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3

Ich erfahre Catrionas Geschichte und setze sie auf einer Insel aus

 

Ich hatte unser Gepäck am Rande des Marktes abgesetzt. In der Zeit, die ich im Hotel verbracht hatte, war der Mond weitergewandelt, er stand nicht mehr hinter den spitzen Giebeln des Rathauses, sondern schon tief hinter Dächern: Wir waren im Schatten, ich sah Catrionas Gesicht nur wie einen grauen Schein.

»Das Geld hat also gereicht?« fragte Catriona. »Ich habe für uns gezittert, Lutz. Seltsame Menschen sind wir! Ich habe so viele Erniedrigungen in den letzten Monaten erlebt, daß ich oft denke, ich kann nichts mehr empfinden. Und doch habe ich schon bei dem Gedanken, Sie könnten die Rechnung nicht bezahlen, vor Scham gebebt.«

»Doch, es hat gereicht, Catriona«, sagte ich, aber ich verschwieg ihr, in welch schwieriger Lage ich gewesen war. »Aber was tun wir nun, wir irrenden Ritter?«

Ehe sie noch darauf antworten konnte, fing die Glocke von St. Nikolai gerade über uns zu schlagen an, mit einem tiefen Brummen, das immer stärker wurde: Mitternacht! Von den einzelnen hallenden Schlägen schien der Boden unter unseren Füßen zu zittern. Catriona hatte in einem plötzlichen Erschrecken nach meiner Hand gegriffen, und so standen wir beide auf dem Marktplatz, zählten gemeinsam die Schläge und sahen dabei nach den erhellten Fenstern der Konditorei Kahnert hinüber. Es war ein seltsames Gefühl, hier mitten in der Nacht zu stehen und nicht zu wissen, wohin wir gehen sollten.

»Mitternacht!« sagte Catriona, nach dem letzten Schlag tief aufatmend. »Mitternacht! Ach, es ist doch gut, Lutz, daß ich hier jetzt nicht allein stehen muß, sondern daß ich dich neben mir habe.«

Sie hatte das »Du«, das mich freudig erzittern ließ, so selbstverständlich gebraucht: Dies sanft leuchtende Monddunkel, in dem wir standen, begünstigte wohl die vertraute Anrede.

Ich drückte ihre Hand leise zum Dank und fragte: »Und was befiehlt meine schöne Herrin?«

»Das muß der Ritter bestimmen. In die Hände der Ritter ist stets das Geschick der schönen Frauen gegeben.«

Etwas zaghaft schlug ich vor: »Vielleicht gehen wir in irgendein Hotel am Bahnhof. Dort kennt man weder – Sie noch mich. Und morgen früh kann ich mir beliebig viel Geld verschaffen.«

Sie schauderte. »O nein, Lutz, nicht wieder in ein Hotel! Dies möchte ich nicht noch einmal erleben! Können wir nicht eine Weile auf und ab gehen, bis wir uns klargeworden sind, was wir zu tun haben? Die Nacht ist so schön – mußt du durchaus schlafen?«

»Ich war noch nie so wach. Also komm, Catriona, laß uns zum Hafen hinuntergehen. Dort ist es jetzt am stillsten, und man riecht die See.«

Ich griff nach unserm Gepäck, aber sie berührte leise meine Schulter. »Herr Ritter«, fragte sie, sehen Sie dort die hellen Fenster?«

»Ja«, antwortete ich. »Das ist die Konditorei Kahnert, das beliebteste Café Stralsunds.«

»Es liegt wohl nicht mehr im Bereich des Möglichen, daß wir dort einen Augenblick hineingehen und ein bißchen Kuchen und Schlagsahne essen? – Ich muß dir nämlich gestehen, Lutz«, setzte sie hinzu, »daß ich ziemlich lange nichts Rechtes gegessen habe. – Ach, Lutz!« rief sie reuig, als sie mein Zögern sah, »mache ich dir schreckliche Schwierigkeiten? Natürlich komme ich noch eine lange Zeit ohne Essen aus, eine sehr lange Zeit!«

»Davon kann nicht die Rede sein«, sagte ich entschlossen. »Ich denke doch, man kennt dort mein Gesicht und meinen Namen und wird anschreiben. Aber –«

»Aber, Lutz?«

»Ich fürchte, es wird uns gehen wie im ›Halben Mond‹. Wir werden angesehen werden, und wenn sie heute auch noch nicht wissen, wer du bist, morgen werden sie es erraten haben, daß ich mit dir dort saß.«

»Du hast recht, Lutz«, sagte sie entschlossen. »Laß uns zum Hafen gehen. Ich freue mich auf das Meer, ich habe euer nordisches Meer noch nie gesehen!«

»Nun«, sagte ich, war aber mit meinen Gedanken nicht bei der Sache, »es ist auch hier nicht das Meer, was du zu sehen bekommst, Catriona. Es ist nur der Sund, der Strelesund, weißt du, nach dem Stralsund seinen Namen hat.«

»Was ist ein Sund, Lutz?«

»Ein Sund ist eine Meerenge, Catriona.« Aber nun hatte ich es. »Und jetzt weiß ich auch, Catriona«, rief ich, »wo wir den Rest der Nacht bleiben und wie du etwas zu essen bekommst! Komm nur schnell, ich will gleich sehen, welcher Dampfer am Bollwerk liegt.«

Wir hatten Glück: es lagen alle drei Dampfer dort, als wir an den Hafen kamen, die beiden Rügendampfer und auch der uralte Raddampfer Tirpitz, der nach Hiddensee fuhr. Still und dunkel lagen sie dort, und kein Mensch war weit und breit zu sehen.

»Bleibe einen Augenblick hier stehen bei dem Gepäck, Catriona«, rief ich. »Ich will erst sehen, ob die Luft rein ist.«

»Aber was hast du denn nur vor, Lutz? Erzähl mir doch wenigstens –«

»Keine Zeit jetzt, Catriona! Je schneller du was zu essen bekommst, um so besser!«

Ich hatte mir die uralte Tirpitz ausgesucht. Die Tirpitz war das Gespött der Stralsunder und das Gelächter der andern Dampferbesatzungen. Sie war so alt, daß sie jeden zweiten oder dritten Tag Maschinenschaden hatte und irgendwo einen halben Tag hilflos liegenblieb, bis sie wieder notdürftig geflickt war. Auch an ihren besten Tagen brauchte sie für die Fahrt nach Hiddensee, die jeder andere Dampfer in drei Stunden machte, ihrer sechs. Das aber hatte den Vorteil, daß ihre Kombüse weit reichlicher versorgt war als die der andern Dampfer: Wenn sie schon so lange unterwegs war, mußte sie ihre Passagiere doch wenigstens ernähren!

Nun kam es darauf an, ob jemand an Bord war. Offiziell gab es natürlich immer eine Bordwache, aber sie nahm es mit ihren Pflichten nicht so genau und erteilte sich gern einen Extraurlaub zur Frau oder in eine Hafenschenke. Die Brücke war natürlich eingezogen, aber die Tirpitz lag nahe genug am Bollwerk, daß ich mit einem kleinen Sprung an Deck war. Zuerst schlich ich vorsichtig in die Kajüte erster Klasse hinunter, sie hatte Samtsitze, deshalb schlief die Bordwache dort am liebsten. Einen Augenblick stand ich lauschend, als ich aber kein Schnarchen, nicht einmal Atmen hörte, brannte ich ein Streichholz an: Die Kajüte war leer. So steckte ich denn zuerst einmal die große Petroleumlampe über dem kreisrunden Eichentisch an und stieß auch gleich noch ein Bullauge auf: Es roch ziemlich muffig in diesem alten Kasten.

Eine Bleibe bis zum frühen Morgen, bis zum sehr frühen Morgen hatten wir, nun kam es darauf an, ob ich auch etwas zu essen fand. Die Kombüse war mittschiffs, Steuerbord, direkt bei dem großen Radkasten. Die Tür war nicht verschlossen, sie konnte nicht verschlossen ein, das wußte ich, schon seit Jahren war das Schloß entzwei. Aber der Schrank konnte abgeschlossen sein, und so ernst ich auch über Catrionas Hunger dachte, aufgebrochen hätte ich ihn nicht gern.

