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Neuntes Kapitel. Reif zur Verhaftung

1

»Jetzt will ich Ihnen mal was sagen«, erklärte Herr Wossidlo und sah die beiden Kriminalbeamten böse an. »Sie haben mich, meinen Geschäftsführer, meine sämtlichen Angestellten seit Stunden vernommen. Sie haben mit einem sehr schlecht verborgenen Mißtrauen meine Angaben über den Wert der gestohlenen Brillantringe aufgenommen. Sie haben der Reihe nach eigentlich jeden Angestellten meines Geschäfts im Verdacht der Teilhaberschaft an diesem Überfall gehabt, bis auf meinen armen Wächter hinunter, der seit über zwanzig Jahren bei meiner Firma arbeitet. Dann haben Sie wieder stundenlang auf der Straße und im Geschäft Untersuchungen angestellt, wie der Raub zustande gekommen ist. Sie haben diesen lächerlichen Pflasterstein, der aussieht wie jeder andere Pflasterstein, mit einer Sorgfalt untersucht, als wäre er ein nur einmal vorhandenes Einbruchswerkzeug.

All das mag ja Ihren kriminalistischen Gepflogenheiten entsprechen. Ich als Laie in diesen Dingen gewissermaßen möchte aber meinen, daß es etwas wichtiger wäre, sich um die Ergreifung der ausgerissenen Diebe zu bemühen. Die sechs oder sieben Stunden, die Sie jetzt in meinem Geschäft mit Untersuchungen und Vernehmungen zugebracht haben, sind sechs oder sieben Stunden Vorsprung für die Verbrecher. Ich möchte mir doch die Frage erlauben, ob wenigstens Kollegen von Ihnen sich mittlerweile mit der Ergreifung dieser Leute beschäftigt haben?«

»Darüber darf ich Ihnen keine Auskunft geben«, sagte der eine Kriminalbeamte mürrisch.

»Und darf ich weiter fragen«, sagte Herr Wossidlo kopfnickend, als sei das eben genau die Antwort gewesen, die er erwartet hatte, »darf ich weiter fragen, ob Sie schon eine gewisse Spur verfolgen?«

»Auch darüber darf ich im Interesse unserer Arbeit nichts sagen«, erklärte derselbe Beamte.

»Schön«, sagte Herr Wossidlo. »Und was denken Sie, was nun geschehen wird?«

»Darüber werden Sie Bescheid bekommen.«

»Ich will Ihnen noch etwas sagen«, rief Herr Wossidlo mit lauterer Stimme. »Was Sie hier bei mir getan haben, ist nur getan, um überhaupt irgend etwas zu tun –, damit ich gewissermaßen beruhigt bin.

Ich bin nicht beruhigt, meine Herren. Ich habe mich nie mit kriminalistischen Methoden beschäftigt. Aber das sehe ich doch, daß Sie hier genauso wie ich im Dunkeln tappen und auf irgendeinen Zufall warten. Ich denke aber gar nicht daran, auf die Polizei und ihren Zufall zu warten. Ich erkläre Ihnen hiermit, ich werde selbständig vorgehen und ich werde selbständig versuchen, die Räuber zu ermitteln, um meine Ringe wiederzubekommen.«

»Detektiv?« fragte der zweite Beamte.

»Darüber kann ich Ihnen im Interesse meiner Ermittlungen leider nichts sagen«, erklärte Herr Wossidlo. »Jedenfalls werden Sie bald Neueres von mir aus den Tageszeitungen hören.«

»Was wollen Sie denn machen?« sagte der erste Beamte rasch und besorgt. »Wir müssen doch Hand in Hand arbeiten.«

»Jetzt plötzlich?«

»Und wenn Sie eine Belohnung aussetzen wollen, zweifellos wird auch von uns eine Belohnung ausgesetzt werden.«

»Also ich kann nichts sagen«, erklärte Herr Wossidlo mit Nachdruck.

