in Ohnmacht gefallen sei.
»Schleyden!« rief einer der Herren und eilte ihm zu Hilfe. Er kam zu sich, trank ein wenig Wasser, seine Lippen zitterten. Man besorgte ihm einen Wagen, und er fuhr nach Hause.
Während er noch mit sich kämpfte, ob er einen Arzt aufsuchen und ihm seinen Zustand enthüllen sollte, führte ihn der Zufall in Gesellschaft mit einem der berühmtesten Nervenärzte zusammen. Im Gespräch mit ihm behauptete Schleyden – im Gegensatz zur Meinung, die er auf dem Gute seines Schwagers verfochten – hartnäckig die Möglichkeit übernatürlicher Zusammenhänge. Dem Professor war kein Fall bekannt. »Ich werde Ihnen einen erzählen, den ich selbst erlebt habe«, sagte Schleyden erregt. Der Arzt sah ihn aufmerksam an. Sie gingen mitsammen fort, und Schleyden erzählte ihm:
Vor fünf Jahren sei er mit seinem Freunde Strachwitz in Ungarn zur Jagd gewesen. Als die aufgetriebenen Tiere gestreckt, waren und man im Walde gefrühstückt hatte, waren die Herren plaudernd unter den uralten Riesenbäumen hervor in eine Tallichtung geschritten, in der eine große Schafherde weidete. Der Hirt im langen weißen Hemd, geflochtene Zöpfe unter dem runden kleinen Hut, sei still dagestanden, das geladene Gewehr auf dem Rücken. Näherkommend hätten sie gesehen, daß er nicht allein war: an einem Baum saß eine alte Zigeunerin, und am fernen Waldrand sahen sie den Trupp um ein im Schatten zuckendes Feuer beschäftigt. Schleyden konnte sich jedes kleinsten Umstandes genau entsinnen.
Irgend jemand hatte gerufen: »Die soll uns wahrsagen!« und hatte Beifall gefunden.
Die Zigeunerin habe gelassen rauchend dagesessen, ohne sich um die Jäger zu kümmern: ihr dunkles Gesicht unter den aschgrauen Haaren streifte sie flüchtig und sah an ihnen vorüber.
Dennoch weigerte sie sich nicht, als man ihr Geld bot. Schleyden stand dicht neben ihr, während sie die Hand des ersten, der zu ihr gesprochen, ergriff und in erträglichem Deutsch, wenn auch mit fremdartigem Ton, sagte:
»Du wirst jung sterben in fremdem Land!«
Er sah auch, wie der junge Mann bleich wurde, zu lachen versuchte und seine Züge mitten im Lachen starr wurden; ihn selbst hätte es überlaufen. Da hörte er bereits, wie sie die dargebotene Hand des zweiten fassend, sprach: »Merke dir diesen Tag; heute über drei Jahre wird dir große Ehre widerfahren durch ein Weib!« Der junge Mann lachte und schrieb das Datum auf. Schleyden war der dritte, der ihr mechanisch die Hand hinstreckte, und mit einer deutlichen Kopfbewegung nach der andern Seite sagte sie zu ihm: »Dort, durch deinen Freund wirst du umkommen!« Sie hatte auf Botho gewiesen, der abseits von den andern bei dem Hirten stand, sich mit dessen Hunden beschäftigte und nichts gehört haben konnte.
Schleyden warf ihr ein Geldstück hin und schritt fort. Er hörte noch sprechen, lachen, protestieren, aber was den übrigen, Gutes oder Schlimmes, verkündet wurde, hörte er nicht mehr. Nur diese drei Prophezeiungen, von denen die dritte ihm gegolten, hatte er sich gemerkt.
»Und nun?« sagte der Arzt lächelnd.
»Ein Jahr später ist der erste in Afrika ertrunken!«
»So? Wirklich?« fragte der Arzt.
Ohne auf ihn zu achten, erzählte Schleyden, wie er seither einen Druck empfunden, den er nicht los hätte werden können, wie er dem Freunde, der ihm der Teuerste gewesen, nicht mehr unbefangen hätte begegnen können, und so ihr Verhältnis und dadurch auch seit nunmehr drei Jahren sein ganzes Gemütsleben zerstört worden sei.
»Was hat denn die Frau Ihrem Freunde geweissagt?« fragte der Professor.
