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Sommernächte

Friedrich von Kalinowski saß in dem weißen Gartensalon bei der Lampe und schrieb. Die Mullgardinen vor dem niederen breiten Fenster, das vielgeteilt von einer Wand zur andern reichte, waren nicht zugezogen; über den dunklen abendlichen Büschen lag noch ein matter Tagesschein.

Er sah auf; seine Frau war eingetreten. »Bist du noch nicht fertig?« fragte sie.

Er unterschrieb eben. »Verzeihung, sagtest du etwas?«

Sie trug ein cremefarbenes Abendkleid und richtete ihr Spitzentuch vor dem Spiegel. Er war im Frack und in weißer Weste. Ihr Blick fiel auf sein gesundes rotwangiges Gesicht mit dem dunklen Spitzbart, die hübschen Züge, in denen Heiterkeit und Verstimmung so schnell wechselten.

Ihre Finger spielten an der Ecke des Tischchens, vor dem sie sich ungeduldig niedergesetzt hatte. Kalinowski nahm die Papiere und trat ins Vorzimmer. Sie folgte ihm.

»Stringe!« rief er.

Der Wachtmeister meldete sich. Er kam aus der Küche. Mädchengelächter tönte ihm nach. Im Gesicht der Dame zeigte sich Verdruß.

Ihr Mann gab ihm vor dem Fenster die Papiere und Weisungen. »Und sowie das Geringste vorfällt, verständigen Sie mich sofort!«

»Jawohl, Herr Amtsvorsteher!« erwiderte der Gendarm.

Kalinowski legte seiner Frau den Abendmantel um die Schultern; das Mädchen kam, noch verstohlen lachend, aus der Küche und half ihm in den Überrock. Hinter ihnen schritt der Wachtmeister die Stufen hinab ins Freie und stand salutierend, als sie fortfuhren.

Nur der eilige Hufschlag ihrer Pferde scholl in der duftenden stillen Waldstraße. Sein Blick ruhte auf dem feinen Kinn seiner Frau, während sie verstimmt zum Fenster sah. »Es ist so unangenehm, zu spät zu kommen«, sagte sie. Er zog die Uhr und schwieg. »Hedwig,« sagte er nach einer Weile, »ich habe eine Bitte an dich.«

»Ja?«

»Mißverstehe mich nicht, aber aus Rücksicht auf mich sei vorsichtig. Wenn du dich wieder den ganzen Abend mit Maurer und nur mit Maurer unterhältst, so fällt das hier unangenehm auf.«

Mit einer gewissen Heftigkeit wendete sie sich zu ihm und: »Fritz, ich bitte dich,« antwortete sie erregt, »ich bin doch kein Kind mehr, das erzogen werden muß. Bitte, lasse mir meine Unbefangenheit!«

Er zuckte die Achseln.

Die kurze Fahrt war zu Ende und der Wagen hielt vor dem Portal; im Hof und auf der Wiese standen die Equipagen.

Sie schritten die Freitreppe hinauf; das Diner hatte schon begonnen. – –

Drei Stunden später waren die Gäste in Sälen und Spielzimmern zerstreut. Die hohen Fenster standen überall offen; einzelne Paare waren auf die Schloßterrasse hinausgetreten, um die Sprosser im Park schlagen zu hören. Ein Diener ging unauffällig durch, der Herrn von Kalinowski suchte und ihm einen Zettel reichte; ein Radfahrer hatte ihn gebracht.

Kalinowski suchte seine Frau: sie saß in einem kleinen blauen Zimmer, mit zwei Herren eifrig plaudernd; und der eine mit dem blonden Bart und dem lächelnden Gesicht war der, dessen beständige Nähe ihn nervös machte.

Er sagte ihr, daß er aufbrechen müsse: alle bedauerten es, seine Frau sah ihn forschend an. Indessen war Herr von Dewendt, der Gastgeber, hinzugekommen und protestierte: zum mindesten seine Gattin dürfe er nicht entführen, Freunde, die sie in ihren Wagen gerne würden nach Hause bringen, fänden sich wohl; übrigens könne er auch den eigenen Wagen für sie hierlassen, da man ihm einen Jagdwagen anspannen könne, der ihn rascher an den Ort brächte.

»Aber ich muß nach Lawitten«, sagte er.

