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5

Ich wohne einem Kampf bei, soll festgenommen werden und gewinne einen Bundesgenossen

 

Es war noch völlig heller Tag, als ich wieder auf den Markt trat. Das berührte mich seltsam; obwohl wir auch drinnen am Fenster bei vollem Tageslicht gesessen hatten, war in mir das Gefühl, als habe sich die Unterredung eben in tiefem Dunkel abgespielt. Aber es war noch immer heller Frühsommer draußen, ein schöner, lichter Juniabend. Tief aufatmend stand ich da und fühlte stolz, daß ich zum erstenmal ein Stück Mann gewesen war, kein dummer Junge mehr in jedes andern Hand!

Ich ging rasch weiter und kam noch rechtzeitig auf die Post, einen Brief an die Eltern zu schreiben. Heute, da ich dies niederschreibe, liegt dieser alte Brief mit der unfertigen, hastigen Schrift vor mir. »Liebe Mama, lieber Papa«, heißt er, »ich werde vielleicht einige Zeit von zu Hause fortbleiben müssen, in einem dringenden Auftrag, dem ich mich als Ehrenmann nicht entziehen konnte. Was auch immer über mich geredet wird, denkt daran: Ich muß es tun als Ehrenmann. Mein Gegner ist Gregor von Lassenthin, das wird Euch alles sagen. Macht Euch keine Sorgen. Ich küsse Dir die Hand, Mama. Lieber Papa, das Geld für die Weizenlieferung hat G. v. L. Euer Sohn Lutz.«

Es konnte wohl kaum ein ungeschickterer Brief geschrieben werden, jedenfalls keiner, der meinen Eltern mehr Sorge zu bereiten imstande war. Ich aber hielt ihn für ganz ausgezeichnet, mangels jeden Details schien mir der Hinweis auf meine Ehre völlig genügend. Ich übergab dies Schriftstück dem diensttuenden Beamten, empfahl höchste Eile bei der Beförderung und ging mit dem Gefühl, ein gutes Stück Arbeit geleistet zu haben.

Zwanzig Minuten später stand ich schon wieder vor der Tür der »Drei fidelen Tranjacken«, diesmal aber war das Gefühl gut getaner Arbeit schwächer. Es war mir doch, als wehe eine leichte Brise, der Fischer Rickmers aber hatte geschworen, es wehe nicht so viel Wind, eine Feder zu pusten! Freilich, der Rickmers hatte da ganz fidel im Kreise anderer fideler Tranjacken gesessen, und ich war noch so töricht gewesen, ihm im Bewußtsein meiner Schuld einen Zwanzigmarkschein als Abschlagzahlung auszuhändigen! Ich ärgerte mich wieder einmal über mich selbst. Wahrscheinlich würde es ein gut Stück Arbeit kosten, den Rickmers in ein oder zwei Stunden von seinem Liegeplatz freizuholen. Nun, schließlich konnten diese Fischer unglaubliche Mengen Alkohol vertragen, und ob ich um Mitternacht oder erst um zwei Uhr morgens in Hiddensee eintraf, war egal, Catriona schlief (hoffte ich).

Was aber machte ich solange mit mir? Essen war eigentlich auch wieder fällig, aber ich hatte keine rechte Lust, essen zu gehen. Von jeher waren meine beiden Eßlokale in Stralsund entweder der »Halbe Mond« oder der Ratskeller gewesen, in keines von beiden mochte ich jetzt gehen. Weder sehnte ich mich nach Herrn Ericke noch nach dem ältesten Strasen-Sohn aus Groß-Ellerau. So bin ich denn aus reiner Langeweile, weil ich zwei Stunden lang nichts mit mir anzufangen wußte, auf den Professor Marcelin Arland vom Königlichen Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium von Stralsund geraten. Ich hatte ja einen Auftrag an ihn, und als ich heute mittag meine Satteltaschen auf Hiddensee durchgesehen hatte, hatte ich ganz gedankenlos oder vielleicht auch mit sehr viel Vorbedacht das Briefpäckchen der Madeleine Thibaut in meine Tasche gesteckt. Davon konnte mein angeknacktes Gewissen nur profitieren.

Die Briefe hatte ich also, und den Professor würde ich schon finden. Wenn ich beim Weizen meine Pflicht nicht erfüllt hatte, dieser Auftrag sollte erledigt werden! Es war aber schließlich gar nicht so leicht, den Professor zu finden. Er wohnte nämlich, wie ich nach manchem Fragen erfuhr, in der Vorstadt nach Richtenberg zu, wo die Häuser damals noch einzeln in kleinen Gärten standen. Der letzte, den ich um den Weg fragte, war ein lang aufgeschossener Junge mit einer bunten Schülermütze auf dem Kopf, ein Sekundaner oder Primaner. Erst nach einigem Zögern wies er auf meine Frage nach dem kleinen, bläulich getünchten Haus, das in einem ziemlich verwilderten Garten lag.

»Kennen Sie den Professor?« fragte er mich. »Wollen Sie länger bei ihm bleiben?«

»Weder kenne ich ihn, noch habe ich die Absicht, bei ihm zu verweilen. Warum aber, Jüngling, diese Frage?«

Er lachte ein wenig verlegen. »Och! Wenn Sie doch gleich wieder weggehen, kann's Ihnen ja egal sein!«

»Vielleicht bleibe ich aber doch länger, schon um zu erfahren, was hier los ist.« Denn es war mir aufgefallen, wie vielen bunten Mützen in allen Farben ich während der letzten fünf Minuten begegnet war. Überall drückten sie sich in den Zaunecken und hinter Gartenhecken herum, ganz als hielten die oberen Klassen des Gymnasiums hier eine abendliche Felddienstübung ab.

»Wenn's dunkel wird, gehen Sie lieber«, meinte der Jüngling. »Der Arland hängt nämlich bei uns im Großen B. V. – wenn Sie überhaupt wissen, was das ist«, setzte er mit einer leichten Dosis mitleidiger Verachtung hinzu.

»O doch, den Großen Bierverschiß kenne ich schon«, antwortete ich, und mein Besuch bei Professor Arland war mir plötzlich viel interessanter geworden.

