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Der Mensch ist ein Gesellschaftstier und ich war Zeit meines Lebens kein Einsiedler. Vielleicht ist es ein Mangel, immer Gemeinschaft zu suchen, sich nicht selbst genügen zu können. Aber in mir war der Trieb zur Geselligkeit schon sehr lebhaft, als ich noch ein ganz kleiner Knirps war. Ich warf damals das schönste Spielzeug in die Ecke, wenn ich zusammen mit anderen Buben »Gäulerles«, »Eisenbahnerles« oder sonst irgend ein gemeinsames Spiel inszenieren konnte.
Die mir innewohnende Neigung zur Gemeinschaft, sei's als Kind beim Spiel, sei's später im Leben und Schaffen, machte mich auch frühzeitig empfänglich für soziales Denken. Und als ich dann nach Jahren in der sozialistischen Bewegung Wurzel gefaßt hatte, war mein ganzes Wesen bald darauf eingestellt, in steter Beziehung mit gleichgesinnten Gefährten zu leben, für die große Gemeinschaftsidee zu wirken, die ich als wahr erkannt und die ich glaube mit der ganzen Leidenschaft meiner Seele.
Beschaulich in der Ecke zu sitzen lag mir nie. Eine innere Kraft trieb mich zu Aktivität. Die »Pflicht« des Parteiangehörigen, dies oder das für die erwählte Sache zu tun, kannte ich nicht. Mir war der Dienst für das Ideal, mochte er nun Kleines oder Großes erfordern, innere Notwendigkeit, Erfüllung eigenen Wollens. So wirkte und warb ich, gemeinsam mit anderen, für den großen Menschheitsgedanken, der mir inneres Erleben geworden. Und deshalb – so habe ich es immer empfunden – deshalb bin ich im Zuchthaus.
Bei solcher Mentalität empfindet man die erzwungene Einsamkeit in der Zelle hart. Doppelt hart, wo sich das Bewußtsein gesellt: du bist hinter Gittern wegen eines Verbrechens, das du nicht begangen.
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Sechs Monate lang mußte ich mich mit der öden Dütenkleberei abquälen. Dann wurde die Arbeit knapp und blieb schließlich Ende April 1923 ganz aus. Die Nürnberger Papierwarenfabrik, für die im Zuchthaus gearbeitet wurde, schickte kein Material mehr. Nur diesem Umstand hatte ich es zu danken, daß ich eine andere Beschäftigung bekam. Sonst hätte ich, wer weiß wie lange noch, Dütensäcke zusammenkleistern müssen.
Ich wurde Schneider.
Das Hantieren mit »Nadel und Faden und Fingerhut und der verrosteten Scheer« war schon etwas Unterhaltsameres, als die Arbeit mit Pinsel und Kleistertopf. Auch ein Satz, der in den »Vorschriften für Gefangene« über die Arbeit zu lesen war, hatte hier mehr Berechtigung, als in bezug auf das Dütenkleben. In den Vorschriften wird dem Gefangenen nämlich gesagt: »Die Arbeit soll eine Wohltat für dich sein und dir deine Strafhaft erträglicher machen ...«
Ich bekam einen ordentlichen Respekt vor dem vielgelästerten Schneiderhandwerk, obwohl ich in seine Geheimnisse nicht gar tief eingedrungen bin. Ehrlich gesagt, ein ordentlicher Schneidergeselle würde mich nicht als Zunftkollegen anerkennen. Ich glaube, selbst der jüngste Lehrling möchte die Nase rümpfen, wenn ich mich mit gekreuzten Beinen neben ihn auf den Schneidertisch setzen wollte. Der Geselle und der Lehrling, sie hätten beide ganz recht. Denn abgesehen von meiner Schneidergestalt habe und kann ich herzlich wenig von dem, was zum ehrsamen Schneiderhandwerk gehört.