Gottlob hatte ich es nicht nötig, er war offen – wer hätte denn auch auf der alten Tirpitz je etwas Mitnehmenswertes gesucht? Es gab Semmeln da, ein bißchen alt und trocken fühlten sie sich wohl an, aber wir waren nicht in der Lage, wählerisch zu sein. Und es gab ein paar Reste Wurst, etwas Butter, es gab sogar gemahlenen Kaffee in einer Blechdose. Ich steckte den Spirituskocher an, setzte den Topf mit Wasser auf, und nun machte ich mich erst einmal daran, Catriona, die da noch immer einsam und verlassen am Kai stand, an Bord zu holen.

»Komm, Catriona, ich habe ein wunderbares Zimmer für dich, und Frühstück oder Abendessen, oder wie du es nennen willst, wirst du auch gleich bekommen. Das Kaffeewasser muß bald kochen.«

»Oh, Lutz, daß ich dich habe! Was machte ich jetzt ohne dich? Werde ich wirklich etwas zu essen bekommen?«

»Aber natürlich! Die Semmeln sind schon ein bißchen alt, und ich fürchte, Moder Rickmersch hat die böse Angewohnheit, ihren gemahlenen Kaffee von vornherein mit Zichorie zu versetzen ...«

»Ist ja alles gleich! Ach, Lutz, mir war schon ganz elend vor Hunger! Wie ich da eben so allein mit dem Gepäck stand, fiel mir plötzlich ein, daß in den kleinen italienischen Häfen immer Apfelsinen am Bollwerk schwammen; wärest du drei Minuten später gekommen, du hättest mich auf einer schmählichen Apfelsinesuche gefunden!«

»Du hättest sie nicht essen können, sie wären gallenbitter gewesen vor Salz. Nein, ich habe Besseres für dich.«

Catriona starrte die Kajüte der Tirpitz mit großen, verwunderten Augen an. So etwas hatte sie wohl noch nie gesehen, so weit sie auch in der Welt herumgekommen sein mochte. Die Kajüte der Tirpitz ist auch so uralt eingerichtet, daß man sie direkt in ein Museum überführen möchte: mit ihrem riesigen kreisrunden Eichentisch, in den Hunderte von Fahrgästen ihre Namen oder auch ihrer Mädchen Namen eingeschnitten haben, und manchmal auch recht gewagte Sprüchlein, die gottlob meist in Platt ... Und mit ihrer langen Bank an allen Wänden entlang, dieser Bank, auf der ganz dünn gewordene rote Samtkissen lagen ... Und mit ihren niedrigen, grünlichen Spiegeln an allen Wänden, Spiegeln, die in gedrehte Goldleisten gefaßt waren, und in allen sah man wie ertrunken aus ... Und mit der ungeheuren messingnen Petroleumlampe über der Mitte des runden Tisches, deren Licht durch Hunderte von kleinen Spiegelstücken aufgefangen, widergestrahlt und hin und her geworfen wurde, als säße man hier im Kopf eines Leuchtturms und nicht im Bauch eines Schiffes.

Nein, so etwas hatte Catriona wohl noch nicht gesehen. Mit einem glücklichen Seufzer ließ sie sich schließlich auf eine der Samtbänke gleiten und sagte: »Du bist ein Hexenmeister, Lutz! So glücklich bin ich seit langer, langer Zeit nicht gewesen. Es ist, als wären wir beide in einem Zauberschloß, wir beide wie Kinder, und alles Böse wäre ganz, ganz fern, unwirklich, nur einmal vor langer, langer Zeit geträumt. Ach, sage es mir, Lutz, daß ich alles nur geträumt habe!« Sie sah mich an mit ganz glücklichen Augen. Jetzt funkelten alle Goldflitter auf ihrem Grunde, als hätte jede einzelne Spiegelscherbe des alten Blakers unter der Decke jedes einzelne Flitterchen darin entzündet. Gleich aber fuhr sie wieder zusammen: »Wir dürfen hier doch wirklich sein, Lutz? Es kann uns doch keiner von hier fortjagen?«

»Natürlich dürfen wir hier sein, Catriona«, sagte ich beruhigend. »Mach dir nur keine Sorgen! Und jetzt will ich schnell nach meinem Kaffeewasser sehen, und dann wirst du essen ...«

»Dann wirst du essen – es ist lange her, daß mir das jemand so gesagt hat. Früher habe ich nie über Essen nachgedacht, Lutz, es war so selbstverständlich, und nun ... Es ist so vieles ganz anders geworden in meinem Leben. Ich verstehe es oft wirklich nicht, und immer wieder denke ich: Das träumst du nur, es ist unmöglich, daß du dies erlebst, Catriona! Aber du mußt jetzt nicht denken, Lutz, daß ich Angst habe, ich habe vor nichts Angst. Es tut mir nur so gut, mich einmal ausruhen zu können, es braucht gar nicht lange zu sein, Lutz.«

»Ruhe dich aus, Catriona. Es kann auch lange sein, ruhe dich nur aus.«

»Ja. Und dann werden wir nach Ückelitz gehen, morgen schon, nein, heute noch. Ich weiß, Lutz, du willst es nicht, aber es muß unbedingt sein. Du weißt gar nicht, wie sehr es sein muß!«

»Ich muß jetzt wirklich nach dem Kaffeewasser sehen«, sagte ich und machte, daß ich davonkam. Ich wollte jetzt nicht mit ihr über Ückelitz reden. Wenn ich ihr auch versprochen hatte, sie hinzubringen, ich hoffte doch immer noch, irgend etwas würde dazwischenkommen. Vielleicht war Gumpel morgen wirklich wieder gesund oder doch so weit, daß er uns einen brauchbaren Rat geben konnte, denn einen solchen hatten wir dringend nötig.

Während ich den Kaffee aufgoß und Semmeln schmierte und belegte, dachte ich, wie es hier mit uns auf dem Dampfer gehen würde. Es war natürlich nicht wahr, daß wir hier sitzen und sogar die Vorräte aus dem Kombüsenschrank aufessen durften. Wenn wir jungen Leute von den Gütern zu einer Bockauktion oder einem Kreistag nach Stralsund kamen und hatten die halbe Nacht durchgefeiert und keiner mochte mehr in sein Hotel gehen, da waren wir manchmal hier zu den Dampfern hinuntergezogen und hatten es uns auf den Samtbänken bequem gemacht und wohl auch einmal einen Kaffee gebraut.

Es ist aber sehr ein ander Ding, ob man so etwas mit Geld in der Tasche oder ohne jeden Pfennig tut. Und es ist weiter ein ander Ding, ob man das mit fünf, sechs jungen, vergnügten Männern oder mit einer jungen Dame tut. Es war mir ganz klar, wir mußten mit dem Allerfrühesten fort, noch ehe die Nachtwache oder der Heizer an Bord kam, und der alten Moder Rickmersch mußte ich so schnell wie möglich ein paar Mark schicken, natürlich ohne Absender. Von Frau von Lassenthin durfte niemand hier etwas sehen, deren Aussichten standen schon schlimm genug. Erfuhren es die Leute, daß sie mit mir eine Nacht auf der Tirpitz verbracht hatte, so hätte kein Engel vom Himmel ihren Ruf mehr weißwaschen können. Hätte ich nur Zeit gehabt, richtig über unsere verfahrene Lage nachzudenken, ich wäre wohl ganz verzweifelt, aber so begnügte ich mich damit, für den Augenblick zu sorgen, und dachte nicht an die nächste Stunde.

