Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

12

Ich kämpfe gegen Major von Brandau, erhalte einen wichtigen Auftrag und werde durch Mama überlistet. Meine Verzweiflung

 

Die beiden Herren sahen mir mit einer Miene entgegen, die nichts Gutes bedeuten konnte. Wenig vermochte es mich zu beruhigen, daß Herr von Brandau eine Flasche Burgunder neben sich stehen hatte. Wenn ihm Herr von Lassenthin Burgunder einschenkte, so konnte das nur heißen, daß beide eines Sinnes waren.

Herr von Brandau hatte sich lässig zurückgelehnt, seine Beine waren übereinandergeschlagen, die eine Hand spielte mit dem Kavalleristenschnurrbart, die andere lag um den Stiel des Glases. Als Zugeständnis an die Glut in der Höhle hatte er drei Knöpfe seines Uniformrockes geöffnet.

Die weißbuschigen Brauen des Großonkels waren so tief über die Augen hinabgezogen, daß man kaum die Pupillen sah. Auf seinem nackten Schädel standen viele Schweißperlen. Er sagte: »Das ist also der junge Strammin, den Sie wohl kennen, Brandau?«

Der Major murmelte etwas. Ich zog mir einen Stuhl heran. Der Großonkel rief grob: »Wer hat Sie aufgefordert, sich zu setzen, junger Mann? Sie stehen viel besser, da sie gleich gehen werden – aus meinem Hause nämlich. Und das für immer.«

Ich neigte den Kopf und blieb stehen, die Hand auf der Lehne des Stuhls. Der Major betrachtete mich nachdenklich, nahm einen Schluck Wein und betrachtete mich wieder nachdenklich.

Herr von Lassenthin fuhr fort: »Herr Major von Brandau hat mir von Amts wegen die Mitteilung gemacht, daß sich in meinem Hause hier in Ückelitz eine Weibsperson aufhält, die sich für die Frau meines Sohnes ausgibt. Ich habe dem Major geantwortet, daß das Quatsch sei, in meinem Hause gäbe es keine fremden Frauenzimmer.«

»Es hat hier auch«, sagte der Major und drehte selbstgefällig seinen Bart, »vor acht Tagen eine Geburt stattgefunden. Die gesetzlich vorgeschriebene standesamtliche Meldung ist bisher unterblieben.«

»Hohoho!« lachte mein Onkel plötzlich los und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Eine Geburt hier in Ückelitz? Ist dies ein Haus, in dem Kinder geboren werden? Was für Phantasten ihr doch seid, ihr Polizeikerle!«

Major von Brandau lächelte überlegen. Er fuhr fort: »Als ich von Ihnen, Herr von Lassenthin, hörte, daß der junge Herr von Strammin als Gast auf dem Schloß weile, war mir alles sofort klar. Ich habe diesen jungen Mann hier mehrfach eindringlich gewarnt, sich mit dieser Abenteurerin einzulassen. Er hat nicht auf mich gehört. Ich finde es schmählich von Ihnen, Herr von Strammin«, wandte sich der Major jetzt direkt an mich, »daß Sie unter arglistiger Täuschung Ihres Großonkels diese Frau hier eingeschleppt und ihr bei ihrem gesetzwidrigen Treiben Vorschub geleistet haben.«

»Halt! Halt!« rief Herr von Lassenthin. »Nicht so eilig mit Ihren Beschuldigungen. Ich weigere mich, ein Wort von alledem zu glauben, was Sie mir da erzählen. Hier gibt's weder Weiber noch Säuglinge! Lutz, mein Junge, ein Wort von dir, und ich setze diesen Polizeimenschen an die frische Luft. Nun, Lutz –?«

Es amüsierte mich, wie ausgezeichnet mein Großonkel seine Rolle spielte, der Major fiel bis über beide Ohren auf seine Lügen herein. Aber das Ganze hätte mich noch mehr amüsiert, wenn ich gewußt hätte, worauf der Großonkel hinauswollte. Was drohte Catriona? Drohte ihr überhaupt etwas? Wohl doch, nach der finsteren weißen Braue dort zu urteilen. Wollte Herr von Lassenthin sich jetzt von Catriona befreien, für immer, und nahm er dafür die Hilfe der Polizei in Anspruch?

Ich schwieg lange, dann sagte ich: »Sie wissen ebenso gut wie ich, Herr von Lassenthin, was von den Worten Herrn von Brandaus wahr ist.«

Schwer fiel die Faust des Rauhbolds auf den Tisch. »In welchem Ton reden Sie mit mir?« brüllte er. »Sie haben achtungsvoll zu reden, Sie Narr! Was ist an dem Geschwätz? Steckt da oben ein Frauenzimmer?«

»Sie wissen es ebenso gut wie ich, Herr von Lassenthin.«

»Und es hat da eine Geburt stattgefunden?«

»Auch davon haben Sie sich erst vor einer halben Stunde überzeugt.«

»Lügen!« brüllte der Großonkel. »Alles verdammte Lügen!« Er sprang so plötzlich auf, daß der Tisch ins Wanken geriet, Glas und Flasche fielen. »'Raus aus meinem Haus, du junger Schurke!« schrie er. »Jetzt willst du mich wohl in deine verfluchten Weibergeschichten hineinzerren? Auf der Stelle machst du, daß du fortkommst!«

»Also dann leben Sie wohl, Herr von Lassenthin«, sagte ich und machte dem Großonkel eine Verbeugung.

Ich ging zur Tür. Natürlich dachte ich nicht daran, Ückelitz zu verlassen. Die beiden Herren würden mich in Kürze als Posten vor Catrionas Tür finden.

Jetzt war es aber der Major, der »Halt!« rief. Ich blieb stehen. Der Major: »Ich fürchte, Herr von Lassenthin, ich kann diesen jungen Mann nicht so einfach fortlaufen lassen. Sein Sündenregister ist bereits ziemlich lang. Aber ich will Ihre Lage erleichtern, Herr von Strammin. Geben Sie mir Ihr Ehrenwort, auf Ihrer Stube zu bleiben und nicht mittel- oder unmittelbar mit der bewußten Dame in Verbindung zu treten, so will ich Sie vorläufig nicht weiter in Anspruch nehmen. Vielleicht überhaupt nicht.«

Es war wirklich sehr amüsant, bei dieser Rede das Gesicht meines Großonkels zu sehen. Seine buschige Braue war immer höher geklettert, sein Gesicht drückte einen Grad von Verblüffung aus, die schon an Albernheit grenzte. »Was soll das heißen, Major?« fragte er.

»Das soll heißen«, antwortete der Major geläufig, »daß ich einen richterlichen Haftbefehl gegen Herrn Ludwig von Strammin in der Tasche trage.« Er klopfte auf diese Tasche. »Wie ich schon sagte, will ich von diesem Haftbefehl vorläufig keinen Gebrauch machen, wenn Herr von Strammin mir das besagte Ehrenwort gibt.«

»Sie sind ein Narr, Herr von Brandau!« schalt der Großonkel ärgerlich. »Sie werden mir nicht einreden, daß Sie meinen eigenen Großneffen, der ein halber Lassenthin ist, in meinem Hause wegen einer Frauenzimmergeschichte verhaften werden.«

»Es handelt sich hier nicht nur um eine Frauenzimmergeschichte«, widersprach der Major, noch immer siegessicher. »Es handelt sich um eine Erpresserin.«

»Wen hat das Weibsbild denn erpreßt?« Der Großonkel wurde immer mißgelaunter.

»Ihren Sohn, Herrn Gregor von Lassenthin. Er hat ordnungsgemäß Strafantrag gestellt.«

»Haben Sie den Wisch hier, Herr Major?«

»Natürlich, ich dachte schon, er würde Sie interessieren, Herr von Lassenthin.«

»Zeigen Sie das Dings einmal her.«

Der Major nahm das Schriftstück aus seiner Tasche und überreichte es mit einem triumphierenden Blick auf mich dem alten Rauhbold.

Der Großonkel las sehr langsam, Wort für Wort. Einmal hob er über den Rand des Blattes seinen Blick zu mir, als wollte er mich etwas fragen. Ich war erschüttert von diesem Blick, nichts von Zorn und Anklage lag darin, nur tiefe, verzweifelte Trauer.