Es wurde schon leicht dämmrig, als ich mich von meinem freundlichen Primaner verabschiedete und der Gartenpforte des Häuschens näherte. Ich legte schon die Hand auf die Klinke, als mich eine aufgeregt flüsternde Stimme anrief: »Rühren Sie die Tür nicht an, mein Herr, s'il vous plaît! Ich habe sie mit Schwarzpulver geladen und eine tüchtige Kartusche daraufgesetzt!«

Ich lugte nach dem Sprecher aus, ich ahnte ihn in der Gegend des Hauses, wenn auch nicht in ihm. Aber er war so gut versteckt, daß ich nicht eine Spur von ihm zu sehen bekam. »Es tut mir leid, Herr Professor«, rief ich ins Ungewisse, »wenn ich Ihre Verteidigungsmaßnahmen stören muß. Ich bringe Ihnen ein Päckchen von Fräulein Madeleine Thibaut, mein Name ist Ludwig von Strammin.«

Der andere mußte sich näher geschlichen haben; wenn ich ihn auch noch immer nicht sah, hörte ich doch ganz dicht bei mir ein Prusten, genauso wie ein Kater losprustet, der überraschend auf einen Hund stößt. Einen Augenblick blieb alles stumm, dann rief die Stimme: »Werfen Sie's über den Zaun, ich werde es mir dann schon aufsammeln!«

»Wie werde ich!« rief ich empört. »Wirft man denn die Briefe junger Damen auf Gartenwege, damit sie im Kampfgetümmel womöglich zertreten werden? Ich muß mich sehr über Sie wundern, Herr Professor!« Und höflicher setzte ich hinzu: »Außerdem habe ich den dringenden Wunsch, Sie von Angesicht zu Angesicht kennenzulernen.«

»Aber ich ziehe Sie in meinen Kampf hinein«, antwortete der Professor ganz nahe. »Keine zehn Minuten mehr, und die barbarischen Horden werden mein Sanssouci berennen!«

»Wir Strammins waren immer für Kampf zu haben, wenn es nur für eine gute Sache war«, gab ich zurück. »Unter dieser Voraussetzung will ich gern Ihr Waffenkamerad werden!«

»Was hat Ihnen denn der Lange mit der Brille gesagt?« fragte der unsichtbare Professor weiter.

»Nur, daß Sie im Großen B. V. seien.«

»Stimmt!« lachte der Professor. Sein Lachen klang aber ganz wie das triumphierende Krähen eines Hahnes. »Weil ich ihnen nämlich arglistige Fallen bei den Arbeiten gestellt haben soll und dadurch ihre Ferien-, Zeugnis- und Versetzungsaussichten geschändet. Nun, Fallen habe ich ihnen wohl gestellt, aber nicht eine, die nicht ein leidlich offener Kopf wie die Pest gemieden hätte. Aber es hat eben keine offenen Köpfe, dieses pommersche Landgemüse!«

»Oho, Herr Professor!« rief ich. »Auch ich bin ein pommersches Landgemüse, und hoffe doch, nicht auf den Kopf gefallen zu sein! Treiben Sie es nicht so, daß ich mich noch vor Beginn der Feindseligkeiten Ihren Gegnern anschließe. Ihre Siegesaussichten könnten stark gemindert werden!«

»Sie sollen mir kommen!« kicherte der Unsichtbare. »Ich werde sie schon in die Flucht schlagen, ich allein, Marcelin Arland, gegen beide Primen, beide Sekunden und die Obertertia auch noch! – Geben Sie mir die Hand, Herr von Strammin!«

Aus der Schneebeerenhecke an meiner Schulter tauchte plötzlich eine zarte, kleine Hand, fast wie eine Kinderhand, auf. »Springen Sie über den Zaun, und zwängen Sie sich durch die Hecke – hier kommen Sie durch!«

Ich tat, wie mir geheißen, und während ich sprang und mich zwängte, ertönte hinter mir ein sowohl rauhes wie wildes Geschrei. Im buschigen Halbdunkel hinter der Hecke stand ich vor einem Mann, der kaum größer war als ein Kind, sehr modisch gekleidet, in den zartesten Farben, mit den kleinsten Händen und Füßen, die ich je an einem Mann gesehen habe. Das Seltsamste an ihm war aber sein viel zu großer, völlig eirunder Kopf, dessen ungewöhnliche Form noch durch einen gepflegten schwarzen Kinnbart unterstrichen war. Augen voll Feuer und Witz funkelten mich an, als der Professor sagte: »Hören Sie dies Geschrei, diese Wilden! Ja, schreien können sie, diese Klötze – wie aber werden sie erst schreien, wenn ich sie empfange!« Er machte mir eine Art höfischer Reverenz. »Herr von Strammin, ich bedaure außerordentlich, Sie nicht gebührend empfangen zu können. Aber dies ist die Stunde des Kampfes. Ich kann Sie nicht einmal in mein Haus bitten, ich werde Ihnen etwas verraten: Ich habe die Dielen des Flurs ausgesägt, sie werden einen Sturz in den dunklen Keller tun, die Guten.«

Und er krähte wieder vor Lachen.

»Ja«, rief ich, »leben Sie denn schon länger in diesen kriegerischen Zuständen, Herr Professor?«

»Seit der Osterversetzung, genauer, seit der Osternichtversetzung«, antwortete der Professor. »Und jetzt wollen sie es noch vor den großen Ferien erzwingen. Sie wollen in mein Sanssouci eindringen, die Hefte zerfetzen, meine Zeugnisnotizen zerstören, mich vertreiben. Es ist ein wildes Geschlecht«, sagte er ernsthaft, »aber wir werden schon miteinander fertig. Heute bringe ich's zur Entscheidung.«

»Aber was sagt man denn auf der Schule dazu?« rief ich verblüfft. »Was sagt das Kollegium der Lehrer, der Herr Direktor?«

Professor Arland prustete wieder wie der Kater vor dem Hund. »Ich bin kein Schulfuchs, Herr von Strammin«, sagte er verächtlich. »Weder ich noch meine Gegner nehmen zu so feigen Hilfsmitteln ihre Zuflucht. Dies ist ein Kampf, der zwischen uns allein ausgetragen wird. Aber«, unterbrach er sich mit der vollendetsten Höflichkeit, »so angenehm mir auch diese Unterhaltung mit Ihnen ist, die Stunde des Redens ist vorbei, und die Stunde des Kampfes hat geschlagen. Ich bin tatsächlich in Verlegenheit, was mit Ihnen beginnen, Herr von Strammin!«

»Nehmen Sie mich in die Schar Ihrer Streiter auf, Herr Professor«, bat ich.

