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Der Morgen war grau und trübe; über dem Städtchen und auf dem Meer lag Nebel.
Raymond Dough stand am Fenster und sah in die gelblich trübe Luft hinaus. Im Zimmer brannte das Gas. Die Frauen saßen schweigend am Frühstückstisch.
»Wenn wir fortgingen, Ray?«
Er sah sich jäh um. »Damit die Sache vergessen wird und er sich ungestört fühlt? Wir würden seinen größten Wunsch erfüllen.«
Seine Frau schwieg.
»Du bist immer ein Träumer gewesen, und die andern haben dir das Brot weggegessen«, sagte die Mutter. Sie sagte es bedauernd, ohne Härte, dennoch sah die jüngere Frau sie vorwurfsvoll an.
»Die Träume sind lange ausgeträumt«, antwortete er. »Und daß man den andern das Brot wegnimmt, ist gebräuchlich. Das habe ich auch ihm nicht übelgenommen.«
»Hast du es je andern getan?«
Dough zuckte die Achseln und schwieg. Am Fenster tauchten die Schatten der Vorübergehenden auf, während ihre Schritte in dem stillen Gäßchen verhallten. Die Klingel an der Haustüre scholl, und sie hörten Briefe und Zeitungen durch die Öffnung fallen. Dough ging hinaus sie zu holen. Dann sah er sie am Tisch durch, während die Frauen ihn gespannt beobachteten. »Nichts!« sagte er zuletzt. »Die Vertretung von Feery Brothers hat er natürlich auch schon ...«
»Du hast ihn ja selbst an sie empfohlen!« sagte seine Frau.
»Vor einem Jahr; da bekam er sie nicht; heute, da er alle andern hat, bekommt er die auch.«
»Und für uns bleibt nichts!« sagte Frau Dough. Alle drei sahen düster vor sich hin.
»Ich sehe ihn noch, wie er hier eintrat,« sagte die Mutter, »armselig und elend. Und wie sie erst aussah, als sie ihm nachkam! Sie sieht heute noch wie eine Zigeunerin aus.« Der Sohn machte eine ungeduldige Bewegung.
»Ich traf übrigens Mrs. Gilbert gestern im Laden«, warf die junge Frau ein. »Sie kaufte ein schwarzes Seidenkleid.« Sie biß sich auf die Lippen.
Dough hatte die Zeitung vor sich und machte Notizen, strich sie wieder durch und legte das Papier und die Zeitung mit einer hoffnungslosen Bewegung zur Seite.
»Du hättest ihm nicht so trauen dürfen«, fuhr die Mutter fort. »Aber du warst immer zu gutmütig, wie dein Vater.« Das Gesicht des Sohnes wurde unwillig. »Ich habe keine Geduld mit dir, Ray!«
»Man muß Geduld mit ihm haben«, sagte seine Frau; sie zog seine Hand über den Tisch an sich und küßte sie. »Du mußt heute nach deiner Insel fahren!«
Die alte Frau legte ihre Stopfarbeit beiseite und putzte ihre Brille. »Ich bin doch kein böser Mensch,« sagte sie, »aber man muß nicht alles hinnehmen und verzeihen!«
»Ich verzeihe durchaus nicht«, erwiderte Raymund Dough. Er sah nach der Uhr. »Gehen wir, Beß?« fragte er. Sie stand auf. Er zog seine Börse hervor, und beide sahen einander fragend an, als er ihr ein kleines Goldstück reichte.
Im Vorzimmer half er ihr in den Mantel. Sie lächelte und nahm ihre Markttasche. Sie traten in die neblige kleine Gasse und gingen eine Strecke schweigend nebeneinander. Nun standen sie vor der Kirche, die wie ein großer Schatten über ihnen lag. Wenige Schritte davon stand ein neues Haus aus violetten Backsteinen mit weißen Gesimsen; sie konnten das Messingschild mit der Aufschrift »Besucher« am Gartengitter lesen.