Er hatte zu Ende gelesen, er faltete langsam, wie in tiefen Gedanken, das Blatt. Aber statt es dem Major zurückzugeben, tat er drei Schritte, und das Papier flammte in dem Kamin auf. »So«, sagte er ruhig. »Damit ist Ihr Geschäft hier in Ückelitz erledigt, Herr Major. Wir Lassenthins waschen unsere schmutzige Wäsche immer im Hause.«

Der Major hatte einen ärgerlichen Ausruf getan, sich aber sofort wieder gefaßt. »Ich halte diese unüberlegte Tat Ihrem berechtigten Zorn zugute, Herr von Lassenthin«, sagte er glatt. »Im übrigen besitzen wir beglaubigte Abschriften dieser eidesstattlichen Erklärung.«

»Verstehen Sie mich denn nicht, Mensch?« schrie der Onkel und trat nahe auf den Major zu. »Ich sage Ihnen, Ihr Geschäft hier ist erledigt! Fahren Sie nach Haus.«

Aber der Major war kein ängstlicher Mensch. »Ich will Ihre Gefühle gern schonen, Herr von Lassenthin. Wenn mit der Frau oben alles glattgeht, will ich vorläufig auf Herrn von Strammin verzichten. Aber die Frau nehme ich mit, unter allen Umständen. Ich habe einen Haftbefehl gegen sie, und den führe ich auch aus.«

»Sie können keine Frau aus dem Kindbett ins Gefängnis stecken«, sagte Herr von Lassenthin finster.

»Ich habe einen bequemen Wagen hier, die Geburt liegt acht Tage zurück. Unser Gefängnisarzt erklärt einen Transport für möglich. Die Frau soll mit aller Schonung behandelt werden. Sie wird als Polizeigefangene ins Krankenhaus eingeliefert.«

»Unsinn«, rief der Rauhbold, »sie bleibt hier! Seien Sie kein Narr, Major, ich gebe sie Ihnen nicht. Wollen Sie sich mit mir schlagen? Sie würden den kürzeren ziehen.«

»Ich habe derartige Schwierigkeiten vorausgesehen«, sagte der Major lächelnd. »Allerdings nicht von Ihrer Seite, sondern von der des jungen Herrn hier. Nun, jedenfalls warten auf dem Hof vier meiner Beamten.«

»Und wenn vierzig warten!« schrie der Onkel. »Jeden, der über meine Schwelle kommt, schieße ich über den Haufen.«

»Das ist Widerstand gegen die Staatsgewalt, Herr von Lassenthin«, rief der Major eilig. »Überlegen Sie, was Sie tun!«

»Ich überlege mir nie, was ich tue«, schrie der Rauhbold. »Ich weiß, daß es eine Gemeinheit ist, ein Weib aus dem Kindbett ins Gefängnis zu stecken – und auf solche Anzeige hin!« Er nickte nach dem Kamin. »Sie sollten es nicht verlangen, daß Ihnen der Vater sagt, was der Sohn für ein Mensch ist!«

»Aber die Anzeige ist glaubhaft«, rief der Major. »Die Frau hat mir selbst zugegeben, daß sie keinen Beweis für eine legale Heirat besitzt.«

»Weil der Gregor ihr diesen Beweis unmöglich gemacht hat«, rief ich. »Aber wir werden den Beweis erbringen, geben Sie uns doch nur Zeit, Major! Frau von Lassenthin ist jetzt noch nicht in dem Zustand –«

Des Onkels Hand legte sich schwer auf meine Schulter. »In diesem Hause, Lutz«, sagte er, »wird von keiner Frau von Lassenthin gesprochen. Es gibt hier keine – noch nicht. Wahrscheinlich nie. Merke dir das! Aber du glaubst an diese Frau?«

»Wie an mich selbst. Wie an meine Ehre, wie an Gott!« rief ich.

»Er ist ein sehr junger Mann und sie eine sehr schöne Frau«, bemerkte der Major mit überlegenem Lächeln.

»Schön?!« rief der Großonkel. »Wie 'ne Kellerpflanze sieht sie aus, ohne Saft und Kraft. Und das nennen Sie schön?« Er wurde ein bißchen rot unter meinem lächelnden Blick. »Jawohl, mein Sohn, ich habe sie mir vorhin angesehen – ich wollte doch einmal sehen, was das zahme Stramminer Blut so rebellisch macht.«

»Ich bin auch ein halber Lassenthin, Großonkel«, sagte ich. »Und vielleicht mehr als ein halber.«

»Geben Sie mir die kleinste Handhabe«, rief der Major fast verzweifelt, »daß diese Frau eine verehelichte Lassenthin ist, und ich will sie auf Ihr Wort hierlassen, Herr von Lassenthin, bis der endgültige Beweis erbracht oder mißlungen ist!«

»Nun, Lutz?« fragte der Großonkel.

Ich entschloß mich, ich setzte mich zu ihnen an den Tisch und erzählte ihnen Catrionas Geschichte, wie ich sie von ihr gehört. Jetzt war der Moment dazu da, jetzt war es kein Vertrauensbruch mehr. Sie hörten mir beide schweigend zu und noch lange schwiegen sie, als ich zu Ende war.

Dann sagte der Major, sehr enttäuscht: »Ich glaube ihr schon, daß sie früher guten Glaubens war, vielleicht selbst jetzt noch. Aber ich fürchte, der Gregor hat sie 'reingelegt. Sie war ein ganz junges, ahnungsloses Ding, und er ...«

»War und ist ein Schweinehund!« ergänzte der Alte mit böser Stimme.

Und wieder schwiegen sie.

Dann fragte der Major: »Sonst wissen Sie nichts? Sie sind doch mit Gregor zusammengewesen, Herr von Strammin, er hat nie eine Äußerung Ihnen gegenüber fallengelassen?«

»Er hat sich gehütet! Aber dann fiel mir etwas ein. »Ich habe nach seiner Abreise das Zimmer durchstöbert«, gestand ich etwas beschämt. »Ich habe nichts Besonderes gefunden, nur eine Schreibunterlage, auf der ein Brief an Frau von –« mahnender Blick des Onkels –, »an seine Frau abgelöscht ist. Ich habe nur die drei ersten Worte, die Überschrift gelesen. Ich weiß nicht, was in dem Brief steht – wahrscheinlich gar nichts.«

»Hätte er den Brief«, sagte der Major nachdenklich, abgesandt, so wäre er mir in die Hände gekommen. Er hat ihn nicht zur Post gegeben, das kann beweisen, daß er ihn für kompromittierend hielt. Zeigen Sie die Unterlage her!«

Ich mußte sie von oben holen, sie steckte noch in meinem Reitjackett. Ich hatte sie all die Tage völlig vergessen. Ich brachte auch meinen vergrößernden Rasierspiegel mit. Der Major machte sich sofort an die Entzifferung, er las und notierte das Übersetzte. Wir sahen ihm schweigend zu.

Schließlich sagte er: »Es ist wirklich ein Brief, aber er ist nicht zu Ende geschrieben, er bricht mitten in einer Zeile ab. Das erklärt, warum der Brief nicht abgesandt wurde. Entweder erschien er dem Schreiber bedenklich, oder er hatte keine Zeit mehr, zu Ende zu schreiben.«

Herr von Lassenthin brummte. »Und was steht in dem Brief?«

»Sie sollen es sofort hören. Der Brief lautet so: ›Mein gutes dummes Käthchen‹«, fing er an zu lesen.

Der Großonkel brummte stärker. Ich sagte eilig: »Sie heißt gar nicht Käthe, sie heißt Catriona, er nennt sie bloß so, aus purer Gemeinheit. Und dumm ist sie nicht, ganz im Gegenteil, sie ist die klügste Frau, die ich je getroffen habe –«

Ich brach ab, denn die Herren lächelten sich jetzt schon gar zu sehr an.

