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Der Offizier

Ein lichter Frühlingsabend lag über der Stadt. Die weiße Hauptstraße, die schattenerfüllten Seitengassen mit ihren alten Steinpalästen und die Kieswege im Park waren bunt von Offizieren und Soldaten. Zwischen ihnen ergingen sich die wohlhabenden Bürger; nachlässig gekleidetes Volk stand umher und beobachtete scheinbar teilnahmslos.

An dem Palmenhügel in der Nähe des Parkeingangs stand eine kleine Gruppe von Offizieren, zwei davon im grünen Waffenrock des Generalstabs.

»Blut und Sprache?« sagte ein bärtiger Major, der älteste unter ihnen. »Was für andere das Einende ist, ist für uns das Trennende! Empfindet der Corsi anders? Ein Kaiser, ein Dienst, eine Ehre!«

Corsi lächelte und schwieg. In diesem Augenblick trat der Divisionsadjutant auf sie zu. »Es bestätigt sich,« sagte er, »sie haben das Bündnis geschlossen, schon am achten!«

Alle sahen einander an. »Das heißt Krieg, meine Herren!« sagte der eine. »Das heißt ..., daß ich sogleich zur Exzellenz muß!« erwiderte der Major lächelnd. »Tschau!« Er ging mit dem Adjutanten. Sie grüßten und trennten sich. Aber überall redeten die Begegnenden einander an, wie Funken flog es von Gruppe zu Gruppe, und überall wurde das Gespräch erregter, die Stimmung der Stadt eine veränderte.

In tiefen Gedanken ging Corsi durch den Park und durch die stilleren Seitengassen nach seiner Wohnung. Im Westen flammte der Abend rot über dunkeln Hügeln und Häusern. Er überschritt die Brücke und betrat den kleinen Hohlweg; im Schatten der Bäume dunkelte es bereits, während der Himmel darüber noch licht war; das Flöten der Amseln tönte mit letzter Süße. Ein junger Mensch kam rasch vorüber und faßte ihn einen Augenblick ins Auge. Corsi achtete nicht auf ihn, sondern ging nachdenklich dem Bach entlang und durch den kleinen Garten ins Haus.

Auf dem Schreibtisch in seinem Zimmer sah er einen Brief liegen, die Handschrift war ihm unbekannt. Er öffnete ihn und fand wenige Zeilen ohne Namen; erstaunt betrachtete er Papier und Umschlag von allen Seiten, las nochmals, dachte ein wenig nach, lächelte, zerriß das Papier in kleine Stückchen und warf sie in den Papierkorb. Dann ging er in sein Schlafzimmer, zog den Uniformrock aus und legte eine leichte Seidenjacke an. Inzwischen öffnete sich im Nebenzimmer die Türe, sein Bursche trat ein und brachte ihm das Abendbrot.

Er aß wenig und mischte den Wein mit vielem Eiswasser, ehe er durstig trank. Dann sah er zum Fenster hinaus oder ging im Zimmer auf und ab, über die Dinge nachdenkend, die er gehört hatte und die ihn in eine leicht betäubende, nicht unangenehme Erregung versetzten. Den Brief ohne Unterschrift hatte er völlig vergessen.

Zwei Tage darauf sah er wieder einen Brief auf dem alten Mahagonitisch an der Wand seines Zimmers liegen. Er war diesmal später nach Hause gekommen, es dunkelte bereits, und er mußte auf dem Schreibtisch die Lampe anzünden, um lesen zu können. Es waren wie das erste Mal wenige Zeilen:

»Graf Corsi! vergißt du, wer deine Ahnen waren? Wo dein Vaterland ist und in welchen Ketten es liegt? Vergißt du, was es leidet? Wie seine Vergangenheit war und wie seine Zukunft werden soll?«

Keine Unterschrift. Er schüttelte unwillig den Kopf und sah von dem Papier auf. Sein Blick fiel auf die Photographien, die vor ihm auf dem Schreibtisch standen: sein Vater mit dem feinen rasierten Gesicht, ein Jugendbild seiner Mutter, das seiner Braut; alle drei schienen ihn anzusehen.

Er rief den Burschen und fragte ihn, wer den Brief abgegeben. Der Mann schien überrascht: er wisse es nicht, er habe den Brief auf dem Wandtisch gesehen und geglaubt, der Herr Graf hätte ihn dahin gelegt.

Corsi sah ihn an. Er hieß ihn den Pförtner rufen. Der alte Mann kam aus seiner Wohnung am Ende des Ganges neben der Treppe: er hatte niemanden gesehen und wußte von nichts. Corsi warf einen Blick nach dem Fenster und nach der Türe. Mehr und mehr befremdet, versuchte er nachzudenken. Aber der Dienst drängte, er hatte noch eine Menge von Schriftstücken zu erledigen. Er arbeitete bis Mitternacht. Das Fenster stand offen; von drüben rauschte der Bach; jenseits des Gartens standen die Zypressen auf dem Hügel schwarz im Mondlicht.

Als er am nächsten Morgen durch den Park ging, begegnete ihm der Major Riemerschmid. »Die Mobilisierung ist beschlossen«, rief er im Vorübergehen.

Corsi nickte: »Ist der Befehl schon da?« fragte er.