»Sie ist dennoch keine Dame!« sagte Frau Dough. »Bei der Schulfeier wurde sie Lady Nashville Baynes vorgestellt und bat sie sogleich, sie zu besuchen. Lady Baynes antwortete gar nicht. Würden wir uns so wegwerfen?«
Er nickte ihr zu. »Sie ist verdammt ehrgeizig,« sagte er, »und das hat ihn vom Weg abgelenkt. Sieh, daß er wieder in die Höhe kommen wollte, daß er mir die Vertretungen wegnahm, die er früher hier gehabt, bevor er nach London ging ... er dachte, sie gebührten ihm. Und die Druckerei folgte dann von selber ...«
»Nachdem du ihn bei dir aufgenommen und dich für ihn bemüht ...«
»Auf Dankbarkeit darf man nicht rechnen. Das könnte ich ihm alles verzeihen. Aber daß er weiter freundlich zu uns kam und nie ein Wort davon sprach, was er hinter meinem Rücken tat, so daß ich harmlos blieb und mir nichts sichern konnte, bis es zu spät war und alles ihm gehörte: sein Schweigen verzeihe ich ihm nicht!«
Sie waren an der Ecke des Marktplatzes angekommen. »Ich will einmal zu Blair sehen,« sagte er, »und dann nochmals zur Post! Es wird schon gehen, altes Mädel!« Sie lächelte; er nickte ihr zu, und sie trennten sich. Er sah ihr nach, wie sie in ihrem abgetragenen Mantel, eine Kappe auf den blonden Haaren, die am Halse hervordrängten, weiterging. Sie sah schlank und hübsch aus, aber ihr Gang war müde.
Dough schritt die Straße hinauf, zwischen kleinen gelblichen Backsteinhäusern; er schritt durch ein dunkles Tor unter einem viereckigen gotischen Turm und stand auf der Felsterrasse, die über der Kirche lag. Ein Sonnenstrahl brach durch den Nebel und beleuchtete das Haus, das Tom Gilbert sich gebaut hatte. Die violetten und weißen Blumen im Garten, die feuchten üppigen Gräser und die Kieswege wurden sichtbar. Wie ein weißer Schleier lag der Nebel noch über den kleinen Häusern und Gärten, der immer zarter und lichter wurde; und jetzt riß er auseinander. Wie eine weiße Bewegung glitt es durch den Raum zwischen Meer und Himmel; wo man hinsah, kamen Formen und Farben zum Vorschein. Unten tauchten die Klippen auf und das Wasser der Bucht; weiße Segel standen reglos in der Ferne; die Inseln kamen grün oder dunkel hervor: der Himmel ward blau und die Welt voll strahlender Herrlichkeit. –
Als er des Mittags nach Hause kam, sah seine Frau nach seinem Gesicht, aber da er nichts sagte, richtete sie keine Frage an ihn. Das zweite Frühstück war auf dem feinen alten Geschirr, das sie noch besaßen, mit großer Kunst angerichtet, so daß es üppiger aussah, als es war. Sie neckten einander mit dem »verbotenen Luxus«, der in wenigen Früchten bestand. Die Kinder waren aus der Schule gekommen und plauderten und freuten sich.
Es war Sonnabend. »Was tut ihr heute Nachmittag?« fragte der Vater.
»Fred Gilbert hat uns eingeladen, in ihrem großen neuen Boot mitzufahren«, sagte der ältere Knabe.
Raymond Dough fuhr auf. »Du kannst das nicht annehmen, Herbert,« sagte die Mutter, »Mr. Gilbert hat sich gegen Papa schlecht benommen. Ich sagte es euch schon.«
Die Kinder sahen einander an; der fröhliche Ausdruck schwand aus ihren Gesichtern. »Es ist ein so schönes Boot, für zwölf Personen!« sagte der Ältere klagend.
»Ich sage,« begann der Jüngere, Blondlockige, »Fred Gilbert war immer nett gegen uns ...!«
»Es kann nicht sein. Geht jetzt Kinder. Papa hat mit mir und Großmutter zu sprechen.« Schweigend gingen die Knaben hinaus. »Man kann nicht hindern, daß sie sich in der Schule treffen«, fügte sie entschuldigend hinzu.
»Sie sollten stolzer sein«, bemerkte der Vater. Die ältere Mrs. Dough lächelte. Er stand auf, ging einige Male umher und verließ dann das Zimmer. Nach einer Weile kam er im Sportanzug zurück. »Ich werde am Abend noch zu Blair gehen; er war vorhin nicht zu Hause. Was macht ihr?« fragte er.
»Ich muß mein Kleid bis morgen fertig umnähen, sonst kann ich nicht zur Kirch««, erwiderte seine Frau. »Willst du wirklich nach der Insel? Du siehst so müde aus, Ray!«
»Ich habe heut Nacht nicht geschlafen; die Luft tut mir gut.«
Er holte sein Gewehr aus dem Schrank, in dem er es verschlossen hielt, küßte sie und ging.