Es ist eigentlich eine Überheblichkeit von mir, zu sagen, ich sei Schneider geworden. Aber zur »Schneiderei« gehört im Zuchthaus alles, was mit Nadel und Faden arbeitet. In Wirklichkeit war ich nur ein simpler Wäschenäher für Gefangenenwäsche. Und selbst bei dieser Arbeit wurde ein Teil von anderen mit der Maschine genäht, und ich mußte nur vorher die einzelnen Teile richtig zusammenheften. Aber einen Knopf schneidergerecht anzunähen, Wäscheknopflöcher anfertigen, Hinterstiche, Heft- und Säumstiche zu machen, das habe ich doch gelernt. Das war aber auch alles. Da wurden Arbeitsschürzen, Taschentücher und Handtücher gesäumt und Unterhosen und Hemden genäht und mit Knopflöchern und Knöpfen versehen. Alle paar Wochen gab es andere Arbeit. Das war eine gewisse Annehmlichkeit und bracht ein wenig Abwechslung in die »Schneiderei«.
In die Finger hab ich mich anfangs oft genug gestochen und meine ersten Leistungen mögen wohl auch nicht gerade mustergültig gewesen sein. Der Oberwachtmeister, der mich anlernte, war diensttuender Beamter auf der Abteilung, in der meine Zelle lag. Er war ein kleiner lebhafter Mann mit einem schon ins Graue spielenden Schnauzbart. Bei der Arbeit mußte er die Brille aufsetzen. Wenn alles seine gewohnte Ordnung ging und die Gefangenen keine Schwierigkeiten machten, war ein gutes Auskommen mit ihm. Wenn er aber glaubte, daß ein Gefangener »boshaft« sei, oder wenn er sich sonst ärgerte, dann kam er leicht ins Kochen und konnte zuweilen recht nahrhaft schimpfen. Aber auf den »Zwick« hat er Gefangene im allgemeinen nur gebracht, wenn seine eigenen Ermahnungen und nachdrücklichen Zurechtweisungen den Gefangenen nicht veranlassen konnten, sich in die Ordnung zu fügen. Im ganzen kann man von ihm wohl sagen: »Wie man in den Wald hineinruft, so schallt's heraus«.
Er macht schon über fünfundzwanzig Jahre Dienst im Zuchthaus und hat eine reiche Erfahrung. Er wußte, daß die Leute von der Feder nicht über Nacht gewandte Meister von der Elle werden und legte bei mir ein größeres Maß von Geduld beim Anlernen an den Tag, als vielleicht sonst seiner Gewohnheit entsprechen mochte. Aber schließlich ist selbst aus einem politischen Tagesschriftsteller ein Wäschenäher zu machen, der den Anforderungen eines Zuchthauses genügt und ich brachte es denn auch zu der gleichen Leistung, wie die übrigen »Schneider« der Strafanstalt.
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In den letzten Jahren, die ich in München zugebracht hatte, war ich wiederholt Ohrenzeuge von Landtagsverhandlungen, die Zustände in anderen bayrischen Strafanstalten zum Gegenstand hatten. Von daher blieb mir ein nicht sehr schmeichelhaftes Vorurteil gegen Strafvollstreckungsbeamte. Recht viel Gutes habe ich von ihnen nicht erwartet. Umso erfreulicher war mir die Enttäuschung, die ich in diesem Punkt erlebte.
Den Typ des schlüsselbundrasselnden »Kerkermeisters«, wie er wohl vereinzelt vorkommen mag, und wie ich ihn, offen gestanden, selbst fürchtete, habe ich bei den Unterbeamten nirgends kennen gelernt. Sie sahen in mir – das fühlte ich deutlich – nicht den »Verbrecher«, wie ihn das Volksgerichtsurteil künstlich konstruiert hat, sondern den Menschen, der für seine politische Überzeugung vor Gericht kam. Einzelne haben mir das auch ganz unumwunden gesagt. Sie vermieden jede unnötige Härte gegen mich, nahmen Rücksicht, wo es die Dienstvorschriften irgend erlaubten, und ich kann mit gutem Gewissen sagen, keiner hat mir gegenüber je ein hartes Wort gebraucht. Ganz besonders aber freue ich mich, darüber hinaus heute sagen zu können, daß ich von verschiedenen Unterbeamten, besonders in der späteren Zeit, manchen Beweis schöner Menschlichkeit bekam. Das empfindet man im Zuchthaus doppelt dankbar und es entschädigt für vieles.
