Heinrich Federer
Jugenderinnerungen
Heinrich Federer

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die ersten schweren Abende

Da sass nun Verena im Angesicht der weissen Hände und des weissen Gesichtes wie vor einer Leiche, und ein Schauder von Ekel und Empörung zog ihr, die den ersten Gemahl nie anders als nüchternklar am Tag und friedlich schlafend bei Nacht gesehen hatte, die Schultern fröstelnd zusammen. Aber indem sie genauer den jungen, kleinen, zierlichen Mann betrachtete, mit dem Antlitz wie aus bleichem Elfenbein, der satten, wundervollen Adlernase, deren schmale Flügel allein noch leise bebten, mit den immer noch dunkelrot glühenden Lippen und dem dichten Kranz von Haar und Bart, der wie Mitternacht glänzte, und wenn sie dann noch an einzelne Brocken seiner Rede dachte, von dem Unverstand der Würmer und dem In-die-Sonne-Schauen der Adler und wie er wirklich eine grosse Sprache führte, die sonst niemand redete, nicht einmal Pater Vigilius auf der Kanzel, und die darum auch niemand begreifen konnte, sie selbst, die treue Frauenseele, nicht halbwegs: da fing sie an, über seine unflügge, geniale Hilflosigkeit unbegreiflich gerührt zu werden. Zu den Gefühlen einer liebesstarken ältern Frau kam etwas wie mütterliche Zärtlichkeit. Und indem sie ihm die dreckigen Kanonenstiefel auszog, die er immer bis hoch in die Knie trug, sagte sie mit einer grossartigen Energie ganz leise: »Warte nur, ich lasse den Schmutz und die Dummheit nicht an dich herankommen. Ich will davor stehen.« – Wenn sie dann die schwere, rauchige Jacke aufhing, aus deren Taschen Skizzenbücher, Zigarren, Zeitungen, Stifte, ein gelbes Metermass, halb beschriebene Papierfetzen und andere Unheimlichkeiten hervorguckten und durchaus ans Licht begehrten, flüsterte sie immer kühner: »Nur Geduld; die, die sollen deinen Reichtum noch verehren. Ich will ihn laut genug vor den Leuten auspacken.« – Streifte sie ihm nun die Socken ab und erstaunte immer von neuem, wie weiss und dünn und sozusagen haltlos die Beine am Knöchel, aber wie leichtgeformt und behend die kleinen kecken Füsse aussahen, »da«, gestand sie einmal schamhaft, als sie ihre Schwächen uns Kindern in einer weichen Stunde blosslegte, »konnte ich nicht anders, als die Sohlen eine nach der andern küssen; ja, die Sohlen, was schaust du mich so lächernd an, Bub, gerade die Sohlen! Und ich betete dabei, dass sie nie hart treten, aber auch nie hart getreten werden ... Geh hinaus«, brach die Mutter purpurrot ab und streckte den Arm gegen die Tür. »Mir ist, es habe am Haus geklopft.« Oh, versuchte ich Vierzehnjähriger zu witzeln, ich glaub’, es hat an einer andern Tür geklopft, und tupfte aufs Herz. Verena schaute mich an halb zornig, halb schuldig, aber hielt den Arm unbeweglich und unwiderstehlich zum Ausgang gestreckt, so dass ich mich eilends rückwärts hinaus schob.

Hierauf, ich verfolge den rührenden Vorgang weiter, zog sie Paul ein sauberes Hemd an und lachte in sich hinein: »Ja, ja, es kommt bald eine neue bessere Zeit.« – Nun mühte sie sich unsäglich, bis der Gatte bequem gebettet war. Später, als ich ein zwei- bis dreijähriges Bübchen war, legte sie wohl oftmals mich, das Würmlein, das zusammengekrochen in einem grossen Bett der Nebenkammer schlief und von allem nichts ahnte, neben den Vater, als eine Art kleines Schutzengelchen, und ging dann in mein Bett. Aber sie schlief nie, sondern wurde immer wacher und wärmer beim Entschluss, morgen so zu tun, als sei heut abend gar nichts Ungerades geschehen. Im Gegenteil, sie wollte noch freundlicher als sonst mit Paul reden und immer aufmerksamer seine Spreche verstehen lernen, um ihm gewaltig beizustehen.

