Felix Fechenbach
Im Haus der Freudlosen
Felix Fechenbach

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Nach der Reichstagsdebatte

In den ersten neun Monaten meines Zuchthausaufenthalts bekam ich keine Tageszeitung. Meine politische Informationsquelle war damals das »Evangelische Sonntagsblatt für Bayern«. Es kam jede Woche und enthielt neben frommen Aufsätzen auch einen sogenannten »politischen Wochenbericht«, meist zwanzig bis dreißig Druckzeilen. Das Blättchen bot eine wenig erfreuliche politische Lektüre. Der Wochenbericht war stramm nationalistisch und sehr willkürlich zusammengestellt. Rassen- und völkerverhetzende Wendungen fehlten nur selten.

Nach der Hausordnung steht den Gefangenen der Stufe II eine von der Zuchthausverwaltung zu liefernde Zeitung zu. Eine Zeitlang wurde auch die »Bayerische Staatszeitung« an die Gefangenen ausgehändigt. Wie man mir erzählte, haben sich unter den Gefangenen politische Unverträglichkeiten ergeben, einmal soll es dabei zu Schlägereien gekommen sein. Daraufhin sei die Zeitung eingezogen worden. Das war kurz nach meinem Strafantritt. Als ich neun Monate später in Stufe II kam, gab es immer noch keine Zeitung. Sie wurde erst im Frühjahr 1924 wieder eingeführt. Trotzdem ersuchte ich den Direktor unter Berufung auf die Hausordnung, mir eine Zeitung auszuhändigen.

Das wurde als Ausnahme genehmigt, während die übrigen Gefangenen sich weiter mit dem Sonntagsblatt begnügen mußten.

»Das sage ich Ihnen aber gleich,« erklärte mir der Direktor, als ich um die Zeitung nachsuchte, »so ausgesprochen staatsfeindliche (!) Blätter wie »Münchener Post« und »Vorwärts« kommen mir nicht ins Haus.«

Ich verlangte daraufhin die »Frankfurter Zeitung«.

»Was ist das für ein Blatt?« wollte er wissen. »Das größte demokratische Blatt in Deutschland.«

Noch zweimal erkundigte er sich eindringlich, ob das auch gewiß keine sozialdemokratische Zeitung sei, dann gab er seine Zustimmung.

Das ging zwei Monate lang. Dann kam die Zeit kurz vor dem Hitlerputsch, in der die »Frankfurter Zeitung« in schärfster Opposition gegen Bayern stand. Eines Tages wurde mir meine Zeitung nicht mehr ausgehändigt. Das war acht Tage vor dem Putsch. Über die wichtigsten Ereignisse wußte ich mich aber doch auf dem Laufenden zu erhalten.

Zwei Wochen nach dem Münchener Trauerspiel bekam ich wieder eine Zeitung. Aber nicht mehr die Frankfurterin. Sie war inzwischen in Bayern verboten worden. Die Zuchthausverwaltung lieferte mir die »Bayerische Staatszeitung«.

Erst im letzten halben Jahr meiner Zuchthauszeit bekam ich wieder eine eigene Zeitung, infolge meiner Versetzung in Stufe III. Ich verlangte »Frankfurter Zeitung« oder »Münchener Post«. Die Beamtenkonferenz sollte darüber befinden. Als mir die Entscheidung mitgeteilt wurde, war ich ein wenig erstaunt, daß die demokratische »Frankfurter Zeitung« strikte abgelehnt, die sozialdemokratische »Münchener Post« aber genehmigt worden war.

*

Die Hausordnung gestattet den Gefangenen der Stufe II das Sprechen während der täglichen Hofstunde. In Ebrach wurde diese wichtige Erleichterung den Gefangenen in Zellenhaft vorenthalten. Nur zwei Monate lang hatte man vorschriftsgemäß auch den Zellengefangenen das Sprechen im Hof erlaubt. Dann war es, entgegen den geltenden Bestimmungen, wieder verboten worden. Das Sprechverbot wird natürlich bei allen möglichen Gelegenheiten übertreten und ist so eine ständige Quelle für Verhängung von Hausstrafen.