Das Boot flog über das weiße Wasser, das in der Herbstsonne funkelte. Das Städtchen verschwand hinter einem Vorgebirge. Mehrere kleine Inseln lagen in der Bucht. Aber eine seltsam geformte Felseninsel, die gleichsam zwei Schwingen bildete, war die seine. Niemand kam je hieher. Nur an einer Seite waren ein paar kleine Einbuchtungen, an denen man landen konnte. In einer dieser kleinen Buchten machte er sein Boot fest, nahm Büchse und Rucksack heraus und sah sich aufatmend um. Die tiefe Stille im Schatten der Felsen, unter denen das grüne ruhige Wasser stand, die vollkommene Einsamkeit tat ihm wohl. Die Sonne war hoch am Himmel, ein paar Möven kreisten über der stillen See. Außer dem leise schluckenden Ton, mit dem das kaum bewegte Wasser ans Ufer schlug, war kein Laut zu hören. Doch jetzt drang ein wohlbekanntes Schnarren und Zischen an sein Ohr. Er klomm aufwärts. Hier hatten die Scharben ihr Nest, nur zwei Familien; er konnte es auf der unteren Klippe bequem sehen. Sie ließen sich kaum durch ihn stören. Hoch aufgerichtet, im grün und bronzenen Glanz seiner Federn, den Kopf böse zurückgenommen, den langen Hals schlangenartig bewegend, stand das eine Männchen da. Er sah ihm eine Weile zu und warf ihm Brotkrumen hinunter, die der Vogel gierig aufschnappte; dann stieg er wieder hinab und schritt über den Klippenweg nach dem größeren Teil der Insel und kletterte dort empor. Hier oben war eine kleine Hochebene, auf der Heidekraut wuchs. Er setzte sich, mit dem Rücken an eine niedere Bodenwelle gelehnt, legte Flinte und Rucksack neben sich, zog seine Pfeife hervor, stopfte sie und zündete sie an. Unter ihm lag die Flut, in der Ferne Ufer und Inseln, weit draußen sah er den Rauch eines Dampfschiffes ziehen und dahinten, ganz ferne im Horizont schwindend, das offene Meer. Hie und da scholl ein Mövenschrei, sonst war ringsum tiefste Stille.
Er zog ein Buch hervor, aber er fing kaum an zu lesen, er blätterte nur und schloß es wieder. Er legte sich zurück, kreuzte die Hände unterm Kopf und verfolgte die winzigen Rauchwölklein, die über ihm in die Luft stiegen und schwanden. Alle Geschäfte und Sorgen glitten von ihm; und eine tiefe, stille Wonne rieselte durch seinen Leib. Er schloß die Augen.
Als er sie wieder öffnete, folgte er einem winzigen weißen Wölkchen mit den Blicken, das hoch oben schwamm, und dann einem großen Vogel, der über ihm hinflog. Die Herbstsonne goß eine milde Wärme über die Bucht; nur ihr spiegelnder Glanz, von der glitzernden Flut zurückgeworfen, stach in die Augen. Er schloß sie wieder. Schwingen brausten an ihm vorüber, Wasser stiegen auf, die Insel verschob sich ... er fuhr empor: er hatte schon geschlummert. Die Pfeife war ihm aus dem Munde gefallen; er nahm sie noch einmal auf, tat einen Zug; dann legte er sich lächelnd wieder zurück und entschlief vollends.
Er träumte, daß er durch einen Tunnel fuhr, der donnernd über ihm zusammenstürzte. Er sprang noch im Schrecken des Traumes auf und machte eine Bewegung zur Flucht. Er hörte das Krachen und Rollen, auch als er bereits wußte, daß er geträumt hatte. Immer noch toste der Schall, mählig schwächer werdend, über die Wasser. Er begriff, daß ein Schuß ihn geweckt hatte. Es mußte ein Schuß in nächster Nähe gewesen sein, vermutlich aus einem Boot nach einem Vogel. Er ging bis an den Rand der Fläche vor: auf dieser Seite war niemand zu sehen.