»Es können Berufsverbrecher in Frage kommen«, sagte sinnend, jetzt plötzlich mitteilsamer, der zweite Beamte. »Es können aber auch Leute sein, die durch irgendeinen Zufall von diesen drei Minuten erfahren haben, die der Laden praktisch unbewacht ist. Gerade darum mußten wir ja unsere Ermittlungen auch auf Ihre Angestellten erstrecken. Denn es gehört schon ein ganz gerissener Beobachter dazu, um ohne Wink hinter diese drei Minuten zu kommen.«

»Ich glaube an all diese Geschichten nicht«, sagte Herr Wossidlo. »Ich habe auch Kriminalromane gelesen, aber ich glaube nicht daran, daß Verbrechen so komplizierte Geschichten sind. Was braucht es Berufsverbrecher und lange Beobachtungen, um einen Stein in ein Ladenfenster zu werfen!«

Die Beamten wiegten die Köpfe, sichtlich nicht derselben Ansicht.

»Also, wir bitten Sie dann«, sagte der eine abschließend, »uns eine möglichst genaue Beschreibung der gestohlenen Ringe mit allen näheren Angaben noch heute aufs Stadthaus zu schicken. Das geht dann sofort heraus.«

»Schön, schön, das werde ich tun«, sagte Herr Wossidlo. »Guten Morgen, die Herren.«

 

2

»Eine verdammte Geschichte«, sagte der eine Beamte.

»Ein hochnäsiges Aas«, stimmte der andere zu.

»Er wird uns noch Streiche spielen«, sagte der erste düster.

»Und was für welche!« stimmte der zweite zu.

»Man kann im Moment nichts tun«, sagte der erste.

»Nein«, bestätigte der zweite, »man muß abwarten, bis die Sore irgendwo auftaucht.«

»Bis dahin hat der Wossidlo ganz Hamburg mit seinem Geschwätz über die Polizei wild gemacht.«

»Ich glaub' nicht, daß es einer aus der Branche war. Außerdem ist keiner von denen jetzt in Hamburg.«

»Daß man auch nichts von einem Gerede vorher gehört hat! Es müssen doch mindestens vier Mann gewesen sein. Vier Ganoven, die dicht halten, gibt es doch nicht.«

»Es muß verdammt schnell gegangen sein.«

»Aber der Tip!« rief der andere. »Diese Annonce mit den drei Minuten! Da muß einer mindestens zwei Wochen lang baldowert haben.«

»Und der Wächter hat natürlich niemanden gesehen«, sagte der erste wütend.

»Was willst du dem Chef sagen?«

»Ich werd' 'ne Razzia vorschlagen. Man kann zwanzig oder dreißig von den Halbseidenen einstecken und vernehmen. Vielleicht, daß einer was läuten gehört hat und Laut gibt, um wieder rauszukommen.«

»Das ist noch das beste.«

»Die Leute«, sagte der erste wütend, »machen sich einen Begriff von der Polizei! Als wenn wir gleich alles wüßten! Natürlich wird man die Kerle einmal kappen. Aber wann?«

»Hoffen wir auf den Zufall«, sagte der zweite. »Meistens hilft der.«

»Ja, wenn wir den Zufall nicht hätten!« bestätigte der erste.

 

3

Der Zufall hieß Kufalt, und während die beiden Kriminalbeamten in ihren breiten, vertretenen Schuhen durch die winterlichen Straßen Hamburgs wandelten, saß er schon auf einer Bank im Stadthaus und wartete auf sie.

Als er in der Zeitung gelesen hatte, daß der Raub doch vonstatten gegangen war, daß Freund Batzke unerkannt mit so großer Beute entkommen war, da hatte ihn zuerst Angst, dann Wut erfüllt.

Plötzlich hatte er begriffen, warum ihm der Achtgroschenjunge mit der Schirmmütze nachgelaufen war. Nicht die Polizei hatte den Handtaschenräuber verfolgt, sondern Batzke hatte wissen wollen, ob Kufalt noch immer die Auslage am Jungfernstieg unter Augen hatte. Und darum hatte ihm Ilse ihren gestrigen Abendbesuch gemacht, auch sie hatte bloß baldowern wollen – für Batzke!

Angst hatte er zuerst. Er hatte den Tip gegeben, er hing mit drin. Er hatte sich um das Geschäft wochenlang herumgedrückt, vielleicht kannte man dort sein Gesicht, erinnerte sich jetzt seiner. Schon ging vielleicht seine Beschreibung an die Blätter.

Und es war nicht nur das, er konnte sich ja kaum rühren, er, der Handtaschenräuber, dessen Beschreibung von Mal zu Mal deutlicher in den Zeitungen beschrieben war.