»›Mein liebes dummes Käthchen‹«, las der Major wieder, »›ich fürchte, Du hast deine Reise umsonst gemacht, man ist zu phantasielos im Lande Pommern. Aber da Du schon einen Narren gefunden hast, und da nach einem alten Wort ein Narr viele macht, überlasse ich Dir erst einmal das Feld, nachdem ich Dich der Fürsorge der Justiz empfohlen habe. Wenn die Dich zur Vernunft gebracht hat, lasse ich vielleicht noch einmal mit mir reden, aber nur aus der Ferne, nur per Brief, und nur auf einer sehr bescheidenen Geldbasis. Du wirst einsehen, daß ein Dummerchen wie Du nicht an meine Seite gehört – ‹ Das ist alles«, sagte der Major, »und es ist wieder zuwenig.«

»Für einen Vater ist es genug, Herr Major«, sagte Herr von Lassenthin. »Er ist vor ihr geflohen, er scheut jede persönliche Auseinandersetzung mit ihr, er bietet ihr Geld. Wo bleibt da die Erpresserin, Herr Major?«

Der Herr von Brandau sah noch immer bedenklich drein, wenn sich auch seine Leidenschaft, unter allen Umständen zu verhaften, gelegt zu haben schien.

»Nein, Herr von Brandau«, fuhr der Rauhbold fort. »Sie werden heute gar nichts tun, Sie werden nicht einmal mit der Frau da oben sprechen. Ich stehe Ihnen für alles – mit meinem Wort. Sie warten – sagen wir noch vierzehn Tage. In diesen vierzehn Tagen wird dieser junge Mann hier die Unterlagen beschaffen, die nötig sind. Oder wird sie eben nicht beschaffen. Nach vierzehn Tagen haben Sie freie Hand. Abgemacht?«

Es gab noch einiges Hin- und Hergerede, aber schließlich gab der Major nach. Wir brachten ihn noch hinaus zu seinem Wagen, und was mich angeht, so sah ich mit einiger Beklemmung auf seine vier Helfer, die so bürgerlich zivil aussahen und einen so romantischen Beruf ausübten. Ich war aber froh, daß ich sie nicht näher kennenlernte, sondern daß sie fortfuhren.

»Ich habe noch eine Bitte, Herr von Brandau«, sagte mein Großonkel. »Schicken Sie mir den Geheimrat Gumpel, schicken Sie ihn mir heute abend noch!«

»Der Geheimrat soll schwer krank sein«, wandte der Major ein.

»Ich habe Sie nicht nach seiner Gesundheit gefragt«, rief der Rauhbold mit einem Rückfall in seine alte Grobheit. »Ich habe Ihnen aufgetragen, ihn hierherzuschicken! Er soll kommen, meinethalben in seinem Sarg, aber kommen muß er.«

»Ich will sehen, was sich tun läßt«, erwiderte der Major gekränkt. Es war ihm sichtlich unangenehm, vor seinen Leuten angeschnauzt zu werden. »Auf Wiedersehen, Herr von Lassenthin.«

»Ich danke für Ihr Wiedersehen!« brüllte der Rauhbold noch, und dann sahen wir beide dem fortfahrenden Wagen nach.

Der Großonkel faßte mich beim Jackett. »Höre, Lutz«, sagte er, »du wirst der Frau dort oben sagen, daß ich sie hier noch vierzehn Tage dulde, aber stillschweigend, verstehst du, ganz stillschweigend. Keine Weiberwirtschaft, nicht einen von diesen verdammten Unterröcken will ich sehen. Kein Geplapper, kein Juchzen, keine Briefe, kein Kindergeschrei ...«

»Was soll sie denn tun, wenn das Baby schreit?« fragte ich.

»Ihm den Hintern versohlen!« brüllte er. »Nur keine Pimpelei, wir Lassenthins sind alle nach Noten versohlt worden – vom ersten Tage an!« Er unterbrach sich. »Aber sie ist keine Lassenthin, verlaß dich darauf, Lutz, der Gregor war zu schlau für sie.«

»Und doch soll ich wegen der Unterlagen reisen?«

»Du sollst dich 'raufscheren! Laß dich heute nicht wieder sehen, bis ich dich rufe, du Erbschleicher!«

Es war ein langer, schwer erträglicher Nachmittag, den ich da oben bei Catriona verbrachte. Die Hitze war fast unerträglich, und von einem befreienden Gewitter ließ sich nichts sehen.

Catriona nahm meine Mitteilungen nicht ganz so auf, wie ich vielleicht doch erwarten durfte. Sie war der Ansicht, man hatte ihr einfach zu glauben. Sie war jetzt in Ückelitz, sie hatte den Erben geboren – es war einfach Frevel, an ihr und an ihm zu zweifeln.

Als sie hörte, daß eine standesamtliche Eintragung der Geburt erfolgen müsse, verlangte sie, daß wir sie sofort vornähmen, auch ohne Papiere. Wozu brauchte es da Papiere? So und so, wir müßten dem Mann nur sagen, was er einzutragen habe, und das hätte ihm zu genügen. Sie war so hartnäckig dabei, daß der Professor schließlich ging – wahrscheinlich war er froh, aus dem Krankenzimmer und seiner gereizten Stimmung fortzukommen.

Er kam nicht wieder, er war bestimmt gar nicht erst beim Standesbeamten gewesen. Dafür meldete Elias gegen Abend, daß jetzt der Geheimrat Gumpel eingetroffen sei. Ich wartete darauf, hinuntergerufen zu werden, und ich wäre froh gewesen, wenn man mich gerufen hätte; denn es war quälend, an Catrionas Bett zu sitzen. Jetzt wollte sie mir etwas sagen, sie quälte sich damit, und ich wußte gut, von wem sie mit mir sprechen wollte, und ich wünschte, man riefe mich.

Aber ich wurde noch nicht gerufen. Es wurde dunkler und dunkler, Stunde um Stunde verging. Die Nacht hatte keine Kühlung gebracht, das Kind schrie, ich ging hin und her, ich konnte nicht mehr sitzen.

»Setze dich doch, Lutz«, rief Catriona. »Laufe nicht so hin und her wie ein gefangenes Tier, es wird mir ganz wirr vor den Augen. Setze dich doch zu mir.« Ich setzte mich zu ihr. »Höre, Lutz«, fing sie wieder an. »Wenn du nun da unten hinfährst ...«

Sie brach wieder ab. »Ja, Catriona?« fragte ich.

Und sie, aber das war die Frage nicht, die sie hatte stellen wollen: »Kannst du eigentlich Italienisch, Lutz?«

»Kein Wort, Catriona. Doch: Makkaroni, Inamorata, Asti spumante ...«

Sie versuchte zu lachen. Dann: »Und wie willst du finden, was ich nicht finden konnte?«

»Ich weiß es nicht, Catriona. Ich denke, Gumpel wird mir einen Rat geben.«

Sie schwieg wieder. Plötzlich drückte sie meine Hand, schob ein Zettelchen hinein und drückte die Hand zu. »Du wirst in die Stadt kommen, Lutz«, sagte sie. »Ich habe dir alles aufgeschrieben, den Kirchhof, die Stelle von dem Grab. Ferdinand von Neuhaus, vierundzwanzig Jahre alt. Du wirst nach ihm sehen, Lutz, nicht wahr? Du wirst ihm Blumen von mir bringen? Vergiß es nicht, Lutz, er war mein getreuester Freund. Nie böse mit der törichten Catriona, nie ungeduldig ...«

»Oh, Catriona!« rief ich und nahm ihre Hand. »Ja, ich bin oft böse und ungeduldig mit dir gewesen. Ich dachte – aber jetzt ist egal, was ich dachte. Natürlich werde ich zu ihm gehen, zuerst werde ich ihn besuchen und ihm Blumen von dir bringen ...«

»Doch, Lutz«, flüsterte Catriona, »du hast doch richtig gedacht. Ich wollte auch von dem andern mit dir sprechen. Ich dachte, es wäre alles tot für ihn in mir, aber seit der Sohn da ist ... Sieh, Lutz, ich könnte ihn, ja nicht richtig liebhaben, den Erbprinzen, wenn ich von seinem Vater nur Schlimmes dächte. Es muß doch etwas Gutes in ihm sein, Lutz, auch in ihm.«

»Natürlich, Catriona«, stimmte ich ihr zu. »Es ist in jedem Menschen etwas Gutes.«

»Siehst du! Darum, wenn du ihn jetzt auf deiner Reise vielleicht triffst, sei nicht böse mit ihm! Sei milde um meinetwillen. Denke immer daran, daß er der Vater dieses Kindes ist! Willst du mir das versprechen?«

»Ich glaube nicht, daß ich ihn zu sehen bekomme, Catriona. Warum sollte er gerade dorthin reisen?«

»Du sollst mir ein Versprechen geben, Lutz, nichts sonst.«

»Ich verspreche es dir, Catriona. Wenn ich ihn sehe, werde ich immer an deine Bitte denken und den Erbprinzen.«

»Ich danke dir, Lutz.« Und dann saßen wir lange schweigend, bis mich Elias nach unten rief.