Im Augenblick durfte ich Catriona, die müde und ein wenig mutlos war, nicht allein lassen, und ich mußte ihr zu essen geben. Ich räumte die Kombüse auf, so gut es gehen wollte, löschte das Licht und ging vorsichtig mit meinem Tablett über das jetzt fast dunkle Verdeck. Nur noch ein Nachleuchten des Mondes war am Himmel, es wurde schon frischer von Osten her, der Morgen war nicht mehr so fern.

Nach all dem Gerede von ihrem großen Hunger hatte ich schon gefürchtet, Catriona würde von den wenigen Semmeln ganz enttäuscht sein. Aber sie aß nur wie ein Spatz, vielleicht auch, weil sie so müde war oder weil sie an etwas anderes dachte. Ich verstand unter Hunger etwas Größeres, und obwohl ich vor nicht sehr vielen Stunden im »Halben Mond« recht ausgiebig gespeist hatte, machte es mir keine Mühe, die Teller hinter Catriona leerzufegen.

»So«, sagte ich dann zu ihr. »Das Tablett lassen wir jetzt hier ruhig auf dem Tisch stehen, und du legst dich lang auf die Bank, und ich decke dich mit ein paar Polstern zu. Du mußt müde sein, und du mußt auch Kräfte sammeln, für alles, was morgen kommt. Ich werde unterdes an Deck ein wenig auf und ab spazieren und Wache halten, wie es einem richtigen irrenden Ritter geziemt. Ich bin nämlich gar nicht müde.«

»Das will ich alles gern tun«, antwortete Catriona. »Aber ehe du hinaufgehst, setze dich erst neben mich und laß dir erzählen, wer ich eigentlich bin und warum ich hier hinaufgefahren bin; euch allen zur Unruhe.«

»Ach, Catriona«, sagte ich. »Das hat ja alles Zeit. Du bist so müde, und was mich angeht, so glaube ich einfach an dich, von der ersten Stunde an, da ich dich sah. Mir brauchst du nichts zu erzählen.«

»Es muß aber sein, Lutz«, antwortete sie, faßte nach meiner Hand und zog mich neben sich. »Wenn es nicht deinetwegen sein muß, so muß es meinetwegen sein. Du bist nun einmal mein Ritter geworden, und ein Ritter muß wissen, welche Farben er trägt und für wen er sich schlägt.«

»Was willst du mir erzählen, Catriona?« rief ich. »Ich kenne ihn doch und seine Art, ich habe ihn nie ausstehen können! Er hat dich belogen, wie ja alles Lüge und Betrug und Falschheit ist, was er tut. Warum willst du dir und mir das Herz schwer machen, indem du dich an alles erinnerst? Wir finden schon einen Weg aus alledem.«

Ich wollte wieder aufstehen. Die Wahrheit aber war, ich wollte wirklich nichts hören. Ich konnte es nicht ertragen, daß sie von ihm sprach. Der Gedanke war mir unerträglich, daß etwas so Reines und Schönes und Stolzes wie Catriona einmal einem Mann wie Gregor gehört hatte und daß er sie hatte kränken und beleidigen dürfen. Es war wohl Eifersucht, die aus mir sprach. Ich wollte ihn ausstreichen aus ihrem Leben, für mich – und sie sollte ihn auch ausstreichen!

»Nein, bleib sitzen, Lutz«, sagte sie wieder. »Eben hast du gesagt, du hast ihn nie ausstehen können. Aber ich, ich habe ihn doch einmal gern gemocht, so gern, daß ich seinetwegen aus meinem schönen Elternhaus fortgelaufen bin. Sieh, Lutz, das mußt du erst einmal verstehen, sonst verstehst du gar nichts, sonst denkst du womöglich, ich war schlecht oder leichtsinnig. Aber das war ich nie. Ich war nur sehr jung und unerfahren und maßlos verwöhnt. Ich bin auch auf einem großen Gut aufgewachsen, aber drunten im Österreichischen, und sie haben mir die richtige Komtessenerziehung gegeben. Von nichts habe ich recht gewußt, nur von Pferden und Hunden und von der Jagd. ›Plagen S' das Madel net mit all dem neumodschen Krimskrams‹, hat mein guter Papa immer zu meinen Erzieherinnen gesagt, ›geben S' ihr eine solide oberflächliche Erziehung.‹ So habe ich denn ein bißchen Klavierspielen gelernt und ein bißchen Französisch parlieren, und sonst bin ich aufgewachsen wie ein Baum auf dem Feldrain draußen. Ich hab nach allen Seiten wachsen dürfen, meinem Papa war alles recht. Wie ich erst Vierzehn war, da habe ich schon alle Jagden mitreiten dürfen, und mit Sechzehn haben mich die Eltern schon auf die Bälle geführt, und zum Fasching sind wir immer nach Wien gefahren ...

Und immer war ein Haufen junger Burschen um mich herum, draußen auf dem Gut und im Winter dann in Wien, aber die richtigen Burschen, gute Kameraden im Sattel und im Tanzsaal, nie ein schlechtes Wort, aber immer lustig und aufgedreht ... Ach Gott, Lutz, was haben wir da für ein Leben geführt, was haben wir für Streiche aufgestellt, aber immer in allen Ehren, nur Übermut, nie etwas Böses! Mein bester Freund aber war der Ferdl, der jüngste Sohn von einem Nachbargut. Der hat für mich alles getan, was ich nur mit den Augen gewünscht hab! Ich hab gewußt, er hat mich gern gehabt, aber wir haben nie ein Wort davon geredet. Es konnte ja nie etwas werden, er hatte gar nichts; mein Papa, so gut er war, das hätte er nie zugegeben. Und der Ferdl sah's ja auch ein. Was sollte solch ein verwöhntes Mädchen mit einem, der jedes Jahr nur ein paar silberne Ehrenpreise vom Rennen heimbrachte und der sich ein kleines Taschengeld damit verdiente, daß er ein bißchen mit Pferden handelte, natürlich nur so unter Kameraden, aus reiner Gefälligkeit, verstehst?

Ja, sieh, und gerade der Ferdl, der unter jeden meiner Schritte die Hände hätte legen mögen, der hat ihn einmal aus Wien mitgebracht, du weißt schon, welchen ich meine. Wie ich ihn gesehen habe, hab ich gleich gemerkt, er war ganz anders als all die jungen Burschen bei uns. Er hat von so viel zu reden gewußt, von dem wir nie eine Ahnung hatten, und überall in der Welt war er schon gewesen, oder doch beinahe überall. Zuerst hab ich ihm immer zuhören müssen, wenn er erzählt hat, und er war immer sehr höflich zu mir, ganz anders als die Jungen, nicht kameradschaftlich, sondern als wär ich eine Göttin – und ich war doch nur eine dumme Gans!

Dann habe ich langsam gemerkt, er hat mich gern gemocht, auf eine ganz andere Art wie meine Jungens dort unten. Ich bin ganz selig gewesen, daß solch ein großer, bedeutender Mann mich armes Pferdekomtesserl überhaupt hat anschauen mögen. Und doch habe ich Angst vor ihm gehabt und bin ihm ausgewichen, wo ich konnte. Die Nächte habe ich nicht mehr schlafen können, und wenn ich den Ferdl allein gehabt hab, hat er mir immer von seinem Freund, dem Gregor, erzählen müssen, es war ihm schon ganz zuwider!«

Catriona schwieg. Sie sah vor sich hin auf den zerschnitzelten Eichentisch, in den so viele Namen geschnitten waren, aus Liebe. Aber sie dachte wohl nicht an diese Namen, sie dachte zurück an ihr Heim, vielleicht an den getreuen Ferdl, der ihr die Hände unter die Füße hätte breiten mögen, und es hatte doch nichts genützt. Auch ich hätte es gern getan – würde ich aber mehr ausrichten können?