Er mußte lange geschlafen haben; denn um ihn war die Luft dämmrig, und im Westen lag die Sonne wie eine riesige gelbe Scheibe dicht über der Flut; ein flammender Spiegelstreif zog sich von ihr herüber; vor ihm in der Nähe der Insel war das Wasser tief schwarz und nach der andern Seite weithin ein mattes silbriges Grau; am Himmel standen einzelne Wolken, die im Südwesten dichter wurden. Im Augenblick kam ihm ein zweiter Gedanke, der ihn weit mehr beunruhigte als der Schuß. Die Flut mußte schon stark gestiegen sein; ein leichter, um diese Zeit ganz ungewohnter Wind kam vom Westen herein, der kühl über die Fläche fuhr und sie kräuselte, und das Wasser begann unten an die Steine zu schlagen. Es war hohe Zeit, daß er zu seinem Boote zurückkam. Er hatte Büchse und Rucksack aufgenommen, das Buch und die Pfeife eingesteckt und war auf den Ostrand der kleinen Hochebene zugeschritten; jetzt änderte er die Richtung und schritt eilig abwärts. Im Gehen sah er sich noch einmal um und blieb regungslos stehen: am Ostrand der Fläche, wie ein Schatten in der Abendluft stand ein Mensch, der, sowie er, eine Büchse trug und ein kleines Hütchen auf dem Kopf hatte: er mußte den Schuß abgefeuert haben. Trotz seiner Eile ging Dough jetzt nicht weiter; der andere Mann kam näher; er schien ihm seltsam bekannt. Sein Gesicht verfinsterte sich: es war Tom Gilbert, der ihn im selben Augenblick gleichfalls erkannte. Dough wurde bleich, er machte einen Schritt auf ihn zu, der andere griff nach rückwärts, da wendete Raymond Dough sich um, schwang sich über den Hang des Abhangs und stieg an den Felsen nieder.
Der lange Schlaf, der Traum, das jähe Erwachen mit der unangenehmen Entdeckung, daß es Nacht wurde, und die Begegnung selbst, hatten ihn in eine ungewohnte Erregung versetzt, so daß er einen Augenblick glaubte, sie könnte eine Art Fiebererscheinung gewesen sein. Er fühlte die starke Versuchung, noch einmal zurück und hinauf zu steigen und sich zu überzeugen, ob überhaupt jemand da war; aber es dunkelte rasch, die Sonne war schon zur Hälfte im Meer verschwunden; das Wasser war stahlblau und leicht bewegt; er hatte keine Zeit zu verlieren. Ungangbarer Fels verband die beiden Teile der Insel, dem unten ein Weg über ausgewaschenen und zerklüfteten Stein entlang ging. Er fand ihn zum Teil schon vom Wasser übersprüht und berieselt, das in den Fugen spritzte und rauschte und um die höheren Klippen leicht zu branden begann. Vorsichtig schreitend, manchmal springend, kam Dough von Stein zu Stein. Als er an der andern Seite war, wo die Scharben ihr Nest hatten, ergriff ihn heftiger Zorn bei dem Gedanken, der andere könnte nach ihnen geschossen und einen der Vögel, die er seit Monaten beobachtete und fütterte, erlegt haben; aber Tom Gilbert pflegte ja nichts zu treffen, er war kurzsichtig und ungeschickt! Und nun hatte er keine Kugel mehr im Lauf und ... sein Gewehr war geladen. Es war nur ein fliegender Gedanke, bedeutungslos, der ihn dennoch lächeln machte.
Er sah sich um: drüben an den dunkeln Steinen zwischen den Felsen stand sein früherer Freund; er konnte deutlich sehen, wie er mühsam sein Augenglas befestigte, das offenbar nicht sitzen wollte; jetzt schien er auch ihn zu bemerken; er kam aber nicht näher: er winkte und rief etwas herüber. Raymond Dough wendete sich ab und ging weiter.
Sein Name scholl hinter ihm, und jetzt lauter und flehend. Raymond Dough kehrte um, obwohl er sich innerlich Unvernunft vorwarf, denn jede Minute konnte Gefahr bedeuten. Er eilte über die nassen Klippen zurück und stand vor dem andern, dessen Lippen sich bewegten; sie waren blaß und sein Gesicht aschfahl.
»Ich kann nicht weiter,« sagte Gilbert keuchend, »ich kann nicht hinüber; mir wird schwindelig; das Herz taugt nicht mehr, Ray!«
Vor ihnen lagen im letzten Licht des Abends die dunkeln schwarzgrünen Steine, zwischen denen und über die jetzt schon leichte Schaumwellen schossen.