»Ich sehe keine Möglichkeit«, antwortete Arland bedauernd. »Es ist alles aufs kleinste vorbedacht – für mich. Dürfte ich Sie bitten, vorläufig in die Gabel jenes Birnbaums zu steigen? Vielleicht findet sich in einem späteren Augenblick Gelegenheit für Sie, in das Gefecht einzugreifen. So, es geht ganz bequem. Recht so, sich jetzt dort an dem großen Ast hochziehen! – Sitzen Sie gut? – Vorzüglich! Ich muß Sie jetzt eine Weile sich selbst überlassen. Ich eile, die Zündschnüre anzustecken.«

Er war kaum im immer tiefer werdenden Dämmer verschwunden, als eine Baßstimme vom Gartentor her schrie: »Professor! Professor!«

»Nun, was wollen Sie?« ertönte kriegerisch des Professors Stimme.

»Schmeißen Sie den Fremdling jetzt 'raus, oder er gerät mit in Ihre Schlamastik!«

Die tiefe Stimme hatte bei den letzten beiden Worten merklich »gekiekst«, wie die Billardspieler sagen, sie war in einen schneidenden Diskant umgeschlagen.

»Häh!« krähte der Professor triumphierend. »Ich kenne Sie, Rapoldi! Nicht einmal über Ihre Stimme haben Sie Gewalt, wie denn über Ihren Holzkopf! Zurück, Bursche, oder ich zerschmettere dich!«

Zugleich fing es auf dem Gartenweg an, feurig zu spucken und zu hüpfen.

»Frösche!« sagte der Erwischte verächtlich. »Sextanerfrösche! Wenn Sie nichts Besseres zu bieten haben, Professor! Aber das sage ich Ihnen, das Blut dieses Fremdlings komme über Ihr Haupt, wir kennen keine Schonung! Hugh, ich habe gesprochen!«

Ein Kanonenschlag donnerte los! Der Professor krähte noch einmal, und alles wurde still. Dann sah ich von meinem hohen Sitz ein paar Gestalten an der Gartenpforte auftauchen. Sie mochten der Stille nicht trauen, sie zögerten, tuschelten miteinander, andere gesellten sich dazu, nun war es schon ein ganzer Haufen.

Ich hörte eine Stimme: »Quatsch, Mensch! Was soll er denn vorhaben? Der kann gar nichts machen!«

Und der gespaltete Baß des Knaben Rapoldi rief herausfordernd: »Wir werden den Eierkopf an unserm Marterpfahl rösten!«

Vielleicht war es derselbe Rapoldi, der die Gartenpforte geöffnet hatte. Ich hörte sie knarren. Im selben Augenblick verwandelte sich der Garteneingang in eine feuersprühende Hölle. Zwei, drei Pulvertöpfe knallten auf einmal los! Hell beleuchtet stand die Gruppe der Pennäler, wich zurück, murrte, andere drängten vor ...

»Ich sehe euch alle!« krähte Professor Arland, irgendwo aus der verwachsenen Wildnis seines Gartens, »Rapoldi, Hölscher, Marcks, Zöberlein, Braun – wie es sich gebührt, die Büffelköpfe voran! Nur mutig los, Jungens!«

»Ich sehe ihn!« schrie eine Stimme. »Los!«

Und sie drangen in den Garten.

Eine Rakete zischte gen Himmel, zwei, fünf, zehn ... Wie die Jungens verrenkte ich mir den Hals nach ihnen, vergaß den Angriff, sah sie zerplatzen am sanfthellen Abendhimmel und feurige Leuchtkugeln ausstreuen. Und schon begannen sich längs des Gartenweges auf die Haustür zu farbige Feuerräder zu drehen, bengalisches Licht flammte auf, Knallfrösche hüpften ...

Wenn der Professor vielleicht kein einwandfreier Lehrer der Jugend war (nach Ansicht des Lehrkörpers), ein einwandfreier Pyrotechniker war er gewiß. Den Angriff der Jungen hatte er vollständig zum Stehen gebracht, sie starrten, tuschelten, einer rief: »Das ist reine Feigheit! Mit seinem Feuerwerk hetzt er uns die Polizei auf den Hals! Die ganze Nachbarschaft liegt schon in den Fenstern!«

Und das mußte wahr sein, in den verstreut liegenden Häuschen ringsum waren alle Fenster hell, bis in meine Astgabel hörte ich Rufen, Lachen, wohl auch Schimpfen ...

Das letzte Feuerrad hatte ausgedreht, dunkel war der Garten, ich sah den dicken Ballen Schüler lautlos auf dem Weg. Noch immer schienen sie unentschlossen, sie tuschelten kaum, einer neuen Überraschung gewärtig.

Wahrhaftig, sie blieb nicht aus. Bis dahin hatte das Haus still und dunkel gelegen, ich sah hinein in einen matt erleuchteten, bürgerlich eingerichteten Flur mit Schirmständer, Garderobe, Spucknapf ... Ein Phonograph fing an, das alte Spottlied zu quäken: »Malbrough s'en va-t-en guerre, miroton, miroton, mirotaine! Ne sait, quand reviendra!« Ich spähte mit scharfen Augen, aber von der vorbereiteten Falle konnte ich nichts entdecken, meinte ich doch, den Fußboden zu sehen!

All dies hatte nur zwei, drei Sekunden gedauert, da stürmten die ersten Jungen schon mit einem Wutgeschrei auf das Haus los! Einen Augenblick zögerten sie auf der Schwelle, wurden vorwärts gedrückt – und sie stürzten schreiend in die schwärzliche Tiefe, von der ich nichts sehen konnte. Andere Jungen wurden nach vorn geschoben, stürzten, verschwanden – nun gab es eine Stockung. Das Geschrei der Gestürzten schwoll an, und direkt unter meinem Birnbaum tauchte der Professor auf, eine dunkle Schlange hinter sich drein schleppend.

Der Wasserstrahl stob in den Rücken der noch Zögernden, viele waren es nicht mehr. Sie schrien, der Professor richtete zielsicher den Strahl in erschrocken umgewandte Gesichter, einige stürzten noch in die Tiefe, andere flohen lautlos – . Das Chaos unter ihnen war perfekt.