Aber stärker als die Angst wurde die Wut in ihm. Batzke war es, der ihn in diese Lage gebracht hatte. Wieder hatte ihn Batzke verraten. Vom Stelldichein an unter dem Pferdeschwanz über den Zigarettenladen mit dem falschen Zwanziger über die nutzlos zurückgegebenen vierhundert Mark –: immer hatte ihn Batzke verraten.

Er lief hin und her in seiner Stube, er grübelte. Ja, er würde sich hinsetzen, er würde jetzt einen anonymen Brief tippen. Er würde Batzke in die Pfanne hauen.

Und er setzte sich hin und tippte los und – hielt an. Fünftausend Mark vom Schwärzer, im ganzen, hatte Batzke gesagt. Aber es wurden Belohnungen bei solchen Einbrüchen ausgesetzt. Zehn Prozent war das mindeste, fünfzehntausend Mark und rechtlich erworben. Rechtlich erworben!

Da war in seiner hintersten Hirnkammer der Traum von dem kleinen Zigarrenladen mit Frau und Kindern. Man würde ihn ganz rechtens in Wahrheit und Wirklichkeit umsetzen können.

Er war aufgestanden. Er zerriß das Getippte in kleine Fetzchen. Er machte die Ofentür auf und schloß sie erst wieder, als er sich davon überzeugt hatte, daß auch das letzte Papierstückchen verbrannt war.

Nein, er mußte warten, bis die Belohnung ausgesetzt war. Gewiß, es war das Risiko dabei, daß die Bullen ihm auf die Spur kamen, aber ohne jedes Risiko war überhaupt nichts. Und sie würden nicht dahinterkommen. Gerade darum nicht, weil er zu ihnen kam.

Er geht weiter auf und ab. Nun kann er es schon nicht mehr erwarten, daß die Abendzeitungen erschienen. In den Abendzeitungen wird sicher die Belohnung stehen. Dann wird er noch heute nacht ins Stadthaus gehen, und Batzke wird erwischt werden. Vielleicht bekommt Kufalt bereits am Ende der Woche die Belohnung, und er ist raus aus allem.

Plötzlich ist Furcht wieder da. Aber Furcht einer andern Art. Polizei ist tüchtig und Ganoven sind schlimm. Alle sind Verräter. Vielleicht wissen noch andere von dem, was Batzke vorhatte. Vielleicht warten die andern nicht so lange, vielleicht sitzen die schon auf dem Stadthaus und nehmen Kufalt seine fünfzehntausend Mark fort.

Was hat er denn zu verraten? Einen einzigen Namen – den Namen Batzke. Er weiß die Helfershelfer nicht, er weiß die Schwärzer nicht. Er weiß nicht einmal, wo Batzke gewohnt hat, nur den einen Namen weiß er. Der Name ist sein Kapital, der Name ist sein Zigarrenladen, seine Zukunft. Den Namen darf er sich nicht wegnehmen lassen. Er muß unbedingt sofort gehen.

Er zieht den Mantel an, er setzt den Hut auf, er steht zögernd inmitten des Zimmers.

Der Rausch der Geldgier läßt einen Augenblick nach, die Rachsucht ebbt für eine Sekunde ab – ›dies kann schiefgehen‹, denkt er. ›Dies kann sehr schiefgehen.‹

Und doch geht er, zögert wieder auf dem Flur, hört Frau Fleege in der Küche wirtschaften, und plötzlich erfüllt ihn etwas wie eine leise Rührung bei dem Gedanken an das alte, verrunzelte Frauengesicht.

›Sie ist doch die einzige‹, denkt er, ›die es mit mir gut meint.‹

Er geht in eine Welt von Feinden. Nur Schlauheit und Kampf können helfen. Hier braucht er sie nicht.

Er öffnet die Tür zur Küche.

»Frau Pastorin«, sagt er. »Ich gehe für ein paar Stunden weg. Es kann aber auch länger dauern.«

Sie lächelt ihm freundlich zu unter ihrer Perlenhaube. »Ist es wegen eines Engagements?« fragt sie vorsichtig.

