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Schloß Grand-Carré

Wer vor hundert und mehr Jahren in Sommerzeiten durch die Eichenwälder um Grand-Carré schritt, konnte die Fenster des Schlosses Abend für Abend hell erleuchtet sehen; Wagen rollten vor, schöne Frauen in Seidenkleidern, Herren in farbigen Fräcken, Offiziere in französischen, russischen, österreichischen Uniformen füllten die Säle. Auch unter dem Grafen Henri hörten die Feste nicht auf; dafür lichteten sich die Eichenwälder, und die Felder und Weinberge wurden verpfändet und verkauft. Dann kam Unglück und Tod über Grand-Carré. Graf Narcisse starb, nachdem er seine Frau, Sohn und Tochter verloren hatte, ein einsamer Mann und der letzte seiner Linie. Das Schloß kam an einen Seitenverwandten, einen Baron St. Julien; aber ein volles Jahr standen beide Flügel mit geschlossenen Läden und versperrten Türen, ehe der neue Besitzer einzog.

Von den Höhen sieht man Grand-Carré im Tal als ein mächtiges graues Viereck liegen; die eine Hälfte des Vierecks bilden die hohen Steinmauern des Parks, in der Mitte der vorderen Mauer steht schweigend das große Gittertor mit den goldenen Traubengewinden. Die andere Hälfte bilden die beiden Gebäude, die rückwärts durch eine Galerie verbunden sind, an der jahrhundertealter Efeu emporsteigt. Hohe vierteilige Fenster blicken in den gepflasterten Hof und auf den Park. Nach außen in den Wald sehen starre blinde Wände mit runden vergitterten Luken unter den Voluten des Dachs.

Nur der eine Flügel wurde geöffnet, als der neue Besitzer kam, der niemanden mitbrachte, als einen Sekretär und einen Kammerdiener. Die Läden des andern und seine Tore blieben verschlossen. Durch das Gittertor sahen die Leute auf den Wegen des Parks einen kleinen alten Herrn mit weißem Spitzbart und Schnurrbart spazieren gehen, der stets Zigarren in einem feinen und sorgsam gebräunten Meerschaumkopf rauchte; häufig ging er mit seinem stillen Sekretär, der jung und hochgewachsen war und nur selten sprach. Meist aber saßen beide an einem von außen nicht sichtbaren Gartentisch, mit Schriften und Büchern beschäftigt. Der Baron arbeitete an einem historischen Werk.

»Ernest, Sie werden blaß,« sagte der kleine alte Herr eines Tages zu seinem Sekretär, »Sie müssen spazieren gehen.«

»Wenn Sie meinen, Herr Baron«, erwiderte der Sekretär.

»Junge Männer können nicht so leben; ich werde Sie nach Paris schicken.«

»Ich habe kein Verlangen danach«, sagte der junge Mann und stützte den Kopf auf die Hand. Sie nahmen die Arbeit wieder auf.

Ernest begann Spaziergänge durch die Eichenwälder zu machen. Er ging mit großen lässigen Schritten und betrachtete die Blumen und Bäume und die Menschen, die ihm begegneten, mit den Blicken eines in Träume Verirrten. Eines Tages stieß er im weglosen Wald an ein Gitter: jenseits des Gitters lag eine weite grüne Wiese; dann kamen kiesbestreute Wege und die Rückseite eines weitläufigen Gebäudes. Auf der Wiese saß, nicht weit von ihm entfernt, ein weißgekleidetes junges Mädchen; sie wendete ihm den Rücken zu, in den ihr tiefschwarzes Haar herabfiel; womit sie beschäftigt war, vermochte er nicht zu sehen: vielleicht las sie. Ihr Sonnenschirm lag neben ihr auf der Erde. Plötzlich wandte sie sich und sprang erschrocken auf, ließ etwas fallen und sah ihn mit großen kindlichen Augen an. Auch er schaute nach ihr und grüßte ein wenig verlegen; mit langsamem, fast feierlichem Nicken erwiderte sie seinen Gruß. Dann bückte sie sich, und er sah, daß das, was sie aufheben wollte, kleine farbige Bälle waren; da die Wiese stark abfiel, entrollten sie ihr wieder und führten sie in seine Nähe. Nun ergriff er das Wort und bedauerte sehr höflich, daß er sie gestört oder gar erschreckt hätte. »Oh, wie liebenswürdig Sie sind,« erwiderte das Mädchen mit leichtem Lachen, »aber es macht nichts, sie rollen immer davon«, und dann fügte sie hinzu: »Ich bedauere es gleichfalls.« Ernest grüßte nun nochmals und empfahl sich, aber es war ihm, als ob der Blick, mit dem sie seine Verbeugung erwiderte, ein trauriger gewesen wäre.