»Dies ist vollbracht«, sprach der mutige Kämpfer zu mir im Birnbaum. »Wenn Sie sich jetzt wieder herabbemühen wollen, Herr von Strammin?«

Er streckte mir hilfreich seine Händchen hin. »Sie haben sich selbst übertroffen!« rief ich und sprang vom letzten Ast. »Sie haben überhaupt alles übertroffen.«

»Es war eine geringe Kunst«, wandte der Professor ein, nach dem Siege bescheiden. »Ich hatte alle Zeit, meine Vorbereitungen zu treffen, und sie sind einfallslose Knaben. Sie dachten, es mit der Menge und mit der rohen Gewalt zu schaffen. Das nächstemal werden sie gelernt haben, daß man Schlachten mit dem Kopf gewinnt. Kommen Sie, wir wollen noch ein Wort mit den Gestürzten reden.«

Sie hatten sich zum größten Teil schon selbst befreit, die letzten stiegen bereits an hilfreichen Händen aus dem Loch.

»Nun, meine Herren?« fragte der Professor, und nun krähte er doch wieder siegestoll. »Hat sich keiner von Ihnen einen Schaden getan? Kein zerbrochener Knöchel, kein verstauchter Arm?« Verneinendes Gemurmel. »Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß ich keine Kosten gescheut habe, sogar der Erwerb von drei Zentnern Heu zur Auspolsterung des Kellergewölbes wurde nicht gescheut. – Hat jemand von euch Verwendung für Heu?«

»Ich habe Karnickel!« rief einer.

»Ausgezeichnet! Lindenberg, nicht wahr?« Lindenberg brummte. »Sie werden sich also das Heu in den nächsten Tagen holen. Als Gegenleistung rechne ich auf die Anlieferung von Dielenbrettern. Soviel mir bekannt ist, sind mehrere väterliche Sägemühlen im Gymnasium vertreten. Und beim Nageln und Streichen werdet ihr mir auch helfen, nicht wahr?«

Wieder murmelten sie, aber bejahend.

»Und nun, meine Herren, denke ich, Sie verfügen sich alle nach Haus und schweigen, wie ich schweigen werde. Übrigens, wie steht es mit dem Großen B. V.?«

Einen Augenblick herrschte zögerndes Schweigen. Dann tuschelten sie miteinander, dann rief eine Stimme: »Aufgehoben, Professor!«

Und eine ganz schrille schrie hinterdrein: »Aber ein Aas bist du doch, Eierkopf!«

»Vollkommen richtig«, stimmte der Professor zu. »Insofern nämlich, als mein eiförmiger Schädel den beweglicheren Geist beherbergt. Stets behauptet der Unterlegene, er sei nur durch gemeinste Listen besiegt –«

Sein Vortrag wurde durch eine rauhe Stimme vom Gartentor her unterbrochen, die rief: »Was geht denn hier vor? – Nun, wird's bald?«

Den Gartenweg hinunter kam ein Stralsunder Polizist, ein älterer Wachtmeister, mit Schnauzbart und Pickelhaube. An der Pforte aber drängte sensationslüsterne Nachbarschaft, kleine Leute, bereits in Hemdsärmeln, teils schon in Nachtjacken, alle aber in Schlappen.

Die Jungen hatten einen Ansatz zur Flucht gemacht. »Ruhig, meine jungen Freunde!« sagte der Professor beschwichtigend. »Herr Wachtmeister, ich bin der Professor Marcelin Arland vom Königlichen Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium allhier –«

»Ist mir bekannt, Herr Professor, daß Sie hier wohnen. Aber so 'nen Randal zu machen, und so 'n Feuerwerk –«

»Seit wann sind denn Feuerwerke verboten?« rief der Professor überrascht. »Ich feiere hier meinen Geburtstag, Herr Wachtmeister, und meine Jungens, alles Schüler des Gymnasiums, aus den besten Familien der Stadt und des Landes –«

Er log wirklich mit außergewöhnlicher Geschicklichkeit und Geschwindigkeit, der wackere Professor Arland. Ich fürchte, in moralischer Hinsicht war er seinen Alumnen kein mustergültiges Beispiel. Während er log, hatte er, an alles denkend, mir einen Wink und einen Stoß gegeben, und ich hatte die Tür zum Sanssouci geschlossen – ein ausgesägter Flurboden, ein mit Heu gefüllter Keller wären in den Augen der Polizei doch recht ungewöhnliche Geburtstagsvorbereitungen gewesen.

Aber so geschickt er auch log, der Wachtmeister beharrte eisern auf seiner Instruktion: Ein Feuerwerk war polizeilich anzumelden, und dies war ein Feuerwerk gewesen. Ein Protokoll mußte ausgefertigt werden, eine Ordnungsstrafe würde folgen ...

»Also geht nach Haus, meine jungen Freunde«, sprach der Professor salbungsvoll. »Dies ist eine Sache, die mich allein angeht, denn ich allein habe das Feuerwerk gekauft, aufgestellt, abgebrannt. Ich nehme an, wir müssen auf die Rathauswache gehen, Wachtmeister?« Der brummte Bejahung. »Also fort mit euch, Jungens! Und noch einmal meinen tiefgerührten Dank für diesen herrlich verlaufenen Geburtstag! Wie sie mich lieben, diese Buben, Herr Wachtmeister«, rief er immer exaltierter, und fast war es, als wollte er mit den Armen wie mit Flügeln schlagen. »Sie stürzen sich Hals über Kopf – in mein stilles Heim, bloß um mir eine Freude zu machen! Gute Nacht, ihr Bande!«

Sie gaben ihm wirklich alle artig die Hand und schritten sittsam aus dem Garten. Ich hatte das sichere Gefühl, Herr Professor Arland würde sobald nicht wieder bei ihnen in den Großen B. V. kommen.

»Herr von Strammin«, sagte der Professor und ergriff nun meine Hand, »wir sind infolge all dieser Feierlichkeiten zu keiner gedeihlichen Unterhaltung gekommen. Sehe ich Sie morgen noch, vielleicht auf dem Gymnasium?«

»Ich bringe Sie noch bis zur Wache, Herr Professor«, sagte ich. »Ich habe sowieso noch am Hafen zu tun. Das Protokoll wird kaum lange dauern – vielleicht essen wir hinterher gemeinsam zu Abend?«

»Ausgezeichnet!« rief der Professor und nahm meinen Arm. »Herr Wachtmeister, Ihre Häftlinge marschieren ab. Von Ihnen erbitte ich zehn Schritt Abstand, ruinieren Sie nicht den tadelfreien Ruf eines Bildners der Jugend!«

Es war nun richtig dunkel geworden. In den Straßen der Stadt brannten schon ein paar Laternen, und der abendliche Bummel der Jugend war kräftig im Gange. Der Wachtmeister hielt sich wirklich in gebührendem Abstand, der Professor aber unterhielt mich in der launigsten Weise, nie habe ich einen so sprunghaften, ruhelosen Menschen wie ihn kennengelernt. Nur wenn ich das Gespräch auf Madeleine Thibaut und meinen Auftrag, nämlich das Briefpäckchen, lenken wollte, sagte er: »Später, später, Herr von Strammin! Sie wissen doch, eigentlich sind wir Feinde, und eine solche Feindschaft begründet sich am besten bei einem Glas Wein.«

Ein völlig närrischer Kauz, aber ich hatte ihn von der ersten Minute an gern gemocht.