»Nein – doch – vielleicht – vielleicht komme ich heute gar nicht mehr wieder. Nun, meine Sachen sind ja gut bei Ihnen aufgehoben.«

»Herr Lederer«, sagt die alte Frau und nimmt seine Hand zwischen ihre beiden alten, zittrigen Hände. »Ich wünsche Ihnen ja so viel Glück! So viel Glück!«

 

4

»Sie kommen wegen des Juwelenraubs bei Wossidlo?« fragt der eine Beamte und sieht Kufalt musternd an. »Was soll's denn sein?«

»Ich wollt' mal fragen«, sagt Kufalt, »ob schon Belohnung ausgesetzt ist.«

»Nein«, sagt der Beamte kurz.

»Und es wird auch keine?« fragt Kufalt wieder.

»Das kommt darauf an«, sagt der Beamte.

Kufalt sind die musternden Blicke der beiden Kriminaler sehr unangenehm. Jeden Augenblick kann sich einer von ihnen an die Beschreibung erinnern. Wenn er sich doch wenigstens noch vorher einen andern Mantel und einen andern Hut besorgt hätte! Aber an nichts hat er gedacht. Wie blind ist er losgelaufen, hinter dem Geld her, das es nun vielleicht nicht einmal geben wird.

»Also denn«, sagt er, »vielleicht komme ich noch mal wieder.«

Und steht auf.

»Halt, halt«, sagt der Beamte aufgeräumter, »nicht so eilig! Nehmen Sie sich doch eine Zigarette.«

Er ist mit seiner Prüfung Kufalts fertig geworden, ungefähr zu dem richtigen Ergebnis gekommen und hält den Fall weiterer Rücksprache für wert.

»Wenn nun also eine Belohnung ausgesetzt wäre, könnten Sie uns da etwas über den Juwelenraub bei Wossidlo erzählen?«

»Ich weiß noch nicht«, sagt Kufalt kühl. »Das kommt ja auch auf die Belohnung an.«

»Hören Sie mal«, greift der zweite Beamte ein. »Das ist Ihnen ja wohl bekannt, junger Mann, daß Sie, wenn Sie von einem Verbrechen Kenntnis haben, aussagen müssen. Sonst machen Sie sich strafbar.«

»Das weiß ich«, sagt Kufalt. »Ich weiß aber auch nichts anderes, als was in den Zeitungen steht. Ich könnte nur vielleicht was erfahren, weil ich nämlich in den Kreisen Verbindungen habe.«

»Hören Sie nicht auf den«, sagt der erste Beamte vermittelnd, »der bullert immer gleich los. Ja, mit der Belohnung ist das so, die Versicherungsgesellschaft setzt ja todsicher was aus. Aber vielleicht haben wir bis dahin die Kerle schon. Da ist es besser, Sie haben Vertrauen zu uns und erzählen uns jetzt schon was. Wir hauen Sie sicher nicht übers Ohr.«

Und er sieht Kufalt bieder an.

»Nein, nein«, sagt Kufalt entschieden. »Ich weiß noch gar nichts. Ich wollte nur mal rumhorchen, ob es sich lohnt für mich.«

Die Beamten sitzen sinnend da und betrachten sich ihren Kufalt.

»Würden Sie was dagegen haben«, sagt der erste Beamte wieder, »wenn Sie uns Ihren Namen und Ihre Adresse hierließen? Es könnte doch sein, daß wir Sie mal dringend brauchten. Wir würden uns auch nicht lumpen lassen.«

»Lieber nicht«, sagt Kufalt. »Ich melde mich schon wieder.«

»Ach so«, sagt der zweite Beamte bissig, »wenn das so ist ...«

»Hören Sie nicht auf den«, sagt der erste rasch, »wir können auch großzügig sein, wenn die Sache es wert ist. Wir können auch mal ein Auge zudrücken, wenn Sie uns einen guten Dienst leisten – so schlimm wird es ja nicht sein, nicht wahr?«

»Es ist überhaupt nichts«, sagt Kufalt aufgeregt. »Aber ich will in meiner Wohnung nichts mit der Polizei zu tun haben.«

Er setzt ruhiger hinzu: »Wirtinnen sind in so was komisch.« Aber er denkt an seine Handtaschen im Koffer und verflucht sich, daß er nicht einmal die beseitigt hat. Er muß wie verhext sein in der letzten Zeit.

»Also mit der Adresse ist es auch nichts«, sagt der Beamte betrübt. »Viel haben wir ja heute nicht von Ihnen erfahren.«

Er sitzt da und denkt nach. Plötzlich hat er entschieden eine Idee.