»Schnell!« sagte Dough und ergriff ihn bei der Hand, die unangenehm feucht und schlaff war. »Hier setze den Fuß! da! – so! – so! stütze dich! – Achtung!!!« Er faßte ihn um den Leib und hielt den Schwindelnden fest. Es war ein Glück, daß sein Fuß hier von selbst den Weg fand und jedes Stückchen Fläche kannte. Sie kamen hinüber.
Auf dieser Seite fiel das Felsufer, wenn auch steil genug, zum Wasser ab und war teilweise mit Geröll und Heidekraut bedeckt. Sie stiegen etwas höher hinauf, und schwer atmend ließ Tom Gilbert sich auf einen Stein nieder. »Danke, Ray!« sagte er leise. Dicht vor ihm stehend konnte Dough sehen, wie elend und abgearbeitet der hagere langaufgeschossene Mann mit den fahlen Wangen aussah. Er suchte jetzt wieder seinen Kneifer zu befestigen.
Zu ihren Booten zu gelangen war keine Möglichkeit mehr; sie hätten es nur schwimmend versuchen können. Die Flut mußte sie längst gehoben haben. Dough versuchte über die Felsen hinüber und so hoch zu klettern, daß er in die Bucht hineinsehen konnte, in der er das seine gelassen hatte, aber er kam nicht weit.
Als er in der Höhe nach allen Seiten Ausschau hielt, sah er, daß auf dem dunklen Wasser unweit der Insel etwas sich zu bewegen schien, das sich gegen den bleichen Himmel abhob. Es mochte eines der Boote sein. Er stieg wieder hinab.
Sie setzten sich nieder. »Wir können immer so hoch, daß die Flut uns nicht erreicht«, sagte Dough. »Besser wäre es gewesen, wir wären drüben geblieben; oben hätten wir die Nacht bequemer verbracht. Wenn Sturm kommt, wird es hier verdammt unangenehm.«
»Regen kommt sicher«, sagte Gilbert, auf die Wolkenwand weisend, die im Südwesten immer dunkler und schwerer wurde.
Dough zuckte die Achseln. Er ging zum Klippenweg zurück, aber es schien nicht möglich noch rätlich, ihn nochmals zu versuchen. Das Wasser toste und schäumte hier so, daß er Gilbert, der ihm etwas zurief, nicht verstehen konnte.
Er kehrte zurück. »Es ist nur um Beß und ihre Angst,« sagte er, »sonst kommen wir wohl mit einer Erkältung davon.«
Die Erinnerung an seine Frau ließ den Zorn gegen den Mann wieder aufflammen.
»Du kannst eine Lungenentzündung vielleicht überleben,« sagte Gilbert, »ich mit meinem Herzen nicht.«
Dough erwiderte nichts, er fühlte nur ein verächtliches Mitleid, und beide schwiegen.
»Hast du geschossen?« fragte er nach einer Weile.
»Ja«, antwortete dieser.
»Warum? Um Hilfe zu rufen?«
»Nein, nach einem Vogel.«
»Wozu? Kannst du mir meine Vögel nicht in Ruhe lassen?«
Gilbert schien ihn erstaunt anzusehen. »Gehören die Vögel dir?« fragte er.
»Nein. Die Vertretungen auch nicht. Nichts gehört mir. Es ist alles recht.« Er stand auf und setzte sich nach der andern Seite, als mache er weiterer Gemeinschaft ein Ende. Dann zog er seine Pfeife hervor, stopfte sie und versuchte sie in Brand zu setzen; der Wind blies die Streichhölzer aus.
Gilbert trat näher und reichte ihm sein Feuerzeug. Sie saßen eine Weile schweigend.
Dann begann Gilbert. »Du denkst, ich habe dir Unrecht getan.«
»Ja, das denk' ich.«
»Es mag wohl Umstände geben, die für mich sprechen.«
»Mag sein.«
Sie schwiegen wieder. Sie saßen jetzt völlig im Dunkeln. Am Himmel war nur mehr ein schwacher Schein; fast überall war er von Wolken bedeckt. Am Ufer waren schon lange einzelne Lichter aus verstreuten Landhäusern und Gehöften sichtbar geworden. Unter ihnen schoben sich die dunkeln Wasser gurgelnd aufwärts und schlugen an die Steine. Der Wind kam in Stößen. Gilbert knöpfte fröstelnd seine Jacke zu. Dann zog er eine kleine Taschenlaterne heraus und ließ sie leuchten.