Vor der Hauptwache angekommen, fragte der Professor: »Sie erwarten mich also hier draußen?«

»Ich denke, ich gehe mit Ihnen hinein«, sagte ich nach kurzem Überlegen. »Weder bin ich je auf einer Polizeiwache gewesen, noch habe ich bisher dem Aufsetzen eines Protokolls beigewohnt.«

»Sie haben nichts versäumt. Öde und kahl, phantasie- und witzlos!« rief der Professor. »Aber wie Sie wollen.«

Er hatte recht. Das Wachzimmer war öde und kahl, ein halbzerfallener Gasstrumpf beleuchtete kaum den häßlichen fichtenen Schreibtisch des protokollierenden Schreibers. Gleich im Anfang geschah dem Professor das kleine Mißgeschick, daß er bei der Angabe seiner Personalien ganz automatisch seinen Geburtstag auf den 13. Februar angab, wir aber schrieben den 22. Juni! So töricht war der alte Wachtmeister nun doch nicht, daß er nicht gemerkt hätte, wie ungewöhnlich eine so verspätete Geburtstagsfeier war!

Aber den Professor verwirrte das gar nicht. Sofort machte er sich daran, ein neues Feuerwerk abzubrennen, dieses Mal ein verwirrendes Feuerwerk seines Geistes. »Habe ich Geburtstag gesagt? Bestimmt nicht! Sie irren, Herr Wachtmeister, ich habe Namenstag gesagt! Namenstag, Sie kennen den Unterschied? Namenstag – oh, was für ein Tag bei uns in Frankreich daheim! Sie sollten dort einmal mitfeiern auf den Dörfern in der Normandie, diese Kuchen, dieser Wein, diese geschlachteten Hühner und Gänse ...«

»Aber Sie sind evangelisch, Herr Professor!« beharrte der Wachtmeister. »Namenstag gibt's nur bei den Katholischen!«

»Ich bin evangelisch! Und ob ich das bin, mein Freund. Ich bin ein Hugenotte, schon unter Ludwig XIV. sind wir aus Frankreich entflohen! Ich bin gut deutsch. Aber an den alten Gebräuchen halten wir doch fest! Namenstag, und ob ich den noch feiere! Nehmen Sie meinen Vornamen: Marcelin ... Seit fast dreihundert Jahren sitzen wir nun schon in Deutschland. Hätte mich mein Vater da nicht – wie heißen Sie, Wachtmeister? Mit Vornamen, meine ich.«

Er sprang den schon Halbverwirrten so plötzlich mit dieser Frage an, daß der ganz bieder antwortete: »Maxe, Herr Professor.«

»Sehen Sie: Maxe! Hätte mich mein guter Vater nicht auch Maxe nennen können? Ach nein, er hing an den alten Bräuchen, Marcelin hat er mich getauft! Und genauso ist es mit dem Namenstag ...«

Vielleicht war es die immer krähender werdende Stimme des Professors, die den Löwen von seinem Lager lockte, wenn ich mich so ausdrücken darf. Ich wußte es damals freilich noch nicht, daß der höfliche Major von Brandau sich in einen Löwen verwandelt hatte. Jedenfalls ging die Tür eines Nebenzimmers auf, heller Lichtschein fiel in die düstere Schreiberstube, und eine ziemlich scharfe Stimme fragte: »Was ist denn hier los? Ein bißchen mehr Ruhe, wenn ich bitten darf!«

Der Wachtmeister stand stramm und meldete: »Ein Protokoll wegen unerlaubten Abbrennens von Feuerwerk, Herr Major!«

Der Major winkte gelangweilt ab. »Kann auch leiser gemacht werden.« Schon wollte er sich zurückziehen, als sein Blick auf mich fiel. »Sind Sie das wirklich, mein lieber Herr von Strammin?« rief er überrascht und trat ganz in die Wachstube. »Sind Sie auch an diesem Feuerwerk beteiligt?«

Der Professor nahm mir die Antwort ab: »Nicht die Spur, Herr Major! Ein jugendlicher Freund von mir – mein Name ist Arland, Marcelin Arland, Professor am hiesigen Königlichen Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium.«

Aber auch am Professor nahm der Major von Brandau kein Interesse, dafür um so mehr an mir. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Herr von Strammin«, sagte er, »kommen Sie doch einen Augenblick zu mir in mein Zimmer.«

Eigentlich machte es mir etwas aus, das kann man aber einem Polizeimajor schlecht sagen. So folgte ich ihm in sein Zimmer, das erheblich besser beleuchtet und eingerichtet war als die Wache, und wurde vor dem Schreibtisch in einen Sessel gebeten. Kaum saß ich, so wurde das Gesicht des Majors ernst, sehr ernst. Einen Augenblick sah er auf mich hinunter (er selbst hatte sich nicht gesetzt), dann sagte er zögernd: »Ja ...« Und noch einmal: »Ja.« Er schien es nicht ganz einfach zu finden, seinen Fragen eine passende Einleitung zu geben. Schließlich bemerkte er nicht sehr geistvoll: »Wie ich sehe, sind Sie noch immer in Stralsund, Herr von Strammin.«

Ich war töricht genug, zu antworten: »Oder schon wieder, Herr von Brandau.«

Er war sichtlich überrascht, er war so überrascht, daß er auf der Stelle vorsichtig wurde. »Also schon wieder?« fragte er nachdenklich. »Und wo waren Sie inzwischen, Herr von Strammin, wenn ich mich erkundigen darf?«

»Ich habe eine kleine Wasserfahrt gemacht«, antwortete ich und schloß den Mund so entschieden, daß er merken mußte, ich war nicht gesonnen, weiteres zu erzählen.

»Eine kleine Wasserfahrt also«, wiederholte er, enttäuscht und vielleicht auch verwirrt. Er suchte einen Übergang: »Ich nehme an, Herr von Strammin, daß Sie an der Angelegenheit, die wir gestern nacht besprachen, noch immer Anteil nehmen, vielleicht sogar tätigen Anteil?«

»Ich nehme es auch an«, antwortete ich.