Er steht auf und sagt rasch: »Einen Augenblick mal, ich komme gleich wieder.«

Er verschwindet aus dem Zimmer.

»Aber ich habe keine Zeit mehr«, ruft Kufalt ihm hastig nach.

Doch der andere ist schon weg, und er muß hier sitzen mit dem Rüpel von zweitem Beamten, der ihn unverwandt anstarrt.

»Ich möchte gehen«, sagte er hilflos. Er hat nur Angst, daß der andere mit einem Haftbefehl wiederkommt. Er verflucht sich, daß er hierhergegangen ist. Er sieht ein, daß er es ganz dumm angefangen hat.

»Ich möchte gehen«, sagt er noch einmal.

Der andere sagt gar nichts, sondern sieht ihn nur immer weiter an. Unter dem dünnen, rötlichen Schnurrbart erscheint ein Lächeln ...

›Vielleicht hat er jetzt raus, wer ich bin‹, denkt Kufalt.

»Also ich gehe denn jetzt«, sagt er noch einmal und steht auf.

»Wo haben wir uns denn eigentlich schon mal kennengelernt?« fragt der Beamte.

»Das bestimmt nicht, Sie verwechseln mich«, sagt Kufalt sehr erleichtert. Denn das weiß er genau, daß er außer Herrn Specht keinen Hamburger Kriminaler kennt.

»Mein Lieber«, sagt der Beamte sehr überlegen, »ich komme doch gleich dahinter. Bleiben Sie noch einen Augenblick so stehen.«

»Darum noch eine Stunde!« erklärt Kufalt. »Aber ich will jetzt nach Haus.«

Doch es wird nichts daraus. Denn der andere Beamte kommt wieder herein, strahlend vergnügt.

»Hören Sie mal, mein Lieber«, sagt er. »Ich hab' mich erkundigt. Es sind noch ein paar Formalitäten zu erledigen. Aber zehntausend Mark werden auf die Erlangung der Beute ausgesetzt.«

Er nimmt sich einen Stuhl.

»Wissen Sie«, sagt er gemütlich, »da müssen wir nun ein bißchen fix arbeiten, daß die Bengels nicht dazu kommen, die Sore erst in aller Welt zu verscheuern. Jetzt werden sie wohl noch beim Teilen sein, und wir kriegen den ganzen Klumpatsch auf einmal. Das wären zehntausend Mark für Sie, wir Beamten sind ja immer Neese. Wie ist das also?«

»Ich müßte mal horchen gehen«, sagt Kufalt zögernd.

»Nee, nee, mein Lieber«, sagt der andere energisch, »so lasse ich Sie nun doch nicht wieder raus. Aber ich will Ihnen einen Vorschlag machen, ich bin gar nicht so. Sie sollen nichts sagen müssen, keine Namen, nicht, wer Sie sind, nicht, wo Sie wohnen. Und ich gebe Ihnen mein Ehrenwort als Beamter, ich lasse Sie unbeobachtet wieder gehen. Aber ...«

Er holt tief Atem. Kufalt sieht ihn gespannt an.

»... Aber, Sie kucken sich jetzt mal in unserer Gegenwart unser nettes Bilderalbum an. Sie wissen schon, was ich meine. Und wenn Sie den Mann drin sehen, der das Ding gedreht hat, dann schlagen Sie das Album zu und sagen ›Er ist drin‹. Weiter nichts. Weiter wollen wir nichts von Ihnen. Dann lass' ich Sie geben und zweihundert Mark kriegen sie auch noch. A conto ...«

»Aber ich kenn' den Mann ja gar nicht«, protestiert Kufalt.

»Lassen Sie das man unsere Sorge sein«, sagt der Beamte. »Sie werden sich doch gern mal so ein paar Photographien ansehen? Das ist hochinteressant.«

»Aber es hat keinen Zweck«, sagt Kufalt hilflos.

»Zweck oder nicht«, sagt der Beamte plötzlich streng, »ohne das bleiben Sie hier.«

Aber er lächelt schon wieder und legt säuberlich zwei Hundertmarkscheine auf den Tisch. Kufalt betrachtet sie zögernd.

»Na, nun man los«, sagt der Beamte. »Überlegen Sie sich doch die Geschichte nicht so lange. Das ist doch ein klares und gutes Geschäft. Welchen Band soll ich denn holen lassen?«

»Ich weiß nichts«, sagt Kufalt störrisch.