»So weit Sie wollen, lieber Freund!« war die Antwort. »Wollen Sie Schmuggler abfassen?«

Kalinowski legte einen Finger auf den Mund. Man wunderte sich über den nächtlichen Dienst, doch ohne weitere Fragen zu stellen; während ihm viele Gedanken durch den Kopf wirbelten. Aber er wollte sich nicht preisgeben. Er sah nun seine Frau ebenso forschend an, wie sie vorher ihn. Sie merkte es wohl, aber sie wollte lieber bleiben, und er ging.

Der kleine Jagdwagen stand bereits im Hof, und das Pferd wurde eben an die Stange geführt. Es war munter; aber der Kutscher war es nicht. Er gab auf alle Fragen verstörte und sonderbare Antworten. Die Bedienten oder anderen Kutscher lachten oder redeten ihm zu; Kalinowski überzeugte sich, daß er angetrunken war. Er bedachte die nächtlichen Wege und das muntere Pferd; die Zeit verstrich und ein anderer Mann war nicht zur Hand. Kalinowski stieg auf und ließ sich die Zügel reichen. Das Pferd sei brav, versicherten die Leute.

Die Nacht war warm und dunkel. Aber seine Gedanken waren noch in den hellen Räumen im Schloß. Seine Frau hatte ihm die Hand im weißen Handschuh gereicht und ihm einen Blick zugeworfen, den er auszulegen suchte. Er war verstimmt, beinahe erbittert. Dann flogen seine Gedanken voraus zu dem Abenteuer, das ihn erwartete und das keinen guten Anfang zu nehmen schien. Allmählich aber nahm die Nacht ihn auf; er dachte nicht mehr, oder nur an den Weg und das Tier; hier und da rief er es leise an, um es zu ermuntern oder zurückzuhalten. Wie große Schmetterlingsflügel glitt rechts und links der Lichtschein aus seinen Laternen über Wegrand und Büsche. Er fuhr langsamer durch den steinigen Hohlweg, dennoch wurde das Pferd hier unruhig. Zweimal blieb es stehen und wollte nicht weiter.

Er war froh, als er die Wiese erreichte. Der Mond war eben aufgegangen. Das einsame Haus, das der Gendarm ihm bezeichnet hatte, lag im tiefsten Schweigen. Fensterläden und Türe waren geschlossen: nichts rührte sich. Von seinen Leuten war niemand da. Allein, wie er war, das Haus aufzustören, schien sinnlos. Er hielt etwa dreißig Schritt vom Hause entfernt auf dem nur durch Gleisspuren angedeuteten Wege und überlegte, während das Pferd argwöhnisch die Ohren zurücklegte und wieder hob. Da dröhnte ein Schuß durch den Wald. Das junge Tier sprang vorwärts und riß den Wagen weiter, ward aber bald wieder ruhig. Der Schuß kam von drüben, von der Grenze her, wo der Fluß lag. Eine Minute später war er am andern Ende der Wiese wieder im Wald auf glattem Weg; die Tannen waren hier hoch und die Straße in tiefstem Schatten. Ungeduldig erregt ließ er das Pferd laufen und trieb es noch an. Sie flogen durch den Wald der Grenze zu. Auf einmal gab es einen heftigen Ruck; das Pferd brach in die Knie, sprang wieder auf und vorwärts. Alles nahm eine sonderbar veränderte Lage an: Dinge, die unter ihm waren, kamen an ihm vorbei und über ihn, seine Hand stieß das Hinterteil des Pferdes von sich; er schlug irgendwo schmerzlich auf und verlor die Besinnung.

Eine unangenehme Berührung an Kopf und Gesicht brachte ihn zum Bewußtsein. Der Mond stand tief; um ihn war es feucht und klebrig. Das eine Auge sah nicht gut. Endlich erkannte er die Stimme und schließlich auch den Mann: Wachtmeister Stringe stand über ihn gebeugt, ein blutiges Tuch in der Hand.

»Das hat mir gegolten, Herr Baron«, sagte er und wies ihm einen zerrissenen Strick auf der Erde. »Das haben sie über den Weg gespannt.«

Er fühlte heftige Schmerzen am Kopf, an Schulter und Arm, und war vom Sturz betäubt. Das Pferd war mit dem leeren Wagen an einen Baumstamm gerannt; die Stange war zerbrochen, schief ragte er in einiger Entfernung im Mondschein, schwarzglänzend und unförmlich; das Pferd hatte der Wachtmeister aus den Strängen gelöst. Mit großer Mühe und Schmerzen kam Kalinowski, mehr von ihm gehoben als gestützt, auf des Wachtmeisters eigenem Reitpferd in den Sattel, und dieser führte, in der Mitte vor ihnen gehend, beide Tiere am Zügel.