Ich sah mit Sorge und Liebe in ihr Gesicht. Je weiter sie erzählt hatte, um so fremder war's mir geworden. Wie ihre Sprache sich immer heimatlicher, immer österreichischer gefärbt hatte, so war sie ein ganz anderes Wesen geworden, nicht mehr die Catriona. Die Catriona meinte ich seit langem zu kennen, aber dies Mädchen, aus dem die Catriona doch geworden war, das kannte ich nicht! Unser Leben hatte angefangen, als sie in der Hotelhalle gestanden hatte, hilflos und ein wenig verzweifelt, eine schöne, ferne, geliebte Frau! Und wieder wäre es mir lieber gewesen, ich hätte von all ihrem Leben vorher nichts gewußt, auch nichts von dem getreuen Ferdl. Es ist ja immer und bei allen Liebenden so, daß sie das Leben mit der Geliebten neu beginnen und alles Vorherige aus dem großen Lebensbuch ausstreichen möchten. Daher kommen vielleicht die Irrtümer der Liebenden – aber davon verstand ich damals noch nichts.

Wenn ich aber auch nichts mehr hören wollte und nie etwas hatte hören wollen, so war mir doch, als müßte ich jetzt noch abwenden, was geschehen war, als könnte ich's jetzt noch hindern. Ich mußte in ihr versonnenes Schweigen hinein fragen: »Und dein Papa? Und der Ferdl? Hat denn keiner gemerkt, wie's um dich stand? Hat denn keiner geahnt, was für ein Mensch der Gregor war?«

»Ach, geh!« sagte sie. »Wer hätte denn so was merken sollen? Ich hab's dir doch erzählt, wie obenhin wir gelebt haben, wir all mit unserer guten oberflächlichen Erziehung! Wenn jemand sich nur gut benehmen konnte und ein bißchen geschickt parlieren und hat ein Geld gehabt, oder hat wenigstens so auftreten können, als hätte er eines, dann ist schon alles gut gewesen. Und als sie gemerkt haben, wie's um mich stand, da ist schon alles viel zu spät gewesen. Viel zu spät!«

Sie schwieg wieder einen Augenblick, aber diesmal mochte ich sie nichts fragen. Beinahe etwas wie Unmut empfand ich gegen sie, einen gekränkten Zorn, daß sie sich von Gregor hatte täuschen lassen. Ich kannte doch den Gregor, so manches Mal hatte ich gesehen, wie er sich vor Frauen und Mädchen aufspielte, es war mir immer vorgekommen, als balze ein Auerhahn! Und sie hatte sich blenden lassen! Ich konnte es nicht verstehen!

Gleich fiel mir doch ein, daß ich ein Mann war, daß der Gregor ein Onkel von mir war, von dem ich viele schlimme Geschichten seit eh und je wußte. Sie aber war ein junges Mädchen von siebzehn, achtzehn Jahren gewesen, sie hatte ihn mit ganz anderen Augen gesehen, ich würde ihn nie so sehen können. Ich mußte es einfach hinnehmen. Ich mußte versuchen, dies Gefühl zorniger Kränkung in meinem Herzen zu überwinden, ich hatte ihr nichts zu vergeben, ich verblendeter Narr.

»Ja«, sagte Catriona da, »gerade, daß sie merkten, wie es um mich stand, gerade daß sie nun alle gegen ihn waren, das hat mich erst in seine Arme getrieben. Mein guter Papa, der mir mein ganzes Leben den Willen gelassen hatte und der nun plötzlich unerbittlich bei seinem Nein blieb, und alle meine Freunde, die plötzlich zweifelhafte Geschichten von ihm wußten, die haben mir erst den Kopf verlieren lassen. Ich hatte doch immer noch in meinem Leben meinen Kopf durchgesetzt, und nun, in der allerwichtigsten Sache, sollte ich ihn nicht durchsetzen? Da hatte er's leicht, mir zuzureden, in heimlichen Briefen und in noch heimlicheren Zusammenkünften, daß ich zu ihm halten müsse, nun grade, und daß sie sich schon alle geben würden, käme ich erst als seine Frau mit ihm zurück. Hätten sie's nicht alle so schlimm mit mir getrieben und wären sie nicht plötzlich alle barsch und kalt zu mir gewesen, die sonst nie ein böses Wort gehört hatte, wie wäre ich unschuldiges, behütetes Ding denn auf die Idee gekommen, mit einem fremden Mann so mir nichts, dir nichts in die Welt zu laufen, fort von meinen guten Eltern und von meinem schönen Elternhaus und fort von den Pferden und von den Hunden?

Mehr im Zorn auf die anderen als aus Liebe zu ihm bin ich fortgeschlichen, mehr aus trotzköpfiger Rechthaberei, als weil ich nicht mehr ohne ihn leben konnte. Was wußte ich denn von ihm? Nicht mehr, als man in seinem Salon parliert, wo immer zehn Ohren zuhören; nicht mehr, als was sich im Tanzen zuflüstern läßt, wo stets zehn Augenpaare beobachten. Ach, die paar eiligen Küsse unter dem großen Tulpenbaum im Park mit seinen tiefhängenden Ästen – für mich war's mehr Abenteuer und Romantik als Verliebtheit oder gar Liebe!

Aber da war ich nun plötzlich mit einem fremden Mann allein auf der Welt, und statt guter Eltern hatte ich nur diesen einen, den Fremden. Zuerst ging's noch, da machten wir die eilige, abenteuerliche Reise, immer im Verborgenen bis tief ins Italienische hinein, wo er sich endlich sicher fühlte. Und zuerst hatte er mich auf seine Art auch noch gern gemocht, nur verstand ich's damals noch nicht, daß dies alles war, was er zu geben hatte, und daß dann nichts Besseres mehr kam, nur noch Schlimmeres.«

Sie stand plötzlich auf, streckte den Arm nach der Lampe aus und drehte den Docht zurück. Einen Augenblick schwelte er noch, dann verlosch das Licht mit einem leichten Seufzer. Erst war's in der Kajüte ganz dunkel, dann konnten wir die grauen Umrisse der Bullaugen erkennen, aber nicht mehr. In der plötzlichen Stille hörte ich das träge Hafenwasser gegen die Schiffswandung schlabbern, dann ächzten die Taue, die um die Poller des Bollwerks gezogen waren.

»Vielleicht sollte ich dir das alles nicht erzählen, Lutz?« sagte dann Catriona aus dem Dunkel. »Du bist noch so jung. Aber ich habe noch nie mit einem Menschen darüber reden können, ich muß es einmal sagen. Wird es dir sehr schwer, zuzuhören, Lutz?«

»Ach, Catriona, erzähle du nur, ich höre schon zu. Es ist mir, als sei das alles schon sehr lange her und ginge dich gar nichts mehr an.«

»Ja«, sagte sie, »du hast recht, Lutz, es ist sehr weit weg, aber es geht mich schon noch etwas an. Das ist wie die Erinnerung an eine schwere Krankheit, die Schmerzen fühlt man nicht mehr, und das Fieber ist vorbei, und doch ist man ein anderes dadurch geworden. Was für ein schreckliches Leben haben wir da geführt, immer an kleinen, abgelegenen Orten. Denn allmählich kam ich dahinter, daß er große Angst hatte, einen von meinen oder seinen Leuten zu treffen. Ich immer allein, mit niemandem konnte ich ein Wort reden als mit ihm, denn ich verstand kein Italienisch. Dann ging's mir allmählich auf, daß er gar nicht die Absicht hatte, mich zu heiraten, und er hatte mir's doch hundertmal geschworen! Nun begann der Kampf zwischen uns, von meiner Seite mit Trotzen und Tränen und von seiner Seite aalglatt, immer mit Lächeln und immer mit falschen Worten. Und setzte ich ihm gar zu sehr zu, so verschwand er einfach, ließ mich sitzen in solch einem kärglichen, verlassenen Albergo in den Bergen und war fort, drei, vier Tage. Da saß ich dann, und so weit kannte ich ihn jetzt auch schon, daß ich darum zitterte, er könne nie zurückkommen. Was hätte ich wohl anfangen sollen, ohne einen Pfennig Geld, mit meinen paar Kleidern und meinem bißchen Komtessenschmuck?

