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Ich kühle mich ab, Bessy und Meister Licht helfen, und ich gehe auf meine Reise ins Ungewisse
Es war gut, daß der Cassiodor so störrisch war, ich konnte meinen Zorn an ihm austoben. Ich ritt ohne Ziel mit ihm los, und wenn er bockte und vor einem Blatt Papier auf der Straße tat, als sei es ein großer Zauber, so zwang ich ihn. Es machte nicht nur ihn, es machte auch mich ruhiger.
Schließlich hielt ich mit ihm an der See. Die Sonne war im Untergehen, aber es war noch immer sehr heiß. Bleifarben lag das Wasser, jetzt warf die sinkende Sonne Millionen von roten Lichtflecken darauf, für meine augenblickliche Stimmung sah das nicht sehr hoffnungsvoll aus.
Dann kam ich auf die Idee, zu baden. Allmählich belästigte mich das geronnene Blut doch, das überall an mir klebte. Den Cassiodor konnte ich nicht wie meinen braven Alex einfach mit dem Zügel irgendwo anbinden, der Schinder hätte sich sofort losgerissen und wäre nach Haus gelaufen. So beschloß ich, daß er mit mir baden sollte. Ich zog mich, die Zügel über den Arm gestreift, neben ihm aus, und dann sprang ich wieder auf ihn, splitterfasernackt, und trieb ihn in die See, in dieses Gemisch aus bleigrauer Farbe und abscheulichem Rot. Wie er tanzte, wie er den Kopf zwischen die Beine nahm, wie er ausbrechen wollte, wie er stieg – als das Wasser immer höher gegen seine Beine platschte. Aber dann der Augenblick, da er den Grund verlor und schwamm – nur eine Sekunde stutzte er, und dann wieherte Cassiodor, glücklich, triumphierend, ein Freudengewieher. Er schwamm so gleichmäßig wie ein Fisch, es war eine Wonne, auf ihm zu sitzen, zu fühlen, wie das kühle Wasser an mir spülte. Ich gab ihm den Kopf frei, mochte er schwimmen, wohin er wollte, ich beugte mich tiefer hinab, wusch mir das Gesicht mit der einen Hand und jauchzte, jauchzte, wie Cassiodor gewiehert hatte.
Dann dachte ich wieder an Mama und den Geldschrank und die Papiere, aber das deprimierte mich nicht, ich fing an, das Lied zu brüllen, das ich vom Onkel gehört hatte:
Jetzt weicht, jetzt flieht! Jetzt weicht, jetzt flieht
mit Zittern und Zähnegefletsch;
jetzt weicht, jetzt flieht!
Wir singen das Lied vom Enderle von Ketsch!
Ich brüllte immer wieder diese paar Zeilen, wie sie der Großonkel gebrüllt hatte, und wenn er damals trunken gewesen war von Wein, so war ich jetzt trunken – ja, von was eigentlich? Ich war gar nicht überzeugt, daß sich alles zum Guten wenden würde, darum war ich nicht trunken. Aber heute hatte zum erstenmal mein Blut die Schranken frommer Sitte und Fügsamkeit durchbrochen, ich war kein braver Junge und gehorsamer Sohn mehr, ich war ein Mann. Ich hatte den Mann in mir gespürt, ich war ich selbst geworden, kein Produkt mehr meiner Umwelt. Ich, ich allein, ich, ich, ich – Lutz von Strammin, der einzige Lutz von Strammin, den es auf der Welt gab, so und nicht wieder. Ich – jetzt weicht, jetzt flieht!
Der obere Rand der Sonnenscheibe berührte das Wasser, die roten Flecken wurden rosa, dann gingen sie plötzlich in eine tiefe Veilchenfarbe über. Grüne Flecken entstanden, und nun war alles grau, nein, farblos, schattenhaft. Ich wendete den Gaul, und wir schwammen zum Ufer zurück, während ich sanfter sang:
»... ist der eine dir entlaufen,
kannst du einen andern kaufen!
Einen schönen, weichen, weißen, Laridah!
Mucki-Nucki soll er heißen ...«
Ja, dies war schon das Rechte. Dies war das Rechte. Nur dies!