In der Höhle fand ich den Geheimrat Gumpel. Er lag auf dem riesigen Ruhebett des Rauhbolds, in Decken eingewickelt, und sah blaß und spitz aus. Aber seine Augen blickten mich so scharf an wie früher, und seine Stimme hatte den alten väterlichen Klang, als er sagte: »Und da haben wir also den untadeligen Ritter! Lutz, Lutz, ich habe dich noch so gewarnt, dich in diese schlimme Sache einzulassen, aber natürlich hast du nicht auf mich gehört!« Er machte eine Pause und sah mich spöttisch an. »Es ist doch gut«, sagte er dann, »daß die Jugend manchmal nicht auf den Rat des Alters hört. Einiges hast du doch geschafft.« Wieder lächelte er, dann wurde sein Gesicht ernst. »Aber ich fürchte, Lutz«, fuhr er dann fort, »deine Eltern werden nicht zufrieden mit dir sein, nicht mit dir und nicht mit mir. Was hast du für Nachrichten aus Strammin?«

»Keine, Herr Geheimrat«, sagte ich bekümmert. »Die Mama ist böse mit mir, und Papa wird nicht schreiben dürfen.«

»Dachte ich es mir doch!« entgegnete er lebhaft. »Aber das mußt du in Ordnung bringen, Lutz, ehe du reist. Sei nicht bockbeinig, höre dir ruhig an, was deine Mama zu sagen hat, und dann bitte sie um Verzeihung, auch wenn du dich im Recht glaubst. Das kann ein erwachsener Sohn ruhig für seine Mutter tun.«

»Ich will das gern, Herr Geheimrat. Aber ich fürchte, als erstes wird Mama verlangen, daß ich diese Reise aufgebe. Und was soll ich dann tun? Soll ich nicht reisen?«

»Ja, was soll ich da sagen?! Natürlich mußt du reisen, du bist wirklich der einzige, den wir auf diese Fahrt schicken können. Aber mit deiner Mama mußt du dich auch versöhnen, unbedingt. Ich rechne auf dich.«

Ich sah ihn fragend an.

»Ich weiß es jetzt, Lutz, nimm zum Abschied das Fräulein von Schalenberg mit. Die wird schon alles zurechtkriegen.«

»Ich weiß nicht, ob Fräulein von Schalenberg ...«

»Ist sie auch böse auf dich?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht.«

»Ach, Lutz, da mußt du dich ja mit noch jemanden versöhnen, ehe du fährst! Ich habe es immer gesagt: eine ganz schlimme Sache ...« Plötzlich lächelte er wieder. »Aber du wirst es schon schaffen, ich sehe es dir an der Nase an. Erst die Junge, dann die – Mama!« sagte er rasch. »Wer so aussieht wie du – in meinem ganzen Leben habe ich nicht eine Stunde so ausgesehen wie du alle Tage!«

Ich fühlte, daß ich rot wurde, und der scharfsichtige Geheimrat sah es vielleicht auch, trotz des schlechten Lichts.

»Aber nun wollen wir von unseren Geschäften reden. Herr von Lassenthin hat alles in meine Hände gelegt, aus denen ich es nun in deine lege. Wir haben viel Vertrauen zu dir, Lutz. Du mußt gut aufpassen, du darfst keinen Fehler begehen, unter keinen Umständen!«

Damit begann der Geheimrat Gumpel meine geschäftliche Unterweisung, die ich nur in aller Kürze hier wiedergebe.

Der alte Lassenthin hatte den Sohn wohl fortgeschickt, aber nur bis Berlin und mit wenig Geld. Schon war ein Brief Gregors eingetroffen, der um Geld bat. Dieses Geld nun sollte ich ihm bringen, aber nicht nur Zehrgeld für ein paar Wochen in Berlin. Sondern ich bekam – außer beträchtlichem Bargeld – in Wechseln und Anweisungen eine Summe von 250 000 Talern mit, ein Vermögen, die ganze Summe, die der alte Lassenthin seinem Sohn als Erbteil bestimmte. Diesen ungeheuren Betrag sollte ich dem Gregor aber erst dann geben, wenn er erstens auf einer mitgenommenen Urkunde rechtsgültig auf jedes weitere Erbe verzichtete, und wenn er zweitens den einwandfreien Beweis erbracht hatte, daß die Trauung stattgefunden hatte, oder daß es nie zu einer wirklichen Trauung gekommen war. Damit das Erbteil aber bis zu diesem Verzicht vor jedem Betrug und Raub sicher sei, sollten die Wechsel und Anweisungen erst gültig werden, wenn ich an einer bestimmten Stelle meinen Namen darauf gesetzt hatte.

»Du wirst«, sprach der alte Geheimrat, »wahrscheinlich mit diesem Mann in abgelegene Gegenden Italiens reisen müssen, selber der Landessprache unkundig. Von Räubern und Dieben fürchte ich für dich nicht viel, aber manches von diesem Gregor, der auf jede Weise versuchen wird, dich zu überlisten. Gib ihm kein Geld aus deiner Reisekasse, er muß als dein Gast, fast als dein Gefangener fahren. Hat er kein Geld, kann er dir nicht ausreißen, kann er nicht hinter deinem Rücken Streiche anzetteln. Sei wachsam – du wirst wenig Schlaf kriegen in den nächsten Tagen.«

»Ich werde schon aufpassen, Herr Geheimrat. Aber ich ahne nicht, wie er mir beweisen soll, daß er getraut wurde?«

»Wie er es dir beweist, das ist seine Sache. Ich werde dir jetzt erzählen, wie ein gültiger italienischer Trauschein auszusehen hat. Mach dir Notizen.«

Ich tat es, schließlich war ich sicher, daß ich mit einem gefälschten Schein nicht getäuscht werden konnte.

»Aber wie wird er beweisen, daß er nicht getraut wurde?«

»Wiederum seine Sache, aber auch da scheinen mir weder Beweis noch Nachprüfung sehr schwierig. Nach deinem Bericht ist diese, nehmen wir an, vorgebliche Trauung in einem ganz kleinen Gebirgsort erfolgt. Gregor muß Helfer und Mitwisser gehabt haben. Es ist sicher, daß nach so vielen Monaten einiges durchgesickert ist. Bestimmt wird der Geistliche des Ortes davon gehört haben, und da eine der heiligen Einrichtungen seiner Kirche mißbraucht wurde, wird er sehr geneigt sein, dir zu helfen. Du hast Geldmittel genug, du kannst dir einen Dolmetsch nehmen, auch aus der nächsten Stadt einen Anwalt zuziehen. All das hat keine so großen Schwierigkeiten. Die Schwierigkeiten liegen in Gregor, der auf jede Weise versuchen wird, diese Riesensumme in seine Hände zu bringen und doch all seine Ansprüche zu behalten. Ich habe es Herrn von Lassenthin sehr nahegelegt, es erst mit einem geringeren Betrag zu versuchen, auch für eine sehr viel geringere Summe würde Gregor sein Wissen verkaufen, davon bin ich überzeugt. Aber Herr von Lassenthin beharrt dabei: alles oder nichts! Er will nie wieder etwas von seinem Sohn hören, ihn nie wiedersehen!«