Er warf mir einen raschen Blick zu. »Unterdes hat sich einiges in dieser Angelegenheit ereignet, was mir verbietet, länger unbeteiligt zuzuschauen. Ich würde Ihnen sehr verbunden sein, wenn Sie mir den augenblicklichen Aufenthaltsort der Dame mitteilten.«

»Die Dame ist, soviel mir bekannt ist, Ihren Weisungen gefolgt und hat sich an einen ruhigen Ort begeben.«

»Den Sie mir nicht nennen wollen?«

»Den ich vielleicht gar nicht nennen kann, Herr von Brandau.«

»Der aber per Wasserfahrt zu erreichen ist?«

»Das habe ich nicht gesagt!« rief ich rasch. »Ich habe gesagt, ich hätte eine Wasserfahrt gemacht.«

Er lächelte ein bißchen. »Das wird sich ermitteln lassen. Sie werden nie das Odium eines Verräters oder auch eines Leichtsinnigen auf sich laden, Herr von Strammin.« Ich hätte mich (aber auch ihn) ohrfeigen können. »Aber um was ich Sie nochmals bitten möchte, ist, daß Sie sich nicht weiter in diese Geschichte einlassen. Sie haben für diese Dame getan, was Sie konnten. Sie haben ihr sogar einen stillen Aufenthaltsort besorgt«, ich schüttelte den Kopf, »aber nun schließen Sie ab damit! Überlassen Sie uns die Prüfung des Falles – Sie dürfen überzeugt sein, sie erfolgt sine ira et studio.«

Ich schwieg.

»Ich habe Ihr Versprechen, Herr von Strammin«, sprach der Major mit erhobener Stimme.

»Sie haben keinerlei Versprechungen von mir, Herr Major von Brandau!« antwortete ich ebenso laut.

»Dann werden Sie verstehen, daß wir gegebenenfalls auch gegen Sie vorgehen müssen – wegen Begünstigung oder wegen Beihilfe. Herr von Strammin, es liegt gegen diese sogenannte Dame eine wohlbegründete Strafanzeige vor.«

»Ich weiß«, sagte ich. »Wegen Nötigung oder Erpressung.«

»Wer hat Ihnen das gesagt?« rief der Major aufgeregt. »Woher wissen Sie das? Ich habe den strengen Befehl gegeben –«

»Wer soll mir das erzählt haben?« rief ich verächtlich. »Wer anders als Herr Gregor von Lassenthin, derselbe Herr von Lassenthin, auf dessen Aussage allein sich diese Anzeige stützt, die Sie so wohlbegründet nennen! Geben Sie es doch zu, Herr Major, allein auf der Aussage dieses Menschen fußen Sie – und auch Sie sollten seinen Ruf kennen!«

»Von Polizei wegen wissen wir nichts Ungünstiges über ihn«, sagte der Major ausweichend. »Er hat eine eidesstattliche Erklärung abgegeben, daß er erpreßt worden sei.«

»Und darauf geben Sie etwas? Eine eidesstattliche Erklärung ist gar nichts; solange sie noch nicht beschworen ist, kann sie jederzeit zurückgezogen werden. Im übrigen bin ich bereit, in jeder Sekunde zu beeiden, daß Herr von Lassenthin in meiner Gegenwart dem Geheimrat Gumpel gesagt hat: ›Geben Sie ihr Geld, nicht zuviel, aber geben Sie ihr Geld ... ‹«

»Sie sehen! Sie selbst bezeugen es ja, daß sie ihn erpreßt hat.«

»Ich verstehe Sie nicht, Herr Major!« rief ich empört. »Dies nennen Sie eine Untersuchung sine ira et studio? Gegen Frau von Lassenthin nehmen Sie alles Ungünstige an, während Herr von Lassenthin Ihnen erzählt, was er will. Glauben Sie denn wirklich, Geheimrat Gumpel gibt sich zum Boten einer Erpresserin her?«

»Er kann getäuscht worden sein«, antwortete der Major, aber jetzt doch etwas zweifelnd. »Es ist ein Jammer, daß der Geheimrat vorläufig nicht vernehmungsfähig ist.«

»Ja, aber mein Onkel Gregor freut sich darüber! Sie sagen, er ist ein Ehrenmann? Es liegt nichts gegen ihn vor? Nun, Herr Major, wenn er mit solchen Waffen kämpft, so werde ich mit den gleichen Waffen kämpfen! Ich erstatte hiermit bei Ihnen Anzeige gegen den Herrn Gregor von Lassenthin wegen Unterschlagung. Es ist ihm heute nachmittag eine Summe von zirka fünftausend Mark zur Aushändigung an mich übergeben worden, und zwar durch Fräulein Elisabeth von Schalenberg, die vierhundert Zentner Weizen in meinem Auftrag verkauft hat. Er hat sich geweigert, mir das Geld auszuhändigen.«

»Ach«, sagte der Major überlegen, »ein kleiner Familienstreit! Sie werden doch nicht Anzeige gegen Ihren eigenen Onkel erstatten wollen! Bedenken Sie, welchen Skandal das gäbe!«

»So!« rief ich immer entrüsteter. »Aber es ist kein Skandal, wenn Herr Gregor von Lassenthin seine eigene Frau wegen Erpressung anzeigt?«

»Sie ist nicht seine Frau, Herr von Strammin, seien Sie versichert.«

»Sie ist es, Herr Major, sie hat mir überzeugende Einzelheiten erzählt.«

»Sie gibt selbst zu, kein einziges Papier in Händen zu haben!«

»Weil er sie betrogen hat, weil er sie nur gezwungen heiratete! Weil er von Anfang an bemüht war, alle Spuren dieser Heirat zu verwischen.«

»Nein«, sagte der Major, »weil überhaupt keine Heirat stattgefunden hat. Hören Sie zu, Herr von Strammin, da Sie doch so weit in diese Sache eingeweiht sind, will ich Ihnen unter Diskretion sagen, was mir Herr von Lassenthins Sohn gestanden hat –«

»Ich pfeife auf Diskretion!« schrie ich wütend. »Der Mann ist das Indiskreteste von der Welt!«

»Nun, ich werde es Ihnen auch ohne Diskretion sagen«, lächelte der Major. »Sie haben vielleicht recht. Herr von Lassenthin hat nie die Absicht gehabt, dies junge Ding, das sich ihm an den Hals geworfen hat, zu ehelichen. Da sie ihn aber ständig damit quälte, und da er, wie er betont, Frauen gegenüber ein schwacher Mann ist, hat er sich mit dem Mädchen einen Scherz gemacht, einen sehr üblen Scherz, wie ich sagen möchte, der sich aber unserm Urteil entzieht, da dies alles im Ausland geschah.«

»Nun –?« fragte ich. Ich wußte schon alles, was kommen würde – dieser verdammte Lügner!