Aber er kam immer wieder zurück, noch heute weiß ich nicht, warum eigentlich. Vielleicht war noch irgend etwas in mir, das er noch nicht zerstört hatte, noch nicht zerquält hatte, denn er ist wie die Katzen: Des Quälens wird er nie müde. Oder aber, er hat mich einfach dahin bringen wollen, daß ich ihm fortlief. Da war er aller Verantwortung ledig, da hätten alle gesagt: ›Ja, solch ein Flittchen! Erst ist's aus dem Elternhaus weggelaufen und hat sich dem Mann an den Hals geworfen, und dann ist's auch dem Mann wieder weggelaufen, wohl zu einem andern!‹ Da wär er groß dagestanden, der Gregor! Damals habe ich ihn wohl kaum noch geliebt, doch ich hab's mir noch mit Gewalt eingebildet, aus Rechthaberei, bloß daß ich mir nicht eingestehen mußte, wegen solch einem Fratzen von Mann hast du alles aufgegeben und hast dein ganzes Leben zerstört!

Darum habe ich auch meinen Kopf darauf gesetzt, daß er mich doch noch heiraten sollte, wenigstens das wollte ich noch erreichen – wieder aus Rechthaberei. Wenn ich auch nie wieder zu den Meinen nach Haus heimkehren wollte – ich hätte mich ja zu Tode vor ihnen geschämt! Sie sollten's doch hören: Ich war seine richtige Frau geworden. Ich hätte es aber nie und nie geschafft, dafür war er zu glatt und zu lügnerisch und zu schlau, wenn nicht mein bester Freund, der Ferdl, gewesen wär. Ja, siehst du, die andern haben mich alle aufgegeben, wie ich da so holterdiepolter aus dem Haus gelaufen bin, nicht der Ferdl. Den hat's nicht ruhen lassen, daß grade er den falschen Mann zu mir gebracht hatte. Er ist uns nachgereist und hat uns gesucht, hier und dort, und da hat er ein Stückchen Spur gefunden und dort wieder. Wie ein guter Spürhund hat er nicht abgelassen von unserer Fährte, er hat eben auch die rechte Passion dafür gehabt. Ein-, zweimal hat der Gregor mich schon ganz plötzlich abreisen lassen, aber ich hab mir nur gedacht: Das ist wieder so eine von seinen Launen. Er hat aber wohl gewußt, wer ihm auf der Fährte sitzt.

Und eines Tages plötzlich – ich habe wieder einmal so allein vor einem Albergo gesessen – steht plötzlich der Ferdl vor mir und sagt mir guten Tag, als sei's gestern gewesen daheim, daß wir uns getrennt haben. Und sagt mir: ›Heh, Catriona, rück ein Stück auf der Bank, daß ich mich neben dich hinhocken kann. Da wollen wir gemeinsam auf den Deinigen warten, und nun sag mir zuerst: hat er dich geheiratet oder hat er dich nicht geheiratet?‹

Ich hab ihm erzählt, wie's ist. ›So‹, sagt der Ferdl, ›und warum willst du ihn noch heiraten, den Lumpen, willst dich ganz unglücklich machen lassen von ihm, gelt?‹ Und ich hab ihm gesagt, daß ich es eben so will, daß ich ihn nicht auslassen will, daß er bei mir nicht durchkommen soll mit seiner Glattigkeit. Der Ferdl hat den Kopf geschüttelt und hat gesagt: ›Das ist die Catriona. Immer hast du über die breiteste Stelle vom Graben springen wollen mit dem Gaul, und machte er's schlecht oder konnte er's nicht, hast du ihn lieber zehnmal schlecht springen lassen, als einmal ausgelassen.‹ – ›Nie auslassen, Ferdl!‹ hab ich gesagt. ›Nie!‹ – ›Nun‹, hat der Ferdl geantwortet, ›auslassen werde ich ihn schon nicht, so oder so, darum sei schon sicher, Catriona!‹ Und hat mich so seltsam angesehen, ich hab gleich gewußt, was er gemeint hat. Er hat aber auch gewußt, was ich gemeint hab, und hat mir noch gesagt: ›Also dann wird geheiratet!‹ Von da ab haben wir still auf der Bank gesessen, er hat seine kurze Pfeife geraucht, und wir haben ein bißchen von den Leuten daheim geredet und von den Pferden und von den Hunden, als wär ich nur ein paar Tage fortgewesen.

Da, es war schon dunkel, ist der Gregor plötzlich um die Ecke gekommen und ist vor uns gestanden, schneeweiß, geschlottert hat er am ganzen Leibe, als er den Ferdl gesehen hat. Und plötzlich hab ich erkannt, daß ich zu allem andern Elend mir auch noch einen Feigling eingehandelt habe. Der Ferdl hat's auch gewußt, er ist dem Gregor nicht vom Leibe gegangen am nächsten Tage. Er hat ihn nicht ausgelassen, bis wir wirklich getraut worden sind, von einem richtigen Priester, in solch einem kleinen Gebirgsdorf weit oben in den Apenninen.«

»So«, sagte ich mit einem tiefen, erleichterten Aufatmen. »So bist du also doch noch getraut worden und bist eine richtige Frau von Lassenthin. Ich habe es ja gleich gewußt, Catriona. Was die Leute nur alles reden! Und warum behauptet der Gregor –?« Zu spät hielt ich inne.

»Nun«, fragte Catriona, »was hat denn der Gregor behauptet? Sag es schon, Lutz, du siehst, du kannst es doch nicht verborgen halten!«

»Er hat zum Gumpel gesagt, du wirst es nie beweisen können. Ich denke wenigstens, daß er die Heirat damit gemeint hat. Obzwar ich nur ein paar einzelne Worte ihrer Unterredung hören konnte.«

»Hör weiter zu, Lutz. Ich hab ihn also geheiratet, und der Ferdl und der Wirt sind unsere Zeugen gewesen. Und wie wir geheiratet hatten, da hat der Ferdl sich mit dem Gregor in einen Wagen gesetzt, und sie sind beide fortgefahren. Ich hab mir gleich gedacht, was da geschehen soll, daß der Ferdl den Gregor noch immer nicht ausläßt, daß es ihm noch nicht genug gewesen ist mit der Heirat. Ich habe gesessen einen Tag und eine Woche und noch eine Woche – da habe ich gewußt, es ist schlecht ausgegangen. Ich habe mich ausgelöst mit einem Ring und bin losgefahren und habe gesucht, daß ich einen von den beiden finde. Es ist sehr schwer für mich gewesen, das Suchen, weil ich doch kein Wort Italienisch gewußt hab, aber schließlich hab ich ihn doch gefunden, den Ferdl, da war's schon zu spät. Da hatte sie ihn schon begraben, seine Verwandtschaft. Sie hatten sich geschossen, die beiden, der Ferdl hat den Gregor gezwungen dazu, und so geht's zu auf der Welt, Lutz: Den Mutigen hat's getroffen, und der Feige ist frei ausgegangen. Meinen letzten Freund hatte ich da verloren, auf der weiten Welt.«

Wieder hielt sie inne, und nun verstand ich es besser, all das wirre böse Geschwätz, das völlig verdreht von ihr hier bei uns im Gange war, daß der Gregor mit der Frau eines Freundes geflohen war und daß sie sich geschossen hatten. Ach, vielleicht hatte mein Onkel Gregor sein Gutteil dazu getan, daß die Wahrheit so verdreht erzählt wurde! Ja, bestimmt ist es so gewesen.