»Er denkt schon an den Erben dort oben. Er hat sich heute nachmittag hinaufgeschlichen, als alles schlief. Er hat ihn sich angesehen.«

»Ich weiß nicht, ob er sehr auf den Erben hofft. Ich fürchte, er ist voreingenommen gegen die junge Frau. Er wittert in ihr etwas Ähnliches wie seine verstorbene Frau, die er von Herzen gehaßt hat. Sie war auch keine Frau, sie war bloß ein armes Weibchen. Ist die Frau oben auch so etwas, Lutz?«

»Herr Geheimrat!« rief ich empört. Dann: »Entschuldigen Sie, Sie haben Catriona noch nicht gesehen. Sie ist die stolzeste und klügste Frau, der ich je begegnet bin. Keine Frau im ganzen Land hier kann ihr das Wasser reichen.«

»Auch Bessy nicht?«

»Bessy? Bessy ist ganz anders, zwischen Catriona und Bessy gibt es gar keinen Vergleich.«

»Nun«, sagte der Geheimrat und zog die Decke höher. »Du wirst dich vor deiner Abreise noch mit Fräulein von Schalenberg versöhnen, du weißt, du hast es mir versprochen, Lutz. Und nun packe vor meinen Augen noch alle diese Papiere in die braune Ledermappe hier. Diese Mappe muß in den folgenden Tagen dein ständiger Begleiter sein. Laß sie nie aus den Augen. Übrigens wird es gut sein, wenn du dem Gregor gleich zu Anfang sagst, daß die Anweisungen erst durch deine Unterschrift gültig werden. Das beugt vielem vor. Stecke nur einen Teil des Bargelds in deine Tasche, das andere tu auch in die Mappe. So, jetzt schließen wir ab. Verwahre den Schlüssel gut, ich werde viel an dich denken in den nächsten Tagen ...«

Ich sagte dem alten, treuen Berater so vieler pommerscher Familien, daß ich mein Bestes tun würde.

»Gute Nacht, Lutz, und gute Fahrt! Ich weiß nicht, ob ich dich morgen früh noch sehe, ich will lange schlafen. Ich bin jetzt doch sehr müde. Gute Nacht! Du kannst die Lampe und die Lichter ausblasen, heute nacht schlafe ich hier. Der Rauhbold kann sehen, in welche andere Höhle er kriecht.«

Aber der Rauhbold sah nicht so aus, als sei er schon schlaflüstern. Er saß allein auf der großen, düsteren Diele, eine einzige Kerze brannte vor ihm auf dem Tisch. Ihr Licht fiel auf sein großes, verwüstetes, trauriges Gesicht mit den weißen Bartzotteln, es fiel auch auf den schwarzen Kasten mit den silbernen Beschlägen.

»Bist du fertig mit dem Rechtsverdreher?« knurrte er. »Hast du den Auftrag angenommen? Schön, dumm genug bist du dazu! Glaubst du, da ist Ruhm zu holen? Denkst du, die da oben wird's dir danken? Schafskopf!«

Er lachte kurz auf. Dann sagte er noch grimmiger: »Ich weiß, er wird dich 'reinlegen. Ich rechne damit. Wenn's ihm gelungen ist, komm ruhig hierher, denke immer: Der Rauhbold hat's vorher gewußt, er rechnet's mir nicht zur Schande an. Ich kenne den Burschen doch!«

Er lachte wieder, in bitterer Selbstverhöhnung. Dann aber beugte er sich über den Tisch und sagte ganz nahe zu mir: »Aber das sage ich dir, springe nicht milde mit ihm um! Wenn ich höre, er hat dich 'reingelegt, das macht mir nicht viel. Aber wenn ich höre, du bist schlapp mit ihm gewesen, dann speie ich dich an!«

Er betrachtete mich drohend. Ich hatte nun schon die zweite Weisung, wie ich mit Gregor umzuspringen hatte. Catriona hatte Milde gefordert, dieser hier Härte. Aber auch dieser Weisung konnte ich nicht widersprechen, ich sagte nur: »Ich denke, es wird von ihm abhängen, wie ich zu ihm sein muß.«

»Hart!« schrie der Alte. »Hart wie Stahl. Keine Kinkerlitzchen, keine Fisematenten. Keine Mark ohne Gegenleistung! Und als letzten Ausweg den Kasten da. Er wird schon zittern, wenn er ihn nur sieht, er ist feige, ich weiß das. Und das sage ich dir«, schrie der Rauhbold immer wilder, »wenn ich höre, du hast dich umlegen lassen wie dieser schwachköpfige österreichische Baron, von dem du mir erzählt hast – ich fahre 'runter. Ich zertrample dein Grab, ich spucke drauf, das sage ich.«

Er sah mich einen Augenblick drohend an, dann sank er in seinen Stuhl zurück. »Da, nimm den Kasten. Mach, daß du nach oben kommst, du Weiberknecht. Du willst von all dem langhaarigen Gesindel noch Abschied nehmen, ich sehe es dir doch an. Die Bessy ist eben auch eingelaufen – weg mit dir!«

»Gute Nacht, Großonkel«, sagte ich. »Ich will sehen, daß ich Ihr großes Vertrauen rechtfertige.«

»Redensarten!« knurrte er. »Nichts wie blöde Redensarten. Da! Läßt er als erstes seine Mappe liegen, du fängst ja gut an, mein Junge! Na, lieber verliere die ganze Mappe, als daß du den Kasten vergißt ...«

Ich hörte ihn noch brummen und poltern, als ich schon im oberen Stockwerk war. Ich hatte wirklich einen schlechten Anfang gemacht, aber die Nachricht, daß Bessy jetzt in der Nacht noch gekommen sei, hatte mich so gefreut.

Eine halbe Stunde später stand ich mit Bessy am Fenster ihres Zimmers. Von dem Professor hatte ich mich schon verabschiedet, er hatte mir versprochen, solange ich fort war, in Ückelitz zu bleiben, als Gesellschafter für Catriona und den Rauhbold.

Jetzt fragte Bessy: »Du wirst doch Catriona noch Adieu sagen wollen?«

»Sie schläft jetzt fest, Bessy«, antwortete ich, »und eigentlich habe ich schon von ihr Abschied genommen.«

»Wollen wir dann jetzt reiten?« fragte sie. »Du kannst bei uns in Schalenberg übernachten und bist morgen zeitig in Strammin, um deine Sachen zu packen.«

»Werden mich deine Eltern gern als Gast sehen?« fragte ich, ein wenig besorgt.

Es war ganz dunkel im Zimmer, aber ich spürte doch, daß Bessy jetzt lächelte, als sie sagte: »Ich finde, Lutz, du hast in letzter Zeit so wenig auf die Gefühle deiner Umwelt geachtet, daß du dir wegen meiner Eltern wirklich nicht den Kopf zerbrechen mußt. Im übrigen schlafen sie längst, wenn du kommst, und werden noch nicht auf sein, wenn du abreitest.«

So war es auch. Erst lange nach Mitternacht kamen Bessy und ich auf Schalenberg an. Als wir die Pferde versorgt hatten, schlichen wir uns in die Speisekammer und taten uns an den Resten gütlich. Bei diesem improvisierten Mahl überraschte uns Bessys Bruder, der nach einem Schlaftrunk pirschte. Er war zuerst recht kühl und förmlich zu mir. Als er dann aber merkte, daß Bessy und ich im besten Einvernehmen waren, zog er wohl neunzig Prozent von dem über mich im Umlauf befindlichen Gerede ab und wurde ganz der gute Kamerad, der er mir immer gewesen war. Ich hielt ihn auch nicht zu kurz, sondern erzählte ihm ein bißchen von dem Auftrag, mit dem mich der alte Lassenthin in die Welt schickte – jede Diskretion war bei all dem Geschwätz, das im Gange war, doch Unsinn.

Er war ganz begeistert von meinem Auftrag. »Nimm mich mit, Lutz«, bat er, »meinetwegen als deinen Kammerdiener. Du brauchst bestimmt da oben in den Pyrenäen oder Abruzzen, oder wie das sonst heißt, einen Kammerdiener. Das weiß doch dort kein Aas, wie ein anständiger Schlips sitzen muß! Ich werde dir schon aufpassen helfen auf den Gregor. Ich habe den Kerl nie ausstehen können.«

Bessy überzeugte den Bruder nur schwer, daß er dem alten Schalenberg jetzt zu Beginn der Getreideernte unentbehrlich sei.

