Gustav Theodor Fechner
Einige Ideen zur Schöpfungs- und Entwicklungsgeschichte der Organismen
Gustav Theodor Fechner

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IV. Anwendungen des vorigen Prinzips auf die organischen Verhältnisse.

Bei allen Verschiedenheiten, welche die Bewegung der Teilchen in organischen und in unorganischen Molekülen annehmen kann, besteht für unorganische Moleküle eine fundamental größere Annäherung an die absolute Stabilität insofern, als die Ordnung der Teilchen durch die inneren Kräfte fest erhalten bleibt, indes sie in den organischen Molekülen dadurch verrückt wird, sei es auch, daß sie bei voller Stabilität sich periodisch wiederherstellt. Außerdem schließt die Stabilität der Ordnung auch von selbst günstigere Bedingungen für die Stabilität der Ortsveränderungen ein, als die Veränderlichkeit der Ordnung. Diese Vorteile der Stabilität, welche unorganische Moleküle vor organischen voraus haben, tragen sich natürlich nur vervielfacht und gesteigert auf unorganische Systeme in Verhältnis zu organischen Systemen über.

Hiernach geht auch allgemein gesprochen die Tendenz zur Stabilität vielmehr dahin, organische Zustände in unorganische zu verwandeln, als umgekehrt. Denke man sich einen Organismus sich selbst überlassen, der Luft zum Atmen, des Tranks, der Nahrung beraubt, so wird nicht nur sein ganzer organischer Verband, sondern auch die organische Konstitution seiner Moleküle in kürzester Zeit schwinden, und er vermöge der Tendenz zu stablern Zuständen in unorganischen Zustand übergehen, was schließlich auch bei seinem natürlichen Lebensende sicher eintritt; und in derselben Tendenz ist der tiefere Grund zu suchen, weshalb der anorganische Zustand keine Organismen aus sich heraus gebären kann. Es wäre ein Widerspruch gegen das Prinzip. Von anderer Seite aber kann man es doch nicht als eine Folgerung des Prinzips ansehen, daß der Übergang in unorganischen Zustand, der jedem Organismus zuletzt bevorsteht, sofort bei jedem eintreten müsse; denn setzen wir, daß das geschähe, so würde vielmehr mit einem Sprunge das Prinzip ganz verlassen werden, indem die bisher approximativ sich wiederholenden organischen Bewegungen überall plötzlich aufhörten sich zu wiederholen. Das Prinzip verlangt überhaupt nicht als Ziel einen bestimmten Annäherungsgrad an die, nach Abschnitt 3 überhaupt nicht erreichbare, absolute Stabilität des Weltprozesses, sondern nur, daß in der Totalität desselben kein Rückschritt betreffs der Annäherung an die volle Stabilität geschehe, ohne daß sich für jetzt bestimmen läßt, was das wahrscheinlich nur asymptotisch angestrebte Ziel sei, und ohne daß ein Rückschritt im Einzelnen ausgeschlossen ist, welcher einer größeren Annäherung an die volle Stabilität des Ganzen entgegenführt. Nun aber liegt nach der Erfahrung selbst auf dem Wege zum Ziele sowohl die sich periodisch immer erneuernde Ausgeburt neuer Organismen aus den frühern mit neuem Anwachs durch Ernährung, wie das nicht minder sich periodisch immer erneuernde Rückfallen derselben in unorganischen Zustand. Wir müssten weiter in der Beherrschung des Prinzips sein, als wir sind und vielleicht je sein werden, um dies und dergleichen, so wie es vor sich geht, als reine theoretische Folgerungen des Prinzips voraussehen zu können; aber das hindert doch nicht, das und dergleichen im Sinne des Prinzips zu verstehen und sehr allgemeine Gesichtspunkte darauf zu begründen.

Hierher gehört vor Allem, mit Rücksicht auf die im ersten Abschnitte gemachte Unterscheidung zwischen der wesentlichen Konstitution des Organischen und Unorganischen, die schon mehrfach berührte Beseitigung der Ansicht von einer generatio aequivoca der Organismen, an deren Stelle die im 5. Abschnitt auf Grund angemessener kosmogonischer Vorstellungen zu entwickelnde Ansicht treten wird. Jetzt jedenfalls entstehen, so weit sichre Tatsachen reichen, Organismen nur durch Spaltung schon vorgegebener Organismen oder Abspaltung von denselben, und es wird zu zeigen sein, daß auch die erste Entstehung aus einem Urzustande der Erde herzuleiten ist, der vielmehr unter den Begriff des organischen als unorganischen Zustandes tritt. Nun erhalten und vergrößern sich die Organismen im Wege der Ernährung, und hierbei kann für den ersten Anblick ein Widerspruch mit dem Prinzip darin gesucht werden, daß die unorganischen Stoffe, so weit solche zur Ernährung beitragen, den Vorteil ihrer Stabilität vor den organischen durch Eingehen in den organischen Prozess aufgeben. Aber erstens treten die unorganischen Substanzen durch Aufnehmen in den Organismus und Beteiligung an dessen inneren Bewegungen in ein stableres Verhältnis zu dessen Teilchen, als sie außerhalb des Organismus dazu hatten; zweitens werden für die aufgenommenen unorganischen Stoffe solche wieder abgeschieden, welche teils den Organismus verlassen, teils zum Wachstum desselben selbst beitragen, sofern allen Knochen, festen Schalen, Hornmassen, Häuten ein mehr oder weniger unorganisches Gefüge unterliegt; drittens macht sich das Prinzip der Tendenz zur Stabilität darin geltend, daß sich die Lebensvorgänge des Organismus in bestimmte Perioden und Kreisläufe ordnen oder einen mehr oder weniger bestimmten Rhythmus annehmen. Schlaf und Wachen, Kreislauf des Blutes, peristaltische Bewegungen der Eingeweide, der Rhythmus des Atmens, die mehr oder weniger periodische Nahrungsaufnahme und Geschlechtsverrichtung gehören hierher. Wahrscheinlich ist auch die Teilung der organischen Moleküle oder Zellen, mittels deren das Wachstum sich vollzieht, bis zu gewissen Grenzen im Sinne einer Förderung der Stabilität, sofern die Kerne zweier in organischem Verbande stehenden organischen Moleküle oder Zellen wegen der wenigeren Teilchen, die jedes enthält, leichter für sich in stable Zustände kommen können, als wenn sie samt dem (in früher angegebenem Sinne zu verstehenden) Parenchym in ein einziges Molekül oder eine einzige Zelle unterschiedslos verschmolzen wären; und wenn schon durch die Trennung instable Verhältnisse der getrennten Massen bezüglich einander begünstigt werden, so wird doch bis zu gewissen Grenzen jener Vorteil diesen Nachteil um so leichter überwiegen können, als diejenigen Stabilitätsverhältnisse, welche während der vollen Vereinigung der Massen eingetreten waren, mindestens teilweise den unter Forterhaltung organischen Verbandes auseinanderweichenden verbleiben können.