Ich zog mich an, triefend von Seewasser, mit Strandsand gekörnt. Der schöne, stadtfeine Anzug war bestimmt hinüber, überhaupt, mit langen Hosen und Halbschuhen auf einem Gaul! Es war mir aber egal – und wir beide, Cassiodor und ich, wir jagten jetzt im besten Einvernehmen den Strand entlang. Das Wasser klatschte uns manchmal bis über die Ohren, und der Gaul prustete vor Glück, schnaufte, wieherte und lief immer schneller, immer begeisterter durch kleine Buchten.
Wir hielten nicht eher an, bis wir auf der Höhe von Schalenberg waren, und dann ritt ich Feldraine entlang, bis auf den Gutshof. Ich stieg nicht ab, sondern ich schickte einen Mann aus dem Stall ins Haus: Fräulein Bessy möge doch einen Augenblick herauskommen. Sie saßen sicher alle beim Abendessen ...
Nach einer guten Weile kam ein Diener zurück und bat mich herein. Sicher hatten sie drinnen meinetwegen verhandelt, und was die Alten von mir gesagt hatten, das konnte ich mir lebhaft denken. Ich sagte dem Diener, daß ich völlig verdreckt sei und nicht kommen könne ... Wieder verging eine ganze Zeit, dann kam Bessys Bruder und fragte verlegen, was denn sei. Wenn ich nicht mitessen wolle, könne ich ja in der Bibliothek warten ... Ich ritt unter eine Hoflampe, zeigte ihm mein Aussehen und fing an zu singen: »Jetzt weicht, jetzt flieht –!«
Eilig ging er zurück, er hielt mich für völlig betrunken. Und ich muß wirklich so etwas wie betrunken gewesen sein, denn ich erinnere mich, daß ich in dieser neuen Wartezeit den Gedanken erwog, mit Cassiodor auf die Diele von Schalenberg zu reiten. Gottlob kam Bessy jetzt wirklich.
»Nun, Lutz?« fragte sie. »Noch nicht auf dem Weg nach Berlin?«
Das war ganz Bessy, kein langes Geschwätz von nächtlichen Überfällen und Betrunkenheit, immer sachlich, immer den Kopf beisammen.
»Berlin!« rief ich ebenso kurz. »Mama hat mir die Papiere und den Pistolenkasten geklaut, alles in den Geldschrank eingeschlossen und den Schlüssel in den Entenpfuhl geschmissen. Papa fischt nach ihm, aber in dem Modder findet er ihn nie!«
»Verdammt!« sagte Bessy. »Ich hätte doch nach Strammin mitreiten sollen, wie ich eigentlich wollte! Bloß, ich dachte –«
»Bessy!« riefen sie vom Haus her, wieder eine rufende Mama, wieder um ihr Küken besorgt.
»Ruhe da!« schrie ich zurück. »Nun, Bessy, was dachtest du –?«
»Ich dachte, du könntest mich vielleicht gar zu sehr als Kindermädchen empfinden!«
»Dich nicht, Bessy«, sagte ich. »Dich nie. Du siehst ja, ich bin gleich zu dir gekommen, ohne alle Scham. Bessy, was machen wir nun –?«
»Ja –«, antwortete sie, zweifelhaft. Dann: »Du, Lutz, lach nicht, wie haben hier einen alten Grobschmied im Dorf, der kann einfach alles. Vielleicht kriegt der alte Licht euren Geldschrank auf.«
»Ein Grobschmied, Bessy, ausgeschlossen! Er ist doch kein Einbrecher, hat sicher gar kein Werkzeug für so was.«
»Bessy!« riefen sie jetzt hartnäckiger. »Sofort kommst du! Herr von Strammin, es ist einfach unmöglich ...«
Der alte Schalenberg brüllte »Bessy!« und pfiff auf zwei Fingern, wie man einem Jagdhund pfeift, der hinter einem Rehbock durchbrennen will.
»In zwei Stunden, Lutz«, flüsterte Bessy eilig. »Ich muß erst die Gemüter beruhigen. In gut zwei Stunden an der alten Weide beim Weg nach Stralsund.«
»Picobello, Bessy!« sagte ich und sprengte vom Hof, daß die Funken stoben.