Catriona schwieg so lange, daß ich schließlich ganz leise fragte: »Und was geschah dann, Catriona?«

»Ja, Lutz, was geschah dann? Wie seine Verwandtschaft auf mich gesehen hat, das kannst du dir wohl denken, und daß ich von Stund an für alle daheim wie tot und begraben bin, das muß ich dir nicht erst noch sagen. Von dem Gregor habe ich nichts mehr gehört, und das war mir auch recht so, ich hätte ihm nie im Leben mehr die Hand noch geben mögen. Ich bin dann eine Weile krank gewesen, aber man hat mir geholfen, und dann habe ich so ein bißchen angefangen, mir ein Leben einzurichten, ganz still und einfach, mit meinem bißchen Sprachen und meinem bißchen Klavier, mit meinem ganzen bißchen oberflächlicher Erziehung. Oh, es ging schon, ich wollte es gar nicht besser haben. Ich war zu tief gefallen, mich schmerzten alle Glieder, ich konnte kaum stehen, wie wollte ich da weitergehen?«

Sie schwieg wieder. Und dann suchte tastend auf dem Tisch ihre schmale Hand die meine und legte sich sachte darüber. »Lutz, jetzt fragst du: Und warum ist sie nun doch hier? Und warum will sie durchaus wieder zu dem ungeliebten, dem gehaßten Mann?«

»Ja, Catriona, das verstehe ich nicht.«

»Lutz, Lutz«, sagte sie und lachte und weinte beinahe dabei. »Denke doch nach! Warum habe ich wohl die Lampe ausgemacht?«

Ich verstand noch immer nicht. Ich sah nach den dämmrigen Rundungen der Bullaugen hinüber, ich hörte das Hafenwasser schlabbern und das Knirschen der Taue. Dann fühlte ich, wie sich ihre Hand fester auf die meine legte, als sei diese Hand jetzt entschlossen, mir etwas zu sagen.

Aber ich verstand noch immer nicht.

Da löste ihre Hand sich leise von der meinen, ich merkte es, wie Catriona sich zurücklehnte, und während ich noch zitterte, sie könne wegen meines Nichtverstehens böse auf mich sein, fing sie ganz leise und zart zu singen an:

»Da oben auf dem Berge,
da wehet der Wind,
da sitzet Maria
und wieget ihr Kind,
sie wieget es mit ihrer schneeweißen Hand,
dazu braucht sie kein Wiegenband.«

Und während sie so sang, schämte ich mich sehr, daß ich an anderes hatte denken können: an den Gregor und an Geld, an alles andere, nur an das nicht.

Eine Weile war es ganz still bei uns in der Kajüte. Dann sagte Catriona: »So, Lutz, und nun laß mich ein wenig schlafen. Mir ist so still und friedlich zumute. Nein, mach gar nicht erst Licht, ich lege hier solch Polster unter meinen Kopf, und meinen Mantel lege ich über mich. Es ist gar nicht kalt. Wenn du magst, kannst du gern hier unten sitzen bleiben, du störst mich nicht. Ich fühle, ich werde herrlich schlafen. Gute Nacht, Lutz.«

»Gute Nacht, Catriona«, antwortete ich. »Ich gehe noch auf ein Weilchen an Deck und sehe nach dem Morgen aus. Vielleicht komme ich dann wieder her und setze mich zu dir.«

So stieg ich denn leise hinauf und suchte mir einen Platz, von wo ich das Bollwerk überschaute, damit uns keiner überraschte. Ich dachte aber nicht sehr an meine Wache, sondern ich dachte an die schlafende Frau und mein geändertes Leben und an vieles, das ich noch nicht verstand. Es war mir aber, wenn ich an meine Abfahrt mit den Weizenwagen vom väterlichen Hof zurückdachte, als sei ich an diesem einzigen Tage älter und reifer geworden als in meinem ganzen bisherigen Leben zusammen. Ich sah so viele Aufgaben vor mir.

Dann fing ich darüber zu grübeln an, was wir wohl als nächstes tun mußten, und der Gedanke kam mir wie Catriona, daß nicht der alte Lassenthin der Schlimmste war, den wir fürchten mußten, sondern mein Onkel, der Gregor, den ich immer nur verachtet hatte. Ja, ich dachte sogar, daß wir zuerst den Alten für uns würden gewinnen müssen und daß dann der Junge – aber was wollte sie von dem Sohn?

Während ich darüber grübelte, muß ich auf meinem Wachtposten eingeschlafen sein. Ich wachte davon auf, daß eine dunkle Gestalt vor mir stand und ziemlich knurrig fragte: »Was machen Sie denn schon hier an Bord?«

Ich schreckte auf. Aber trotz meiner Verschlafenheit verriet ich mich nicht, sondern fragte gleich: »Wann fährt denn der Dampfer?«

»Um sechse«, sagte der andere. »Sie sind wohl mit dem Nachtzug gekommen?« Ich murmelte etwas. »Na, es ist erst halb vier. Gehen Sie doch in die Kajüte und legen Sie sich lang, da haben Sie es wärmer. Ich bin der Heizer, ich heize jetzt an.« Damit schlurrte er zum Kesselraum hinüber.

Ich aber schlich zur Kajüte, und wie ich unten war und ihren ruhigen Schlafatem hörte, dachte ich wieder: Es sind noch zweieinhalb Stunden, bis der Dampfer fährt, zwei Stunden kannst du sie noch gut schlafen lassen. Wo sollen wir aber auch um diese Morgenstunde hin?

Ich setzte mich an den Tisch. Dicht dabei, als wäre er direkt hinter mir, polterte der Heizer, und ich dachte noch: Der hält dich schön wach. Er soll nur nicht so viel Krach machen, daß er Catriona weckt.

Aber Catriona schlief ganz fest weiter. Ich saß am Tisch, den Kopf in die Hände gestützt, und fing wieder an, darüber nachzudenken, warum sie jetzt wohl nach Ückelitz wollte, ob sie meinte, das Kind dürfe nicht ohne Vater sein, und ob sie deswegen wohl wieder mit Gregor zusammenleben würde. Ungeduldig sagte ich mir, das kann nicht sein. Nie würde sie das tun, nie! Und dann fing ich wieder an zu grübeln und schreckte auf, weil der Heizer eine Schürstange hatte fallen lassen. Es polterte schrecklich. Ich darf keinesfalls einschlafen, dachte ich. Ich bin ihr Ritter, ich muß für sie Wache halten. Dabei dachte ich an ein großes Bilderbuch mit gepreßtem Einband, das ich einmal als Kind besessen und das vielleicht noch immer irgendwo in einem Winkel bei uns zu Haus lag: an den Don Quichotte. Ich hatte den edlen Junker aus der Mancha in meinem nüchternen pommerschen Sinn immer etwas albern gefunden, nun war mir doch schon, seit sie mich zu ihrem Ritter ernannt hatte, ein paarmal der Gedanke gekommen, meine Abenteuer hätten eine gewisse Ähnlichkeit mit den seinen.

Grade jetzt aber, da mich die fallende Schürstange aus einem neuerlichen Einschlafen aufgeschreckt hatte, fing ich an, darüber nachzudenken, ob es dem Don Quichotte auch einmal geschehen sei, daß er auf einer Wache einschlief. Es war mir beinahe so, aber die Gelegenheit wollte sich nicht einfinden. Nun gingen viele Gelegenheiten flüchtig in meinem Hirn vorüber: die Wache bei der Schafherde und die im Keller bei den Weinschläuchen, dann der Kampf mit den Windmühlenflügeln, ein Gastmahl in einem Schloß – bei wem? Da war ich schon wieder eingeschlafen.

In meinem Schlaf heulte ein Horn, aber es war nicht das Horn, das den irrenden Ritter zum Kampf rief, es war das Horn, die Tute der Tirpitz! Ich fuhr auf aus meinem Schlaf, mit den Fingern durch meine Haare und starrte in viele Gesichter, die mich wohlwollend lächelnd ansahen, dann sagte ein biederer Land- oder Fischersmann: »Se hebben eenen goden Slop, allens, wat recht is!«

Und eine Berliner Mutter, die von ihren beiden Kindern arg bedrängt wurde: »Wenn meene Blaren, und se pennten nur eene Nacht so, aber nee, immer mindestens eener, der uff mir 'rumturnt!«

»Was?« fragte ich bestürzt. »Fahren wir schon?«

Die Kajüte war voll, alle Plätze besetzt, mit Leuten aus Hiddensee, aber auch mit Kurgästen, die nach der Insel fuhren. Alle sahen mich an. In der Kajüte war es taghell, die Sonne schien draußen, das Wasser rauschte in den großen Radkästen.