Endlich ist in Rücksicht zu ziehen, daß das Aufgeben des unorganischen Zustandes in den Organismen dadurch, daß es periodisch mit dem Rückfall derselben in diesen Zustand wechselt, selbst aus sehr allgemeinem Gesichtspunkte unter den Begriff, approximativer Stabilität tritt.

Ist einmal eine Grenze des Wachstums eingetreten, so verharrt der Organismus allgemein gesprochen eine Zeit lang ziemlich gleichförmig in einem approximativ stablen Verhältnisse zugleich in sich und zur Außenwelt; allmälig aber beginnt die unorganische Stabilität mehr und mehr auf Kosten der organischen Platz zu greifen, indem die Teile fester und starrer werden und die Bewegungen sich mehr verlangsamen, bis endlich der ganze Organismus dem unorganischen Zustande wieder verfallt, und hiermit würde das organische Leben überhaupt beendet sein, wenn er nicht während seines Lebens Teile von sich abzuspalten vermöchte, die seinen Lebensprozess wiederholen.

Hat sich nun ein Keim, der in Zusammenhang mit seinem Mutterkörper zu einem approximativ stabeln Endzustande gelangt war, vom Mutterkörper getrennt, so werden vermöge der damit gesetzten Änderung der äußeren Verhältnisse auch die davon mit abhängigen inneren Verhältnisse sich ändernDies Verlassen ist kein Widerspruch mit dem Prinzip der Tendenz zur Stabilität, welches einen Verlust an Stabilität nur bei Gleichhalten der äußeren Umstände verwehrt, und bedeutet keinen Verlust für das Weltganze, sondern eben nur einen zeitweisen für den Keim insbesondere. und die Veränderungen so lange fortgehen, bis ein neuer, unter den neuen Außenbedingungen approximativ stabler Endzustand eingetreten ist, was entweder die Zerstörung des Keimes unter rascher Überführung in den stableren unorganischen Zustand oder eine nur langsamer dazu führende Fortentwickelung des Keimes auf dem Wege der Ernährung bedeutet. Ersteres, wenn die zur Erhaltung des organischen Zustandes genügenden Außenbedingungen für den Keim nicht vorhanden sind, Letzteres, wenn sie vorhanden sind. Auf jeder Stufe seiner Entwickelung kann der Keim noch dem unorganischen Zustande als Endzustand anheimfallen und es gehören überall besondere Außenbedingungen dazu, wenn er zu einem, sich eine Zeit lang erhaltenden, organischen weiter fortschreiten soll, ohne daß doch eine Variation dieser Bedingungen innerhalb gewisser Grenzen während der ganzen Entwicklungszeit ausgeschlossen ist; es dürfen nur eben gewisse Grenzen nicht überschritten werden, soll die Entwicklung vielmehr zu einem stabeln organischen als einem unorganischen Endzustande führen. Je nach der Variation der Außenbedingungen innerhalb dieser Grenzen während der Entwicklungszeit des Keimes entwickelt sich dann derselbe auch bei gleicher eigener Anlage zu einem verschiedenen Geschöpfe. Aber die Möglichkeit der Entstehung verschiedener Geschöpfe schränkt sich im Laufe der Entwicklung des ganzen organischen Reiches immer mehr dadurch ein, daß dasselbe Prinzip der Tendenz zu stabeln Zuständen nicht bloß für die Entwicklung der Organismen, sondern, auch der ganzen Außenwelt und des Zusammenhanges beider, überhaupt der ganzen Welt gilt. Wonach sich nicht nur die inneren, sondern auch äußeren Bedingungen der Entwicklung der Organismen immer mehr festigen, in immer bestimmtere Perioden und Kreisläufe gliedern, mithin die Entwicklung der Keime von gleicher Beschaffenheit auch immer mehr in gleiche Bahnen lenken, darin erhalten, für gleiche Entwicklungsphasen derselben gleiche äußere Entwicklungsbedingungen bereit haben, während zugleich auch die Keime sich in sich gelbst im Fortschritte der Generationen immer mehr darauf einrichten, unter diesen immer stabler gewordenen Außenbedingungen die früheren Entwicklungsgänge zu wiederholen, und hiermit die Organismen, aus denen sie entstanden waren, zu wiederholen; woran sich das Prinzip abnehmender Variabilität der Organismen im Laufe der Entwicklung des organischen Reiches, wovon ein späterer Abschnitt handeln wird, knüpfen läßt.


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