Nur Gefangene mit »guter Führung« kommen in Stufe II und damit in den Genuß der damit verbundenen Vergünstigungen. Die »gute Führung« soll ein Beweis für die Besserung des Gefangenen sein. Rückfällige, die den »Betrieb« in Strafanstalten schon aus Erfahrung kennen, verstehen es, die Hausordnung schlau zu umgehen, ohne sich erwischen zu lassen. Sie haben »gute Führung«. Der Neuling ist unerfahren und ungeschickt, wird erwischt und bestraft, hat also »schlechte Führung«. Bei dieser mechanischen Handhabung des progressiven Strafvollzugs wird die Versetzung in Stufe II aus einem Ansporn zur wirklichen Besserung oftmals zur Prämie für Heuchelei und geschickte Umgehung der Hausordnung. Das soll nichts gegen den progressiven Strafvollzug sagen, verlangt aber seine Ergänzung durch pädagogische Leitung der Strafanstalt und durch ebensolche Einwirkung auf den Gefangenen, sonst wird der Sinn des Erziehungsstrafvollzugs in sein Gegenteil verkehrt.

Als eine Art erziehlicher Einwirkung waren zweifellos die Sonntagnachmittags-Vorträge für die Gefangenen der Stufe II gedacht. Der Hausgeistliche versuchte es bei solchen Gelegenheiten mit Vorlesen aus einem Missionsschriftchen. Er war ein Mensch, der redlich bestrebt war, den Gefangenen ihr Los zu erleichtern und hat es sicher oft genug als schmerzlich empfunden, wenn die Hausordnung ihm die Hände band. Aber er hatte den Willen, »der gute Geist der Anstalt« zu sein, und es lag nicht an ihm, daß er so wenig tun konnte. Später fand er auch für seine Vorträge geeignetere Themen, und ich denke heute noch gerne an die beiden Stunden, in denen er von seinen Freunden, den Bergen, erzählte und von dem, was er dort erlebte und erschaute.

Auch der Hausarzt hielt zuweilen, allerdings nur selten, einen Vortrag. Er hatte die aufmerksamsten Zuhörer. Meist aber stand der Oberlehrer am Vortragspult. Viele Monate hindurch las er an Sonntagnachmittagen je eine Stunde aus irgend einem dicken Kompendium vor. Es waren trockene Abhandlungen über Pflanzen und Tiere und über ihre Bedeutung für den Außenhandel. Das darin enthaltene reiche Zahlenmaterial stammte aus dem Jahre 1910. Die Gefangenen mußten das über sich ergehen lassen, ohne sich wehren zu können. Zuweilen ging ein nicht mißzuverstehendes Murren durch die Reihen, wenn wieder der bebrillte Kopf des Oberlehrers am Vortragspult auftauchte. Aber der ließ sich nicht irre machen und las unentwegt aus seinem dicken Buch vor. Schließlich schien er aber auch selbst genug davon zu haben. Als er im Sommer 1924 von seinem Urlaub zurückkam, las er aus einem kleinen Bayreuther Taschenbuch Aufsätze über die Bayreuther Festspiele. Wie lange er das fortsetzte, weiß ich nicht, weil ich inzwischen im Dezember entlassen wurde.

Der Direktor selbst hielt auch dann und wann einen Vortrag. Er stieg in die hohe Politik und erzählte, was er in deutschnationalen Zeitungen gelesen hatte. Von welchem Geist er erfüllt war, zeigte sich am deutlichsten, als er nach Errichtung der Diktatur in Bayern durch Generalstaatskommissar Dr. v. Kahr während eines Vortrags dieses politische Ereignis mitteilte, dabei mit der Faust auf das Rednerpult schlug und mit lauter Stimme in den Saal rief:

»Gottseidank, jetzt haben wir das Heft in der Hand!«

Für die wenigen israelitischen Gefangenen der Strafanstalt kam jeden fünften oder sechsten Sonntag der Rabbiner aus Bamberg. Er hielt einen religionsphilosophischen Vortrag und besprach mit den einzelnen Gefangenen ihre persönlichen Angelegenheiten. Wenn er auch als Seelsorger kam, so kam er doch in noch höherem Maße als Mensch, der es anderen leichter machen will, das Schwere zu tragen. Er kam, ein wenig Licht hineinzutragen in das Düster des Kerkers. Und wo er helfen konnte, half er gern, soweit die Hausordnung das zuließ.