Die Beamten machen in Strafanstalten oftmals recht schlimme Erfahrungen. Das macht sie mißtrauisch gegen jeden Gefangenen. Der gewiß nicht beneidenswerte, jahrzehntelange Sicherheitsdienst im Zuchthaus ist nicht nur eine Nervenbelastung, er stumpft auch ab und macht manchen Beamten unempfindlich gegen das Leiden der Gefangenen. Und es tut in unserer Zeit verwilderter Sitten ganz unsagbar gut, trotz alledem im Zuchthaus das gesunde Menschlichkeitsempfinden, das zutiefst im Volke wurzelt, da und dort noch lebendig zu finden.
Mit der kurzen Skizzierung der Behandlung, die ich persönlich erfahren, möchte ich aber keineswegs behaupten, daß das rücksichtsvolle Verhalten der Unterbeamten gegen mich auch den übrigen Gefangenen gegenüber ganz allgemein Regel gewesen wäre. Leider war es das nicht.
Im Gegenteil.
Zuweilen ging es sogar recht laut und derb zu und ich konnte gar manchmal feststellen, daß es auch Beamte in der Anstalt gibt, die im Gefangenen nur den Verbrecher sehen, dem sie Fähigkeit und Willen absprechen, wieder zu dem aufzusteigen, was in den Vorschriften für Gefangene bezeichnet ist: als ein Mensch, der sich dem großen staatlichen und gesellschaftlichen Ganzen einordnet und »ihm als brauchbares Glied dienen und nützen soll«. Der Strafvollzug will doch auch den »sittlichen Willen und das Ehrgefühl des Gefangenen wecken und starten«. Aber gerade dagegen wird von unteren und oberen Beamten vielfach gesündigt, weil sie im Gefangenen zu sehr das sehen, was er war, oder das, was sie glauben, das er war. Sie sehen aber viel zu wenig den Menschen im Gefangenen, der er jetzt und künftig sein und werden will. Das, in Verbindung mit weitgehendem Verständnis für die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse, aus denen der Gefangene kommt, ist aber gerade notwendig, wenn man ihm den Weg ebnen und die Hand reichen will, daß er die sittliche Kraft in sich wecken und zum Menschtum zurückfinden kann. Dazu gehört aber vor allem, daß die Strafvollzugsbeamten vom jüngsten Wachtmeister bis zum Direktor durch ihr Verhalten ihren Glauben an den inneren Menschen des Gefangenen bekunden, damit dieser selbst ihn wiederfindet.
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Briefe bekam ich in dieser Zeit wenig. Der erste Brief war von meinen Eltern. Sie teilten mir mit, daß mein damals dreiundsechzigjähriger Vater kurz nach meiner Einlieferung ins Zuchthaus in Ebrach war, um mich zu besuchen. Obwohl er einen ganzen Tag zur Hin- und Rückreise aufwenden mußte, sei er aber abgewiesen worden, weil ich nach der Hausordnung nur alle drei Monate Besuch empfangen dürfe. Der erste Besuch könne aber erst ein Vierteljahr nach Strafantritt genehmigt werden.
Briefe, die nicht von meinen Eltern und Brüdern oder von meinem Anwalt waren, wurden mir damals, wieder nach der Hausordnung, mit der alle unangenehmen Dinge zu rechtfertigen sind, nicht ausgehändigt. Kamen Briefe von Freunden oder mir sonst nahestehenden Menschen, dann teilte man mir nur Name und Wohnort des Absenders mit, die Briefe selbst aber wurden zum Akt gelegt, ohne daß ich von ihrem Inhalt Kenntnis bekam. Das war recht bitter und wirkte auch verbitternd. Aber es war nichts dagegen zu tun. Im Wege stand mir hier, wie bei vielen anderen Dingen, die verflixte Hausordnung, die zu jener Zeit noch nach dem Buchstaben gegen mich angewandt wurde.