»Er wüßte wohl ein Haus, in das er ihn bringen könnte«, sagte der Gendarm zögernd, mit einer gewissen Verlegenheit, zu dem Stöhnenden, denn im Dorf war keine mögliche Unterkunft. »Ja, ja,« sagte Kalinowski, »nur zu!«

Sie hielten vor einem reinlichen kleinen Hause, vor dem im Garten die Rosenstöcke im stillen Mondlicht standen. Stringe half dem Herrn vom Pferde und brachte ihn zu einer Bank am Gartenzaun, dann trat er an die bestrahlte Haustüre und klingelte, und pochte, da das nichts half, an die Fenster. Aber nur das Kläffen eines kleinen Hundes erscholl. Kalinowski, der matt am Zaune lehnte, fragte, wer denn da wohne. In diesem Augenblick antwortete eine weibliche Stimme aus dem Hause, und der Gendarm sprach auf polnisch zurück. Sie verhandelten eine ganze Weile, dann ward die Haustüre geöffnet. In einem kleinen Zimmer wurde von zwei stattlichen, halbwegs bekleideten Frauenzimmern für den verwundeten Herrn ein Lager bereitet. Er wurde zu Bett gebracht, das Blut ihm vom Gesicht gewaschen, auf die wunde Stelle am Kopf und auf die schmerzende Schulter kalte feuchte Tücher gelegt: eine verständige und wohltuende Hand besorgte dies.

»Ich danke, ich danke,« sagte er wiederholt, und dann mit erschöpfter Stimme: »Sie, Stringe ... reiten Sie morgen nach dem Amt und sagen Sie meiner Frau, ich käme erst abends zurück, – aber nichts von dem Unfall, verstanden! Das Pferd und der Wagen gehören Herrn von Dewendt, aber der Wagen muß repariert werden ... und Stringe, wer hat denn geschossen?«

Das fiel ihm erst jetzt ein.

»Ich weiß nicht, Herr Amtsvorsteher,« sagte der Wachtmeister, »vielleicht ein Zollwächter ... und er begann eine gewundene Erzählung, all seine Vermutungen über die Schmuggler, und warum sie nicht an der Stelle zu treffen gewesen, die er Kalinowski bezeichnet hatte ... da merkte er, daß dieser bereits schlief. Leise und befriedigt zog er sich zurück.

Kalinowski lag in verworrenen Träumen. In seinem weißen Gartenzimmer saß seine Frau mit dem blonden Mann, der ihm unangenehm war, dem Assessor Maurer; sie redeten vertraut miteinander und über ihn; er selbst aber lag unterm Tisch und der eine Fuß des Tischchens stand auf seiner Schulter. Die beiden sahen es wohl; auf dem Tischchen über ihm saß Stringe, der Gendarm, zwerghaft klein und doch furchtbar schwer und drückte ihm den Tischfuß in die Schulter; während er sich vergeblich mühte, unter dem Wagen hervorzukommen, – denn es war ein Wagen, der über ihn wegrollte und immer wieder dröhnend gegen seinen Kopf stieß.

Es war wirkliches Wagenrollen und Pochen gewesen, von dem er erwachte: er sah das wohlbekannte Gesicht des Kreisarztes, der mit der schlanken Person eintrat, die ihn gebettet und verbunden hatte. Erst war Sorge in dem Gesicht, dann, da er ihn nirgends ernstlich verletzt fand, ein verwundertes Lächeln, das Kalinowski sich nicht deuten konnte. Bei dem wechselnden Schein der Lampe sah er ein hübsches Frauengesicht in einem schwarzen, unter dem Kinn zugebundenen Tuch. Aber der breite Kopf des Arztes beugte sich immer wieder vor, und seine Finger tasteten an den verletzten Stellen. Nicht einmal eine Nadel für die Kopfwunde war nötig; dagegen schüttete er Tropfen in ein Glas Wasser, das Kalinowski trinken sollte, und empfahl sich dann höflich, lächelnd und kopfschüttelnd.

Von da an schlief Herr von Kalinowski tief und ruhig.

Als er erwachte, fiel die Mittagssonne durch die Vorhänge und zwischen den Blumentöpfen am Fenster in die Stube. Aber noch ehe er die Augen geöffnet und das grelle Licht gesehen, hatte er die linde Hand wieder gefühlt, die den Umschlag auf seiner Schulter erneuerte. Die Wangen der über ihn Gebeugten färbten sich ein wenig rot, als sie seine Augen in solcher Nähe ihren Bewegungen folgen sah. Gleichzeitig ward die Türe geöffnet, die Schwester sah herein und rief leise »Lina!«

»Kommen Sie nur herein, ich bin wach!« rief er zurück.