»Und die Brüder verscheuern unterdes die Sore«, sagt der Beamte empört. »Wo Sie so schönes Geld verdienen können. Sie brauchen gar nichts zu sagen. Soll ich A holen lassen? Soll ich B holen lassen?«

»Hmhm.«

»Aha! B sind nun aber mehrere Bände. Na, sehen Sie sich mehrere Bände an. Sie brauchen ja überhaupt nichts zu reden.«

Kufalt sitzt mürrisch da. Er hat das Gefühl, er ist reingefallen. Er sitzt in einer Sackgasse ohne Ausweg. Er ist eben immer nicht schlau genug. Für keinen. Weder für Batzke noch für diese hier.

Was helfen ihm zweihundert Mark?! Aber er muß, sonst lassen sie ihn nicht laufen.

»Bringen Sie also B«, sagt er und schwört sich zu, nichts zu verraten. Den Band zuklappen, ob nun Batzke darin ist oder nicht, sagen: ›Er ist drin‹, und an irgendeiner beliebigen Stelle zuklappen. Dann wenigstens die zweihundert Mark nehmen, damit er was hat, und fort. Und mit allen Verkehrsmitteln nach Haus, durch alle Warenhäuser hindurch. Im Chinahaus an der Mönckebergstraße mit dem Paternoster rauf und runter, daß sie jede Spur von ihm verlieren, und dann nie wieder!

Mit Bedacht wählt er den Band, der mit Bi anfängt, blättert, prüft lange, sieht alle diese Gesichter an, die teilweise verzerrt grinsen, mit heraufgezogenen Mundwinkeln, mit Grimassen, alle gezwungen photographiert.

Und während er die Hunderte von Gesichtern betrachtet, durchschnittliche, böse und nette, überkommt ihn die Neugierde, ob Batzke wirklich der große Ganove ist, als der er sich immer wieder aufgespielt hat. Und er nimmt den Band Ba zur Hand und blättert und auf der dritten Seite sieht er den Herrn Freund, im Profil und en face, von rechts und von links, in Gemeinschaft einiger anderer Ba's.

»Danke schön«, sagt der Beamte freundlich. »Hier sind auch Ihre zweihundert Mark. Sie sehen, wir sind immer anständig. Also, denn auf Wiedersehen. Sie können ungehindert nach Haus.«

Kufalt sieht die beiden zufrieden grinsenden Gesichter der Krimschen. Er möchte noch etwas sagen, schreien vor Wut, daß er sich so dämlich hat übertölpeln lassen. Aber dann reißt er nur seine Scheine vom Tisch und rennt aus dem Zimmer, indes er hinter sich die Beamten lachen hört, aber derartig blödsinnig lachen hört ...!

 

5

Hundert Mark von dem neu erworbenen Gelde legte Kufalt sofort in Mantel und Hut an. Er besaß einen schwarzen Paletot. So kaufte er sich nun einen hellbraunen, weiten Raglan. Er besaß einen kleinen, blaugrauen Filzhut und erwarb sich nun einen großen, schwarzen Schlapphut. Das ließ er einpacken und in seine Wohnung schicken.

Als er weiterging – es war nun schon später Nachmittag geworden –, kam er erst darauf, wie unüberlegt er wieder gehandelt hatte. Jetzt kannte ihn die Polizei doch schon in seinem schwarzen Ulster und seinem Filzhütchen. Die würden sich gleich überlegen, was das wohl für eine Bewandtnis mit dem neuen Mantel hätte.

Und noch dümmer war es gewesen, im Warenhaus Namen und Adresse anzugeben. War ihm einer nachgegangen, so wußten die nun Bescheid. Die Handtaschen aber steckten immer noch im Koffer.

Trotzdem ging er noch nicht nach Haus. Es war nun einmal so, alles ging verquer, und alles Aufpassen nützte nichts. Entweder kam er gut heraus oder er kam schlecht heraus. Er mußte beides hinnehmen. Viel dazu tun konnte er nicht.

Eigentlich hätte er Mittag essen müssen. Aber er hatte keine Lust dazu. Der Appetit war weg. Er würde lieber ein paar Schnäpse trinken.