*

Auf einem Gebiet hat sich der Direktor des Ebracher Zuchthauses zweifellos ein Verdienst erworben. Weihnachten und Ostern veranstaltete er Feiern mit gesanglichen und musikalischen Darbietungen für die Gefangenen. Soweit dies an einem so abgelegenen Ort wie Ebrach möglich ist, wurde wirklich Gutes geboten, sodaß man für ein paar Stunden die Mauern, die Gitter und das Zuchthaus vergessen konnte. Besonders die Weihnachtsfeiern hinterließen einen starken Eindruck.

In dichtgedrängten Reihen sitzen die Gefangenen in den Bänken im ehemaligen Bankettsaal des früheren Klosters Ebrach. Jetzt dient der Saal dem Zuchthaus als Kirche. Der Raum, der in klösterlicher Zeit manch frohes Mahl gesehen haben mochte, ist festlich geschmückt zu dem Fest der Freudlosen. Aber die Gefangenen machen in ihren kurzen, braunen Kitteln keinen festfrohen Eindruck. Erwartungsvolles Flüstern geht durch die Reihen. An das strenge Sprechverbot denkt heute niemand. Sie haben sich alle auf die Feier gefreut, als auf ein großes Ereignis, das aus dem eintönigen Grau des Strafanstaltsdaseins herausreißt. Und doch bleibt der eigenartig hohle, leere Blick in den Augen, die nur durch Gitter in's Freie, aber nicht im Freien schauen dürfen.

Ganz hinten im Saal stehen Einwohner Ebrach's. Sie dürfen an der Feier teilnehmen. Auch Frauen und Mädchen sind dabei. Den Gefangenen ist es verboten, nach rückwärts zu schauen. Aber sie recken doch verstohlen die Hälse und blicken sich um, ein paar frische, rotbäckige Gesichter zu sehen, einen mitleidigen Blick aus glänzenden, lebensfrohen Mädchenaugen zu haschen. Für viele ist's die einzige Gelegenheit im Jahr, ein weibliches Wesen zu sehen.

Der Direktor hält die Festrede. Gesänge und Musik tönen durch den Saal, und andächtig lauschend sitzen die Gefangenen, sich den Klängen der Musik hingebend, die vergessen läßt, wo sie tönt. Die Gedanken wandern heim, wenn für sie ein solches Sehnsuchtsziel noch lebt. Viele von den Gefangenen haben kein Daheim, haben nie eines gehabt.

Wie dann nach Dunkelwerden die weißen Kerzen am großen Lichterbaum aufglänzen, am Harmonium das Weihnachtslied leise intoniert wird, da zuckt es in manchem harten Männergesicht, und da und dort wischt sich einer verstohlen ein paar Tränen aus den Augen.

Dann schleichen die Braunberockten wieder in ihre Zellen und Schlafräume. Zum Abendessen gibts ein Stück Käse mehr als sonst. Es ist ja Weihnacht. Und manche denken an den Heiland, von dem der Direktor in seiner Festrede gesprochen, an die schönen Grundsätze, von denen er sich, wie er sagte, bei seiner Amtsausübung leiten lasse und an die Praxis des Strafvollzugs, die so ganz anders aussieht, als die Rede im festlich geschmückten Saal.

*

Seit ich in Stufe II war, durfte ich mir eigene Bücher kommen lassen. Sie mußten aber erst eine Zensur passieren. Waren sie gebunden, dann wurde der Deckel abgenommen und eine genaue Untersuchung angestellt, ob im Rücken oder unterm Vorsatzpapier etwas Verbotenes verborgen war. Die Bücher konnte ich in der arbeitsfreien Zeit lesen. Auch schreiben durfte ich jetzt, was ich wollte. Ich mußte nur gewärtig sein, daß meine Hefte kontrolliert werden, und, falls ich Unzulässiges schreibe, ich mir eine schwere Hausstrafe zuziehe. Ein anderer politischer Gefangener hatte in seinem Schreibheft eine etwas zu deutliche Kritik am Strafvollzug geübt und bekam dafür zehn Tage Arrest in der Käfigzelle bei Wasser und Brot.