Ich habe aber nicht etwa diese zwei Stunden trübselig unter der Weide gestanden, sondern im Kruge von Dorf Schalenberg habe ich gesessen und habe mir tüchtig die Nase begossen. Es tat mir aber in dieser Nacht gar nichts. Ich fühlte mich so stark, nach meinem Wutausbruch, ich hätte dem Kaiser von China auf den Kopf gespuckt, er sollte mir nur kommen! Keiner sollte mir kommen! Alle sollten mir kommen!
Punkt elf Uhr hielt ich unter der Weide, und nicht lange später kam ein Korbwägelchen angerollt, in dem Bessy mit einem großen, dicken Mann saß.
»Na«, sagte ich, »hast du dich freigeschwindelt, Bessy?«
»Ich bin durchs Fenster geklettert«, lachte Bessy. »Die guten Alten schlafen bereits.«
»Und es ist also beim Grobschmied geblieben? Werden Sie's denn schaffen, Meister Licht?«
»Das kommt darauf an, junger Herr«, sagte der Meister aus dem Dustern. »Wenn's ein alter Schrank ist, schaff ich's vielleicht. An einen modernen Schrank trau ich mich nicht, dafür bin ich zu altmodisch. Mit Sauerstoffgebläse weiß ich nicht Bescheid.«
»Ich glaube, Meister Licht, der Schrank ist älter als mein Vater.«
»Dann möchte es schon gehen, Jungherr.«
Das Wägelchen stammte leider vom Meister, Bessy hatte sich nicht in den Stall getraut, und der Lichtsche Gaul war nicht sehr für Schnelligkeit. So war es morgens drei Uhr, als wir unsern Einzug in Strammin hielten. Vom Ententeich leuchteten die Fackeln, und so liefen wir zuerst dorthin.
Papa war wirklich noch immer im Gang. Sie hatten ein Stück vom Teich, das Stück, in das Mama den Schlüssel geworfen haben wollte, abgedämmt und trockengelegt. Nun waren sie dabei, mit großen Kornsieben den Schlamm durchzusieben.
Sie hatten schon alles mögliche Zeugs gefunden, außer den unvermeidlichen Konservenbüchsen, außer defektem Emaillegeschirr und vielen Scherben einen goldenen Trauring, der die Jahreszahl 1761 trug und dessen Anfangsbuchstaben auf niemanden in Strammin mehr stimmten. Auch ein silbernes Kettchen und eine uralte Uhr. Das hielt die Leute munter, und dazu kam der Schnaps, den Papa spendierte: Die Leute fanden diese Schlüsselsucherei großartig.
Wir ließen sie dabei, der Meister suchte sich nur sechs stämmige Männer aus, und dann zogen wir alle ins Haus. Papa ging auch mit. (Von Mama war nichts zu sehen, was mir auch ganz lieb war.)
In Papas Zimmer sah es noch schlimm aus von meiner Schießerei. Bessy, der ich von meinem Wutausbruch nichts erzählt hatte, rief: »Was ist denn hier bloß passiert?!« und verstummte, als Papa warnend mit dem Kopf auf mich deutete. Nachher tuschelten die beiden in der Ecke – natürlich über mich.
Mir war's egal, mir war's plötzlich ganz egal, was über mich gedacht und gesagt wurde. Es war mir auch egal, daß ich einen Wutanfall gehabt hatte. Ich schämte mich nicht die Spur. Komisch, wie schnell ich mich in diesen vierzehn Tagen verwandelte, aber das alles hatte wohl schon immer in mir gesteckt.
Bei Licht entpuppte sich der Meister als ein großer Mann mit einem ziemlichen Bauch, einem hängenden, struppigen Walroßbart und kahlem Schädel. Sich hinter den Ohren kratzend, sah er den Schrank von allen Seiten an, seine sechs Mannen standen hinter ihm. Dann drehte der Meister zweimal am Griff, sah mich an und sagte: »Davon kriegen wir ihn auch nicht auf, junger Herr.«
»Nein, sicher nicht«, antwortete ich und hatte, angesichts all der Lächelfalten um die hellen, klugen Augen des Meisters, gleich ein rechtes Zutrauen zu ihm. »Wovon kriegen wir ihn aber auf?«
»Jungens«, sprach der Meister, »nun zeigt einmal, daß ihr ein bißchen Murr in den Knochen habt. Hebt den kleinen Mops einmal 'runter und legt ihn da auf den Teppich.«
Hier konnte ich wieder einmal sehen, wie flüchtig so ein Durchschnittsmensch wie ich selbst das Vertrauteste ansieht: Ich hatte nie darauf geachtet, daß unser Geldschrank auf einem kleinen gleichfarbig gestrichenen Holzsockel stand. Von diesem Sockel hoben die Männer nun mit manchem Ächzen den »Mops« ab und legten ihn mit der Seite auf den Teppich. Der Meister kniete sich hin und besah Boden und Rückwand. Dann sah er zu mir auf und kratzte sich wieder hinterm Ohr. »Solide Arbeit, junger Herr«, sagte er zu mir. »Von hinten und unten kommen wir auch nicht 'rein.«
»Und wie kommen wir 'rein?« fragte ich wieder.