Am nächsten Morgen wurde ich schon um fünf Uhr geweckt. Ich bekam wirklich keinen von den alten Herrschaften zu sehen. Ein wenig enttäuschte es mich, daß Bessy mir in einem leichten Sommerkleid beim Frühstück Gesellschaft leistete, einem sehr hübschen Kleid übrigens, auf dessen gelblichen Stoff Blümchen gestreut waren. Aber ich hatte gehofft, sie im Reitkleid zu sehen. Natürlich sagte ich kein Wort, daß ich erwartet hatte, sie würde mit mir nach Strammin reiten. Das würde ja nach Angst vor der Aussprache mit Mama ausgesehen haben.

Als ich auf dem Alex saß, gab sie mir die Hand und sagte: »Also glückliche Reise, Lutz! Und ich wünsche dir viel Erfolg! Ich weiß, du wirst Erfolg haben.«

»Ganz so sicher wie du bin ich nicht, Bessy«, antwortete ich. »Aber ich will's ihm jedenfalls verdammt schwer machen, mich 'reinzulegen!«

Einen Augenblick schwiegen wir beide und sahen uns nur an. Es wollte mir nicht in den Kopf, daß dies der Abschied von Bessy sein sollte, dies und nichts weiter. Dann fragte ich unschlüssig: »Sag einmal, Bessy, geben sich Brautleute eigentlich keinen Kuß beim Abschied?«

»Ich weiß es nicht so genau«, sagte sie mit lachenden Augen. »Ich bin noch kein Brautleut. Aber wenn Euer Liebden vielleicht in Gnade meine Stirn mit Dero Lippen berühren wollen –?«

Und immer noch lachenden Auges hielt sie mir die Stirn hin. Mich aber gelüstete es nach ihren Lippen, und vom Alex gebeugt, suchte ich nach ihnen, die mir ständig auswichen. Sie trat hinter sich, und ich mußte mit dem Alex ihr nach, immer den Mund suchend – bis sie dem Fuchs plötzlich einen Schlag mit der flachen Hand gab, daß er erschreckend zurückfuhr. Ich wäre fast schmählich aus dem Sattel gerutscht.

Bessy aber, schon in der Tür des Hauses, rief: »Zieht hin, fahrender Ritter, und kommet Ihr heim und seid getreu gewesen, und habt Ihr alle Eure Feinde in den Sand geworfen, so soll Euch als Siegespreis ein Kuß von diesem Mund beschert sein!«

Damit klappte die Tür. Bessy war fort, und ich hielt allein und ein bißchen dämlich auf dem Hof und sah verlegen nach den Fenstern, ob wohl jemand dies gesehen habe. Als ich aber wirklich einen Stallschweizer sah mit dem Melkschemel in der Hand, setzte ich mich gerade und sah ihn herausfordernd an: Er solle sich nicht unterstehen, in der Szene eben etwas Ungewöhnliches zu finden!

So ritt ich ab.

Sie saßen wirklich alle drei beim Frühstück, als ich in Strammin eintraf: Mama, Papa und Mademoiselle Thibaut. Ich wurde etwas kühl, aber ohne Fragen aufgenommen und sogar von Mama zum Handkuß zugelassen. Gleich wurden für mich Spiegeleier mit Speck bestellt und kalter Aufschnitt befohlen, als sei ich als Verhungerter heimgekehrt. Unter dem kalten Aufschnitt gab's auch Kalbsbraten, und gleich mußte ich an die Heimkehr des verlorenen Sohnes denken.

Gesprochen wurde nur vom Wetter und wie weit wir mit dem Einfahren fertig würden. Papa schlug mir vor, mit ihm nach dem Frühstück ein wenig über die Felder zu reiten, und nun hätte ich ja sagen müssen, daß ich eine weite Reise vorhatte und nur gekommen war, um Abschied zu nehmen.

Aber Mama, die schon während des ganzen Frühstücks den fremden Anzug von Bessys Bruder Iorgnettiert hatte, sagte streng zu Fräulein Thibaut, sie möge sofort dafür sorgen, daß ein Bad für mich fertig gemacht würde, ich sähe ja abscheulich aus. Und ehe ich noch ein Wort hatte sagen können, war die Thibaut entschwunden. Ein Bad würde mir übrigens wirklich guttun, dachte ich und verschob die Aussprache bis nach dem Bade.

Als ich aber, aufs gründlichste gesäubert und schon stadtfein gekleidet, an Mamas Zimmer klopfte, antwortete mir keiner, und von dem Mädchen erfuhr ich, daß Mama mit Fräulein Thibaut fortgefahren sei, vermutlich auf einen Besuch in der Nachbarschaft. Auch Papa war nicht zu Haus. Fortgeritten. Wahrscheinlich aufs Feld.

Ich hatte eigentlich schon mittags fahren wollen, so daß ich am frühen Abend in Berlin war. Nun entschloß ich mich, am Abend zu fahren und Gregor am nächsten Morgen im Bett zu überraschen.

Ich ging auf den Boden und suchte mir einen schönen Lederkoffer von Papa aus. Nachdenklich sah ich auf meiner Stube die vielen bunten Hotelschilder an. Genova fand ich und Perugia und Roma, aber auch Paris und Marseille und Cannes, aber auch London. Ich überlegte, wohin mich meine Reise wohl führen würde, und ich dachte daran, daß dies meine erste Reise ins Ausland war, die ich allein machte, eigentlich meine erste längere Alleinreise überhaupt. Bisher war ich höchstens einmal zwei, drei Tage zur »Grünen Woche« in Berlin allein gewesen.

Dann fing ich langsam an, meinen Koffer zu packen. Ich fand es verdammt schwierig, die Hemden vor den Schuhen zu bewahren und die Anzüge so zu legen, daß sie nicht lauter Knitter und Falten wurden. Bisher hatte meist Mademoiselle Thibaut diese Arbeit für mich erledigt.

Am meisten Pein aber machte mir der Pistolenkasten des Onkels: Er war so eckig und unhandlich! Ich stopfte ihn mit Strümpfen und Schuhen fest, aber er störte immer wieder alle Symmetrie und Ordnung. Schließlich nahm ich ihn seufzend wieder aus dem Koffer heraus und legte ihn seufzend zu der Mappe mit den Papieren. Ich würde ihn in der Hand tragen müssen, und das war vielleicht auch gut so, obwohl mir Gregor sicher mit spöttischen Bemerkungen über meinen mörderischen Aufzug zusetzen würde.

Schließlich schlug ich den Deckel des Koffers zu, setzte mich darauf und erreichte mit ein bißchen Pressen, daß die Schlösser wirklich noch zugingen. Es war noch immer nicht Essenszeit, und so bummelte ich erst durch die Ställe, besuchte den Alexius und sah, daß er sich freute, wieder in seiner gewohnten Box zu sein. Dann setzte ich mich auf eine Bank im Garten und sah unser altes Haus an, das keine weitläufige Schloßgeschichte wie Ückelitz, sondern ein einfaches, langgestrecktes Herrenhaus im Fachbau war. Ich fand Strammin völlig in Ordnung. Ich wollte es gar nicht anders haben.

Und dann überlegte ich mir, wie Bessy und ich es uns wohl einrichten würden, wenn wir erst verheiratet wären, und wo die Eltern wohl wohnen würden. Worauf ich mich fragte, ob es überhaupt richtig wäre, Bessy zu heiraten. Schon waren meine Gedanken bei Catriona, und wieder fühlte ich diesen Zwiespalt in meinem Herzen, dessen ich nicht Herr werden konnte. Rasch dachte ich an meine Reise und an Gregor und an alles, was mir der Geheimrat und der alte Lassenthin gesagt hatten, und bei diesem Gedanken war ich noch, als der Gong zum Mittagessen rief.