Dieser Ausdruck ihres Blicks zog ihn in den nächsten Tagen unwiderstehlich durch die selben Büsche an das gleiche Gitter; aber die Wiese war leer, kein Mensch war zu sehen; dahinter lag das gelbe Gebäude, in dem alle Fenster geschlossen, alle Vorhänge herabgelassen waren. Er kam wieder; aber auf der Wiese war niemand; nur in der Ferne vor dem Hause ging ein großer breiter Mann, den er nicht genau sehen konnte, in einem sehr hellen Anzug, auf und ab; ein Diener folgte ihm, der einen breiten Sonnenschirm trug und über ihn hielt. Er selbst konnte keinesfalls gesehen werden; aber ein Hündchen kam bellend über die Wiese gelaufen, bis es zurückgerufen ward.

Er wußte bereits, wessen Haus es war, das er von der dem Walde zugekehrten Seite gesehen hatte, und wunderte sich daher nicht, als er das selbe Mädchen an der Seite des Grafen Cray in der Kirche wiedersah. Während des Gottesdienstes tauschten sie verstohlene Blicke; aber als er nach der Messe am Kircheneingang an ihr vorüberkommend grüßte, da erwiderte sie den Gruß nicht, und warf nur einen scheuen Blick auf ihren Begleiter, der groß und breit mit einem kalten, um die Lippen glattrasierten Gesicht den jungen Mann einen Augenblick scharf ansah, wie in hochmütiger Empörung über die unerbetene Vertraulichkeit.

Das nächstemal kam nur der Graf allein zur Kirche, die Tochter nicht.

Aber immer wieder kam der Sekretär durch die Büsche an die hohen dunkeln Stäbe mit den vergoldeten Kugelspitzen, hinter denen die weite, sammetene, gepflegte Wiese lag: einmal sah er auch das junge Mädchen fern über die Wiese laufen, das Hündchen hinter ihr; einmal hörte er aus dem Hause lautes, gellendes Schreien, so daß er erschrocken lauschte und, von unbestimmter Angst verfolgt, sich entfernte.

»Sie träumen, Ernest«, sagte der Baron bei den Mahlzeiten.

Eines Tages sah er das Mädchen wieder auf der Wiese, ganz in der Nähe des Gitters, mit den kleinen farbigen Bällen spielen, die sie in die Luft warf und wieder aufzufangen suchte. In ihrer Nähe saß eine blaugekleidete Nonne mit einer weißen Flügelhaube. Das Mädchen sah ihn am Gitter und machte ihm hinter dem Rücken der Nonne deutliche Zeichen. Dann sagte sie ein paar leise Worte zu ihr, worauf die Nonne sich erhob und dem Hause zuging; hierbei sah sie sich öfters um, und das Mädchen warf ihr Kußhände nach. Kaum aber war jene ins Haus getreten, als sie ans Gitter geeilt kam. »Gut, daß Sie da sind,« sagte sie, »aber warum kommen Sie erst heute? Ich habe Sie erwartet!« Verwirrt, fast bestürzt sah er sie an, ihm versagten die Worte. »Ich war oft da ... ich habe Sie gesucht«, stammelte er endlich. – »Ich glaube es, ich fühlte es,« erwiderte sie und Tränen traten ihr in die Augen, »Sie sind gut! Sie werden gut sein?!«

Die Nonne erschien in der Glastüre, die ins Haus führte, und rief laut über die Wiese: »Madame!«

»Kommen Sie heute abend, wenn es ganz dunkel ist, um zehn Uhr«, sagte das Mädchen ohne ihn anzusehen, und bückte sich nach ihren Bällen. Die Schwester kam rasch näher und Ernest verschwand.