»Wir wollen das Kind einmal schaukeln«, rief Meister Licht. »Los, Kerls, nu kippt den Mops einmal kräftig von einer Seite auf die andere! Ja, so, los, feste, immer los! Bei euern Frauen seid ihr ja auch mutig genug, nun zeigt einmal hier, daß ihr Murr habt.«
Und während sie den Schrank schaukelten, daß es eine Art hatte, sagte er erklärend: »Ich denke immer, das ist so ein alter Mops, wo die Zuhaltungen noch nicht extra gesperrt sind. Verstehen Sie, dann fallen sie vom Schaukeln zurück, vielleicht.«
Ich nickte sachverständig, natürlich verstand ich kein Wort davon.
»Halt!« schrie der Meister. »Hat es nicht eben ›Klick‹ gemacht? Mir war's so, als hätte es eben zweimal ›Klick‹ gemacht.« Und jetzt, ganz aufgeregt, kniete er sich vor den Schrank hin und drehte wieder den Griff. Aber die Tür öffnete sich nicht.
»Na, denn schaukelt weiter«, sagte er betrübt. »Aber ›Klick‹ hat es bestimmt gemacht, nur weiß kein Aas, wieviel Zuhaltungen so ein Ding hat!«
Sie schaukelten, daß ihnen der Atem wegblieb. Dann rasteten sie, und während dieser Rast füllte ich sie mit Schnaps auf. Worauf sie wieder schaukelten. Noch zweimal behauptete der Meister, es habe »Klick« gemacht, noch zweimal drehte er am Griff – erfolglos. Dann sagte er: »Na, denn hört erst einmal auf, Jungens. Laßt mich nachdenken.«
Er stand vor dem Geldschrank, ein Hüne mit Bauch, sah aus wie ein altes, trauriges Walroß und kratzte sich mit seinen von vielen Hufeisen zu Horn gebrannten Schmiedepfoten. Wir sahen ihn jetzt doch etwas besorgt an, und Papa meinte: »Ich glaube, ich gehe wieder zum Entenpfuhl, das sieht hier nicht sehr hoffnungsvoll aus.«
Aber gerade als Papa das sagte, rief Meister Licht: »Los, Kerls, 'ran! Stellt das Ding auf den Kopf, direkt auf den Kopf.«
Nach all der schweren Schaukelei ging das leicht und schnell genug. Sie traten zurück, und der Meister Licht setzte sich mit einem gemütlichen Lächeln auf den umgestülpten Schrank. Er nahm den Griff in die Hand. »Nun kommt's darauf an«, sagte er. »Wenn ich jetzt den Griff drehe, muß die Tür aufgehen, weiter weiß ich nichts.«
Er grinste mich an.
»Na, drehen Sie doch, Meister Licht!« rief ich ungeduldig.
»Nicht so schnell, junger Herr!« sagte der Meister. »Geht die Tür nicht auf, geben Sie mir bloß eine Flasche Bier und ein paar Butterbrote, und ich fahre belämmert wieder nach Haus. Geht sie aber auf, so kostet es Sie hundert Mark, und Sie sagen: Der Meister Licht hat doch ein Köppchen.«
»Drehen Sie doch!« schrie ich. »Ich akzeptiere alles.«
»Na denn!« sagte der Meister und grinste. Er drehte, nein, er schien kaum zu drehen, und die Tür ging auf, polternd fiel als erstes der schwarze Kasten aus dem kopfstehenden Schrank, öffnete sich, und da lagen die Pistolen des alten Lassenthin auf dem Teppich.