Das sah er sogleich, daß es zwei Schwestern waren, einander so ähnlich, als Frau und Mädchen es sein können. Die eine war voller, die andere schlanker, das Haar der einen etwas dunkler; aber je mehr er beide beobachtete, desto mehr fiel ihm die Ähnlichkeit und zugleich der Unterschied in allen ihren Linien und Zügen auf ... Beide waren hochgewachsen, beide hatten weiche, volle Gesichter mit großen dunklen Augen und üppiges Haar; und beide hatten etwas Lockendes in ihrem wohlgeformten Leibe, ihren weichen Bewegungen und in der verschleierten Stimme.

Denn es hatte sogleich ein freundliches Gespräch begonnen, mit einer gewissen Vertrautheit infolge der intimen Hilfe, die sie ihm in der Nacht gewährt hatten, und mehr noch ihrer sichtlichen Freude, ihm helfen zu können; und höflich, wie er es überall war, fragte er endlich, wer ihn so gastfreundlich aufgenommen.

»Ich bin Frau Dwelitsch,« sagte die ältere, »und das ist meine Schwester Lina.«

Er bemühte sich, seine Züge zu beherrschen; aber er schwieg eine ganze Weile, bis er endlich seinen Dank erneuerte. Über den Ruf der Schwestern war ihm irgendwas zu Ohren gekommen, wenn er gleich nicht genau wußte, was es war. Nun besann er sich auf Stringes verlegenes Reden in der vergangenen Nacht. Es kamen ihm allerlei Gedanken, und als die Frauen ihn allein ließen, wechselten Lachen und Ärger in seinem Gesicht.

Er fühlte nur noch geringen Schmerz und wollte aufstehen. Der dienstfertig bedachte Stringe hatte bereits einen andern Anzug für ihn vom Hause gebracht. Um elf Uhr war er dagewesen und wieder fortgeritten.

In der schattigen Stube nebenan war ein freundlicher Mittagstisch bereitet. Ein gewaltiger Hunger hieß ihn zugreifen; seine Wirtinnen bedienten ihn still und mit gutem Anstand; ihre Kleidung war einfach, aber doch feiner als die der Frauen der Gegend; er konnte, mußte Kavalier bleiben. Sie redeten so vernünftig; sie sprachen von ihren Schicksalen: die Mutter war Polin gewesen, der Vater ein deutscher Beamter; nach manchem Unglück waren sie hierhergekommen. »Und von Unglücklichen hat man selten eine gute Meinung«, sagte Frau Dwelitsch gelassen.

So nahm Herr von Kalinowski mit Frau Anna Dwelitsch und ihrer Schwester unter verständigen Gesprächen das Mittagsbrot. Auch ein Buchfink im Käfig und ein kleiner Hund wurden gefüttert, und von beiden war viel zu erzählen. Dann wäre er am liebsten aufgebrochen, wenn er eine Gelegenheit gehabt hätte; aber die Frauen hatten niemanden um einen Wagen zu schicken. Zwar erbot sich die jüngere Schwester, selbst den stundenweiten Weg zu gehen; doch das wollte er nicht annehmen. Vielleicht kam Stringe; er hatte gesagt, er würde wiederkommen.

Aber die Stunden vergingen, ohne daß Stringe wiederkam. Draußen wurde der Tag grauer, es fielen leichte Tropfen, dann ein leise strömender Sommerregen. Kalinowski saß in der kleinbürgerlichen Stube und ihm gegenüber am offenen Fenster die jüngere Schwester mit einer Näharbeit. Die andere war ins Dorf gegangen. Anfangs beobachtete er sie schweigend, und kaum ein anderes Geräusch war im Zimmer als das Rauschen des Regens vor dem Fenster, und das gelegentliche Klippen der Schere und der kurze Klang, wenn die Nähende sie wieder aufs Fensterbrett legte. Er begann, sie dies und jenes zu fragen, über ihr Leben und die Wirtschaft im Hause und an der Grenze. Sie schien es nicht anders erwartet zu haben und stand ihm bescheiden und heiter Rede. Allmählich ward das Geplauder scherzhafter; sie ließ die Schere fallen und er hob sie ihr auf; als er ihr ein leichtes Kompliment machte, sah sie ihm lachend ins Gesicht. Er fühlte eine wohlige Wärme, eine ein wenig derbe Behaglichkeit, die durch die Gegenwart des Weibes entstand, und dabei ein Parfüm von Dingen, die nicht zum kleinbürgerlichen Leben und Aussehen der beiden Frauen und des Hauses stimmten. Unschuld sah er nicht; diese Glieder kannten die Lust; das war gewiß, und er begann es gefährlich zu fühlen. Und doch war keine Spur von der Häßlichkeit des Lasters.