Das habe er natürlich auch gefragt, um zu erfahren, ob die Prophezeiung, die dieser erhalten, die greulichen Worte bestätigte. Graf Strachwitz hätte jedoch geantwortet, daß er solchen Aberglauben nicht unterstützen mochte und sich gehütet hätte, die Frau zu fragen. Das sei für die ungarischen Herren gut; er aber tue da nicht mit.
»Ihr Freund ist sehr vernünftig«, sagte der Professor.
Diese Antwort habe erst auch ihn befreit, fuhr Schleyden fort, dann habe ihn sogleich der Gedanke bestürzt gemacht, daß das Weib den ihr gänzlich unbekannten, nie gesehenen, im Augenblick fern von ihm stehenden Strachwitz als seinen Freund bezeichnet hätte; sie mußte also doch ein zweites Gesicht besitzen!
»Sind Sie der Sache ganz sicher?« fragte der Arzt wieder.
Schleyden sah ihn ironisch an: »Glauben Sie, daß ich mir das nicht alles selbst gesagt? Glauben Sie, ich hätte mir nicht gesagt, das sei alles vollkommener Unsinn, mir nicht gesagt, daß ich damals eine schlaflose Nacht hinter mir hatte, und davon, wie von dem frühen Aufbruch, den Aufregungen der Jagd, den vielen bunten Eindrücken und nicht zum wenigsten dem genossenen Kognak ...«
»Nicht zum wenigsten!« warf der Professor ein ...
Schleydens elegante Gestalt gab sich einen Ruck, und er sah mit Hohn auf den berühmten Mann herab.
»... in einem halbwachen Traumzustand versetzt worden;« fuhr er fort, »daß die Zigeunerin gar nicht auf meinen Schwager gezeigt, sondern auf irgend jemanden in meiner Nähe, und daß nur ich mir die Bewegung in der Richtung auf jenen ergänzt, weil das Wort ›Freund‹ mir den einen suggerieren mußte, der mein Freund war!«
»Sehr richtig!«
»Sehr richtig! Wenn ich nur nicht in mir die unumstößliche Gewißheit hätte, daß dies alles nur haltlose Gegenreden meines modernen Bewußtseins sind, und daß die Sache sich so verhält, wie ich sie Ihnen erzählt habe. Ein Jahr später hörte ich, daß ein österreichischer Sportsmann auf der Jagd in Afrika ertrunken sei. Erst achtet« ich nicht darauf, und auch den Namen erkannte ich nicht wieder: erst auf dem Heimweg kam mir ganz deutlich die Erinnerung, daß es der Name des jungen Mannes war, der die erste Prophezeiung erhalten hatte.«
»So? Erst auf dem Heimweg?«
»Zufall, sagte ich mir; es gibt viele Herren dieses Namens in Osterreich, und alle sind Jäger. Darum schrieb ich an unsern Freund in Ungarn und erhielt die Antwort, daß zwei Herren dieses Namens regelmäßig in der Gegend gejagt hätten; ob einer von ihnen und welcher, ob beide gerade an jener Jagd teilgenommen, könnte er, der nicht Jagdherr, sondern selbst mit eingeladen gewesen, sich nicht erinnern. Unwahrscheinlich sei es nicht.«
»Dieser Fall ist also nicht bewiesen«, sagte der Arzt.
»Mir scheint es doch, hinreichend«, erwiderte Schleyden.
»Um Sie aufzuregen, gewiß.«
»Ich hätte mir die unumstößlichen Beweise verschaffen können, aber ich wollte nicht. Begreifen Sie das?«
»Vollkommen. Bitte, erzählen Sie weiter.«
»Nun gestern haben Sie sicherlich auch in der Zeitung gelesen, daß der Oberleutnant von Hutten eine kaiserliche Prinzessin geheiratet hat. Er war der zweite.«
Der Professor stellte noch einige Fragen, dann sagte er: »Damals haben Sie recht gehabt, als Sie einsahen, daß Sie die Sache selbst kombiniert haben.«
»Und die immer neu eintreffenden Ereignisse, die Tatsachen, der Name, da« Datum, das auf den Tag stimmt?«
»Ja, das ist eben Ihre Krankheit, daß Sie das glauben. Solche Zusammenhänge gibt es nicht, oder zum mindesten sie sind unbeweislich, und es läßt sich mit den angeführten Fällen nichts anfangen; auch mit dem Ihren nicht. Irgendein kleiner Umstand wird immer zu den Ereignissen hinzuergänzt und auf diesen kleinen Umstand kommt es an; und der scheinbare Zusammenhang ist immer ein post hoc, nicht ein propter hoc. Ich werde den sonderbaren Zufall in Ihrem zweiten Falle nicht leugnen, – ich wiederhole, den sonderbaren Zufall, nichts weiter, – wenn Sie mir den Zettel schaffen, den der Oberleutnant von Hutten damals in die Tasche gesteckt. Sonst erlauben Sie mir, an Ihren Daten zu zweifeln. Ich habe es in schweren Prozessen erlebt, daß Daten, die von Ehrenmännern im besten Glauben beschworen wurden, nicht stimmten!«
»Auf diese Weise kann man an allem zweifeln!« rief Schleyden heftig.