Der Mond war noch nicht aufgegangen als er wiederkam, nur die Sterne warfen ein schwaches Licht über das Haus und die Wiese. Die Bäume standen wie dunkle Massen. Er wartete. Dann war es ihm, als ob sich etwas am Rande der Wiese bewegte. Etwas Weißes stand vor ihm, und ein halb erschrecktes, halb lachendes Kindergesicht blickte in das seine.

»Sehen Sie mich nicht an!« sagte sie. »Wenn ich im Bett liege und die Schwester glaubt, ich schlafe, dann geht sie aus dem Zimmer mit der Köchin schwatzen und sperrt mich ein. Da bin ich durchs Fenster gestiegen und über das Dach der Veranda geklettert.« Sie lachte leise.

Er sah sie verzückt an.

»Wollen Sie mir helfen?« fuhr sie fort.

»Ja, ja! – Was soll ich tun?«

»Kommen Sie ... Freitag wieder hierher, wenn es finster ist, und warten Sie. Dann fliehe ich mit Ihnen.«

»Ich komme!«

Sie reichte ihm ihre Hand durchs Gitter und er küßte sie.

»Und dann fahren wir fort?«

»Ja!«

Sie jubelte.

»Ich habe Sie lieb!« stammelte er.

»Ja, und wir fahren weit fort?«

»Ja, ja!«

»Und meine Kugeln nehme ich mit. Aber jetzt muß ich zurück«, sagte sie ängstlich.

»Bleiben Sie noch!« bat er.

»Nein, nein. Sonst vergittern sie die Fenster, wenn sie sehen, daß ich herauskann. Oh, sie sind schlecht gegen mich!«

»Sie müssen mir dann alles erzählen!«

Sie war schon in der Dunkelheit verschwunden. Er hatte das alles wie im Traum gesehen, wie im Traum gesprochen. Fiebernden Blutes ging er nach Hause und lag schlaflos über seinen Plänen.

Am folgenden Abend hatte der Baron Besuch. Der Pfarrer des Ortes und ein verabschiedeter Offizier speisten mit ihm. Der Sekretär schwieg und hing seinen Träumen nach. Da hörte er den Namen des Grafen Cray aussprechen: Freitag Abend sollte eine Sitzung der Gemeinde sein, zu der man ihn erwartete.

»Der Graf hat eine schöne Tochter«, sagte Ernest unwillkürlich; er dachte laut.

»Ja, – Madame van den Hove«, sagte der Pfarrer.

»Hört den Jungen,« rief der Baron, »er hat doch Augen! Woher wissen Sie es, Ernest?«

Dieser, schon verzweifelt über seine unbeherrschte Rede, errötete stark. »Ich habe sie in der Kirche gesehen«, sagte er endlich.

»In der Kirche, dann ist nichts Schlimmes daran!« sagte lachend der Kapitän.

Der Pfarrer schüttelte den Kopf. »Das muß an dem Sonntag gewesen sein, an dem der Abbé Cloche die Messe las. Ich wußte gar nicht, daß Madame van den Hove hier ist.«

»Ist sie wirklich so unglücklich in ihrer Ehe?« fragte der Kapitän.

Der Pfarrer machte eine abwehrende Miene, wie jemand, der von einer Sache nicht zu reden wünscht, weil er zuviel davon weiß, und das Gespräch verlor sich zu andern Dingen. Nur Ernests Gedanken blieben bei dem Gegenstand und machten ihn schwindlig. Er hatte nicht geahnt, daß er eine verheiratete Frau entführen sollte. Sein seltsames Abenteuer bekam dadurch etwas Bedrückendes und zugleich noch süßer Aufregendes als zuvor.

Der folgende Tag war Mittwoch. Ernest war zerstreuter als je. »Liegt Ihnen Madame van den Hove im Kopf?« neckte der Baron. Ernest erzitterte. »Das Leben hier taugt nicht für Sie,« fuhr der Baron freundlich fort, »ich muß Sie nach Paris schicken.«

»Ich würde ganz gerne eine kleine Reise machen«, erwiderte Ernest. Der Baron sah ihn überrascht an, und sie sprachen zunächst nicht wieder darüber.