Draußen klirrte ein Reitzeug; Wachtmeister Stringe stieg aus den Bügeln.

Er entschuldigte seine Verspätung: er habe ein paar Stunden geschlafen. Kalinowski wußte, daß der Gendarm den Tag dienstfrei hatte und nur seinetwegen kam.

Amtlich meldete er, daß nichts vorgefallen war: der Gendarm Tobias habe das einsame Haus auf der Wiese durchsucht, kurz nachdem der Amtsvorsteher vorbeigefahren, und nichts gefunden. Von den Schmugglern keine Spur. Man würde sie ein andermal fassen. Kalinowski schob die Unterlippe vor; dann fragte er nach seinem Hause. Stringe beteuerte, sein Ausbleiben der gnädigen Frau so erklärt zu haben, daß sie nur an eine amtliche Behinderung denken konnte: »Die gnädige Frau lasse auch vielmals grüßen und wolle sich gewiß nicht ängstigen.«

»Und wo bleibt der Wagen, Stringe?«

»Der Wagen?« An einen Wagen hatte er nicht gedacht, weil er auch gar nicht erwartet hatte, den Herrn Amtsvorsteher schon so weit hergestellt zu finden! Er sah Kalinowskis Arger und schalt seine eigene Gedankenlosigkeit. »Aber, Herr Baron,« fügte er hinzu, »das Pferd kommt mir nicht mehr hin, es kann nicht mehr!« Er müsse es in der Zollstation einstellen. Übrigens, sagte er dienstfertig, sei er bereit, zu Fuß um einen Wagen zu gehen ...

»Nein, nein – Sie müssen ohnedies müde genug sein!« sagte Kalinowski.

»Nun, vielleicht findet sich auf der Grenzstation jemand, der gehen kann«, meinte Stringe, es werde nur spät werden. Der Jagdwagen, meldete er eifrig, sei bereits beim Wagenschmied in Reparatur und das Pferd auf dem Schloß. Es sei am Knie, an der Brust und an den Lefzen verletzt.

»O verflucht!« sagte Kalinowski, »das ist mir aber sehr unangenehm.

»Es sind aber nur Hautabschürfungen«, sagte Stringe.

Kalinowski ging mißmutig auf und ab. Der Gendarm stand wartend.

»Stringe, wer sind denn die Leute, bei denen ich bin?« fragte Kalinowski zuletzt harmlos.

Aber der Wachtmeister antwortete ihm mit einer amtlichen Auskunft, mit Zahlen und Namen, woher und wann die Frauen gekommen seien, daß die eine von ihnen eine kleine Rente bezöge und daß sie Näharbeiten machten.

Das Mädchen hatte sofort bei Stringes Eintritt die Stube verlassen. Als der Gendarm gegangen war, saß Kalinowski allein; er fühlte, daß er trotz mancher Ungeduld nicht wirklich ungehalten war, noch bleiben zu müssen. Er setzte sich ans Fenster, zündete sich eine Zigarre an, machte ein paar Notizen und schlief endlich ein.

Als er erwachte, hatte der Regen aufgehört; dunkel, am Rande rosig beleuchtet, schwebten die Wolken; eine milde Stille lag über dem Wald; die Luft war wonnig, die feuchte Erde roch stark; die Rosenstöcke im Garten standen schwer von Tropfen, und überall im Laub flöteten die Vögel.

Es pochte an die Türe; das Mädchen brachte ein Abendbrot, das es offenbar eben für ihn bereitet hatte. Mit freundlicher Einladung öffnete sie die Flasche, und da er es wünschte, setzte sie sich ohne Zieren zu ihm an den Tisch. Er fragte, wo die Schwester blieb«.

»Die Schwester ...? oh, die Schwester ... ist nicht da!« Er war nicht böse darüber.