»Das muß man auch, lieber Baron«, sagte der Arzt gelassen.
»Ich besitze selbst noch einen alten unabgeschickten Brief von jenem Jagdtag und konnte daher das Datum feststellen. Aber wenn es auch nicht völlig gestimmt hätte, die Prophezeiung wäre meiner Meinung nach doch eingetroffen. Und es ist für mich keine Beruhigung, wenn ich durch meinen Schwager erschossen werde, – wie er es vor wenigen Tagen beinahe getan hätte – und Sie es nachher für einen dritten Zufall erklären!«
»Erlauben Sie mir, das als einen Fehlschluß zu bezeichnen, weil die Prämisse falsch ist. Sie sind nervenkrank: ob die Zwangsvorstellung, unter der Sie leiden, die Ursache ist, als Suggestion, und das Ganze eine Folge des erlittenen Choks, oder ob eine Disposition vorhanden war, will ich jetzt nicht entscheiden.«
Er lud ihn ein, ihn in seiner Sprechstunde aufzusuchen, und empfahl sich.
Schleyden ging hin, obwohl er bereits wußte, daß der Arzt ihm nicht helfen konnte. Die Tatsachen standen zu starr und erschreckend vor seinen Augen, als daß die Zweifel des andern, die ihm billig schienen, ihn hätten beruhigen können. Eine Zeitlang folgte er seinen Anordnungen, dann gab er sie hohnlachend auf, da sie keinen Erfolg hatten. Statt dessen begann er Bücher zu lesen, die sich mit diesen Zwielichterscheinungen unserer Erfahrung beschäftigten, und mit Leuten zu verkehren, die das gleiche taten. Einer dieser Adepten sagte ihm, daß auch jene, die ein zweites Gesicht besäßen, immer nur trübe und ungefähr durch den Schleier der Zukunft blicken könnten: daß sein Schwager beinahe auf ihn geschossen, könnte sehr wohl bereits die Erfüllung der Prophezeiung sein; denn eine wirkliche Feindseligkeit, die aus dem Wesen des andern ströme und ihn verfolge, bestünde ja nicht, sie müßte denn aus einer früheren Existenz herrühren.
Dieser Gedanke erregte ihn sehr, und er war bald überzeugt, daß es sich so verhalten müsse. In Träumen sah er den Schwager sonderbar verändert als seinen Feind: einmal saß er im Theater und wußte, Botho sitze in einer Loge als der Hofmarschall, der ihm übelwollte, und alles verhinderte; was er verhindert hatte, wußte er am andern Morgen nicht mehr. Ein andermal begegnete ihm Strachwitz als Jäger im selben Urwald in Ungarn, in dem das Unheil seinen Anfang genommen hatte, auch diesmal in veränderter unbekannter Tracht, und verworrene und unangenehme Dinge ereigneten sich zwischen ihnen, die er sich wiederum am andern Morgen nicht mehr deutlich ins Bewußtsein rufen konnte, nur die Feindseligkeit des Erlebnisses und der Stimmung war geblieben und machte ihm das Erwachen und den Tag bitter. Er war überzeugt, daß diese Träume Erinnerungen aus jenen früheren Existenzen waren.
Zu seiner Schwester kam er nie mehr und lehnte Bothos Besuche mit der Begründung ab, er sei ein Mensch geworden, der der Einsamkeit bedürfe, der Freund möge seiner als eines jungen Mannes gedenken, den er einst lieb gehabt, und der nicht mehr da sei. Alle Versuche, ihn aufzurütteln, waren vergeblich. Er ließ sich in eine Provinzstadt versetzen und lebte seinem Amt, seinen Büchern und seinen Spaziergängen mit starrer Regelmäßigkeit.