»Nein, aber er muß jeden Augenblick eintreffen!«

Sie sahen sich des Abends auf dem Kasinoball wieder. Unter sich oder in Gruppen mit den Damen standen die Offiziere in weißen, blauen, braunen und grünen Waffenröcken, in lebhaften Gesprächen; sie schalten auf Preußen und auf Napoleon, spotteten der Piemontesen. Corsi, von Natur schweigsam, hörte zu. Da er verlobt war, tanzte er nicht, bis auf wenige Tänze, die er aus Höflichkeit nicht unterlassen konnte. Sonst stand er und sah die Paare vorüberkreisen. Die Fürstin Lacy-Corsi-Montalvo winkte ihn zu sich: »Kind, du siehst aber müd aus!« Er küßte ihr die Hand. »Danke, Tante, es geht schon.« – »Ist's denn gewiß?« – »Es scheint, Tante!« sagte er lächelnd und blieb bei ihr sitzen. »Neues von Maria?« fragte sie. »Nein, schon lange nicht. Die Post bringt keinen Brief. Ich muß sehen, wie ich ihr Nachricht gebe.« – »Grüß sie von mir!« Corsi sprang klirrend auf: der Divisionär trat auf die Fürstin zu.

Durch die großen offenen Türen des Saals sah schwarz der dunkle Nachthimmel. Die Blumen, die in Töpfen auf den Terrassen standen, dufteten schwer. Die Musik rauschte auf, flutete und verstummte wieder. Unter den Tanzenden, in den redenden und scherzenden Gruppen, an den Tischen, an denen getrunken ward, überall herrschte eine eigentümlich erregte Stimmung. Auf der erleuchteten großen Terrasse stand da und dort ernst ein Paar.

Corsi ging durch den Saal auf den Monsignor Giardini zu und sprach lange mit ihm. Da fragte auch dieser: »Keine Nachricht von Maria?«

»Keine«, erwiderte Corsi.

»Sie sind in keiner angenehmen Lage, lieber Sohn. Kann man nichts tun?«

»Ich versuche ihr über die Schweiz zu schreiben.«

Der Monsignore schüttelte den Kopf. »Ich meine, könnten Sie Maria nicht noch in letzter Stunde bei Verwandten in der Nähe unterbringen? vielleicht bei Ihrer Schwester?«

Corsi sah überrascht auf. »Haben Sie gar keine Sorge,« fuhr der Geistliche leise fort, »daß dort, wo Maria ist, Einflüsse herrschen könnten, die nicht wünschenswert sind? ... Ich hörte heute eine Andeutung ...«

»Marias Vater war österreichischer Statthalter«, erwiderte Corsi fast heftig.

»Das braucht Versuche nicht zu hindern.«

»Davon würde ich doch etwas gemerkt haben, Hochwürden. Ich wäre glücklich, wenn sie herüberkäme. Aber glauben Sie, daß Donna Laura und ihr Mann es zugeben würden?«

In diesem Augenblick verstummte die Musik. Eine ganz kurze Pause entstand, dann tönten die feierlich wogenden Klänge der Volkshymne durch den Saal. Alle hatten sich von den Sitzen erhoben. Von vielen Stimmen mitgesungen brauste das Lied empor. Es folgte ein Schweigen, das sich im Stimmengewirr der nach den Speisesälen strömenden Paare löste.

»Wir sprechen noch darüber«, sagte der Prälat zu Corsi.

»Und wie dem immer sei, ich bin kaiserlicher Offizier«, erwiderte der junge Mann wie aus tiefen Gedanken emporfahrend.

»Gut, gut«, sagte der Geistliche und sah ihn freundlich an.

Corsi verabschiedete sich. Er schritt die Treppe hinab und durch die Menge der Wagen und Ordonnanzen, die auf dem Platze warteten, auf dem einsamen Promenadenweg nach Hause. In der Stille und dem Dunkel, die ihn nach soviel Lärm und Licht umgaben, fühlte er sich wohl. Plötzlich blieb er stehen. Von dem bewaldeten Parkhügel über ihm tönte Gesang. Eine schwärmerische Männerstimme sang das verbotene Lied:

»Fuori d'Italia! Fuori stranier!«

Corsi hörte es mit Staunen und Verdruß. Im tiefen Dunkel der umbuschten Waldwege wäre der Sänger schwer zu finden, schwerer noch einem, den man fand, zu beweisen gewesen, daß er gesungen hatte. Die tiefste Stille herrschte wieder; nur sein eigener Säbel klirrte bei seinen Schritten. Er ging am Fluß entlang weiter. Die Sterne blitzten am Himmel; die Nacht war kühl.

Die Pforte zum Hause war unverschlossen. Am Fuß der Treppe stand die kleine Laterne für ihn bereit. Pförtner und Bursche schliefen. Vor der Wohnungstüre angekommen, zog er den Schlüssel aus der Tasche seines Mantels, gleichzeitig griff er ein Papier. An der Schreibtischlampe las er:

»Ettore Corsi! Noch ist es Zeit! Willst du zum Verräter an deinem Vaterlande werden und das Schwert gegen dein eignes Blut ziehen? Welche Schande für dein Haus!«