»Es ist nicht mehr viel drin«, sagte er.
»Dann wollen wir sie für die Not sparen«, erwiderte Dough, und das Licht erlosch wieder.
»Ist dein Gewehr geladen, Dough?« fragte Gilbert plötzlich.
»Ja, warum?«
»Sonst könnten wir ja laden und Schüsse abfeuern. Vielleicht hört uns jemand.«
»Man kann's versuchen, obschon es nicht viel Sinn hat; denn wer weiß denn, wo geschossen wird?«
Er schoß ins Wasser hinab. Um die Felsen und über die Flut rollte der Knall. Sie luden beide und schossen in regelmäßigen kurzen Abständen.
»Nichts!« sagte Gilbert schließlich und stellte sein Gewehr nieder. Sie schossen aber noch von Zeit zu Zeit in längeren Pausen.
»Bei mir war niemand zu Hause, als ich wegfuhr«, sagte Gilbert, als hätte er Doughs Gedanken gefühlt, der sich eben erinnerte, daß seine Frau ihn bei seinem Freunde Blair vermuten würde. »Man wird verdammt hungrig!«
Dough fühlte das plötzlich auch. Er holte zwei Brötchen aus seinem Rucksack und reichte eines Tom Gilbert. »Wir müssen etwas fürs Frühstück sparen«, sagte er.
Der Gedanke war nicht angenehm. »Verdammt ungesund, eine Nacht hier zu sitzen«, sagte Gilbert wieder. »Sieh her, Ray,« fügte er nach einer Weile hinzu, »du denkst schlecht von mir. Ich mußte für meine Familie sorgen.«
»Ich auch.«
»Aber ich hab nicht mehr viel Zeit vor mir.«
»Du hättest reden müssen.«
»Dann hätte ich die Vertretungen nicht bekommen. Und ich hatte sie doch früher gehabt, ehe ich nach London ging.«
»Ich hatte sie dir nicht genommen.«
»Aber du bekamst sie, weil ich wegging.«
»Ich war loyal gegen dich, aber du nicht gegen mich.«
Tom Gilbert seufzte. »Frauen sehen die Dinge ganz anders an«, sagte er.
»Kann mir wohl denken, daß sie dich getrieben hat«, sagte Dough.
»Sieh her, Ray, es war vielleicht nicht schön gegen dich; aber das Schicksal hat mich auch nicht schön behandelt.« Er erhielt keine Antwort. »Der Stein hier ist verdammt hart«, seufzte er.
Dough sah schweigend hinaus. »Ist dort nicht ein Licht auf dem Wasser?« sagte er.
»Nein, es ist nichts.«
Aber nach einiger Zeit sahen sie doch ein Licht, das auftauchte und schwand. »Es muß ein Boot sein«, sagte Dough. Er lud und schoß wieder.
Das Licht kam sichtlich näher. Sie blickten scharf ins Dunkel hinaus und beobachteten es.
Es dauerte ziemlich lange. Jetzt sahen sie zwei Lichter, ein rotes und ein grünes, und dann wieder nur eins; dann glaubten sie einen großen Schatten zwischen zwei Lichtern zu sehen. Nun war es nahe genug, und deutlich erkannten sie im Licht einer kleinen Laterne am Vordersteven eines Segelboots den Schatten eines Mannes. Sie hörten Stimmen, die riefen, die der Wind zu ihnen trug, und riefen aus allen Kräften zurück, Gilbert ließ den Lichtschein seiner kleinen Laterne spielen. Das Boot kam noch etwas näher, hielt sich aber vorsichtig viele Klafter von der Insel entfernt. So sahen sie es auf den dunkeln Wellen schaukeln; die kleinen Laternen an der Spitze und am Steuer beleuchteten nur einige Fuß weit ihre nächste Umgebung; immerhin konnten sie erkennen, daß das Segel niedergelassen wurde. Es stand nun quer in den Wellen und schaukelte stark, aber die Leute darin hatten Ruder ausgelegt, drehten es wieder auf die Insel zu und kamen langsam und sehr vorsichtig näher.