Es traf mich sehr unangenehm, daß Mama Gäste zu Tisch mitgebracht hatte; dadurch wurde die notwendige Unterredung wieder aufgeschoben. Es waren zwar nur die beiden alten Fräulein Belau, die eine spindeldürr, die andere sehr rundlich, so ein Paar Nenntanten, aber beide schrecklich neugierig. In ihrer Nähe eine Unterredung zu führen, die notwendig unangenehm werden mußte, war nicht ratsam. Sie zogen die gewagtesten Schlüsse aus den geringsten Anzeichen und tratschten diese Schlüsse als gediegenes Gold von Haus zu Haus. Ich tröstete mich damit, daß es bis zum Abendzug noch lange hin sei und daß die beiden alten Tanten spätestens nach dem Kaffee abfahren würden.

Sie vergingen natürlich während des Essens vor Neugierde, etwas von meinem Abenteuer zu erfahren. Sie wagten aber vor den Augen von Mama keine direkte Frage, sondern mußten sich mit Bemerkungen begnügen, wie angestrengt ich doch aussehe und daß solch eine Beule auf der Stirn nur sehr langsam zurückgehe.

Mama kam mir recht seltsam vor, es sah aus, als habe sie geweint. Sie schaute mich – ganz ohne Lorgnette – mehrmals von der Seite an, als sei sie sehr traurig und ganz verwirrt über mich. Ich wußte mir das alles nicht zu deuten, aber ich sagte mir, daß Mama noch keinesfalls etwas von meiner Reise wissen könne. Vielleicht, sicher sogar, hatten ihr die beiden Tanten Belau schrecklichen Tratsch über mich erzählt.

Der Kaffee wurde gleich nach dem Essen genommen. Aber dann fuhren die Belaus nicht etwa ab, sondern Mama ging mit ihnen noch ins Dorf, um ihnen einen neu von ihr eingerichteten Kindergarten zu zeigen, in den die Frauen während der Erntezeit ihre Kleinsten bringen konnten. Ich ging Papa ins Billardzimmer nach und überlegte dabei, ob ich wohl mit meinen Eröffnungen bei Papa den Anfang machen sollte. Ich entschloß mich anders: Mit so etwas mußte ich vor die rechte Schmiede gehen, und die Schmiede hier im Hause war unbedingt die Mama. Papa würde mir doch nichts Endgültiges sagen, sondern mich an die Mama verweisen. So lehnte ich denn die angebotene Partie Karambolage ab und ging wieder hinauf in mein Zimmer.

Als ich dort aber eingetreten war, stand ich mindestens eine halbe Minute wie vom Donner gerührt. Das Zimmer sah ordentlich genug aus, es sah viel zu ordentlich aus – nach meiner ungeschickten Packerei!

Dem Zimmer fehlte nichts, aber mir fehlte viel, eigentlich alles: Koffer und Aktentasche und Pistolenkasten waren aus dem Zimmer verschwunden. Wirklich wie vom Donner gerührt – und plötzlich begriff ich Mamas verweintes Aussehen und ihre verwirrten Blicke. Vor Tisch, als ich im Garten gesessen, war sie auf meiner Stube gewesen, vielleicht um sich mit mir auszusprechen, und da hatte sie das alles gesehen, vor allem diesen verdammten Pistolenkasten mit dem Lassenthinschen Wappen. Sie hatte ihre Schlüsse gezogen, und sofort hatte sie gehandelt ...

Ich aber dachte daran, was sie alle von mir halten würden, von Gumpel bis Catriona, wenn meine Reise jetzt schon ein Ende fände, durch Mamas Ängstlichkeit, ehe sie überhaupt angefangen! Ich zitterte an allen Gliedern, wurde heiß und kalt, wenn ich an den vernichtenden Blick des Rauhbolds dachte, wie er mir den Rücken kehren und mich ohne ein Wort stehenlassen würde.

Wie ein Pfeil schoß ich hinunter. Ich stürzte in Mamas Zimmer, riß ihre Schränke auf, die Schübe – ich suchte wie ein Wahnsinniger. Ich stürzte weiter in der Eltern Schlafzimmer und verwandelte auch das in eine Wüste, immer diese Todesangst im Herzen, alles Vertrauen, meine Ehre verloren zu haben.

Ich fand nichts, und die Thibaut fiel mir ein. Ich raste hinauf in ihr Zimmer, prallte ohne Klopfen hinein und schrie: »Madeleine, wo hat Mama meine Sachen gelassen? Auf der Stelle sagen Sie es mir! Es geht um Ehre und Seligkeit! Madeleine, beste Madeleine –«

Plötzlich hatte ich Tränen in den Augen.

Die Thibaut war maßlos erschrocken, aber ich sah gleich, daß sie nichts wußte. Sie war auch, wie ich erfuhr, direkt nach der Ausfahrt auf ihr Zimmer gegangen und erst auf den Gong hinuntergekommen. »Aber es ist mir so«, meinte sie, »als sei die gnädige Frau nicht aus ihrem Zimmer, sondern aus dem Arbeitszimmer von Herrn von Strammin gekommen. Was fehlt Ihnen denn, Lutz?«

Ich nahm mir keine Zeit zum Antworten, ich lief zu Papa ins Billardzimmer. Er lag bäuchlings auf dem Tisch und machte gerade eine »Serie«.

»Papa!« rief ich. »Gib mir bitte sofort deine Schlüssel. Ich muß –«

Das Queue kiekste, der Ball lief leer. Einen Moment sah mich Papa ärgerlich an. »Da! Ich hätte die Serie bestimmt auf hundert gebracht, ich war schon auf siebenundsechzig!« Er besann sich aber sofort. »Meine Schlüssel, Lutz? Gern. Hast du dir etwa das Zigarrenrauchen angewöhnt – das wäre großartig! Oben im Zigarrenschrank stehen ganz leichte. Nach unten zu werden sie immer schwerer, bis zur Brasil.« Seine Hand kam leer aus der Tasche. »Wo habe ich denn meine Schlüssel? Ach, richtig, ich habe sie vor dem Essen der Mama gegeben, sie wollte was im Geldschrank einschließen.« Er sah mir ins Gesicht. »Stimmt was nicht, Lutz?«

»Doch, doch, Papa!« sagte ich und marschierte aus der Stube.

Ich sah den Geldschrank an, die Hände in den Taschen, Wut und Verzweiflung im Herzen.

Wir Strammins haben diesen Geldschrank immer nur »Das leere Grab« genannt und inniges Mitleid mit dem Einbrecher empfunden, der sich durch seine imponierenden Formen etwa verführen ließ. Meist enthielt er nichts als ein paar Akten.

Nun enthielt er all meine Ehre, und ich stand vor ihm, die Hände in den Taschen, und konnte nichts tun. Ich Esel – warum war ich nicht heute früh ohne ein Wort gefahren? Warum mußte ich noch nach Strammin? Kleider und Hemden und ein bißchen Waschzeug konnte man sich überall kaufen, und der Abschied von Mama? Pure Sentimentalität! Ich wußte es ja im voraus, daß Mama dagegen, dagegen, dagegen war. Und ich Rindvieh fuhr doch, ich, der Mann, der einen Gregor 'reinlegen wollte.

Ich hörte Stimmen auf dem Hof und ging hinaus. Ja, da war Mama, aber immer noch mit den alten Tanten Belau. Am Stall war kein Anzeichen zu entdecken, daß für sie angespannt wurde. Aber das kümmerte mich jetzt nicht mehr. Ich ging auf Mama zu und sagte ganz ungezogen mitten in ihr Gespräch hinein: »Ich muß dich auf der Stelle sprechen, Mama!«

»Das hat Zeit«, antwortete sie und warf nur einen flüchtigen Blick auf mich. »Du siehst, wie haben Besuch, Lutz.«

»Es hat nicht eine Minute Zeit, Mama. Dein Besuch wird gern warten.«

Ich sah's ihm wirklich an, wie gern er unsere Unterhaltung noch weitergehört hätte.

Mama machte es falsch. Sie wollte mich wie ein unartiges Kind behandeln. »Fi donc, Lutz!« sagte sie. »Wenn du in diesem Ton sprichst, antworte ich dir überhaupt nicht.«

Und sie wandte sich wieder zu den Damen Belau.