Ärgerlich zerknüllte er den Zettel zwischen den Fingern. »Einflüsse!« dachte er. »Sind das Einflüsse?« Er wurde sehr nachdenklich. Wenn Maria noch herüberkommen konnte, ehe der Krieg wirklich ausbrach ... der Krieg ... Er verlor sich in dunkel bewegte Träume von dem, was ihm selber bevorstehen mochte. Er sann, im Stuhl zurückgelehnt, die Hände im Schoß. Die Augen des Bildes schienen auf ihn geheftet. Eine Sehnsucht überkam ihn. »Einflüsse?« dachte er wieder und stand auf. »Ich habe Einfluß auf sie! Wie Wachs war sie in meiner Hand!« Er öffnete eine kleine Lade im Schreibtisch und nahm ihre letzten Briefe heraus. »Neue Bekanntschaften ... Freunde mit großen Gedanken ...« Über diese Worte hatte er gelächelt; jetzt las er sie sehr ernst. Die Ansichten ihres Oheims konnten ganz andere sein, als die ihres Vaters gewesen waren. Er hatte mit dem Marchese über Politik nie gesprochen. In seinem Hause verkehrten Literaten und allerlei Leute ... die neuen Bekannten? ... Sein eigenes Haus war ja geteilt. Die Corsi in Ferrara waren Patrioten. »Patrioten?« dachte er. »Bin ich kein Patriot? ... Hier und drüben ... was und wer entscheidet?« Er zog den zerknüllten Zettel aus der Tasche. Der Gesang im Park tönte an sein Ohr. »Die Pflicht entscheidet und der Eid. Wider mein eigenes Blut? Wir haben immer dem Kaiser gedient. Die Corsi in Ferrara ... der Kardinal Corsi, wie denkt er eigentlich? wer weiß es?« Seine Gedanken jagten wie im Fieber. Er sah nach der Uhr. Er hatte nur noch zwei Stunden Zeit vor sich, ehe er wieder zum Dienst mußte; er entkleidete sich nur halb und warf sich auf das Bett. Als er endlich zu wirren Träumen entschlief und sich vergeblich bemühte, ein schwarzes Pferd zu besteigen, das sein Bursche ihm vorführte, da stand dieser an seinem Lager und weckte ihn.

Er trank viel schwarzen Kaffee und ging übernächtigt und erregt nach dem Divisionsstab. Depeschenboten, Offiziere, Ordonnanzen gingen aus und ein. Vor den Fenstern rasselten Geschütze übers Pflaster oder scholl der regelmäßig stampfende Schritt marschierender Truppen. Blaue Ulanen mit langen Adlerfedern an der pelzverbrämten Polenmütze trabten vorüber. Von zehn Uhr ab hatte er den Generalstabschef der Division zu vertreten, der zu einer Besprechung zum Kommandanten gerufen wurde. Papiere, die ihn betroffen machten durch die Wichtigkeit ihres Inhalts, gingen durch seine Hand.

Er aß im Kasino. Die Gespräche waren laut und lebhaft. Ihm gegenüber saß Riemerschmid: »Was will der Victor Emanuel?« sagte er, »was ist das für eine Lotterwirtschaft überall? Nur wo wir waren, war Ordnung und wurde was getan. Warum sehen deine Landsleute das nicht ein, Corsi?«

Corsi zuckte nur die Achseln. Aber das Wort »Landsleute« berührte ihn eigentümlich. Er trank seinen schwarzen Kaffee und kehrte zur Arbeit zurück.

Er hatte daran gedacht, von den geheimnisvollen Briefen Anzeige zu erstatten, aber der Gedanke an die unvermeidlichen Störungen, die Untersuchungen im Hause, die jetzt, da er soviel zu tun hatte, die erste Folge sein mußten, hielt ihn zurück. »Das wird jetzt oft vorkommen«, dachte er. »Wenn es von den Corsi in Ferrara ausginge? Der Tullio Corsi ist drüben Offizier ...« Er dachte nach, wie sonderbar es wäre, wenn er diesem Vetter im Krieg begegnen würde ... »wider mein eigenes Blut!« wiederholte er lächelnd.

Die Tage vergingen. Die Zeitungsnachrichten widersprachen einander, und die amtlichen Meldungen widersprachen denen der Zeitungen.

»Wirst du nicht die Antonietta noch besuchen?« fragte ihn die Fürstin, als er einmal bei ihr zu Abend aß.

»Es wird nicht mehr gehen, Tante!« erwiderte er.

»Ach, es kommt überhaupt zu nichts,« sagte die kleine alte Dame lebhaft, »ich weiß bestimmt, der Mensdorf will keinen Krieg.«

»Der Krieg kommt«, sagte Corsi schwermütig.

Aber am nächsten Morgen erbat er zwei Tage Urlaub, um nach Venedig zu fahren.

»Jetzt?!« sagte sein Chef.

»Es ist alles fertig,« erwiderte Corsi, »und wenn's nötig ist, bin ich in ein paar Stunden bei der Brigade.«

Der General dachte einen Augenblick nach. »Es muß ja ein Generalstabsoffizier nach Venedig,« sagte er, »wegen der neuen Etappeninstruktion. Ich werde der Exzellenz sagen, man soll Sie schicken. Wenn nichts vorkommt, können Sie einen Tag länger dort bleiben.«

Indessen vergingen wieder Tage, ehe er Auftrag und Urlaub bekam. Er saß nachmittags in seiner Wohnung und las, als ihm der Besuch eines Geistlichen gemeldet wurde.

»Don Fontana«, stellte er sich vor. Es war ein großer stattlicher junger Mann, mit einem vollen Römergesicht, aus dem große frauenhafte Augen sanft und feurig zugleich blickten. Das Haar war ein wenig gelockt. »Entschuldigen Sie, Herr Graf ...« begann er.

Corsi bat ihn zu einem Stuhl.

»Meine und Ihre Zeit ist kurz; aber eine Dame, die Ihnen vor kurzem noch sehr teuer war und die seit längerer Zeit auf ihre Briefe keine Antwort erhalten hat ...«

»Welche Dame?« unterbrach ihn Corsi befremdet.