Der Wind hatte nicht zugenommen, dennoch schien das Ufer gefährlich. Dough rief ihnen Weisungen zu, die zweifellos verhallten, da er ihre vom Wind getragenen Rufe nicht verstehen konnte. Er nahm Gilbert die Taschenlaterne aus der Hand, eilte an einen Felsenvorsprung, der in tiefes klippenloses Wasser ragte, ließ ihren Schein auf Fels und Wasser fallen und machte ihnen, so deutlich er konnte, Zeichen, hier anzukommen.
Das Boot kam nahe heran. »Sind Sie es, Dough?« rief jemand.
»Ja!« rief er, die Hände am Munde, zurück.
»Was, zum Teufel, tun Sie hier?«
»Papa!« rief eine Kinderstimme.
Als der kleine Lichtkegel, der ein paar, wie schwarzes Glas funkelnde, leichten weißen Schaum tragende Wellen aus dem Dunkel herausschnitt, die glänzenden gelben Planken des Bootes erreichte, da tat Gilbert, der im Finstern stand, einen erstaunten Ruf. Dough hörte ihn, aber in der Spannung des Augenblicks nahmen sie wohl mit Augen und Ohren auf, hatten aber nicht Zeit, sich mit den Eindrücken zu beschäftigen. Die Wellen hoben das Boot und senkten es, die jungen Leute darin arbeiteten mit den Rudern, während sie Stangen bereit hielten, um es von den Felsen abzustoßen. Sie waren nun auf wenige Fuß herangekommen. »Das ist meine Jacht!« sagte Gilbert wieder aus der Finsternis hinter Dough, der nicht auf ihn achtete; denn sie warfen ihm aus dem Boot ein Seil zu, das durch den Lichtschein schoß und wieder ins Wasser hinabglitt, so daß sie es zurückziehen und, da sie inzwischen zu nahe gekommen waren, wieder abstoßen und neu in die richtige Stellung rudern mußten. Diesmal hatte Dough die Laterne Gilbert gereicht und konnte mit beiden Händen das Seil ergreifen. Er zog den etwas höher hinter ihm Stehenden herab. »Wir sind zwei, nehmt ihn zuerst!« rief er. Er knüpfte Gilbert das Seil fest um den Leib. Die lange schlaffe Gestalt ließ sich halb vom Felsen herab, während die kleine Jacht dicht im Bogen heran und vorüber kam, ließ sich fallen und ward ergriffen, und das Boot schwand vorbei und zurückgetrieben in die Finsternis. Dough stand schweigend allein.
»Mein Mann!« rief eine weibliche Stimme in höchster Überraschung und Erregung.
Wieder arbeitete sich das Boot heran. »Wo ist das Licht? zum Teufel!« rief eine Stimme. Sie leuchteten jetzt von unten, der Schein glitt über die Felsen, erreichte Dough, das Seil flog und ward ergriffen. Dough band es sich um den Leib wie früher dem andern und ließ sich herunter, als das Boot, von den dunkeln Wellen gehoben, vorüberschoß. Ein lautes »Hurra!« erscholl, und Stangen und Ruder arbeiteten rückwärts vom Ufer fort. Nur die Anweisungen des einen der Männer tönten, bis sie weit genug von der Insel entfernt waren, die wie ein finsterer Schatten hinter ihnen lag; dann begrüßte Dough die ihm Zunächstsitzenden, die er kannte. Ihm gegenüber auf einer gepolsterten Bank sah er eine stattliche Frau mit breitem Gesicht und hochfrisiertem schwarzem Haar.
»Guten Abend, Mrs. Gilbert!« sagte er.
»Guten Abend, Mr. Dough«, erwiderte sie befangen und wendete sich wieder mit lebhaften Fragen ihrem Manne zu, der müde dasaß und nur wenig erwiderte. Ein langaufgeschossener siebzehnjähriger Junge, blaß wie sein Vater, reichte eine Flasche und Gläser herüber, und beide Männer tranken. »Danke, Fred!« sagte Dough. Jetzt fühlte er seine Hand geliebkost; er hatte die Stimme seines älteren Knaben schon vorher erkannt und erriet den Zusammenhang. Aber die jungen Leute gingen daran, in dem heftig schaukelnden Boot das Großsegel hochzuziehen und festzumachen, und alle nahmen schweigend die angewiesenen Plätze ein. Sie begannen gegen den Wind aufzukreuzen; das Boot schnitt kräftig in die Wellen, die laut anschlugen.