Am folgenden Tag rief Paul Verenen schon früh ans Bett und entschuldigte sich unter einem Wolkenbruch von Versprechen und Zärtlichkeiten. Dann stand er auf, pfiff, liess aber den Milchkaffee stehen und trank dafür ein Gläschen Kognak. Und jetzt fing er an, über die verdammt kleine Welt hierzuland’ zu schimpfen und mit baldigem Fortgehen zu drohen, wenn es sich nicht hurtig bessere. »Sie werden dann sehen, was sie verlieren. Ja, Frau, wir müssen in eine grössere Welt ziehen, etwas wie München oder Rom. Dann wirst du sehen, was dein Pauli kann. Hier wird man verpfuscht, vernichtet, eingesargt, verlocht ... Ach!« Und er schwang, durch die Stube rasch und rascher eilend, seine schönen weissen Hände wie die sehnsüchtigen Flügel einer Taube.

Frau Verena wurde völlig verwirrt. Ihre gestrigen Vorbereitungen passten nicht zu dieser neuen Lage. Sie hatte einen Sünder aufheitern wollen und nun wollte er sie, als wäre er heilig, zu seiner Heiterkeit emproziehen. Indem er ein anderes und drittes Gläschen lautlos leerte und dann eine Zigarre anzündete und mit glänzenden schwarzen Äuglein und pfeifend davonging, in Gottes Namen in die Trülle, wie er das Stundengeben schalt, schüttelte Verena den Kopf, begab sich mit dem vollen Milchgeschirr in die Küche, wo ihre treue Magd Lina die Kartoffeln zum Mittag schälte, und seufzte ein wenig. Die erfahrene Alte lächelte dann ihr borstiges Lächeln und brummte in ihren Schnurrbart hinein: »Das fängt früh an.«

Mein Vater war indessen nicht, wie Verena meinte, an eine tapfere Arbeit, sondern in das äusserste, am Ende des langen Dorfes gelegene Wirtshaus gegangen, hatte dort einen starken Waadtländer bestellt, eine zweite Zigarre angeraucht, die Zeitungen vom Nagel gerissen und sich so jenes Daheim vorbereitet, das zeitlebens neben der Landstrasse sein wahrhaftigstes und aufrichtigstes blieb. Er schaute nicht auf die Uhr, die er ohnedies fast nie aufzog, später billig wegschenkte und jede folgende in der Not versetzte, aber wenn er wieder bei Geld war, doch nie einlöste, so dass er einmal den Pfarrer von Rorschach, der sich mit dem Glöckner stritt, fröhlich necken konnte: er, Pauli, habe in jeder grösseren Schweizerstadt ein eigenes Geläute und einen besondern Läutbuben, und je weniger er hineinrede, um so besser spiele das Werk. – So blieb Paul denn in einer Art Zeit- und Kummerlosigkeit in der Wirtsstube sitzen, plauderte ein wenig mit andern Kumpanen, zog dann das Skizzenbuch hervor und begann einen Kneiper, der das selten gerne litt, oder die Kellnerin, die um so eitler darauf war, oder das Büffett mit den schlanken Flaschen, dem Geraniumstock und dem einwärts verkürzten Gesicht der rechnenden Wirtsfrau anzuzeichnen, oder oft noch lieber aus dem Kopfe ein üppiges Ornament zu einem Kirchenfries oder liegende und halberhobene Gestalten zu einem Torbogen zu erfinden.