»Wir wollen keinen Namen nennen,« sagte Don Fontana, indem er mit der gepflegten Hand eine abwehrende Bewegung machte, »eine Dame, die Ihnen vor kurzer Zeit noch sehr teuer war, bittet Sie, wenn Sie nach Venedig kommen, um eine Unterredung. Sie wundern sich, Herr Graf,« fuhr er fort, da Corsi ihn völlig überrascht ansah, »daß ein Priester mit solchem Auftrag kommt? Ich durfte ihn übernehmen, da ich weiß, daß es sich um eine gute und reine Sache handelt, ja um einen Schritt, durch den Schlimmes gut gemacht und verhütet werden kann ...«

»Ersilia?!« dachte Corsi, »sollte es Ersilia sein?« »Können Sie sich nicht deutlicher erklären?« sagte er laut. »Sind die Briefe, die ich ohne Namen erhalten, von dieser Dame? Dann bedaure ich ...«

»Die Dame hat Ihnen nur unter ihrem vollen Namen geschrieben ...«

»Dann habe ich keinen Brief erhalten.«

»Um so besser!« sagte Don Fontana, »aber um so dringender ist die Unterredung. Es handelt sich vielleicht um ein Leben ...!« Wieder jagten Corsis Gedanken. »Die Dame nimmt an, daß Sie Ihre Frau Schwester in Venedig noch besuchen werden ...«

»Und wenn ich das tue? ...«

»Dann ... darf ich zwei Zeilen aufschreiben?« Er trat suchend an den Schreibtisch, so daß Corsi die kleine Tonsur inmitten des üppigen gelockten Haares sah. Ein unbestimmter Verdacht stieg in ihm auf.

»Woher kommen Sie selbst, Don Fontana, und was tun Sie hier?« fragte er streng.

Der Priester drehte sich rasch um. »Ich?« sagte er verwundert, »ich bin Bibliothekar von San Gallo in Treviso und auf der Durchreise hier. Wünschen Sie Auskünfte? Monsignor Giardini kennt mich gut.«

Corsi schwieg. Der andere schien nachzudenken. »Man schreibt besser nicht!« sagte er. »Am Abend des Tages, an dem Sie in Venedig eintreffen, wird um halb zehn Uhr an den Stufen bei der kleinen Brücke über den Rio di San Severo eine Gondel auf Sie warten ...«

»Ich kann Ihnen nichts versprechen ...«

»Es steht bei Ihnen«, sagte der junge Geistliche sich verneigend, aber die sanften und zugleich durchdringenden Augen waren mahnend und flehend auf ihn gerichtet. »Ich befreie Sie von der Störung.« Und er ging, den Offizier in den verwirrtesten Gedanken zurücklassend.

»Es kann nur Ersilia Scotti sein«, sagte er sich. »Aber was kann sie wollen? mich noch einmal sehen? Das hat der Priester ausgeschlossen. Eine reine Sache ... ein Leben!! Mit Politik hat sie sich nie befaßt ... ihre Familie wohl, die ist ganz italienisch, ... aber die darf doch von nichts wissen!« Das ganze geheimnisvolle Netz, das ihn umgab, verdroß ihn, erschien ihm bald als Kinderei, bald unheilschwer. Es schien doch seine Pflicht, die Anzeige zu machen ... aber dies war eine Weibersache. Vielleicht stand ein Verwandter Ersilias unter Anklage, vielleicht ihr Sohn, der bildhübsche Junge ... »Ich werde sehen«, sagte er unentschlossen zu sich selbst.

Er dachte den Monsignore über seinen Besuch zu befragen, aber er fand nicht mehr Zeit dazu, er mußte noch in der selben Nacht reisen.

Er kam in einem leichten Regen an. Die rasche Gondel trug ihn durch die hellen kleinen Wasserstraßen, die die Sonne bereits wieder silbern färbte. Über hohe Gartenmauern sah das frühlingsfrische Grün herüber.

In einem spitzenbesetzten weißen Morgenkleid kam seine Schwester heraus und warf sich in seine Arme. Ihr Mann war verreist. Corsi ging sogleich nach dem Platzkommando und meldete sich; dann erledigte er seinen Auftrag. Zu Mittag war er wieder da. Bruder und Schwester aßen allein miteinander; behaglich müde saß er plaudernd neben ihr, bis sie ihn schlafen schickte. Im dämmernden Abend blieben sie wieder beisammen. Er bemerkte, daß sie an kleiner Wäsche häkelte und nähte, und sie nickte in glücklichem Erröten. Sie besprachen ihre Angelegenheiten und Sorgen und plauderten sich in ihre Kindheit zurück; sie fragte nach Maria, und Corsi sagte ihr, was er wußte.

»Hast du Ersilia Scotti in jüngster Zeit gesehen?« fragte er wie zufällig.

Sie sah ihn scharf an. »Sie ist immer die gleiche«, antwortete sie in abweisendem Ton. Dann lachte sie ein wenig.

Das sagte ihm nichts. »Ist ihr in jüngster Zeit etwas zugestoßen? oder jemandem, der ihr nahesteht? ... Dein Mann müßte es wissen.«

»Der spricht von nichts.«

Er erfuhr nichts mehr. Nur das sagte seine Schwester: »Ich sollte von diesen Dingen vielleicht nicht reden; aber ich wußte es ja doch. Und ich ärgerte mich. Du bist für all diese Weiber viel zu gut, Ettore. Ich rede nicht von Maria,« fuhr sie fort.

»Ich bin nicht soviel, wie du glaubst, liebe Antonietta.«

»Mit siebenundzwanzig Jahren Hauptmann im Generalstab!« sagte sie strahlend. »Du bist klug, weißt du, und hübsch bist du auch! Darum laufen sie dir alle nach!« Er lachte und streichelte ihre Hand.

Nach dem Abendessen sagte er der Schwester, sie müsse von dem frühen Empfang müde sein und möge zu Bette gehen. Er selbst wolle noch ein wenig nach dem Markusplatz, die Musik hören und Bekannte treffen. Er bestand darauf, daß sie sich schone; und errötete unter ihren forschenden Blicken.