Einmal wurde ihm ein Besuch gemeldet, und in sein Empfangszimmer tretend, sah er seinen Schwager vor sich. Durch den Tod des alten Herrn von Schleyden waren geschäftliche Auseinandersetzungen nötig geworden, denen Erich sich bisher stets entzogen hatte, und Strachwitz, der sich in Schwierigkeiten befand, war kurzerhand zu ihm gefahren. Dieser unerwartete Besuch versetzte Schleyden in eine peinliche Verlegenheit, und er ersuchte den überraschten Grafen, dies nicht wieder zu tun.
Strachwitz beherrschte sich und setzte ihm auseinander, was er vorhatte. Aber Schleyden sah in den finanziellen Plänen seines Schwagers eine Gefahr nicht nur für sich, sondern auch für seine Schwester und deren Kinder, in deren Angelegenheiten er mit der gleichen Gewissenhaftigkeit verfahren wollte, die er sonst als Vormundschaftsrichter zu beobachten pflegte, und er verweigerte seine Zustimmung. Wie jeder Bedrängte, der einen Ausweg sieht, war der Graf freudig hergereist; seine Pläne hielt er für völlig sicher, und schon durch die ersten Worte des Schwagers gereizt, wurde er nun durch dessen Weigerung heftig erbittert und warf ihm in schonungslosen Worten vor, daß er ihrer aller Liebe schlecht vergelte, und daß seine Krankheit nur Egoismus sei. Erich wurde sehr bleich und still und bat ihn inständigst, zu schweigen und zu gehen, und er entfernte sich ernstlich beleidigt. Von da an schrieben sie einander auch nicht mehr.
Jahre vergingen in dieser düstern Weise, als Schleyden einen Brief seiner Schwester erhielt: ihr Gatte sei bei einem Spazierritt auf glattestem Weg mit dem Pferde gestürzt, er könne sich kaum erklären wie, und liege an inneren Verletzungen rettungslos krank: ihrer beider, vornehmlich aber des Sterbenden dringender Wunsch sei es, daß er und Schleyden sich noch einmal sprechen sollten. Erich antwortete, daß er telegraphisch um Urlaub einkommen werde; aber er zögerte und zögerte, dies zu tun, durch eine unbesiegliche Angst gehindert, bis am vierten Tag die Nachricht vom Tode seines Schwagers eintraf: da erst führte er seinen Vorsatz wirklich aus und reiste sogleich ab.
Tiefstes Mitleid mit dem Toten und mit seiner Schwester, und ein Gefühl der unerwartetesten Befreiung mischten sich in ihm mit dem Schmerz und der Wut über ein Leben, das er durch eine Kette von Torheit und Zufall hatte zerstören lassen, das so fröhlich begonnen hatte und durch einen Schritt in falscher Richtung zum Verdorren gebracht worden war.
»Arme, arme Maria!« sagte er, als er die blasse, vom Weinen vernichtete Schwester sah. »Er hat so sehr nach dir verlangt«, klagte sie. Erschüttert schloß er sie in seine Arme und versprach ihr, wenn er bisher kein Bruder für sie gewesen sei, wolle er es hinfort doppelt sein und sich ganz ihr und ihren Kindern widmen.
Er schied aus dem Amt und übersiedelte, sobald es irgend anging, auf das Gut. Traurig-friedlich vergingen ihre Tage; nur die Kinder lösten sich, wie es ihrem Alter eigen war, bald von dem unverstandenen Schmerz, und die Mutter folgte ihren Spielen halb mit Lächeln, halb mit Tränen. Mit den Kindern verbrachte Erich einen großen Teil des Tages, die Abende lesend oder Karten spielend mit der Schwester.
Eines Tages vermißte er Angelgeräte für den ältesten Knaben: »die müßten in einem alten Schrank ihres Mannes im oberen Saal neben Erichs Zimmer sein«, sagte die Gräfin. Erich und die Kinder eilten ins obere Stockwerk und kamen mit allerlei Geräten und Waffen beladen wieder herunter. Der Knabe ergriff eine Pistole.
»Laß dies!« sagte Erich, »sie kann geladen sein.«
»Das ist ganz unmöglich,« sagte die Gräfin, »daß mein Mann, der so vorsichtig war, eine geladene Waffe in einem unversperrten Schrank aufbewahrt hätte.«
In diesem Augenblick ging der Schuß los und die Kugel schlug dicht neben Erich in das klirrende Glas der Fensterscheibe und draußen in die Baumgipfel.