Ich starrte, ganz benommen von Glück. Hatten wir es doch also geschafft.
Bessy rief: »Der Meister Licht hat doch ein helles Köpfchen.« Während Papa stillschweigend die Pistolen in den Kasten legte.
Eine Stunde später stand der Schrank wieder an seinem Platz. Der Meister Licht war abgefahren, über Verlangen belohnt, mit den Abschiedsworten: »Den Mops werfen Sie man gleich in Ihren Entenpfuhl. Der ist jetzt doch wertlos, wo ich's allen Leuten vorgemacht habe.«
Papa freilich hatte erklärt, daß er sich von seinem gewohnten »Leeren Grab« doch nicht trennen würde. »Ich bin ihn nun einmal gewohnt, und es ist ja doch nichts drin, Lutz. Du kannst dir ja später einen andern kaufen.«
Bessy hatte meine Sachen etwas ordentlicher gepackt, und ich hatte mich umgezogen. Es war ausgemacht, daß uns beide unser Kutschwagen nach Stralsund bringen und Bessy dann auf der Heimfahrt in Schalenberg absetzen sollte. Sie wollte mich gern noch an den Zug bringen.
Es war fünf Uhr morgens, als ich an Mamas Tür klopfte.
Sie öffnete mir sofort. Sie war völlig angekleidet, sicher hatte sie noch kein Auge zugetan.
»Ich fahre dann jetzt, Mama«, sagte ich. Sie sah mich schweigend an. Ich setzte hinzu: »Bessy bringt mich noch an den Zug.«
»Lutz«, sagte Mama. »Ich bedauere das heute nachmittag. Ich dachte, ich hätte noch meinen lieben Jungen zum Sohn. Aber aus ihm ist ein Mann geworden, ein sehr fremder Mann, den ich gar nicht kenne ...«
»Ach, Mama«, sagte ich reuig. »Wenn du mich bloß nicht so zornig gemacht hättest. Ich bin bestimmt noch dein Junge, ganz wie früher.«
Mama schüttelte den Kopf. »Ich bin eine törichte alte Frau«, sagte sie. »Jedes Jahr sehe ich, wie die Mamsell Puten auf Enteneier zum Ausbrüten setzt, und die Pute ist ganz stolz auf ihre Entchen und führt sie aus und begreift nicht, daß es keine Putchen, sondern Entchen sind. Dann kommen sie einmal an den Entenpfuhl, und alle Entchen laufen ins Wasser und schwimmen. Die Pute aber läuft am Wasser hin und her und schreit und möchte sich umbringen vor Angst. Nun, Lutz, ich hab's jetzt begriffen, daß du schwimmen kannst. Es wäre mir schon lieber gewesen, du hättest es nicht gekonnt, aber nach meinen Putenwünschen geht's nicht.«
»Mama«, bat ich. »Liebe Mama, sei doch bloß nicht so traurig. Es ist doch eine ganz harmlose Reise, die ich tue, eigentlich nichts anderes, als dem Gregor seine Erbansprüche abkaufen, etwas rein Geschäftliches.«
»Mit der Pistole im Kasten«, sagte Mama. »Schwimm, mein Entchen!« Sie küßte mich schnell und zärtlich, wie sie mich wohl noch nie geküßt hatte. »Sei deiner Mutter nicht zu böse, daß sie nicht schwimmen kann. Sie lernt's auch nicht, Lutz, vergiß das nicht, es liegt eben nicht in ihr.«
Ich wollte ihr noch vieles sagen, aber sie wehrte ab. »Geh jetzt, Lutz, und schicke mir noch für einen Augenblick die Bessy. Es soll bestimmt nicht lange dauern.«
Es dauerte wirklich nicht lange, dann saßen Bessy und ich im Wagen. Beim Kutscher stand mein bunt beklebter Koffer, und vor uns auf dem Sitz lagen Ledermappe und der schwarze Kasten mit dem Lassenthiner Wappen.
Wir haben wenig während dieser langen Fahrt miteinander gesprochen. Aber ich habe Bessy eigentlich die ganze Zeit an der Hand gehalten, und dieses Gefühl vollkommenen Vertrauens, allerschönster Kameradschaft empfunden, das je länger, je stärker von ihr ausging. Ich fragte mich, ob nicht dieses Gefühl auch Liebe sei, ein dauerhafteres Gespinst als jenes flockige Gewebe, das mich an Catriona band ...