Am folgenden Morgen wanderte Ernest nach einer Ortschaft jenseits der Hügel und bestellte einen Wagen, der in der nächsten Nacht am Eingang der Waldstraße warten sollte. Es fiel ihm nicht ein, dem Besitzer des Fuhrwerks, der ihn mißtrauisch ansah, einen einleuchtenden Grund zu sagen, und daß dieser eine unverschämte Forderung stellte, merkte er nicht.

Der nächste Tag kam und verging endlich, und Ernest schlich durch den Wald und das dichte Buschwerk, das ungewohnter Geräusche voll war, an die wohlbekannte Stelle. Er wartete in der warmen Nacht, bis die Flüchtige innerhalb des Gitters stand; in der einen Hand trug sie ein Säckchen, wie auch er eine Handtasche mit dem Nötigsten mitgebracht hatte. Nun aber wußte er keinen Rat; er hatte gedacht, sie wüßte schon, wie sie aus dem Park kommen würde. Da verschwand sie wieder und kam mit einem Gartensessel zurück und stellte ihn unter einen Baum, der seine Zweige ans Gitter streckte; über die Eisenspitzen breitete Ernest seinen Mantel, und sie klomm wie eine Katze darüber. »Schnell, schnell,« flüsterte sie ängstlich, »sonst entdecken sie uns.« Sie schmiegte sich an ihn, aber als er sie küssen wollte, wich sie zurück: »Bitte, nein, nein,« sagte sie leise, »ich bin ja kaum angekleidet.« In schüchterner Glückseligkeit zog er sie nun mit sich, die sich willig führen ließ. »Wir fahren zur Bahn«, sagte er. »Weit fort«, flüsterte sie. »Ja, nach Paris.«

Aber als sie aus dem Wald auf das dunkle Feld kamen, war kein Licht und kein Wagen da. Der Mann mußte die Stelle verfehlt haben oder war nicht gekommen. Verzweifelt eilte er mit ihr die Straße entlang und suchte, aber es rührte sich nichts, und nirgends war durch die Nacht ein Rollen von Rädern oder Hufschlag zu hören.

Indessen begann es zu regnen; der Bahnhof lag drei Wegstunden entfernt, und wenn sie selbst noch irgendwo einen Wagen hätten bekommen können, wäre es dennoch zu spät gewesen, da von Mitternacht bis zum Morgen kein Zug mehr durchkam, der gehalten hätte. Sie begann zu frieren; sie trug ganz dünne Schuhe. In der Nähe stand ein elendes kleines Wirtshaus, aber er fürchtete das Aufsehen und das Reden der Leute. Er legte seinen Mantel um sie, seine Verzweiflung wuchs, und am meisten belästigte ihn seine Handtasche.

Da kam ihm ein Gedanke, und er führte sie über den Hügel auf wohlbekannten Wegen zum Schloß hinab. Fernes Hundegebell erscholl; ein Wagenrollen ließ ihn stehen bleiben, aber dann besorgte er, man könnte sie verfolgen, und er bat sie, rascher zu gehen, wenn sie könnte. Sie gehorchte vertrauensvoll; und glücklich und besorgt zugleich fühlte er ihren warmen schlanken Körper, wenn er sie im Dunkeln streifte oder ihr über eine steilere Wegstelle half.

In der hohen Steinmauer war ein Pförtchen, zu dem er den Schlüssel besaß. Im dunkeln Park hieß er sie warten; dann klopfte er den Pförtner wach, und während dieser ihm die Laterne, die er unter einem Vorwand begehrte, zurechtmachte, bemächtigte er sich des schweren Schlüsselbundes, das in der Wohnung des Pförtners hing. Dann holte er die Wartende und öffnete die in den Angeln kreischenden Tore des verschlossenen Flügels.

Ein dumpfer Geruch drang aus nie geöffneten Räumen. In den Zimmern waren die Bilder an den Wänden, die Möbel, die Kronleuchter mit Leinwandhüllen bedeckt: eine vermummte Welt umgab sie, unbestimmbare Dinge, die seltsame Schatten warfen und zum Gehen oft keinen Raum ließen; es war, als drängten sie sich zwischen Ungetümen. Die Schritte hallten auf teppichlosen Fußböden, unendlicher Staub lag überall, und die Luft war nicht zu atmen. Er suchte nach einem Schlafzimmer, öffnete, nachdem er das Licht verborgen hatte, die Läden und mit schwerer Mühe eines der mächtigen Fenster, und erschrak jäh, als es mit einem Klirren aufsprang, das durch die Nacht und den Regen hallte.