Der alte, starke, rote Wein beglückte ihn. Das war sein liebstes Getränke. er vergass in seinem dunkelglühenden Zauber nicht nur, dass er nun Zeichnungsunterricht geben müsste, sondern überhaupt alles, auch dass er ein Weib und Kinder habe, in Brienz wohne, in allen sechs Taschen keinen Rappen besitze, Schulden mache, sich Feinde aufhalse, unmöglich werde.

Auf einmal erhob er sich dann und lief in die vom Bergbach überkieste und mit wildem Busch überwucherte Gegend zwischen dem Dorf und Brienzwiler. Nun begann er Landschaften zu skizzieren. Ich habe solche rasche Niederschläge seines fieberhaften Stiftes noch gut im Sinne. Da gab es etwa ein dichtes Geheck von Sträuchern, fast wie ein Nest für ein verhetztes Wild, aber doch immer mit einem Ausschlupf, vor dem wohl ein Wasser vorbeifloss und vom Wandern in die Ferne sang. Oder er ersann eine verträumte Ecke tief im Schilf. Doch über die Halme schwankte die offene Weite des Sees. Oder es guckte ein Berghäuschen aus dem väterlichen Bart des Tannwaldes hervor, wie ein verstohlener Blick von Geborgenheit. Man dachte, an diesem Fleck müsste man endlich stillestehen, keine Seele möchte von hier weiterziehen. Aber die Fensterchen dieses Verstecks glitzerten heftig und widerstrahlten einen grossen fernen Horizont, wo die Berge in den Boden versanken und vielleicht die Ebene oder das Meer, jedenfalls die masslose Freiheit herrschte.

Erst viel später fiel mir ein, wie in allen diesen Skizzen der Zeichner sozusagen einen Schutz vor sich selber und seiner Zigeunerhaftigkeit sucht, einen Unterschlupf, eine Zuflucht; aber wie er es dann doch nie lassen kann, einen Ausgang frei zu halten, um nicht zu ersticken. »Daheimsein heisst für mich ersticken«, höre ich heute noch meinen reisefertigen Vater zur Mutter sagen, die ihn einfach nicht aus den Armen geben will, wohl wissend, dass sie den Wandervogel lange nicht mehr in den heimischen Käfig einfangen wird.

So skizzierte Paul mit Leidenschaft im Freien, nahm zwischenhinein ein Fussbad, wobei er die Strümpfe regelmässig liegen liess, streifte mit abenteuerlicher, grausiger Lust noch im schweren Nachtdunkel durch Tobel, über Sturzbäche, in Friedhöfen herum oder an jähen Seewassern vorbei und mündete am entgegengesetzten Zipfel der Ufergemeinde in der letzten Pinte, wo es einer neuen Flasche, diesmal einem mildern Walliser, den grünen Hals kostete. Er politisierte dann ziemlich reformerisch, las die letzten Neuigkeiten und durchmusterte das Skizzenbuch statt sein Gewissen, wobei der Wein nach und nach fast jedes Blatt mehr oder weniger überblutete. Daher und vielleicht noch aus einer kindlichen Keuschheit, die er nie verlor, wollte er diese Hefte, die unoffiziellen, wie er sie taufte, niemandem zeigen, obwohl sie unvergleichlich besser waren als die offiziellen, wo er mit Ach und Krach im Atelier seine Entwürfe zu Aufträgen zusammenbrockte. Ganz vergilbt und ausgefasert sah so eine kleine wilde Taschenmappe gegen Ende aus und stank von Schweiss, Tabak und vergeudetem Wein. Aber wie ehrfürchtig faltete ich trotzdem die acht- und neunjährigen Hände über dem Knie des Vaters zusammen, wenn ich in solche Blätter schauen durfte und mir der grossartige Mann in seinem weichen Bass zu jedem eine Geschichte erzählte, die er vom Mund weg Satz für Satz eben jetzt erfand. Später versteckte er diese reichen und echten Beichten seiner Kunst mehr und mehr auch vor mir. War ich ihm schon nicht mehr ahnungslos genug? Einige Skizzenbücher hat er unterwegs im Rausche oder in der Not verschenkt, andere verbrannte er in irren Stunden, vom zehnten Jahr an sah ich keine mehr, höchstens noch einzelne Blätter mit unbegreiflichen Andeutungen, Anfängen oder Enden von Figuren, dem geisterhaften Nicken und Grüssen eines Kopfes aus einem Nebel, einer buschigen, tiefdurchrunzelten Stirne, worunter man noch gerade einen wunderbaren Bogen der Brauen und Augenwölbung sah und ähnlichen, meines Bedünkens freilich herrlichen Halbheiten, weil da gleichsam ein wunderbarer Schlüssel zu einem noch wunderbarern Phantasieraum gegeben war. Doch, auch diese Blätter des ängstlichen und dennoch sorglosen Mannes sind verweht und verdorben wie das Herbstlaub, das ein Ahorn oder eine Buche ebenso sorglos über meinen Vater schüttelte, wenn er auf seinen Vagantenreisen noch im späten Jahr unter ihrem Gezweige nächtigte. Das Tuscheln und Plauschen des welken Laubes und das Sterngeblitz durch das Geäste und die stille und doch so notenreiche Musik der Nacht um und um liessen ihn alle Unbequemlichkeit des Lagers vergessen. Später begann er das ordentliche Bett geradezu zu hassen, zu fürchten und schliesslich, als wäre es ein Totengrab, zu fliehen.