Er wartete, bis sie tatsächlich zu Bette gegangen war, dann legte er nach einigem Besinnen die Uniform ab und nahm einen dunkeln Anzug aus seinem Koffer. Den geladenen Revolver steckte er zu sich.

Seine Schritte hallten auf dem einsamen Uferweg, als er nach dem Rio di San Severo ging. Von der dünnen Mondsichel fiel hie und da ein schwacher Schimmer in die dunkeln Gassen. Aus dem Schatten eines Hauses tauchte die Gondel auf dem schmalen Wasserstreifen auf, als er an dem niedern Steinbogen der Brücke stand.

»Sind Sie es, Herr Graf?« fragte der Gondolier grüßend, und Corsi stieg ein.

»Wohin fährst du mich?« fragte er, als sie um eine Ecke bogen.

»Nach Hause, Herr!« antwortete der Mann, als müßte Corsi nun Bescheid wissen, und dieser stellte keine Frage mehr. In raschen weiten Stößen flog das lange schmale Schiff durch die gewundenen Kanäle und hielt an der Türe eines Gartens, der Corsi nicht bekannt vorkam.

Ein alter Diener öffnete. Er wurde ins Haus geführt und gebeten, in einem sehr kleinen Zimmer zu warten, in dem ein paar mit verblichenem Sammet überzogene Stühle standen und kleine Bilder an den Wänden hingen. Ein einziges dunkles Fenster mit verschlossenen Läden warf den Lichtschimmer der Lampe zurück; ein grüner Vorhang schien eine Türe zu verbergen. Er wartete lange Minuten; dann vernahm er Schritte; der Vorhang teilte sich; ein Mädchen trat ein; sie trug ein grauweißes Kleid und über den blonden Haaren ein seidenes Tuch, dessen Enden sie mit der einen Hand über der Brust zusammenhielt. »Ettore!« sagte sie leise.

»Maria!« rief er aufs höchste überrascht. Alle Spannung, alle Unruhe in ihm war mit einem Schlage glücklich gelöst. Er ergriff ihre beiden Hände, eine nach der andern, und küßte sie, dann zog er das Mädchen an sich. »Nein, nein!« rief er jubelnd, »das konnte ich nicht ahnen ... daß mein Wunsch so schnell erfüllt würde! Wie bist du nur herübergekommen, und warum so geheimnisvoll, Maria? Ah, sie hätten dich sonst nicht fortgelassen!«

Sie schüttelte den Kopf; das Lächeln, das um ihren Mund gewesen, schwand. »Sie haben mich fortgelassen, Lieber«, sagte sie.

»So?« sagte er, »um so besser. Und bei wem bist du hier? Warum kamst du nicht zur Antonietta?« Er unterbrach seine schnellen Fragen nur, um sie zu küssen.

Sie sah den Jubel in seinen Augen und wich ein wenig zurück. »Ich bin nur zu dir gekommen,« sagte sie still, »... mit einer Bitte ...!«

»Und mit welcher Bitte, meine Maria?« fragte er in scherzendem Ton.

»Mit einer großen Bitte!« Ein Beben war in ihrer Stimme. Sie sah ihn an, ihre Lippen bewegten sich und sprachen doch keinen Laut ... sie ergriff seine beiden Hände und sie festhaltend, sagte sie jetzt ohne Beben und sehr bestimmt: »Ich bitte dich – nicht gegen Italien zu kämpfen!«

Ihm war, als ob ein grelles verderbliches Licht aufleuchtete und etwas, das ihn in diesen Tagen wie nebelhafter Spuk umgeben und verfolgt hatte, plötzlich drohend sichtbar geworden wäre. Er seufzte tief. Sein Blick flog rückwärts über die Jahre, die er dieses Mädchen, dieses Kind gekannt hatte, das er noch mit der Puppe hatte spielen sehen, das ihm zuliebe ... »ja was ... was hat sie mir zuliebe getan?« fragte er sich rasch und bitter in Gedanken. Die verhängnisvolle Forderung, die den Grund wegzufluten drohte, auf dem er stand, brauste in seinem Ohr.

Er stand noch in dem kleinen Zimmer und hielt ihre Hände. Ihre Blicke in seine Augen senkend, war sie so nahe herangekommen, daß er ihr Herz schlagen fühlte; und so heftig schlug es, daß es ihm mit wehe tat. Er wußte, was sie auf sich genommen hatte, was ihre Frage für ihn und sie bedeutete.

»Wirst du es tun? ... du antwortest nicht?« Sie ließ ihn plötzlich los und trat zurück.

Bleich fragte er: »Weißt du, wer dein Vater war, Maria, und wem er gedient hat?«

»Mein Vater, Ettore, hat getan, was für ihn Pflicht war. Er hat es noch nicht erkannt ...«

»Und ich, Maria, muß tun, was für mich Pflicht ist. Ich bin kaiserlicher Offizier; mein Vater, mein Großvater waren kaiserliche Offiziere ...!«

Sie machte eine ungeduldige Bewegung. »Ich weiß,« sagte sie, »das weiß ich, Ettore. Höre mich ...«

»Ich darf dich nicht hören!«

»Du mußt mich hören, Ettore ... Denn es ist mein, es ist unser Leben, um das es sich handelt. Ich bin Italienerin mit jedem Blutstropfen. Wie könnte ich deine Frau werden, wenn du ...«, sie vollendete nicht.

»Dann mußt du mich lassen!« Unwillig, wütend machte er ein paar Schritte. »Was soll das alles?!«

Sie folgte ihm. Das Tuch war von ihrem Kopf geglitten; sie stand an dem kleinen Tischchen, die eine Hand darauf gelegt. In seiner Erregung sah und fühlte er, wie bezaubernd anmutig jede ihrer Bewegungen war.