»Er hat mit ein paar Freunden eine Scheintrauung arrangiert, und das kleine, harmlose Ding ist zuerst auch darauf hereingefallen. Daher keine Beweismittel. Daher keine Papiere. Später war sie wohl über diesen kleinen Betrug orientiert und hat ihn klüglich zu ihrem Vorteil auszunützen verstanden, bis es Herrn von Lassenthin zuviel wurde und er vor ihr hierherfloh. Nun ist sie ihm aber nachgekommen, und er hat, der ewigen Erpressungen müde, unsere Hilfe erbeten ...«

»Die Sie ihm auch nicht verweigert haben, wie ich sehe«, sagte ich kalt und stand auf. »Herr Major, was wollen wir noch reden? Wenn Sie dieses alberne Gespinst aus Lüge und verdrehter Wahrheit glauben, so ist mit Ihnen eben nicht zu reden. Dann müssen wir Ihnen eben Beweise bringen, und wir werden sie Ihnen bringen! Wir werden Ihnen beweisen, daß sich Herr von Lassenthin in feiger Angst vor der Kugel eines Freundes der jungen Frau legal hat trauen lassen, daß er später in einem Duell diesen Freund erschossen hat und daß er, da er nach Ausscheiden des wichtigsten Zeugen die Möglichkeit sah, sich frei zu lügen, seine junge Frau ohne alle Hilfsmittel, sprachenunkundig, krank in einem Nest in den Apenninen hat sitzenlassen –«

»Herr von Lassenthin gibt eine wesentlich andere Darstellung von den Gründen dieses Duells. Danach hat dieser Baron von Neuhaus ...«

»Oh, ich kann mir schon alles denken!« sagte ich mit einer Bewegung des Ekels. »Nach der Darstellung des Herrn von Lassenthin ist der Baron von Neuhaus ein Liebhaber. Aber dieser selbe Gregor verteidigt die Ehre eben jener Frau, mit der er gerade erst eine so hundsgemeine Heiratsfarce aufgeführt hat, mit der Pistole in der Hand. Eine sehr überzeugende, wirklich eine dieses Gregor würdige Darstellung! – Aber ich danke, Herr Major«, rief ich immer erhitzter, »ich habe jetzt dieses Geschwätz satt. Ich erlaube mir, Ihnen einen guten Abend zu wünschen, Herr von Brandau.«

Ich war schon an der Tür, da rief mich der Major noch einmal an: »Ein Wort noch, Herr von Strammin!«

Unwillig blieb ich stehen und sah ihn schweigend an. Der Major betrachtete mich mit einem stummen, verhaltenen Lächeln. »Dies ist ein etwas besonderes Zimmer, mein lieber Strammin. Jedem steht es frei, es zu betreten, wer es aber wieder verlassen darf, das bestimme allein ich ...«

Ich stand wie vom Donner gerührt. So weit trieb er also seine Unverschämtheit, einem Strammin zu drohen, daß er ihn ... Am liebsten wäre ich ihm an die Kehle gesprungen. »Herr von Brandau«, sagte ich, »vielleicht dürfen Sie in diesem Zimmer auch Dinge sagen, die Sie draußen einem Ehrenmann nicht sagen würden. Das ist Ihre Sache, es interessiert mich nicht, wie Sie das halten.«

Er wollte mich nicht gehört haben. »Ich kann Sie sowohl wegen Verweigerung Ihrer Aussage über den Aufenthalt der angeblichen Frau von Lassenthin festnehmen als auch wegen Begünstigung. Noch besser aber nehme ich Sie«, fuhr er sinnend fort, »in Schutzhaft. Eine Schutzhaft wird verhängt«, erklärte er pedantisch, »wenn ein Staatsbürger im Begriff steht, ein Verbrechen zu begehen oder sich an einem Verbrechen zu beteiligen. Wirklich«, fuhr er fort, immer den sinnenden Blick auf mich gerichtet, »wenn ich das Ansehen Ihrer Familie und Ihre Unbescholtenheit bedenke, nehme ich Sie am besten in Schutzhaft ...«

»So tun Sie's doch!« rief ich triumphierend und schoß aus der Stube durch das jetzt stille Schreibzimmer bis auf die Straße. Dort hätte ich beinahe den wartenden Arland umgerannt – ich hatte diesen geistreichen Kämpfer in den letzten zehn Minuten völlig vergessen.

»Laufen Sie, Herr Professor!« rief ich, ohne zu bedenken, daß der Professor nicht die geringste Ursache hatte, sich an meinem Lauf in die Freiheit zu beteiligen. »Sie wollen mir an den Kragen!«

Und eine solche Überredungskraft liegt in einem derartigen Ruf, daß der Professor sich ohne eine Frage meinem Sturmlauf anschloß: Eilig trabten seine Beinchen hinter meinen langen Schinken her. Ich aber hielt nicht eher inne, bis ich das Wasser des Hafens vor mir aufblinken sah. »So!« sprach ich aufatmend. »Hier soll es denen sauer werden, mich zu erwischen, und in einer Viertelstunde bin ich hoffentlich auf See.«

»Ick bün all dor!« meldete sich Professor Arland. »Wirklich, Herr von Strammin, unser Lauf eben erinnerte mich lebhaft an das Märchen von dem Hasen und dem Swinegel, womit ich allerdings Ihrem Mut nicht zu nahetreten möchte.«

»Und auch nicht Ihrer eigenen Sauberkeit«, setzte ich lachend hinzu, denn der Lauf eben hatte auf seltsame Weise meinen lebhaften Ärger völlig vertrieben. »Und wenn Sie nun Ihre Liebenswürdigkeit voll machen wollen, so treten Sie mit mir in dieses Lokal, die ›Drei fidelen Tranjacken‹ benannt, damit ich Ihnen endlich das Päckchen von Fräulein Thibaut aushändige. Es ist zwar eigentlich kein Lokal, in das ich Sie gern einladen möchte –«

»Warum nicht?« fragte der Professor. »In einer Hinterstube gibt es dort manchmal ausgezeichnete Austern, auch Hummer, und der saure Aal der ›Drei fidelen Tranjacken‹ ist von Kiel bis Memel berühmt. Also kommen Sie!«

Der Fischer Rickmers saß feuerrot leuchtend hinter seinem Tisch, seine weißen Haare standen steil zur Zimmerdecke, und er erzählte mit heftigem Donnern der Faust seinen Zechkumpanen eine Geschichte, auf die sie nicht hörten. Sie erzählten lieber ihre eigenen Geschichten.