Die Gräfin stieß einen Schrei aus und riß das weinende Kind an sich, dann sah sie nach ihrem Bruder. Er war völlig unverletzt, aber leichenblaß und zitterte. Es sei nichts, sagte er und ging schweigend hinaus.
Die Erkenntnis stand in ihm fest: der Tote, der sein Schicksal bedeutete, hatte nach ihm gezielt und ihn gefehlt. Er schlief diese Nacht nicht; er wollte aus dem Hause fliehen, aber seine Angstzustände hatten ihn ja auch an andern Orten nicht ruhen lassen. Ein einziger Gedanke wuchs riesengroß. In den schlaflosen Nächten hatte er Erscheinungen, und einmal hörte die erschrockene Frau, wie ihr Bruder oben schrie, hörte jemanden über den Gang eilen, einen Körper fallen, und als sie mehr tot als lebendig hinaufkam, sah sie ihn völlig angekleidet auf dem Boden liegen, eine Waffe in den Händen.
»Ich bin krank, sehr krank,« sagte er, »so krank, daß mir nicht mehr zu helfen ist. Was es ist, weiß ich nicht. Aber ich werde ja irrsinnig!« schrie er plötzlich. Dann ging er rasch an seinen Nachttisch, goß aus einem Fläschchen etwas in ein Glas und trank.
»Gute Nacht, Liebe«, sagte er. »Nun wird es besser«, und beide gingen schlafen.
Die Schwester hatte Angst, ihn bei den Kindern zu wissen, Angst, ihn fortzulassen. Des Nachts sperrte er sich ein, verschloß selbst die Läden, und mit einem sonderbaren Gefühl bemerkte die Frau, daß er ein Bild ihres Gatten in dem Salon, den er durchschreiten mußte, um in sein Zimmer zu kommen, gegen die Wand gekehrt hatte. Das Gehen bei Nacht über ihr nahm kein Ende und das Erwachen unter Angstschreien kam immer wieder.
Endlich reifte er ab, um denselben Arzt zu befragen, bei dem er einst gewesen, aber er kam alsbald mit Hohnworten für den Merklugen zurück. Er war zum Erschrecken mager und in solcher Erregung, daß die Schwester ihm zitternd sagte, daß er der Kinder wegen nicht bleiben könnte. Aber er sagte, er bleibe auf keinen Fall, er sei nur gekommen, um gewisse Schriftstücke zu finden, die ihr Mann für ihn hinterlassen haben müßte. Sie wußte von solchen Schriftstücken nichts; und es begann ein peinliches Suchen in allen Winkeln und Ecken des Hauses, bei Tag und bei Nacht, denn er mußte die Schriften haben; mit Lampen und Kerzen, so daß sie vor Feuersgefahr zu zittern begann, ein Kramen und Lesen in Papieren, die nie die richtigen waren. Endlich begann der gespenstische Mann, der oben in dem Zimmer saß, selbst zu schreiben, ein Manuskript, das er vielfach versiegelte und dessen Eröffnung er verbot.
Die gequälte Frau begann daran zu denken, daß sie den Bruder in eine Anstalt schicken müßte. Aber es war, als erriete er ihren Gedanken, denn er sagte: »übermorgen bist du mich ohnedies los.«
Sie wußte nicht, wie sie diese Worte auslegen sollte, und in der Nacht vor dem übernächsten Tage schritt sie in ihrem langen schwarzen Kleide voll Angst in das Zimmer ihres Bruders. Sie hörte ihn drinnen auf und abgehen und mit sich selbst sprechen und lauschte. Aber sie merkte, er sprach nicht mit sich, er sprach mit jemand anderem, mit irgend jemandem, der nicht da war ... sie hörte ihn bitter lachen und zornig schreien. Sie legte die Hand auf die Klinke und öffnete ein wenig, aber der Mut versagte ihr und ihr Blut erstarrte, als sie deutlich hörte, daß der, mit dem er sprach, ihr Gatte war ... Und er sprach in regelmäßigen Pausen und Absätzen, und schien eine Gegenrede zu hören, der er erwiderte. Dann schrie er wieder und schlug mit der Hand auf den Tisch; dann redete er ganz leise, legte den Kopf in die Hände und weinte. »Botho«, jammerte er, »Botho, bei unserer alten Freundschaft ...« Sie floh in ihr Zimmer zurück, warf sich in die Kissen und hielt sich die Ohren zu, um kein Geräusch von oben zu hören.
Am andern Tage fand sie ihren Bruder tot im Bett.
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