»Ich liebe dich!« sagte sie still.

»Dann komm mit mir! ... Ich soll meinen Eid brechen? desertieren?!« Er lachte.

»Das verlangen wir nicht von dir: du sollst weder verraten noch desertieren, nur nicht dem Feind gegen uns dienen: nimm Abschied, Urlaub, lasse dich versetzen, wenn der Krieg ausbricht; und wenn er vorüber und Venedig italienisch ist, dann trittst du zu uns über und dienst deinem Vaterland.«

»Wahnsinn! das kann ich nicht. Alle würden mich anspeien!«

»Die Fremden! Und wir, dein Blut!? Uns willst du morden helfen?! Töte doch mich gleich, Ettore! Zeige mich an, wenn es dir so sehr um die Fremden zu tun ist!«

Er zuckte die Achseln. Beide schwiegen. Über ihr Gesicht liefen Tränen, obwohl sie nicht schluchzte noch den Mund verzog. »Ettore,« sagte sie wieder, »du hast nicht gehört und gesehen, was ich hörte und sah; du weißt nicht, was um dieses Land gelitten worden ist!« Sie schien mit sich zu kämpfen. »Ich bin nicht allein, du sollst nicht nur mich hören. Komm, ich gebe alles in deine Hand!« Und während er sie noch verständnislos ansah, schob sie den Vorhang zur Seite und zog ihn mit sich fort.

Sie waren in einem schmalen dunkeln Gang und traten durch eine kleine Türe in einen hohen erleuchteten Raum, ein schwarzgetäfeltes Bibliothekzimmer.

In einem Lehnstuhl saß ein sehr alter Mann mit wachsbleichem Gesicht; über Wange und Schläfe lief eine Narbe. Unter dem dunkeln Käppchen sahen dünne weiße Haare hervor, ein dünner weißer Bart hing von seinem Kinn; er saß gebeugt, die Hände auf dem geschnitzten Holz der Lehnen; bei ihrem Eintritt hob er den Kopf und zwei dunkle Augen sahen forschend in die Ettores. Ein junger Mann mit schwarzem Haar und Bart stand an einem Bücherschrank und blätterte in einem Heft, das er jetzt rasch aus der Hand legte.

»Das ist Ettore Corsi,« sagte Maria, »Und das ist Antonio Ligorner, dein und mein Oheim. Und dies ist Tullio Corsi, dein Vetter. Du bist bei den Deinen.«

Ettore verbeugte sich steif, obwohl er eine seltsame Erregung fühlte. Der junge Mann streckte ihm die Hand entgegen, aber vor Ettores Ausdruck hielt er inne und sein Gesicht veränderte sich. Ein schweres Schweigen war im Zimmer.

Maria blickte von einem zum andern. »Geduld!« sagte sie, »Geduld, Tullio. Es ist schwer für ihn, das versteht ihr doch. Sprich zu ihm, Oheim!«

Aber Ettore Corsi sprach zuerst. »Du hast mich in eine sehr peinliche Lage gebracht, Maria! Ich bitte euch alle, entschuldigt mich! und laßt mich nach Hause ...«

Maria wurde bleich; er sah, wie sie zitterte. »Ettore, mein Verlobter,« rief sie, »wir sehen uns vielleicht zum letztenmal, und du willst mich nicht hören; du bist unter den Deinen, und willst sie nicht sprechen ... Du bist ganz frei, Ettore, du kannst tun, was du willst! du kannst diesen alten Mann aufs Schafott bringen! du kannst uns alle verhaften lassen!«

»Ich kann?? ... ich muß!!«

Alle Augen trafen sich jetzt. Tullio hatte einen raschen Blick auf seinen Vetter geworfen und einen Griff nach seiner Brusttasche getan. Ettore beobachtete ihn scharf. Maria trat zwischen sie. »Alles das kannst du tun, nur hören sollst du uns erst. Und du laß ihn, Tullio, er ist unser Gast ...!«

»Italien geht vor!« sagte Tullio kurz.

»Sprich du, Oheim!« bat Maria.

Die unvermutete Gefahr hatte Corsi ein befreiendes Gefühl gegeben. Er sah den Helden so vieler Aufstände an. Er erinnerte sich jetzt, dunkel gehört zu haben, daß der alte Ligorner in Venedig lebte, daß man den Kranken und Gelähmten nicht beachtete ... Aber so wie er ihn ansah, sah auch Antonio Ligorner ihn an; er hatte die Macht dieses Blicks im ersten Augenblick gefühlt; es drängte ihn, ihn sprechen zu hören, und er zitterte, als der alte Mann jetzt wirklich sprach:

»Du bist Ettore Corsi?« sagte er mit langsamer, seltsam weich klingender Stimme. »Piero Corsis Enkel?! Giulia, deine Großmutter, – erinnerst du dich ihrer? Sie starb sehr früh, – war meine Schwester. Sie war italienisch; Piero war es nicht. Noch sind nicht alle Kinder überzeugt, daß sie der gemeinsamen Mutter dienen müssen, – aber du wirst es erkennen! Dieses edle Blut darf nur für uns fließen, nicht gegen uns und nicht durch uns.« Er schwieg einen Augenblick und schien zu sinnen. Dann sah er Ettore, der gebannt lauschte und kein Wort zu sprechen vermochte, wieder an und fuhr fort: »Als ich an jenem traurigen zweiten Juli mit Giuseppe Garibaldi aus Rom ritt, da lag vor uns an der Straße ein auf den Tod verwundeter feindlicher Offizier, ... kein Franzose ... ein Neapolitaner! Da sagte er, der unser aller Führer war, zu mir: ›Wenn nur der Tag kommt, an dem kein Bruderblut mehr in Italien fließt!‹ – Und du willst jetzt gegen Italien kämpfen? Du, Giulia Ligorners Enkel, – du, der du mit dieser Italienerin verlobt bist? Fühlst du nicht, daß es nicht sein kann? daß du deiner Mutter Blut vergießen würdest? ...« Er schwieg wieder, seine Gedanken trugen ihn fort und er lehnte den Kopf zurück. Maria reichte ihm ein Glas roten Weins. Und er sprach weiter von der Verteidigung Roms, von dem unvergessenen Heer, vom Sturm auf die Villa Spada, von Manaras Tod, von jenem unerhörten Rückzug; er sprach von den Opfern, den Eingekerkerten, den Erschossenen ... Alle lauschten. Er erzählte die Geschichte Carlo Corsis, der auf dem Spielberg gesessen und bei der Verteidigung von Venedig gefallen war ...