Als Rickmers aber meiner ansichtig wurde, richtete er sich steif wie ein Ölgötze auf und meldete: »Keine Mütze Wind in der ganzen verdammigten Ostsee! Wie möten noch ne halwe Stunde töwen, junge Herr!« Und nachdem er so den offiziellen Teil seines Programms hinter sich gebracht hatte, rief er leutselig zur Tonbank hinüber: »Klas, 'n hübschen lütten stiwen Grog für'n jungen Herrn!« Sein Blick fiel auf den Professor. Eine Weile starrte er ihn stumm an, dann wandte er sich wieder zur Tonbank: »Und noch 'nen hübschen lütten stiwen Grog für den jungen Herrn sin Hanswurst!«

»Rickmers!« sagte ich vorwurfsvoll, »was reden Sie bloß für Zeug zusammen? Ich glaube wirklich, Sie sind duhn, Mann!«

»Duhn nich grade, junger Herr«, antwortete Rickmers und strahlte über das ganze Gesicht, »nich grade, wat ick duhn nennen würde. Ick hew een lüttet Melkfewer, dat gew ick to, ick hew een beten in'n Tran peddet, aber beswabbelt bün ick noch nich ...«

»Dat is man gaud«, sagte ich, wenn ich auch keineswegs dieser Sache sicher war, »dann werden Sie ja wohl noch segeln können, Rickmers?«

»Segeln?« fragte er verächtlich. »Segeln, seggen Se? Ick kann segeln, und wenn ick duhn bin as een Schneider! Segeln, Herr ...«

Er wollte sich noch weiter über Segeln und Duhnheit auslassen, ich aber lotste ihn hinter dem Tisch vor, nahm ihn beim Arm, ging mit ihm an die Tonbank, trank einen Lütten, bloß zum Abgewöhnen (der Professor machte alles brav mit), und schließlich standen wir wirklich draußen am Hafen, den heftig schlingernden Rickmers zwischen uns.

»Rickmers«, sagte ich, als es den Mann wieder in die Kneipe zog, »wir müssen jetzt lossegeln. Die junge Frau wartet – Rickmers, ich kann die junge Frau doch nicht warten lassen!«

»Nee«, antwortete er. »Das können Se nicht, junger Herr. Wenn bloß ein bißchen Luft gehen täte!« Und dabei wehte es ihn fast um!

Nun, mit vielem guten Zureden brachten wir ihn ins Boot, und kaum drinnen, schien er wirklich nüchtern zu werden. Er täute es los, legte die Segelleinen bereit, die Riemen – und plötzlich tat er einen tiefen, tiefen Gähner, sackte in sich zusammen wie ein Kleiesack und legte sich lang auf den Bootsboden in sein Netzwerk, als habe er nun sein endgültiges Bett für diese Nacht gefunden!

»Da!« rief der Professor entzückt. »Da liegt er und steht nicht wieder auf! Die frische Luft hat ihn umgeschmissen – auf einen Schlag! Das habe ich mir gleich gedacht!«

»Ja«, sagte ich sehr ärgerlich. »Das haben Sie sich gleich gedacht, und meine Befürchtungen habe ich auch gehabt – aber was mache ich nun? Aus Stralsund muß ich fort, noch diese Stunde, und nach Hiddensee muß ich, noch diese Nacht, und ehe ich einen andern Fischer finde –«

»Segeln Sie doch ohne den Mann!« schlug der Professor vor. »Es sieht nicht so aus, als sollte der Wind frischer werden. Wenn Sie sich erst aus dem Sund freigekreuzt haben, liegen Sie immer vor'm Winde und brauchen keinen Handschlag mehr zu tun.«

»Da sieht man es, Herr Professor«, erwiderte ich, »daß Sie keine Ahnung haben, wo Strammin liegt – nämlich gut zehn Kilometer von der See. So verstehe ich ebenso viel vom Segeln wie die Kuh vom Strümpfestricken.«

Wir standen eine Weile schweigend. Was mich angeht, muß ich gestehen, ich hörte mit einiger Unruhe nach den Hafengeräuschen; jeden Augenblick, meinte ich, müßte einer der Sendboten des Majors auftauchen.

Der Professor unterbrach die Stille, indem er mich fragte: »Erinnern Sie sich noch, wie mich dieser schläfrige Fisch da unten getauft hat?«

»Sie werden doch das Gefasel eines Duhnen nicht ernst nehmen, Professor!« rief ich.

»Ihren Hanswurst hat er mich genannt«, sagte der Professor vergnügt. »Und mir ist ganz danach, heute nacht einmal Ihren Hanswurst zu spielen. Wenn Sie nicht segeln können, so kann ich es. Drauf und 'rein, Herr von Strammin, ich werde Sie nach Hiddensee segeln!«

»Aber Sie haben Schule morgen früh, Herr Professor!« rief ich. »Sie können morgen früh nicht zurück in Stralsund sein!«

»Meine Jungens haben Schule, mein Herr!« verbesserte er mich, und sich verbesserte er lachend: »Sie haben natürlich ganz recht: ich habe genauso Schule wie meine Jungens, aber ich schwänze sie genauso gern wie die! Los, mein Herr von Strammin!«

Und er kletterte in das Boot. Ich hatte noch immer Bedenken: »Ich kann es wirklich kaum von Ihnen annehmen, Herr Professor. Womöglich verwickle ich Sie noch in eine Strafsache, Major von Brandau hatte ernstliche Absichten auf mich ...«

»Reden Sie nicht, sondern steigen Sie ein, sonst fahre ich ohne Sie los!« rief der Professor. »Habe ich Sie fortgeschickt, als Sie an meinem Gartenzaun standen, in der Stunde der Gefahr? Sehen Sie, so ist es recht! Nehmen Sie jetzt den Haken! Wenn wir erst aus diesem Gewirr von Kähnen bei dieser Dunkelheit ohne Havarie heraus sind, will ich meinem Schöpfer danken!«

Damit lehnte er sich selbst gegen solchen Haken, und langsam kam das Boot unter uns in Fahrt.


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