Indessen plauderte sie leise, fragte und erzählte durcheinander, aber er konnte noch wenig auf sie hören und beruhigte sie nur, während er die alten schweren Vorhänge von einer mächtigen Bettstatt und, als er da nur Bretter fand, die Bezüge von einem Divan riß, einen Tisch und Stühle frei machte.

Ermattet warf sie sich hin und sagte, sie hätte Hunger. Er eilte in den andern Flügel hinüber, nachdem er ihr eingeschärft, sich lautlos zu verhalten. Als er auf dem Gange am Schlafgemach des Barons vorüberkam, rief dieser aus dem Bette heraus, was denn so spät los wäre. Ernest antwortete durch die Türe, daß er sich auf dem Spaziergang verirrt hätte, und daß er Bücher im Garten vergessen, die er nun im Regen suchen und holen müßte. Der Baron schalt ein wenig und schien wieder einzuschlafen.

Als Ernest mit allem, was er in der Eile hatte finden können, beladen zurückkam, war auch die Fremde auf dem Sofa eingeschlafen. Er wagte nicht, sie zu wecken, sondern stellte die Laterne auf den Tisch, setzte sich neben sie und betrachtete sie entzückt. Sie schlief sehr unruhig; an den Fältchen der Lider hätte er, wäre er erfahrener gewesen, erkennen können, daß sie älter war, als er bisher gedacht. Plötzlich wachte sie auf und sah erschrocken um sich; er beruhigte sie und bot ihr Essen und Wein.

Sie aß und trank und begann zu lachen und zu plaudern.

Er unterbrach sie mit einer Frage, die er seit Stunden überlegte: er bat sie, ihm ihren Namen zu sagen.

Sie sah ihn erstaunt an. »Liane – Liane de Cray. Ist das nicht ein schöner Name?«

Entzückt und zärtlich wiederholte er: »Liane!«

Sie begann nun zu erzählen, hastig und verworren: »Mein Mann behandelt mich schlecht,« sagte sie, »oh ja! er sagt, ich bin krank, damit er mich einsperren kann und ich niemanden sehen soll. Aber Unsinn! Unsinn! Er ist nicht ganz klug, wissen Sie!«

Der Wein machte sie aufgeregt; sie sagte Schlimmes über ihren Mann, zuletzt murmelte sie leise Worte, als redete sie nur mehr für sich selber.

Er griff nach ihrer Hand, die sie ihm ließ.

»Wir gehen nach Paris, mein Herz, nicht wahr?« fragte sie, »hast du Geld?«

»Etwas, nicht viel«, gestand Ernest.

»Das macht nichts. Ich lasse mir vieles schicken. Ich habe genug. Sie wollen es mir nur nicht geben. Aber sie müssen. Der Advokat, du weißt den Advokaten, der Name fällt mir nie ein, zu dem müssen wir gehen. Nur vor dem Kapitän müssen wir uns hüten, der hat uns ins Unglück gebracht. Und Henri will ich nicht begegnen. Aber freilich, den Kapitän hat er erschossen ...«

»Du hast Fieber,« sagte Ernest, »du hast dich erkältet!«

»O nein, ich bin nicht krank,« sagte sie, »ich bin nur aufgeregt ...«

Nun sprach er ihr still und beruhigend zu und setzte ihr auseinander, was er vorhatte. Sie lauschte auf seine Worte und sah ihn an, dann zog sie lächelnd seinen Kopf an sich und küßte ihn. Auf seine Bitte streckte sie sich wieder auf dem Sofa aus; da er eine Decke über sie breitete, fühlte er, wie durchnäßt sie war. Glücklich und zitternd löste er ihr die Schuhe, hieß sie die Strümpfe abstreifen und deckte sie warm und sorglich zu. Ihr kleiner Mund öffnete sich zu behaglichem Lächeln, und dann entschlief sie schnell.