Ich folgte ihr auf dem Fuß. »Mama«, sagte ich, »wenn du jetzt nicht mit mir reden willst, so gib mir Papas Schlüssel. Ich muß sie auf der Stelle haben.«

Mama sah mich vernichtend an. Ich fühlte, sie war jetzt ebenso zornig wie ich. Sie griff aber wortlos in ihren Pompadour und reichte mir nach kurzem Suchen Papas dickes Schlüsselbund. Ich war ganz verblüfft, als ich es in den Händen hielt. So leicht hätte ich es mir nicht gedacht. Nie im Leben hätte ich geglaubt, daß Mama so schnell einlenken würde. Verwirrt und gerührt sagte ich: »Ich danke dir sehr, liebe Mama ...«

Sie sah mich vernichtend an. »Ich schäme mich für dich, Lutz. Wahrhaftig, ich schäme mich.«

Und wandte sich wieder den beiden alten Tanten zu.

Ich aber lief zurück in Papas Zimmer. Noch im Laufen suchte ich nach dem Geldschrankschlüssel, einem großen, flachen, vielfach gezackten Geldschrankschlüssel, den ich genau kannte. Aber erst als ich am Schloß des Schrankes herumfingerte, merkte ich, was nicht stimmte: Der Geldschrankschlüssel fehlte. Wohlweislich hatte Mama den Geldschrankschlüssel entfernt. Darum hatte sie mir das Schlüsselbund so kampflos überlassen.

Als ich das begriffen hatte, war ich keiner Überlegung mehr fähig. Ein wilder, rasender Zorn erfüllte mich. Später ist mir klargeworden, daß in diesem Augenblick das wilde, aufrührerische Lassenthinsche Blut alle Stramminer Sanftheit und Wohlerzogenheit in mir überschwemmte. Ich war mit drei Sprüngen an Papas Gewehrschrank. Ich nahm mir nicht einmal die Zeit, aufzuschließen. Ich schlug die Scheibe ein, packte eine Büchse, lud aus der Patronenschachtel und schoß.

Ich schoß direkt auf den Geldschrank, der Schuß krachte, ich hörte die Kugel anschlagen und dann schlaff zu Boden klatschen.

Ich lud wieder, ich hob die Büchse und schoß direkt in den großen, mit vielen hundert Glasflittern behängten Lüster. Es klirrte und prasselte ...

Ich lud wieder, ich schoß wieder ...

Ich hörte Schreien, Laufen. Ich sah Gesichter in der Tür, schreckensbleich. Ich brüllte: »Komm hier keiner 'rein, ich schieß alle über den Haufen! Ich will den Schlüssel haben, schmeiß einer den Schlüssel 'rein!«

Und wieder schoß ich. Ich muß schrecklich ausgesehen haben, das von meiner zerschnittenen Hand laufende Blut hatte ich mir beim Schießen ins Gesicht geschmiert – es traute sich wirklich keiner herein.

Doch – plötzlich war Mama im Zimmer. »Nimm die Büchse 'runter, Lutz! Bist du wahnsinnig?«

»Den Schlüssel!« schrie ich. »Erst meinen Schlüssel!«

»Du bekommst den Schlüssel nicht! Ich lasse mir meinen einzigen Jungen nicht totschießen!«

»Ja!« schrie ich. »Das willst du, daß er sich selber totschießt! Den Schlüssel, Mama, oder so wahr mir Gott helfe –«

»Schwöre nicht!« sagte Mama. »Schwöre dich nicht um dein Leben! Ich kann dir den Schlüssel nicht geben: Ich habe ihn in den Teich geworfen!«

»Dann, Mama«, sagte ich, »dann bin ich verloren!«

Ich ließ die Büchse sinken und starrte sie an. »Aber du lügst, Mama. Ich sehe es dir an. Du hast den Schlüssel versteckt, gib mir den Schlüssel!«

Mama ging erst zur Tür und schloß sie. Dann kam sie zu mir zurück. »Habe ich dich je belogen, Lutz? Ich habe den Schlüssel in den Teich geworfen, weil ich Angst hatte, du würdest mich doch weichmachen. Und ich will nicht, daß du auf diese Reise gehst. Du brauchst mir nichts zu erzählen, ich habe alles erraten. Ich kenne doch den Rauhbold – . Jetzt braucht er dich, und wenn er dich ausgebraucht hat, wirft er dich weg, er denkt nie wieder an dich. Er denkt immer nur an sich! Und Gregor, er hat wegen dieses Frauenzimmers schon einen Menschen erschossen; ich will nicht, daß mein Sohn wegen ihrer schmutzigen Geschichten fällt!«

Ich hörte gar nicht auf Mama. Ich überlegte, ich rechnete. Ich wußte, in Stralsund war niemand, der solch einen Schrank öffnen konnte. Man mußte jemanden aus Berlin holen, man mußte selber hinfahren und solch einen geschickten Mann suchen. Oder man mußte sich an die Fabrik wenden, die im Rheinland war. Tage würden vergehen, und während dieser Tage würde der geldlose Gregor sich wieder an den Vater wenden, nach Ückelitz kommen: Es würde klarwerden, daß ich schon im ersten Anfang versagt hatte.

Mama hatte aufgehört zu reden und sah mich schweigend an. Nun, als ich sie ratlos anstarrte, sagte sie: »Nimm es nicht so schwer, Lutz. Verzeih mir, ich mußte es tun. Ich bin deine Mutter, und du bist mein einziger Sohn. Ich bin immer so stolz auf dich – Lutz, lieber Lutz, sage mir ein Wort! Nur, daß du versuchen willst, mich zu verstehen. Ich will morgen früh zum Onkel Lassenthin fahren, ich werde ihm alles erklären, ich werde die Schuld auf mich nehmen –«

»Gute Nacht, Mama«, sagte ich. »Das alles hilft nichts mehr.«

Ich ging aus dem Zimmer. Draußen stand Madeleine bei Papa, der sehr bleich aussah.

Papa trat auf mich zu: »Lieber Junge, wenn ich dir irgendwie helfen kann ...«

»Nein, Papa, du kannst mir auch nicht helfen ...«

Ich ging auf den Hof, stand einen Augenblick unentschlossen und wandte mich zum Stall. Alex wieherte, als er mich sah, aber ich mochte ihn nicht schon wieder reiten. Ich wählte mir den Cassiodor, einen halben Verbrecher, bodenscheu und stockig, der kam mir gerade recht.

Ich war noch beim Satteln, als Papa kam. »Lutz«, sagte er. »Ich habe mit Mama gesprochen. Ich bin nicht ihrer Ansicht. Du bist ein Mann, du mußt über dich selbst entscheiden.«

»Mama hat schon entschieden, Papa.«

»Glaube das nicht, Lutz. Ich lasse jetzt den Teich abfischen. Mama hat mir die Stelle gesagt, von wo sie den Schlüssel warf.«

Eine kleine Hoffnung wollte sich in mir regen, aber sie verging gleich wieder. »In dem grundlosen Schlammloch wollt ihr einen Schlüssel finden, Papa? Nie!«

»Wir werden ihn finden, Lutz«, sagte Papa feierlich. »Und wenn es die ganze Nacht dauert, wir suchen mit Fackeln. Horch, da kommen schon die Leute, ich muß hin, Lutz.«

»Ich danke dir jedenfalls sehr, Papa«, sagte ich und führte den Cassiodor aus dem Stall. »Es wäre schön, wenn du Erfolg hättest, aber ich glaube es nicht. In dieser Sache sind alle gegen mich, sogar meine Mutter.«

»Nicht ich, mein Junge, nicht ich. Ich bin vielleicht kein sehr großer Streiter, sicher nicht, aber ein getreuer Freund. Ich werde den Schlüssel finden. Und das versprichst du mir, Lutz, du wirst nichts Endgültiges beschließen, ehe du mich noch einmal morgen früh gesprochen hast?«

Ich saß auf dem Gaul. Ich überlegte. Dann sagte ich: »Ich verspreche es dir, Papa.«

Und ritt ab.


 << zurück weiter >>