Eine Tageszeitung bekam ich nicht. So waren Briefe das einzige Mittel, das die Verbindung mit der Welt »draußen« aufrecht erhalten konnte. Was unter solchen Umständen ein ankommender Brief für den Zellengefangenen bedeutet, kann man sich außerhalb der Zuchthausmauern nur schwer vorstellen. Mit Sehnsucht wartet man auf den Tag, an dem Post ausgeteilt wird. Geht man dabei leer aus, dann ist's, wie wenn einem ein schweres, persönliches Unrecht geschehen sei. Gerade, weil man sich auf diesen Tag so sehr gefreut hat, wirkt die Enttäuschung um so stärker und die Stimmung für den ganzen Tag ist verpfuscht.
Da die ankommende und abgehende Korrespondenz der Gefangenen eine Zensur passieren muß, sind alle Briefschreiber »draußen« sehr zurückhaltend in ihren Mitteilungen, weil sie nicht Gefahr laufen wollen, daß ihr Brief wegen einer »ungeeigneten« Nachricht nicht ausgehändigt wird. Bei der politischen, staatlichen und justizpolitischen Eigenart Bayerns und der ewigen politischen Spannung, die innerhalb der weißblauen Grenzpfähle gerade damals wieder einmal besonders in Erscheinung trat, glaubten die Briefschreiber, daß die harmloseste politische Mitteilung mißverständlich zensuriert und der Brief mir nicht übergeben würde. So merkt man fast allen Briefen an, daß nur ein Teil von dem darin steht, was eigentlich geschrieben werden wollte. Jeder Brief, obwohl ganz, ist so doch nur Torso.
So wie ich selbst infolge der Zensureinrichtung stets das unangenehme Gefühl habe, es schaue mir beim Briefschreiben jemand über die Schulter, so mag es auch den Freunden draußen gehen. Das hat wohl manchen veranlaßt, mir nur selten zu schreiben oder einen an mich angefangenen Brief beiseite zu legen und nicht abzusenden.
Oh, ich verstehe das nur zu gut!
Und doch, ich wäre froh, wenn sie mir öfter schreiben wollten und ich die Briefe bekäme. Ich bin so weit weg von den Freunden und in der Zelle ist's so einsam.
Ein Brief mag noch so kurz sein und die nebensächlichsten Nichtigkeiten enthalten oder auch andeuten, daß das öffentliche Gewissen nicht schläft und für mein beleidigtes Recht gekämpft wird. Mag er herzliche Worte aufrichtigen Teilnehmens am Geschick des Gefangenen enthalten und an irgend ein gemeinsames, schönes Erleben anknüpfen oder nur vom Befinden der Familie und der Freunde berichten, das gilt gleich. Es ist ein Brief! Ein Bote des Lebens, das jenseits der Gitterfenster braust, und seine Ankunft bleibt ein großes Ereignis in dem ereignisarmen Dasein des Gefangenen. Er beschäftigt die Gedanken tagelang, führt im Geiste mit dem Briefschreiber zusammen und weckt Erinnerungen an frohe Kindheits- und Jugendereignisse oder an gemeinsames Schaffen und Wirken, an sonnige Tage der Freiheit und des Lebens.
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Die strenge, buchstabengemäße Handhabung der Hausordnung gegen mich wurde später aufgegeben, als der Anstaltsdirektor seine Meinung über den »Fall Fechenbach« revidierte. Den ersten Stoß scheint seine Auffassung schon durch die Verhandlungen erlitten zu haben, die im Reichstagsausschuß für auswärtige Angelegenheiten die Einsetzung eines Unterausschusses zur Prüfung der außenpolitischen Folgen des »Falles Fechenbach« herbeiführten. Auch die Angriffe in der Presse gegen das Urteil mögen dem Direktor zu denken gegeben haben. Ich bekam jetzt dann und wann einen Brief ausgehändigt, der nicht von meinen nächsten Angehörigen war, und die Erlaubnis zum Erlernen einer fremden Sprache in den arbeitsfreien Stunden. Auch ein Heft mit Tinte und Feder bekam ich, doch ausdrücklich nur zur Verwendung für mein Sprachstudium. Das waren Dinge, auf die ich nach der Hausordnung keinen unbedingten Anspruch hatte, solange ich nicht in Stufe II war. Aber sie konnten gewährt werden. Ich führe diese für mich recht erfreuliche Änderung vor allem auf die Vorgänge im Reichstag und auf die Aufrüttelung des öffentlichen Gewissens zurück.