Von der Skizzierlust und Skizzierwildheit meines Vaters, wovon die beruflichen Überbleibsel in ihrer steifen, wie man sogleich spürt, zwangsjackenhaften Lehr- und Lernhaftigkeit keinen Funken verraten, von ihr, die vielleicht doch noch in einem verschimmelten, mäusezerfressenen Heft, das irgendwo in einer schwäbischen oder jurassischen Rumpelkammer liegt, heimliche Funken wirft, von dieser Skizzierfreudigkeit des Vaters ist eine merkwürdige, fast kranke Vorliebe für alles rasch Hingeworfene, von gegenwärtigem Leben zuckende, Hingeblitzte und Hingegeisterte mir ins Blut übergegangen. Kein noch so rundes, reifes Gemälde gibt mir den Genuss einer raschen intuitiven Zeichnung. In den Museen Italiens habe ich später vor allem die Glaskästen gesucht, unter denen die Skizzen der grossen Meister lebten, und während der Fremdenstrom durch die grossen Säle der ausgelebten Vollendung im Tizian- oder Correggiobilde nachlief, konnte ich mich mit meinen wunderbar gekritzelten Sinnen und Nerven fast nicht losreissen von einem guten Skizzenblatt. In nichts habe ich meinen Vater mehr angeklagt als darin, dass er mich vom Zeichnen mit aller Gewalt abhielt und vielmehr zum Musizieren, Bücherlesen und Dichten reizte. Was hätte ich oft gegeben, wenn ich vom Leben um mich, in der Schule etwa, auf der Strasse, während einer Rede, beim Streiten, im Eisenbahnwagen, vor einer Posttüre, ach, wenn ich davon etwas besonders Lebendiges hätte auf einen Fetzen Papier bannen können. Alle zehn Fingerspitzen brannten mir darnach. Aber sooft ich in meiner Ungeschultheit etwas probierte, musste ich es auch gleich wieder vor Ärger und Wehmut zerreissen. So gar kein Geschick schien dabei zu sein.

Der Schluss des Tages war, dass Paul noch später als gestern heimkam, noch müder, noch trunkener. Und diesmal entschuldigte er ich nicht, sondern stiess Beschuldigungen auf Beschuldigungen gegen das jetzige Zuchthausleben aus, fast, fast, als ob er auch Verena zu den Kettenschliessern und Riegelstossern rechne. Er sprudelte und sprudelte und liess sich nichts einreden, bis ihm der Schlaf wie auf einen Schlag die dunkle Lippe schloss.


 << zurück weiter >>