»Wir fahren also schon!« rief ich noch einmal, denn ich wollte noch immer nicht glauben, was mir doch alle meine Sinne verrieten.

»Seien Sie froh, daß wir endlich fahren«, sagte einer lachend. »Wir haben schon wieder 'ne halbe Stunde Verspätung aus Stralsund mitgenommen.«

Ich begegnete Catrionas Blick, sie sah mich ebenso verwirrt an wie ich sie. Auch sie hatte wohl erst das Tuten des Dampfers geweckt, auch sie war sich noch nicht ganz klar, was mit uns geschehen. Sie strich sich mit den Fingerspitzen über das Gesicht, als wollte sie es fühlen, daß sie es war, die hier auf einem Dampfer über die See fuhr.

»Ich rede sofort mit dem Kapitän!« rief ich schuldbewußt. »Er muß uns sofort zurückfahren!«

Draußen an Deck sah ich erst, wie weit wir schon waren. Klein hoben sich die Türme Stralsunds aus dem hellen Morgenhimmel, die Mole war nur noch ein schwarzer Strich. Rechts lag mit gelber Küste und mit grünen Feldern die Insel Rügen, links – du lieber Himmel, wir waren schon bald auf der Höhe des Leuchtturms von Barhöf!

Ich stürzte die Treppe zum Häuschen des Kapitäns hinauf. »Käptn, mein Name ist Strammin, Ludwig von Strammin. Ich muß sofort zurück nach Stralsund, ich habe da eine Weizenverladung. Ich zahle Ihnen fünfzig Mark, wenn Sie uns sofort nach Stralsund zurückbringen!«

Der Käptn musterte mich schweigend. Er war ja nur ein Käptn mit dem kleinen Patent für Küstenschiffahrt, aber er war immerhin in dem gleichen Maße Herr über sein Schiff und dessen Passagiere wie sein größter Kollege über den längsten Windhund des Ozeans. So fehlte es ihm an Selbstgefühl gewiß nicht. Ich wurde schon ganz ungeduldig unter seinem Blick, da sagte er: »Was soll denn das wohl für ein Irrtum gewesen sein –?«

Ich war auf eine solche Frage nicht gefaßt, ich war zu plötzlich aus meinem Schlaf gekommen. »Oh«, sagte ich, »ich habe eine Bekannte an Bord gebracht. Wir waren etwas früh daran, und da sind wir in der Kajüte eingeschlafen –«

Wieder dieser musternde Blick. »Jau«, sagte der Kapitän dann, »und in der Kombüse ist auch einer gewesen! Der Schietkram hört auf, sonst werde ich mal bannig ungemütlich! So 'ne jungen Leute, denken, Gott und mein ganzes Schiff gehört ihnen! Sie!« brüllte der Kapitän plötzlich los. »Machen Sie, daß Sie von meiner Brücke kommen – Sie Nachtvogel, Sie!«

Selten wohl hat ein Strammin solch eine Abreibung ohne Widerworte hingenommen. Wäre ich in ein bißchen besserer Verfassung gewesen, ich hätte ihm dies nicht so durchgelassen. Aber ich war im Unrecht, mit jedem Punkt im Unrecht – und ich hatte keinen Pfennig Geld in der Tasche! So schlich ich ohne ein Gegenwort die Treppe wieder hinab, hörte oben den Kapitän mit seinem Steuermann höhnisch lachen, ging unten durch teils neugierige, teils schadenfrohe Gesichter – denn das letzte erregte Stück des Diskurses auf der Brücke war nicht ungehört geblieben.

Catriona war auch an Deck, sie ging auf mich zu. Ich sagte mit fremdem Gesicht: »Sie kennen mich nicht!« und ging an ihr vorbei, ging über das ganze Schiff bis an seine Spitze, und da stand ich und fühlte Ärger und Verlegenheit und Zorn auf mich selbst, daß ich meine Dame so blamiert hatte. Ich dachte an meinen Weizen in Stralsund, an den Alex, an die Bessy von Schalenberg, die meine Fuhrwerke kommandierte. Ich dachte auch an die Madeleine Thibaut und an den Professor Marcelin Arland, dessen Briefpäckchen ich noch immer in meiner Satteltasche hatte, und dachte dabei immer wieder: Es muß was geschehen. Irgendwas muß geschehen. Jetzt fahren wir nach Hiddensee – und soviel mir bekannt ist, fährt der Dampfer erst übermorgen zurück. Ich kann doch mit Catriona nicht zwei Tage auf der Insel sitzen, ich habe sie schon genug kompromittiert, dies gäbe ihr den Rest! Und dazu noch die Geschichte hier auf dem Dampfer, wenn die bekannt wird, die halbe Nacht in der Kajüte, der bestohlene Kombüsenschrank ...

Ich hatte den Anblick der Wellen, die sich am Bug brachen, endgültig über, mich hatte es nicht nach der See gelüstet! Zuerst mußte die Sache mit Moder Rickmersch und ihren geklauten Semmeln in Ordnung gebracht werden. Ich drehte mich mit einem Ruck um: Ich stand vor Catriona! Weiß der Himmel, wie lange sie da schon in meinem Rücken gestanden und mich beobachtet hatte!

»Catriona!« rief ich. »Du darfst mich nicht kennen! Wir müssen uns ganz fremd sein. Ich ruiniere deinen Ruf. Oh, ich Mondkalb, wie konnte ich nur so verschlafen!«

Zu meiner Verzweiflung entdeckte ich jetzt auch noch Kapitän und Steuermann oben auf ihrer Brücke. Sie sahen zu uns herunter und schienen die Köpfe grinsend zusammenzustecken.

Ich hängte meinen Arm in den Catrionas ein. »Es ist schon alles egal. Ich werde einfach sagen, daß du meine Schwester bist. Hier auf dem Dampfer kennt uns keiner. Was weiß der Käptn schon von den Strammins?« Ich ließ ihren Arm wieder los. »Aber es kommt alles herum! Bei uns kommt immer alles herum, und viel schlimmer, als es wirklich gewesen ist! Wenn bekannt wird, daß ich dich für meine Schwester ausgegeben habe – kein Mensch wird glauben, daß wir einfach so ... Catriona, du darfst hier nicht bei mir stehen! Kein Mensch darf uns beieinander sehen. Wir müssen ganz fremd tun.«

Ich gebe zu, es war ein ziemlich törichter, jungenhafter Ausbruch. Aber ich hatte wirklich Ursache, sehr verzweifelt zu sein, weder ihre noch meine Lage sah rosig aus. Nur hätte ich gern ein bißchen mehr Fassung bewahren können, meine Verzweiflung verschlimmerte alles.

Dies schien Catriona auch zu finden. Jetzt nahm sie meinen Arm. »Ruhig Blut, Lutz«, sagte sie lächelnd. »Du bist ein wenig plötzlich aus dem Schlaf gekommen, nicht wahr? Am besten würdest du dich ein bißchen frisch machen, aber ich habe schon festgestellt, daß die Lokalitäten hier einfach fürchterlich sind und von Waschgelegenheit keine Spur! Geh ruhig mit mir, sie haben uns ja alle in der Kajüte schlafend gesehen – oder doch fast alle. Und nun sage, Lutz, wohin fährt der Dampfer?«

»Nach der Insel Hiddensee!« stöhnte ich und war doch schon ruhiger. »Nach Neuendorf, nach Vitte, nach Kloster, was weiß ich!«

»Und wann werden wir ungefähr dort sein?«

»Wenn dieser alte Klapperkasten nicht wieder Havarie macht, gegen Mittag, denke ich.«

»So daß wir am Abend wieder in Stralsund sein könnten?«

»Er fährt ja erst übermorgen wieder zurück!« rief ich.