Die völlige Wandlung in der Handhabung des Strafvollzugs gegen mich trat aber erst nach der Interpellationsdebatte ein, die am 2. und 3. Juli 1923 im Plenum des Reichstags über das schwere Fehlurteil des Volksgerichts München stattfand, und der eine Bewegung für meine Freilassung folgte, die bis in weite, mir politisch fernstehende Kreise hinein, wirksam war. Jetzt war das Eis gebrochen und ich bekam durch Versetzung in Stufe II, die mir kurz zuvor erst abgelehnt worden war, eine Reihe von Erleichterungen.
Unmittelbar vorher war mir, dem Isrealiten, die Aushändigung einer evangelischen Vollbibel vom Direktor verweigert worden, obwohl sich der Anstaltsgeistliche dafür eingesetzt hatte. Jetzt bekam ich sie anstandslos. Der Gegensatz in der mir von seiten des Direktors zuteil gewordenen Behandlung vor und nach der Reichstagsdebatte trat bei den verschiedensten Gelegenheiten deutlich zutage und kam selbst im Ton sinnfällig zum Ausdruck, in dem er zu mir sprach.
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Wenn sich jetzt auch vieles änderte und manches besser für mich wurde, mit meiner Arbeit hatte ich doch Pech. Das Arbeitsmaterial ist knapp geworden, neues hat man, wahrscheinlich wegen der damals sich in tollen Sprüngen übersteigernden Geldentwertung, nicht beschafft, und die Gefangenen im Zellenbau, die bisher Schneiderarbeit gemacht hatten, wurden anderen Beschäftigungen zugeteilt. Ich wurde Sackflicker.
Eine große Getreidefirma und verschiedene landwirtschaftliche Genossenschaften schickten zerrissene Getreide- und Futtermittelsäcke nach Tausenden und Abertausenden zum Flicken. Die Säcke waren, obwohl sie erst im Hof ausgeklopft wurden, voller Staub, und in vielen – ursprünglich als Mehlsäcke verwendet – haftete auch noch Mehlstaub.
Kleine Risse wurden mit Jutegarn gestopft, größere Löcher mußten durch Einsetzen ganzer Stücke ausgebessert werden. Dazu zerschnitt man nicht mehr reparable Säcke. Die Sackflickerei war, vor allem wegen des Staubes, mit dem Kleider, Haare und die ganze Zelle erfüllt wurden, bei allen Gefangenen denkbar unbeliebt. Mir machte sie den Aufenthalt im Zuchthaus auch nicht gerade angenehmer. Aber ich stopfte und flickte tapfer drauf los.
Die jeden Tag in gleicher Monotonie sich abrollende Ordnung, die Enge des Raumes, die Gitter am Fenster, die Einsamkeit der Zelle, das alles lastet auf Gemüt und Nerven. Und doch ließ ich trübe Stimmungen nie Herr über mich werden. Ich wußte, ich bin zu Unrecht in dem grauen Haus mit den dicken Mauern, und das Unrecht muß und wird eines Tages gutgemacht werden. Das ließ mich den Kopf aufrecht tragen, und es blieb auch in einsamsten und tristesten Stunden stets ein Rest der inneren Heiterkeit meiner Seele lebendig. So war es kein Wunder, daß mir trotz der Ungewißheit meines Schicksals zuweilen ein alter Spruch in den Sinn kam, den ich einmal von Kurt Eisner zitieren hörte:
Ich leb' und weiß nit wie lang,
Ich sterb' und weiß nit wann,
Ich fahr' und weiß nit wohin,
Mich wundert's, daß ich so fröhlich bin.
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Inzwischen verging Woche um Woche, Monat um Monat. Und während ich hinter grauen Mauern vergebens der Freiheit entgegenharrte, bereitete sich im politischen Leben Bayerns jene Entwicklung vor, die über die offene Rebellion gegen das Reich am 9. November 1923 zur bekannten Hitler'schen Tragikomödie im Münchener Bürgerbräusaal führte, und die am 1. April des folgenden Jahres durch ein Volksgerichtsurteil gekrönt wurde, das mir Anlaß zu sehr naheliegenden Vergleichen gab.