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Von den rund fünfhundert Gefangenen der Strafanstalt sind nur ungefähr sechzig in Zellenhaft, alle übrigen sind in Gemeinschaftsräumen untergebracht.
Die ungewohnte, quälende Einsamkeit und Abgeschlossenheit der Zelle wirkt in den ersten Wochen bedrückend, fast beängstigend, und ich empfand sie anfangs als eine Art Strafverschärfung.
Später habe ich eingesehen, daß die Einzelhaft im Ebracher Zuchthaus in seelischer Hinsicht und in bezug auf Reinlichkeit einen Vorzug gegenüber der Gemeinschaftshaft bedeutet.
Die Zelle selbst ist durch nichts dazu angetan, daß man darin heimisch werden könnte.
Die Wände sind kahl und zwei Meter hoch mattgrün mit Ölfarbe gestrichen. Das obere Drittel und die Decke sind geweißt.
Einsam hängt an der einen Seitenwand ein Thermometer. Über dem Arbeitstisch ist ein kleiner, auf Pappe aufgezogener Wandkalender befestigt und darüber, nahe der Decke schaut der große Nazarener von einem schlichten Holzkreuz herunter. Sein Gesichtsausdruck ist so voll Wehmut, daß man glauben möchte, er traure über die haßerfüllte Menschheit, die die Lehre von Nächstenliebe und unbedingter Gewaltlosigkeit nicht verstehen will.
Der ganze Zellenraum ist vier Meter lang und zwei Meter breit. An der Schmalseite, also dem Fenster gegenüber, ist eine dicke Eichentür, die von zwei schweren Eisenriegeln und einem recht soliden Schloß versperrt wird. Das schnappende Geräusch des Öffnens und Schließens dieser Sicherheitsvorrichtungen klingt lange Zeit ganz vertrackt unangenehm in die Ohren. Mir gibt es jedesmal einen ordentlichen Riß, wenn die Riegel auf- oder zugeschlagen werden.
Dieses Geräusch gehört aber zu den »kleinen Ungemütlichkeiten«, an die man sich ebenso gewöhnen muß, wie an das unbehagliche Gefühl, daß jederzeit beobachtende Beamtenaugen durch den Spion schauen können, der in Blickhöhe inmitten der Tür angebracht ist.
Gewöhnen muß man sich auch an die unvermeidliche »Opferschale«, die Tag und Nacht auf ihrem Holzgestell hoheitsvoll und blendend weiß in der Ecke thront. Sie wird, da Wasserspülung hier ein unbekannter Luxus ist, jeden Morgen um halb sieben Uhr vor die Tür gestellt, um vom »Hausknecht«Ein Gefangener, der das Essen zu tragen und grobe Arbeiten zu verrichten hat. ausgeleert zu werden. Sie ist das Widerlichste von allem in der Zelle. Man gewöhnt sich aber auch an die »Opferschale«, wie man sich im Zuchthaus an so vieles gewöhnen muß.
Aber ein anderes ist's doch mit den fünf senkrechten und zwei wagrechten, dicken Eisenstäben, mit denen das quadratmetergroße Fenster vergittert ist. An dieses eindringlich mahnende Symbol verlorener Freiheit kann ich mich nicht gewöhnen.
Ich muß noch ein paar wichtige Inventarstücke meiner Zelle erwähnen.
Vor dem Tisch, über dem an dünner Kette eine elektrische Birne mit grünem Schirm hängt, steht ein einfacher Holzschemel.
Ganz vorne beim Fenster, das fast zwei Meter über dem Steinfußboden beginnt, ist an der Längswand ein geräumiges Wandbrett mit zwei Etagen angebracht. Dort steht eine ganze Garnitur blauer Emailgefäße, Waschschüssel, Seifenbehälter, Wasserkrug und Trinkbecher. Auch ein hölzernes Salzfäßchen und das »Schanzzeug«, bestehend aus Messer, Gabel und Löffel, findet sich vor.
Unter dem Wandbrett sind ein paar hölzerne Kleiderhaken. An einem hängt ein Handtuch, am andern eine Schiefertafel. Ein Griffel ist auch da. Das ist mein Schreibmaterial, mit dem ich mich begnügen muß. Papier und Tinte gibt's zunächst nicht.