Bücher bekam ich jetzt auch aus den Hauptbibliotheken, die der Oberlehrer und der Hausgeistliche verwalteten. Der Hausarzt gab mir sogar einmal ein Buch aus seiner Privatbibliothek.

Auch mit der Korrespondenz wurde es jetzt besser. Immer seltener kam es vor, daß Briefe zurückbehalten wurden. Ich selbst durfte jetzt alle sechs Wochen schreiben und Lebensmittelpakete, die zuweilen kamen, wurden mir ausgehändigt. Nur zuletzt, als alle paar Wochen ein Paket kam, gingen einige zurück.

Das Kurzscheren der Haare war inzwischen abgeschafft worden. Ich konnte Kopf- und Barthaare wachsen lassen. Von meiner Arbeitsbelohnung – 5 bis 15 Pfennige pro Tag – durfte ich mir Schnupftabak als Genußmittel und Brot und Margarine in beschränkten Mengen als Zusatzlebensmittel kaufen. Für die Gefangenen der Stufe I gab's das nicht.

Früher, wenn ich Besuch bekam, war zwischen mir und dem Besuchenden ein Gitter als Trennvorrichtung. Der Besuch durfte nur fünfzehn Minuten bleiben. Jetzt hatte ich dreißig Minuten Besuchszeit ohne Trennvorrichtung. Meine Eltern ließen nicht einen einzigen Besuchstermin vorübergehen, ohne daß Vater oder Mutter oder beide zusammen nach Ebrach kamen. Wenn auch immer ein Überwachungsbeamter mit anwesend war und man in der Erregung der wenigen Minuten nicht viel sprechen konnte, so war ich meinen Eltern doch immer von Herzen dankbar für diese Besuche und ich zählte die Tage von einem Besuchstag zum andern.

Einmal in der Woche wurde eine Turnstunde für die Gefangenen der Stufe II eingerichtet, und der Beamte, der das Turnen leitete, verstand es, die Stunde zu einer wirklichen Erholung für die Gefangenen zu gestalten.

Im Mai 1924 kam ein Ministerialrat zum Kontrollbesuch ins Zuchthaus. Durch seine Vermittlung wurde ich in Stufe III versetzt. Das bedeutete, daß ich jetzt Briefe auch von nicht verwandten Personen empfangen und an sie schreiben durfte. Ich konnte alle drei Wochen einen Brief abschicken und jeden Monat einmal vierzig Minuten Besuch empfangen. Der Besuch war nicht mehr auf Verwandte beschränkt und ich durfte während der Besuchszeit meine Zivilkleidung tragen. Eine besonders wohltuende Erleichterung war es, daß ich jetzt Blumen und Bilder in der Zelle haben durfte. Nun war's nicht mehr so öde, kahl und leblos in dem kleinen Raum, der meine Welt geworden war. Vor allem aber war es mir wertvoll, daß ich die Erlaubnis bekam, während der Hofstunde zu sprechen.

An dem Tag, da mir meine Versetzung in Stufe III mitgeteilt wurde, bekam ich Fieber. Ich hatte schon lange Zeit Magenbeschwerden. Mein Magen rebellierte gegen die eigenartige Zuchthauskost und nun wollte er nicht mehr richtig funktionieren. Ein paar Tage lag ich zu Bett, dann verordnete mir der Arzt eine besondere Diätkost, die ich bis zu meiner Entlassung bekam. Während dieses letzten halben Jahres war ich im Krankenstand und durfte mich selbst beschäftigen. Von morgens bis abends saß ich über meinen Büchern und Schreibheften.

Trotz all dieser Erleichterungen empfand ich es doch schwer, daß ich im Zuchthaus war. Aber ich wußte, daß der Kampf um mein Recht unermüdlich weitergeführt wurde und daß das Recht stärker ist, als alle gegenwirkende politische Gehässigkeit.


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