Allmählich, je weiter der Morgen vorrückte, kam die Arbeit auf den Feldern in Gang. Wir sahen die Leute beim Heuen. Dann fuhren wir durch Nipperow und hielten dort, und ich bezahlte endlich im Krug den von unseren Knechten beim Weizentransport angerichteten Schaden.
Weiter fuhren wir, hinter schwarzen Tannen sahen wir den wettergeschwärzten, düsteren Giebel von Ückelitz. Wir blickten beide hinüber. Bessy drückte meine Hand fester und sagte: »Ich habe deiner Mama versprochen, während der nächsten Tage bei ihr in Strammin zu wohnen.«
»Ich danke dir auch, Bessy.«
»Ich sage es nicht wegen Dank, Lutz. Ich sage es dir darum, damit du weißt, wohin du mir Nachricht geben kannst.«
»Ach, Bessy, schreiben –? Ich bin ein ganz schlechter Briefschreiber, ich denke immer: keine Nachricht – gute Nachricht.«
»Es gibt auch Telegramme, Lutz. Es könnte ja sein, daß du mich gern einmal siehst. Ich komme immer, auf ein Telegramm, wohin du willst, auch nach Italien.«
Diesmal sagte ich gar nichts, nur drückte ich jetzt ihr die Hand. Sie war einfach großartig, und wenn ich auch fest entschlossen war, sie nicht zu rufen, das Gefühl, sie jederzeit rufen zu können, machte mich schon glücklich.
Als wir in Stralsund einfuhren, rief ich dem Kutscher zu: »Erst zum Hafen! Zur Anlegestelle der Tirpitz!«
Ich traf es so glücklich, daß die Tirpitz wirklich am Bollwerk lag, und ich kaufte von Moder Rickmersch meine Erbuhr für dreißig Mark zurück. Es war ein so wohltuendes Gefühl, alles Verworrene vor der Abreise noch zu glätten. (Dem jungen Strasen hatte ich sein Geld schon von Ückelitz geschickt.)
Schließlich ließ ich auch noch vorm »Halben Mond« halten, wir setzten uns in die Gaststube und hielten ein spätes, aber ausgiebiges Frühstück. Und als Herr Ericke an unserem Tisch mit etwas befangenem Gruß vorüber wollte, bat ich ihn höflich zu uns. Er trank mit uns ein Glas von seinem vorzüglichen Rheinwein (mein Appetit auf Rotwein hatte stark nachgelassen), und wir redeten von dem herrlichen Wetter zur Heuernte, und dann berichtete uns Herr Ericke als Neuestes, daß Käptn Pedersen noch immer mit seiner Svionia in Stralsund festlag, aber nicht freiwillig. Sondern die Hafenpolizei hatte ihm vorläufig die Ausfahrt verboten, zu viele der Weizenlieferanten hatten gegen den alten Schmuggler Anzeige wegen Betrugs erstattet.
Wir stimmten Herrn Ericke zu, daß dies ganz richtig von der Polizei gehandelt sei, daß immer noch die Korrektheit in der alten Hansestadt Trumpf sei, und dann schieden wir im besten Einvernehmen.
Als wir aber vor dem Bahnhof hielten, sagte Bessy: »Du hast fast noch eine Stunde Zeit, Lutz. Nimm es mir nicht übel, wenn ich schon hier im Wagen von dir Abschied nehme. Ich hasse das Herumstehen auf den Bahnsteigen, und dann muß ich wirklich auch möglichst bald nach meinen Eltern sehen. Also, tjüs, Lutz, mach es gut! Komm gesund wieder, und wenn du mich brauchst, telegrafiere.«
Damit hatte sie mich beim Kopf gefaßt, kräftig auf den Mund geküßt und schon aus dem Wagen geschoben. Ehe ich noch recht was hatte sagen können, rief sie »Los, Hanf!«, und schon rollte der Wagen fort.
Ich stand und sah ihr nach. In den Händen hielt ich den schwarzen Kasten und die Ledermappe, zu meinen Füßen stand der buntbeklebte Koffer.
Der Wagen kam außer Sicht. Mit einem leichten Seufzer nahm ich den Koffer auf. Die große Reise konnte beginnen.