Lange saß er neben ihr am Tische und betrachtete sie unverwandt mit immer gleichem Entzücken. Er saß, bis das Licht plötzlich hell zu flackern begann; dann sank es zusammen, zuckte ein paarmal mühsam auf, während jähe seltsame Schatten über die Wände huschten, und verlosch. Er saß im Dunkeln neben der Schlafenden, wunderliche Bilder in der Seele und eine süße seltsame Qual. Während er saß und dachte, überkam ihn eine schwere Müdigkeit, immer wieder sank sein Kopf herab und einmal wäre er beinahe vom Stuhle gestürzt. Er gedachte eine kurze Weile zu ruhen und streckte sich auf den Boden hin.

Aus tiefstem Schlafe erwachend, sah er einen hellen Lichtstrahl zwischen den zugelehnten Fensterläden. Erschrocken sprang er auf. Die Fremde lag noch immer auf dem Sofa und schlief fest. Aber das Sonnenlicht blitzte herein und im Park sangen die Vögel. Jetzt ging unten eine Türe, und jemand schritt über den Hof. Da ergriff ihn Verzweiflung. Er hatte die Dämmerung verschlafen, in der er das Haus noch ungesehen mit ihr hätte verlassen können. Nun hieß es, den ganzen Tag in dem dunklen Zimmern versteckt bleiben. Er bedachte, daß man ihn vermissen und suchen, sein Verschwinden mit dem der jungen Frau in Verbindung bringen würde, und es schien ihm das Richtigste, unbemerkt durch die Galerie in den andern Flügel und in sein Zimmer zurückzukehren. Er schrieb mit Bleistift ein paar Worte auf ein Stück Papier und ließ es neben der Schlafenden liegen. Die Schlüssel fand er an dem gleichen Bund; er öffnete lang verschlossene Türen und verdunkelte Räume, und sah sich zuletzt verwundert vor dem unberührten Bett in seinem hellen Zimmer, das er schon für immer verlassen hatte.

Es war halb neun. Er stand vor seinem Toilettenspiegel, neben dem offenen Fenster; da hörte er erregte Stimmen auf dem Hof und Hundegebell. Er beugte sich aus dem Fenster. Unten stand der Graf Cray mit seinem Hunde, der an der Leine zerrte; der Pförtner und andere Leute aus dem Hause vor ihm. Eine Zeit verging, Ernest wußte nicht, wie lange; die Töne unten hallten in seinem Ohr und verstummten, dann schollen Schritte auf dem Gange vor seinem Zimmer, der alte Kammerdiener des Barons klopfte an seine Türe: »Der gnädige Herr lasse Herrn Ernest bitten, hinunterzukommen.« Ernest versprach es, sowie er sich zu Ende rasiert hätte, aber er konnte seine Wange nicht finden und bewegte das Messer nur mechanisch in der Luft hin und her.

Irgendwo rief der Baron: »Ernest!«

»Gleich!« rief dieser zurück.

Er wusch sich den Seifenschaum vom Gesicht, schritt aus der Tür und kehrte wieder um, seine Jacke anzulegen, in ungeheuerster Verwirrung, betäubt von dem, was geschehen war. Dann ging er mit der Entschlossenheit eines Nachtwandlers in den Gartensaal hinab.

Es war ein heller freundlicher Saal mit lichten geblümten Fenstervorhängen, die mit grauen Seidenschnüren aufgebunden waren. Die Sommersonne fiel auf den gedeckten Frühstückstisch. Der alte Herr stand im Schlafrock, mit dem Rücken gegen den Eintretenden, und sprach mit aufgeregten Gebärden. Der Graf stand vor ihm; seine kalten Augen richteten sich auf Ernest; der kleine alte Herr sah sich gleichfalls um, und als er den Träumer kommen sah, mußte er lächeln: »Ernest,« rief er ihm entgegen, »was höre ich ... Sie haben eine Dame entführt und im Hause versteckt?«

Ernest schwieg; er hatte den starren Ausdruck derer, die ein Wissen leugnen wollen, das ihnen im Gesicht geschrieben steht.

»Sie ist dort«, sagte der Graf und wies durch das Fenster nach dem andern Flügel des Schlosses hinüber, zu dem sein Hund draußen im Hofe heftig emporbellte; und wie auch die andern unwillkürlich seiner Bewegung folgten, begegneten die Blicke des Sekretärs und des Barons sich in jähem Wissen: in dem unbewohnten Flügel stand ein Fenster offen.