An der Seitenwand des Wandbretts ist an einem Nagel ein weiß überzogener, kleiner Pappkarton mit schwarzem Rand befestigt. Zu lesen ist darauf mein Name, meine Grundbuchnummer, Strafzeit, Datum des Strafbeginns und des Strafendes. Dann steht noch dort:
»Landesverrat §§...«
Die Ziffer des Landesverratsparagraphen ist merkwürdigerweise nicht ausgefüllt.
So, wie man mich wegen Landesverrat verurteilt hat, läßt sich's allerdings durch keinen Paragraphen des Reichsstrafgesetzbuches rechtfertigen. Aber das wird wohl kaum der Grund für das Fehlen der Ziffern neben dem Paragraphenzeichen sein.
Gleich nebenan ist noch ein Nagel in die Wand eingeschlagen. Vier Broschüren sind dort an den durchlochten Ecken mit dünnem Bindfaden aufgehängt. Sie sind zum Teil schon alt und vergilbt.
Das ehrwürdigste Alter haben die Alkohol- und Tuberkulosemerkblätter. Sie geben noch Kunde von einem »Kaiserlichen« Gesundheitsamt. Die Republik hat noch nicht Zeit gefunden, sie zu erneuern.
In einem anderen Schriftchen ist das wichtigste über die Invaliden- und Hinterbliebenenversicherung zusammengetragen, während ein drittes Büchlein – »Spar-Merkblätter« – ein kurzer praktischer Wegweiser in der Kunst des Sparens sein will.
Das größte Interesse hatte ich für eine schwarz eingebundene Schrift, die »Vorschriften für Gefangene«. Die hab ich gleich am ersten Tag vom ersten bis zum letzten Buchstaben gelesen. Es waren ja die Regeln, in deren Rahmen sich mein Dasein in der nächsten Zeit abspielen sollte. Vieles ist da verboten, nur wenig erlaubt. Verboten ist es, aus dem Fenster zu schauen. Jede Verständigung mit anderen Gefangenen durch Sprechen, Schreiben oder Zeichengeben, auch während des einstündigen Spazierganges im Hof, ist untersagt. Gegenseitiges Schenken oder Annehmen von Geschenken und Tauschhandel ist verboten. Die Aufseher dürfen nicht angesprochen werden, es sei denn in einer die Arbeit betreffenden Angelegenheit. Singen, Pfeifen oder sonstige Erzeugung von Lärm und vieles andere noch ist verboten. Verboten, verboten und immer wieder verboten heißt es in jedem Abschnitt. Von frühmorgens bis zur Schlafenszeit ist dem Gefangenen jede Lebensäußerung vorgeschrieben und ein stachliger Zaun von Verboten engt ihn ein. Er hat bedingungslos zu gehorchen und sich unterzuordnen. Tut er's nicht, dann drohen ihm die für Verstöße gegen die Hausordnung angesetzten schweren »Hausstrafen« Kostabzug, Nachtlagerentzug, Arrest im Eisenkäfig, Dunkelarrest.
Beim Lesen der Vorschriften wurde mir zuweilen recht ungemütlich zumute.
Vom Geist des »modernen Strafvollzugs« fand ich nicht viel in dem Büchlein. Nur zum Schluß war ein Blatt nachträglich eingeklebt, das ein paar Vorschriften aus neuen Ministerialentschließungen enthielt, die ersten Anfänge des progressiven Strafvollzugs. Der Gefangene kommt hiernach zunächst in Stufe I, in der ihm keinerlei Vergünstigungen zustehen, kann aber bei guter Führung in eine höhere Stufe kommen. Dort hat er dann Anspruch auf eine Reihe von Vergünstigungen und Erleichterungen.
Erst im Frühjahr 1924 sind die veralteten Vorschriften durch neue ersetzt worden, die in Inhalt und Ton einen neuen, humaneren Geist ahnen lassen.
Bei Lektüre des schwarzen Büchleins merkte ich schon, daß es in diesem Haus noch manch bittere Pille zu schlucken gibt. Auch für mich. Aber jetzt hieß es nicht, sentimentale Betrachtungen anstellen, sondern die Zähne zusammenbeißen, sich mit den Tatsachen zunächst abfinden und den Glauben an den endgültigen Sieg des Rechtsgedankens nicht verlieren.