Kalinowski wußte, wie hübsch er war und wie gut er den Frauen gefiel. Er scherzte mit ihr und lobte sie sehr, die er bereits Lina nannte, und sie zierte sich auch jetzt nicht. War es der Wein und die Sommernacht oder nur ihr offenbares, ihr wollendes Entgegenkommen, das dennoch anmutig und ohne Frechheit war; er fühlte sich bald mehr gefangen als er gedacht, und als sie die Speisen abtrug und nicht sogleich wiederkam, ward er ungeduldig.

Eine geraume Zeit verging. Dann kam sie noch einmal, in einem groben blauen Hauskleid, das schwer an ihr herniederhing, die bloßen Füße in Hausschuhen, und ging von der Türe geradewegs ans Büfett, das dicht daneben an der Wand stand, als hätte sie nur dort zu tun.

Da stand Kalinowski hinter ihr und bog ihren Kopf zurück. Sie ließ sich willig küssen.

Schon vorher war eine Türe gegangen und Kalinowski hatte im Hause leise Schritte gehört. Wieder tönte ein Geräusch von oben ... er lauschte. Sie machte sich los, stand, die Hände hinter sich auf den Tisch gestützt, und sah ihn lachend an.

»Hexe!« rief er.

»O bitte!« erwiderte sie, und dann höflich knixend: »Befehlen Sie noch etwas?«

Er lachte hell: »Das gibst du gut!« sagte er.

»Nichts? Dann wünsche ich dem Herrn Baron eine gute Nacht!« Und ehe er sich's versah, war sie draußen. Er hörte sie die Treppe hinaufgehen.

Er fühlte, daß sie geblieben wäre, wenn er sie nur gehalten hätte. Der Wein und die Sommernacht waren in ihm. Einen Augenblick dachte er seiner Frau, aber mit dem Ärger vom Abend vorher und vom Traum der vergangenen Nacht. So schritt er auf die Türe zu, klinkte sie auf und stieg die schmale Holztreppe empor. Oben lief quer zur Treppe ein Gang. »Lina, Lina!« rief er leise. Es kam keine Antwort. Am Ende des Ganges war ein Lichtschein; er eilte hin, stolperte über etwas, das waren Stiefel, hielt sich an etwas aufrecht, das an der Wand hing, sah schärfer hin: da hingen Mantel, Helm und Seitengewehr des Wachtmeisters, und seine Sporenstiefel, die er umgerannt, standen vor einer Türe.

Er erriet sogleich, daß da die ältere Schwester schlief. Dennoch goß ihm diese Gemeinschaft der Liebeswege einen Strom jäher Scham ins Blut. Mit sich und allen Dingen der Welt zerfallen, kehrte er in die untere Stube zurück.

Eine der schlimmsten Stunden seines Lebens verging. Er sah das Unternehmen, das er um Mitternacht, aus dem festlichen Schlosse fortfahrend, mit solchem Aufsehen begonnen, in jeder Weise schmählich fehlgeschlagen. Die Schmuggler und seine eigenen Leute hatten ihn zum besten gehabt. Wagen, Pferd und sich selbst hatte er zuschanden kutschiert, und sich durch das Haus, in dem er untergebracht und aufgenommen worden, vor aller Welt, durch dies letzte Abenteuer vor sich selbst mit vollendeter Lächerlichkeit gekrönt.

Im Dunkel vor den Fenstern, in das er starrte, sah er seine Frau in ihrem hellen Kleide, den Arm im weißen Handschuh gegen ihn ausgestreckt, mit jenem merkwürdig fragenden und abwehrenden Blick, mit dem sie ihn angesehen, als er fortfuhr. Er war nun die zweite Nacht vom Hause fort. Er sah den verfluchten lächelnden blonden Menschen, der immer neben ihr war, so oft sie zusammentrafen, und um dessentwillen sie geblieben war, obschon er wiederholt den Wunsch ausgesprochen, daß sie ihn meiden möge ... er stampfte auf ... Wenn sie allein mit dem Wagen heimgefahren war ...

Das war Wagenrollen. Der Wagen hielt vor dem Hause. Er eilte ans Fenster: in der Finsternis draußen konnte er nur das Licht der Laternen wahrnehmen. »Jochen!« rief er hinaus.

Aber es war nicht die Stimme seines Kutschers, die antwortete und »Kalinowski!« rief.

»Ja! Hier! – Wer ist denn da?«

»Dewendt!«

Kalinowski eilte, die Haustüre zu öffnen und sah erstaunt den Sohn seines Wirtes vom Abend vorher eintreten. Der Kutscher in der weißbetreßten Livree saß steif auf dem Bock, ein Bedienter war abgesprungen.