»Sei nicht böse,« flüsterte der Knabe jetzt dicht an ihm, »ich konnte nicht widerstehen! Und dadurch konnten wir dich retten!«
»Retten! Vor einem Schnupfen!«
»Sagen Sie das nicht, Dough,« warf einer der jungen Männer ein, »morgen bekommen wir Regen und Nebel, und da wäre Ihr Abenteuer rechtschaffen unangenehm geworden; wäre heut Nebel gefallen, hätten wir Sie nicht holen können!«
»Und wäre es nicht ein so tüchtiges Bootchen, das dem leisesten Druck folgt, wir hätten es nicht geschafft!« sagte Fred Gilbert.
»Lady Nashville Baynes sagt, es sei das schönste Katboot, das sie je gesehen. Nicht wahr, Fred?« rief seine Mutter. Dough mußte lächeln.
»Herbert sagte uns, daß Sie auf der Insel seien, als wir die Schüsse hörten«, fuhr Fred fort.
»Danke, Fred!« sagte Dough.
»Daß mein Mann auch hier wäre, ahnte ich nicht!« rief die Frau.
Ein Schweigen folgte. Ihre Worte hatten allen das Seltsame der Begegnung und ihres Zusammenseins in dem kleinen schwimmenden Bretterraum zum Bewußtsein gebracht, und niemand wagte zu sprechen. Herbert schmiegte sich an den Vater. Tom Gilbert, den seine Frau in Plaids hüllte, saß unruhig und gequält. Die großen Augen in dem dicken Gesicht seiner Frau mit dem gutmütig schlauen Ausdruck sahen unsicher umher. Aber die jungen Leute im Vorderteil, die nunmehr, da das Schiff unter Segel lief, unbeschäftigt waren, reichten die Whiskyflasche wieder herüber, und immer neue Gläser wurden gefüllt und geleert. Das hob die Stimmung, und als sie über das Vorgebirge hinausgekommen waren und die vielen Lichter der Stadt vor sich sahen, wurden alle fröhlicher. Die jungen Leute konnten ihre Scherze nicht mehr unterdrücken. Und Frau Gilbert begann eifrig zu erzählen, daß sie in Gloß am andern Ufer gewesen, daß sie dort gespielt und sich verspätet hätten, und wie sie auf der Rückfahrt auf die Schüsse aufmerksam geworden und gleich gesagt, »Raymond Dough müsse gerettet werden!« Dough verzog den Mund. Nun wurden er und Gilbert befragt; beide gaben kurze Antworten, und betonten nur den Zufall ihrer Begegnung. Dough sprach kein Wort von dem, was zwischen ihnen vorgefallen war, und auch Gilbert erwähnte nichts. Nur als sie das letztemal wendeten und auf den kleinen Hafen zusteuerten, sagte er: »Morgen nach der Kirche werde ich dich aufsuchen, Raymond.«
»Es ist recht, Tom«, erwiderte Dough.
»Könnten Sie nicht mit Frau und Kindern zu uns zum Tee kommen oder schon zum Mittagessen?« fragte Frau Gilbert hastig.
Dough lehnte lächelnd ab. »Aber ich komme bestimmt«, sagte Gilbert nochmals. Seine Frau sah ihn erstaunt an. Dough wiederholte: »Es ist recht, Tom.«
Sie fuhren langsam in die dunkle Schiffshütte des Segelklubs ein und trennten sich dort mit Händeschütteln.
Dough war noch keine zwanzig Schritte auf dem Wege, als er sich von zwei Armen umschlungen fühlte.
»Beß!« rief er.
»Wo warst du?«
»Auf der Insel, Beß! – Aber du?! ...«
»Nach dem Essen kam Edwin Blair. Du wolltest doch zu ihm gehen. Da wurde mir plötzlich bang. Herbert war auch nicht zurück. Mutter stand am Fenster und sagte kein Wort. Und so ging ich mit Blair herunter, und unterwegs hörten wir die Schüsse. Ich wußte gleich, daß du es sein mußtest. Und daß du nur da bist! Blair ist draußen auf der Mole bei der Rettungsstation; wir müssen ihn holen. Und Ray, Blair hat eine Stellung für dich!«
»Das ist gut, Beß, das ist sehr gut! Da brauchen wir die andern nicht.«
»Ich habe dir viel zu erzählen, Beß.«
»Wir haben Papa gerettet, Mutter, – Gilberts und ich!« fuhr Herbert los, »Ihr Boot ist wirklich herrlich!«
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