In diesem Augenblick trat der Pförtner ein und meldete, daß die Schlüssel fehlten; auch er sah Ernest an, der wortlos dastand, weiß und starr, die ungeheure Verlegenheit und Verzweiflung in seiner Seele mit irgendeinem wilden Entschluß und einer wahnwitzigen Hoffnung niederkämpfend.

Auch in den andern wuchs die Erregung. Mit einer Stimme, durch die der mühsam verbissene Zorn klang, sagte der Graf: »Ich möchte größeren Skandal vermeiden ... in meinem eigenen Interesse, nicht in dem Ihren ... wollen Sie meine Frau herausgeben?«

Ernest starrte ihn an. »Ihre Frau?« fragte er verwirrt.

»Auf die Eroberung braucht dieser Herr sich nichts zugute zu tun, sie wäre mit jedem Lakaien davongelaufen: meine Frau ist geisteskrank.«

»Lüge!« schrie Ernest plötzlich, »das ist Ihre Lüge, aber ich weiß ...« er verstummte: in der Türe, die der Pförtner offen gelassen, sah er wie einen Spuk die weiße Flügelhaube der Nonne schweben. Nur seine über die Zähne gepreßten Lippen bewegten sich.

Aber alles Zureden blieb vergeblich. Er leugnete und weigerte die Schlüssel, bis der Graf aufsprang und mit der Faust auf den Tisch schlagend: »Nun hab ich genug!« schrie. Der Baron wendete sich zu ihm. Die plötzliche Wut des Mannes hatte etwas Erschreckendes. Gleichzeitig griff Ernest in seine Tasche.

Sie folgten der drohenden Bewegung und sahen ihn die Waffe hervorziehen; jeder wollte nach seinem Arm greifen, um ihn unschädlich zu machen; allein er hatte sich bereits umgewendet und stürzte aus dem Saal.

Sie hörten ihn mehrere Türen zuschlagen, dann wurde es still. Die Männer folgten in einem sonderbaren Zug, voran der aufgeregte alte Herr im fliegenden seidenen Schlafrock, den Meerschaumkopf, aus dem die Zigarre herausgefallen war, in der Hand, hinter ihm der Graf, dann der alte Kammerdiener, der Pförtner, der Jäger des Grafen und die Nonne. Die Türe am Ende der Galerie war verschlossen. Auf ihr heftiges Pochen antwortete Ernest von drinnen: er werde jeden niederschießen, der hereinkommen würde. Vergeblich redete der Baron ihm zu und beschwor ihn durch die geschlossene Türe: »Lassen Sie nur mich hinein, Ernest! Wenn die Dame dann nicht gehen will, soll sie niemand mit Gewalt fortführen!«

Von drinnen kam eine Antwort, die niemand verstand. »Lassen Sie die Türe aufbrechen«, sagte der Graf. Und der alte Herr, heftig erregt, rief nach einer Axt. Plötzlich gab die Türe nach. »Wollen Sie auf mich schießen, mein Junge?« schrie der Baron.

»Monsieur, Monsieur, Monsieur!« rief Ernest beschwörend.

Den Revolver immer in der Hand, eilte er jetzt den andern voran durch die leeren Zimmer und Gänge, bis sie an das kamen, in dem die Geliebte wartete; er riß die Türe auf: zwischen den vermummten Möbelgespenstern saß das seltsame schöne Geschöpf auf der Erde und spielte mit den farbigen Glasbällen, die sie in dem Säckchen mitgebracht hatte, in dem Ernest ihre Reisesachen vermutet. Sie lächelte ihm zu, dann stieß sie plötzlich einen Angstschrei aus, als sie den Grafen und die weiße Haube der Nonne erblickte ...

Aber Ernest hatte begriffen.

Einige Stunden später stand der alte Herr bekümmert neben dem jungen Mann, der auf der Gartenbank saß, den Kopf auf den Tisch gelehnt.

»Wollen wir eine Reise machen, Ernest?« fragte er, »oder wollen wir zu unserer Arbeit zurückkehren?«

*


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