»Wir haben ein verwundetes Pferd heimbekommen und hundert abenteuerliche Gerüchte«, sagte Dewendt auf Kalinowskis Fragen. Sie standen in der Stube. »Nun, umgebracht haben die Schmuggler dich offenbar nicht! Das eine Pflaster da! – Aber daß sie dich gerade hierher brachten, das ist ja gottvoll!« Otto von Dewendt hielt sich nicht vor Lachen.

Über ihnen tönten Schritte, und während sie leise fortsprachen, erschien mit unschuldigem Gesicht Lina im blauen Hauskleide und knixte vor dem Herrn, der sie neugierig betrachtete. Sie entschuldigte sich, daß sie ihn warten lassen: sie sei nicht bereit gewesen und ihre Schwester schon zu Bett«. Kalinowski betrachtete sie kalt. Indessen brachte der Bediente einen Korb aus dem Wagen, der eine Flasche Portwein und andere stärkende und wohlschmeckende Dinge für den Patienten enthielt; und Herr von Dewendt, der sich die Stube und das Mädchen angesehen, hätte, da er den Freund gesund fand, nicht ungern ein kleines Gelage veranstaltet, aber Kalinowski hatte keine Lust mehr. Er bat ihn, den Korb seinen Samariterinnen zu überlassen, und stattete nicht ohne Verlegenheit dem Fräulein Dwelitsch seinen Dank ab.

»Wenn Sie irgendeinen Wunsch haben, Fräulein, den ich erfüllen kann ...« sagte er.

Sie lächelte nicht ganz ohne Spott, wie ihm schien, und er, der vergangenen Stunden und der heimlichen Einquartierung gedenkend, die er im Hause wußte, ward rot und biß sich auf die Lippen.

»Wachtmeister Stringe, der den Weg hierher so gut kennt,« fuhr er fort, »wird mir dabei helfen!« Aber er ärgerte sich über seine eigenen Worte.

»Es ist reizend von dir, daß du mich geholt hast«, sagte er, als sie bereits im Wagen saßen und den Hügel hinab dem Wald zu fuhren.

»Man konnte dich doch nicht hier lassen,« erwiderte der andere, »und um deine Frau haben wir einen Schutzkordon gezogen, daß sie nichts erfährt. Der Stringe ist ein geschickter Geschichtenerfinder ...«

Kalinowski erzählte sehr kurz, was wirklich geschehen war. Dewendt fand es nicht so schlimm und das Ende gottvoll. Er wußte dies und jenes über die zwei Schwestern: »Man sagt es wenigstens: – du mußt ja jetzt au fait sein ... ihr seid voreinander dagestanden, als ob ...«

»Ich danke,« sagte Kalinowski, »es gibt gemischte Gefühle.«

Um abzulenken und aus mancher Wißbegier fragte er nach dem Ausgang des Festes vom Abend vorher; es schien ihm so fern vergangen, daß er sich besinnen mußte, wie nur ein einziger Tag ihn davon trennte. Und Dewendt erzählte, es wäre dann so heller Mondschein gewesen, daß eine nächtliche Gardenparty daraus geworden: »eine wundervolle Sommernacht, die uns geradezu berauschte!«

»Wie ist denn meine Frau nach Hause gekommen?« fragte Kalinowski.

»Die ging sogar zu Fuß durch die Wiesen zurück.«

»Allein?«

»Nein; Doktor Maurer begleitete sie«. Der Wagen fuhr auf der Straße nach.«

Von da ab redete Kalinowski fast nichts mehr; er entschuldigte sich mit plötzlicher Mattigkeit und lehnte sich in dem dunklen Wagen zurück. Auch Dewendt verlor sich in nächtlichen Gedanken. Die heimverlangenden Pferde griffen aus.

Dennoch war es lange nach Mitternacht, ehe sie heimkamen. Das weiße Haus mit den breiten Stufen vor der dreifachen Eingangstüre lag still und dunkel in dem offenen schwacherleuchteten Garten. Alles darin schien im tiefsten Schlafe zu liegen, so daß niemand die knirschenden Räder, den Hufschlag, die leisen Zurufe an die Pferde vernahm.

Kalinowski verabschiedete sich dankend von dem Freunde, der in die laue Nacht hinausfuhr. Er selbst öffnete leise mit dem Schlüssel die Tür seines Hauses. Er schritt durch den weißen Gartensalon, in den eben der erste zitternde Mondschimmer fiel. Wieder war ihm, als wäre er eine unendliche Zeit fern gewesen.