Ettore Corsi war es, als stiegen Klänge seines Blutes auf. Er sah Marias strahlende Augen; der alte Mann lächelte ihm zu und er lächelte wieder, während in seinen Augen Tränen standen. »Trinke mit mir, Sohn!« sagte der Alte mit bezwingender Herzlichkeit; seine zitternden Hände suchten auf dem dunkeln Tisch nach dem zweiten Glas. Maria füllte es und reichte es Corsi; er schlug es nicht aus.

»Du glaubst, du kannst gegen uns, gegen deine Sprache und Blut, weil dich anderes bindet? Ja, was liegt denn an deinen Kämpfen oder Leiden? Der einzelnen Menschen Zwecke sind vergänglich, ihr Schicksal gleichgültig, gleichgültig ihre Wünsche ... was liegt an einem von uns, wer immer er wäre? was liegt uns an den Savoyern? Italien ist alles! ... Ettore Corsi ...!« Er öffnete seine Arme, und schloß sie um den jungen Mann, der nicht widerstand.

»Er ist unser«, sagte Antonio Ligorner.

»Ja, ja ... ich bin euer ... ich weiß es ... ich fühle es ... aber ...«, er verstummte.

»Ich wußte es ja!« rief Maria jubelnd. Tullio Corsi umarmte ihn.

In der Stille, die entstanden war, hörten sie die Uhr vom Turm einer nahen Kirche Mitternacht schlagen. Die Kraft, die in dem alten Mann aufgeflammt war, versiegte jetzt; er sank gleichsam in sich zusammen. Jemand klopfte. Maria öffnete und sprach ein paar Worte hinaus. Dann legte sie den Finger auf den Mund. »Die Schwester!« sagte sie und winkte Ettore zu gehen.

 

Sie folgte ihm sogleich nach. In dem kleinen Zimmer schlang sie die Arme um ihn und küßte ihn heiß und leidenschaftlich. »Du wirst nicht gegen uns kämpfen?!«

»Ich denke ... nicht«, sagte er langsam, und sie küßte ihn wieder und wieder.

»Wann immer wir uns wiedersehen,« sagte sie, »ich bin dein, nur dein.« Aber während sie ihn strahlend ansah, waren seine Augen schwermütig wie immer.

Der alte Diener, der ihn ins Haus geführt hatte, erschien durch den Vorhang und verschwand sogleich wieder. Sie hörten ihn nicht.

Wie ein seltsamer Fiebertraum, in dem das Süßeste heiß und quälend wird, war das Erlebnis dieser Nacht für ihn.

»Ich habe dich nicht gekannt, Maria!« sagte er, als sie ruhiger geworden waren.

»Nein, du hast mich nicht gekannt. Aber jetzt kennst du mich!«

»Und wie kommst du zurück?« fragte Ettore.

»Sorge nicht um mich!« rief sie, »es ist alles in Ordnung ... und gleichgültig. Wir werden uns wiedersehen ... Und was immer kommt, verlasse dich auf mich!«

Er lächelte und küßte sie noch einmal und ging.

 

Das Schiff flog durch die jetzt mondlosen Kanäle; nur das kleine Licht an der Gondel leuchtete. Weder Corsi noch der alte Gondolier sprachen ein Wort. Plötzlich, als sie einen der breiteren Kanäle durchquerten, wurden sie angerufen.

»Die Polizei!« sagte der Alte. »Sprechen Sie, Herr Graf!«

»Generalstabshauptmann Graf Corsi«, erwiderte Ettore mit heiserer Stimme dem fragenden Beamten, der ihm ins Gesicht leuchtete, während die beiden Boote nebeneinander lagen. Er fühlte, daß er blutrot wurde. Der Mann salutierte, prüfte Corsis Ausweis, gab ihn zurück, lächelte und grüßte nochmals, als die Barke auf dem schwarzen Wasser seitwärts glitt. Sie tauchten wieder ins Dunkel der Paläste und Häuser.

An der selben kleinen Steinbrücke stieg er ans Land, ging wie in einem wirren Traum weiter und öffnete die schwere Türe des Hauses. Ein Diener erschien mit Licht. Ettore nahm es ihm ab, schickte ihn zu Bett und stieg die breiten Steintreppen nach seinem Zimmer hinauf.

Allein geblieben, kniete er plötzlich nieder und versuchte zu beten.

Am nächsten Morgen mußte er sich besinnen, ob er nicht wirklich nur geträumt hatte. Ein ungeheurer Druck lag lastend auf ihm.

Er war spät aufgestanden. Seine Schwester sah ihn besorgt an, wiederholt schien sie ihn fragen zu wollen, fragte aber nicht; sie umgab ihn nur mit um so zärtlicheren Aufmerksamkeiten. Er hingegen zwang sich, hie und da zu ihr zu sprechen, vermochte aber kaum die Antwort abzuwarten.