Sie sah mich an, dann lächelte sie, dann lachte sie: »Ach, Lutz, nun bist du nicht nur ein fahrender Ritter, sondern wie ein Robinson wirst du an einer wüsten Insel auf den Strand geworfen, ohne Essen, ohne Trinken.«

»Ohne alles Geld!« ergänzte ich sehr ernst.

»Aber mit einem weiblichen Freitag, der dir eine rechte Last sein wird«, lachte sie noch immer. »Ich muß daran denken, Lutz, daß mir euer grimmig-guter Polizeimajor empfohlen hat, mich für ein Weilchen an einen ganz stillen Ort zurückzuziehen. Das Schicksal scheint dafür zu sorgen, daß wir seinen Rat auch befolgen.«

»Es ist doch wirklich nicht möglich, daß du und ich, Catriona –« Ich brach ab, für diesen Punkt meiner Bedenken schien sie wenig Gefühl zu haben. »Und dann, auch auf Hiddensee wird man nicht ganz ohne Geld leben können.«

»Das ist entschieden unser schwächster Punkt, Lutz«, gab Catriona zu. »Ich sehe da schon eine ganze Weile einem Mann mit dicker Ledertasche zu, der zwischen den Fahrgästen herumgeht und bunte Zettelchen verteilt. Du hast nicht zufällig noch ein paar Mark in einer allergeheimsten Rocktasche, Lutz?«

»Um Gottes willen!« rief ich. »Auch das noch – mit keinem Gedanken hatte ich bisher an das Fahrgeld gedacht! Entschuldige mich fünf Minuten, Catriona, drücke dich so herum, ich bin so rasch wie möglich wieder zurück!«

Und ich stürzte zu Moder Rickmersch. Sie war eine gutmütige Frau, sie kannte ihre Leute, sie war eine ganz andere Sorte Mensch als dieser ekelhafte Kapitän. Bestimmt wußte sie auch, was ein Strammin war, ich brauchte ihr gar nicht erst meinen Namen nennen, sie las mir mein Pommerntum vom Gesicht ab.

»Gewiß, junger Herr, ich hab's gleich gesehen, daß jemand an meinem Schrank war. Aber wie ich euch beide da in der Kajüte schlafen sah ...« Ich muß rot geworden sein. »Alles in Güte, junger Herr!« rief die Rickmersch. »Alles in Güte und Wohlanständigkeit! Wenn man jung ist, kriegt man eben schon einmal Hunger, auch mitten in der Nacht. Die kommen mir schon, habe ich gedacht. Die laufen mir nicht weg.« Und sie verriet ihren geheimsten Gedanken, als sie sagte: »Na ja, Sie hätten auch anders sein können, aber auf einem Dampfer läuft einem eben so leicht keiner mit der Zeche weg. Sagen wir zwei Mark, junger Herr.«

Ich machte keine langen Geschichten. Ich nestelte die schöne, goldene Erbuhr, die mir Papa zu meiner Volljährigkeit geschenkt hatte, von der Kette, legte sie Moder Rickmersch auf das Kombüsentischchen und sagte: »Zwanzig Mark, Moder Rickmersch, aber nur in Pfand. Ich hole sie mir wieder, gegen fünfundzwanzig Mark.«

Sie warf einen raschen Blick auf mein Gesicht, aber sie war viel zu klug, sich groß zu wundern. »Ist gemacht, junger Herr«, sagte sie, und die Uhr war schon vom Tischchen verschwunden. Sie zählte das Geld auf: »Bleiben achtzehn Mark, das heißt, ich werde Ihnen noch ein Frühstück 'raufbringen. Die junge Frau sieht mir ganz so aus, als ob ...« Mir fiel ein Stein vom Herzen.

Sie brach ab, aber diesmal verstand ich, was dies »als ob« bedeuten sollte. Der Moder Rickmersch mußte nicht erst Marias Wiegenlied vorgesungen werden, sie hatte Augen im Kopf. »Und vor ein Uhr sind wir bestimmt nicht in Neuendorf, Seefahrt macht hungrig! Sie wollen doch nach Neuendorf? Oder noch weiter?«

»Nein, nur bis Neuendorf.«

»Das Hotel ist besetzt«, erklärte Moder Rickmersch. »Aber ich habe einen Vetter dort, auch 'nen Rickmers, der könnte Sie wohl noch aufnehmen! Er hat ein paar ganz hübsche Stuben, nahe beim Außenstrand.«

Als ich dies hörte, war im Augenblick mein Plan gemacht. »Ja«, sagte ich, »und vielleicht kann mich Ihr Vetter heute nachmittag nach Stralsund zurücksegeln, ich habe da etwas Dringendes zu erledigen.«

»Das wird vielleicht auch gehen«, sagte die Rickmersch ungerührt. »Wenn er grade an Land ist. Aber er wird schon an Land sein, jetzt ist nicht viel los mit der Fischerei.«

Es war nicht ganz leicht, Catrionas Zustimmung zu meinem Plan zu erhalten. Jetzt, so nahe dem Ziel, wollte sie sich nicht auf eine stille Insel wie ein Kurgast setzen, wenigstens nicht allein. Sie schien wirklich ein wenig Angst vor der Einsamkeit zu haben, schlimme Monate lagen weit hinter ihr.

Aber schließlich überzeugte ich sie. Ich schob mein Weizengeschäft sehr in den Vordergrund, und wahrhaftig, es war mir auch wichtig. Alles wollte ich Bessy nun auch nicht überlassen, bestimmt nicht alles Geld. Ich brauchte Geld sehr nötig, schon sah ich ein, ich hätte mir auf die Uhr fünfzig Mark geben lassen sollen. Die achtzehn Mark mußte ich Catriona schon lassen und wieder ohne einen Groschen zum Fischer Rickmers ins Boot steigen. Aber dann winkte am Bollwerk in Stralsund Bessy mit fast fünftausend Mark!

Die Zimmer beim Fischer Rickmers waren sehr hell und sauber, die weißen Gardinen wehten im Seewind, und über den ganzen flachen Schwanz der Insel sahen wir, aus den Fenstern gelehnt, vom Binnen- bis zum Butenwasser. Catriona sah aus dem einen, ich sah aus dem andern Fenster, unten weideten getüderte Schafe, draußen brauste die See, das Binnenwasser blinkte in der Sonne. Es gab keine Wege, nur Gras, kurzes, sehr grünes Gras, und weiter hin auf den Dünen ein Streifchen Kiefern.

Alles war Catriona so neu, sie fragte tausend Dinge, und als sie mich die paar Schritte zum Boot hinunterbrachte, meinte sie ganz versöhnt: »Ich glaube doch, hier werde ich es ein bißchen aushalten, ohne vor Ungeduld zu vergehen. Aber du kommst bald zurück, sehr bald, nicht wahr, Lutz?«

»So schnell ich nur kann, Catriona. Wenn ich meine Fuhrwerke gleich treffe, vielleicht noch heute nacht. Aber warte nicht auf mich, schlafe, Catriona!«

Das Boot lag schon bereit. Fischer Rickmers ruderte ein paar Stöße hinaus, bis der Wind ins Segel faßte. Es breitete sich langsam aus, rostrot in der Sonne leuchtend. Die Taue knirschten, das Wasser begann an der Bootswand zu züngeln und zu saugen. Wir gewannen Fahrt.

Ich sah zurück. Auf der kleinen Brücke stand Catriona und winkte mir mit ihrem Tüchlein nach. Ich winkte mit meinem Hut zurück. Mein Herz war froh und schwer. Froh, daß es dies nun gab in meinem Leben, schwer, daß ich es allein lassen mußte, und sei es auch nur für ein paar Stunden. Wie würde ich sie wiederfinden?

»Um fünf müssen wir neben Ole Pedersens Brigg längsseits gehen«, sagte ich zu Fischer Rickmers.

»Das müssen Sie dem Wind sagen, nicht mir, junger Herr!« lachte der Fischer. »Ick kann dorbi gor nix daun!«


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