Seine Frau lag in tiefem Schlaf; aber sie erwachte bald; mit einem frohen Ruf schlang sie die Arme um seinen Hals und sah mit Schrecken den dunklen Streif des Pflasters über der Kopfwunde. Aber er entzog sich ihr kühl und auf ihre erregten Fragen gab er kurze sachliche Antworten von den Schmugglern, dem Seil, dem Sturz ...

Sie saß weiß und aufrecht im Bette, und die dunklen Augen in dem zierlichen entschlossenen Gesicht sahen bestürzt sein fremdes Gebaren. Sie wollte mehr wissen, drängte sich an ihn ... er schob sie von sich.

»Ich dank«, ich danke,« sagte er, »du hast dich ja indessen gut unterhalten!«

Aber die eigenen Worte fanden einen sonderbaren Widerklang in seinem Innern, und die Angst klang zu echt aus ihren immer wiederholten Fragen, sie schluchzte beinahe. Das erregte ihn; seine Stimmungen waren unverkennbar in seinem Gesicht zu lesen. Da drang sie in ihn, und mit ein paar raschen Wechselreden entlockte sie ihm den Keim der Wut in seinen Gedanken.

»Maurer?!« sagte sie, »o Fritz! – Er unterhält mich gut, und ich will frei sein. Übrigens kann ich dir's sagen: vielleicht war's der Mondschein, vielleicht die Sommernacht: er war zum erstenmal zudringlich und da habe ich ihn fortgeschickt. – Aber ich kann nicht böse sein nach deinen Leiden. Nur solltest du mehr Selbstbewußtsein haben. Und der Gedanke an eine Untreue ist vor allen Dingen so unappetitlich, daß ich nicht verstehe, wie deine Phantasie damit spielen kann. Ich würde so etwas doch überhaupt nie von dir vermuten!«

Durch den Gedanken an die ungeheure Gefahr, ihn zu verlieren, die vorübergegangen war, wurde sie plötzlich gerührt, was sonst nicht in ihrem Wesen lag, und sie fiel ihm wieder um den Hals.

Aber er selbst war tiefer ergriffen und küßte sie inbrünstig und lange.

Der nächste Tag war ein Sonntag. Sie kamen von einem Spaziergang zurück, Hedwig nachdenklich und froh, ohne Hut, den Sonnenschirm auf der Schulter, und ihr Weg führte sie an einem niedrigen Hause vorbei, dessen amtliche Strenge durch grelle rote Topfblumen in den Fenstern gemildert war. Vor der Türe saß auf einer Bank Wachtmeister Stringe in der Litewka und hielt seinen blonden und blauäugigen, hübschen Knaben auf den Knien und scherzte mit ihm; seine junge Frau sah beglückt zu. Ihre Hand stak in dem einen Sporenstiefel ihres Gatten, der andere stand bereits blankgeputzt auf der Erde. Daneben in der offenen Tür stand Stringes Schwager und Untergebener, der Gendarm Tobias, und rauchte seine Pfeife.

»Ein Idyll am Posten!« sagte Kalinowski, als er die Blicke seiner Frau den seinen folgen sah.

»Ja, ja,« sagte Hedwig, »das sieht ganz gut aus; wenn er nur nicht immer in der Küche bei meinen Mädchen stecken würde!«

Kalinowski erwiderte nichts.

Zwei Tage später stand der Wachtmeister vor ihm.

»Sie, Stringe,« sagte Kalinowski, »es liegt eine Eingabe des Pfarramts Lawitten gegen die Schwestern Dwelitsch vor: die beiden Frauen sollen einen unsittlichen Lebenswandel führen. Wissen Sie etwas darüber?«

Der blonde Gendarm blickte ihn unschuldig an. »Mir ist nichts bekannt, Herr Amtsvorsteher«, antwortete er. Es war ja kein anderes Haus als dieses in der Nähe; und der Herr Amtsvorsteher haben sich ja selbst überzeugt, wie die Frauenzimmer sind. Aber ich werde nachforschen.«

Kalinowski biß sich auf die Lippen.

»Forschen Sie nach, Stringe«, sagte er. »Und warnen Sie sie; die zwei Frauen haben mich freundlich aufgenommen, und ich möchte nicht gegen sie vorgehen müssen.«

»Zu Befehl, Herr Amtsvorsteher!«

*


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