Zum Frühstück war er beim Korpskommandanten eingeladen. Er raffte sich zusammen und gewann seine äußere Haltung wieder. Er saß in dem blumengeschmückten Saal unter den vertrauten Uniformen und Farben, hörte die Musik und die Reden und versuchte den Gesprächen zu folgen, gab zu, daß er ein wenig Fieber habe, es sei aber nichts. Spöttische Worte über die Italiener und ihre Armee berührten ihn seltsam peinlich.

Jetzt sprangen alle begeistert auf beim Kaiserhoch und Corsi stand starr mit den andern; nur der Ton wollte nicht recht aus seinem Munde; aber das merkte niemand.

Man setzte sich wieder; überall sah er frohe, freundliche, zum Teil bekannte Gesichter. Nach dem Kaffee, als man aufstand und rauchte, unterhielt sich der Korpskommandant mit ihm; er war ungewöhnlich freundlich, bat ihn, der Fürstin seinen Handkuß zu bestellen.

»Wissen Sie, daß der Napoleon einen Friedenskongreß will?« sagte jemand neben ihm. Eine plötzliche Hoffnung stieg in Corsi auf, aber sie erlosch sogleich wieder. »Ist ja auch gleichgültig«, sagte er sich, als er darüber sinnend die Treppe hinabging. »Daß ich sie nicht verhaftet hab', ist schon Felonie, wenn ich bliebe.«

Draußen aber auf dem weißen Platz, vor den weiten blauen Wassern dachte er nur das eine: daß Maria in der Stadt war und er sie nicht sehen konnte, daß er nicht einmal wußte, wo das Haus von heute Nacht lag, und niemanden darum fragen konnte. In einer halben Stunde ging sein Zug.

An jeder Station, in jedem Wagen traf er fröhliche junge Offiziere.

Alle begrüßten ihn herzlich, als er ankam; nur ihm war, als sei er jahrelang fortgewesen und fremd wiedergekommen. Der Dienst begann wie vorher; jemand, der nicht wirklich er selbst war, schien alles mechanisch mitzumachen.

Am zweiten Abend ging er zu seiner Tante; am ersten hatte er es nicht vermocht. Der Monsignore war bei ihr.

»Kind, wie schaust du aus?« rief die alte Dame, »du bist überanstrengt! – So kann er doch nicht ins Feld!!«

Er mußte von Antonietta erzählen.

»Keine Nachricht von Maria?« fragte die Fürstin wie am ersten Abend.

Corsi wurde blutrot. »Nein ... oder doch ...« sagte er und stockte. Er faßte sich, biß die Lippen aufeinander und schwieg.

Beide sahen einander und dann ihn betrübt an. Der Monsignore nickte. »Armes Kind! wir wußten es«, seufzte die alte Dame. Eine Träne lief über die Wange.

»Kennen Sie einen Don Fontana aus Treviso, Hochwürden?« fragte Corsi rasch. Die Frage entfuhr ihm, es tat ihm bereits leid, sie getan zu haben.

»Ja, sehr gut,« sagte der Monsignore, »ein braver kleiner Mann, was ist mit ihm?«

»Ein ... kleiner? ... Mann ... Übrigens ist es ganz nebensächlich.« Er sprach schnell von anderem. »Der Kongreß ist abgelehnt!« sagte er.

Das interessierte die Fürstin sehr.

Aber Corsi stand bald auf. »Bleibst du nicht zum Essen?« fragte sie liebevoll. Er ließ sich nicht halten.

Am folgenden Nachmittag wurde er zum Divisionär befohlen. »Ich hab's für Sie erreicht, Corsi,« sagte er, »Sie gehen gleich nach der Front – als Stabschef der Division ... das ist eine ganz andere Sache ...«

Corsi fühlte das Vertrauen, das in der Wahl lag. Er stotterte ein paar Worte. Der General sah ihn plötzlich scharf an. »Ich weiß nicht, ob ich es imstande bin, Exzellenz,« sagte er, »ich bin seit ein paar Tagen nicht wohl.«

Der alte Herr stand steif. »Entweder ... oder!« sagte er kurz, »Melden Sie sich krank?«

Corsi schwieg. »Überlegen Sie sich's!« sagte der General mißmutig. Er sah Corsis totbleiches Gesicht. »Das sind Anwandlungen«, fuhr er freundlicher fort, »überlegen Sie sich's bis morgen früh!« und er drehte sich um.

Corsi ging durch die heißen staubigen Straßen nach Hause. Überall waren Offiziere, Soldaten, erregtes Volk und Spaziergänger. Die Hügel und Häuser im Westen lagen in tiefrote Glut getaucht; ein Feuermeer schien über das Land zu lodern.

Als Corsi über die Brücke schritt und in den Hohlweg einbog, war ihm, als ginge er selbst bereits einige Schritte vor ihm dem Hause zu. Er sah es ganz deutlich und es wunderte ihn nicht einmal. Er verfolgte sich, bis der andere Corsi durch die Türe trat.

Dann folgte er gelassen. Das Haus war völlig still, die Zimmer leer. Er sah den Tisch, auf dem die namenlosen Briefe gelegen hatten, sah die Bilder auf dem Schreibtisch, sah das Marias, die ernsten Augen, die ihm jetzt so leidenschaftlich entschlossen schienen. Ein Schluchzen war in seiner Kehle.

Er setzte sich nieder und schrieb drei kurze Briefe, einen an den Divisionär, einen an seine Schwester, einen an Maria. Dann nahm er seinen Dienstrevolver aus dem Schrank und lud ihn.

Er hörte noch die Amseln in den Baumwipfeln sehnsüchtig pfeifen ...

*


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