Er trank sie. Gleich sah die Welt wieder anders aus. Er hatte reichlich Geld bei sich, ganz unerwartetes Geld, und er würde immer wieder neues Geld bekommen, wenn er es brauchte. Es kam schon nicht darauf an. Er konnte nun endlich einmal mit seinem Gelde tun, was ihm Spaß machte. So lange war er nicht mit Mädchen zusammen gewesen, überhaupt nicht seit seiner Haft. Nein, überhaupt nicht seit seiner Verhaftung vor nun beinahe sechs Jahren – er würde einmal richtig mit einem Mädchen ausgehen.

Und er schlug den Weg zur Reeperbahn ein.

Während des Weges fiel ihm ein, daß er doch mit Mädchen zusammen gewesen war, mit der Liese, mit der Hilde, mit der Ilse. Aber irgendwie schien das nichts zu bedeuten, oder vielmehr etwas ganz anderes zu bedeuten. Er verstand es nicht recht, aber wenn er an die Mädchen dachte, mußte er auch an die Handtaschen denken. Und das hatte doch wirklich nichts miteinander zu tun.

Auf der Reeperbahn waren die richtigen Lokale nicht. Sie sahen alle nach Fremdenfang und Nepp aus, oder sie schienen ihm zu umständlich. Und dann war es komisch, daß die Mädchen, die sich auf der Straße herumtrieben und ihn anquatschten, plötzlich auch nichts bedeuteten. Es war, als härten auch hier seine nächtlichen Wege Hindernisse geschaffen. Er wurde wütend, wenn er angesprochen wurde. Hätte nicht mindestens er sie ansprechen müssen?

Schließlich saß er im ersten Stock eines Cafés auf der Großen Freiheit. Es war gerade die richtige Sorte Lokal, mit Nischen, in denen verhängte Lampen leuchteten, mit kleinen Mädchen, die nicht zu groß aufgemacht waren.

Er konnte ja jetzt gut mit ihnen schwatzen. Er erkundigte sich nach dem Geschäftsgang. Er fragte nach Stubben und Stenzen. Und dann sprachen sie über das schlechte Wetter, und ob sie heute abend noch weitergehen wollten, ob sie überhaupt zusammenbleiben wollten. Und er entwarf ein Programm mit Abendessen und Kino danach.

Dazwischen tranken sie viele Liköre, und das Mädchen taute auf und küßte ihn ab, was gar nicht angenehm war, und sie rief mit heller, alberner Stimme: »Ach, bist du süß! Nein, bist du komisch!«

Er redete und sprach und gab an und erzählte Witzchen und lachte, aber dazwischen dachte er immer wieder, wie dumm und langweilig doch alles war und wie seine nächtlichen Gänge zehnmal schöner seien, und daß er sie nicht wollte und daß er keine wollte. Einmal stand er dazwischen auf und ging an seinen Mantel. Er nahm Zigaretten heraus, die noch darin waren, auch das Taschentuch, auch die Schlüssel. Und nun hing der schwarze Paletot leer an seinem Garderobenständer.

Kurze Zeit darauf wollte das Mädchen für einen Augenblick raus, und er fing einen neckischen Streit mit ihr an, ob sie auch wiederkäme. Er tat so, als traute er ihrer Treue nicht ganz, als glaubte er, sie wolle sich nun verdrücken, nachdem er zehn oder zwölf Liköre ausgegeben hatte. Und er erreichte schließlich, daß sie ihm lachend ihre Tasche als Pfand daließ: »Reich wirst du aber nicht damit!«

Er hatte beim Herausgehen gesehen, die Toiletten lagen auf der halben Treppe. Und kaum war sie aus dem Lokal, so stand auch er auf (die Handtasche hatte er unter das Jackett geschoben), sagte zu dem Ober: »Sehen Sie ein bißchen auf meinen Mantel«, und stieg die Treppe hinunter.

Aber er ging an den Toiletten vorbei, rasch nach der Straße, drängte sich eilig das kurze Stück bis zur Reichenstraße durch, nahm ein Auto und fuhr nach Haus.

Mochten die sich an Mantel und Hut des Handtaschenräubers freuen. Mochten die noch eine Beschreibung von ihm bekommen! Entweder war er Ende dieser Woche aus Hamburg fort, oder es war doch alles vorbei.

 

6

Die Handtasche ist ein ärmliches, abgegriffenes Ding aus irgendeinem schwarzen Stoff, ohne jeden Geldinhalt. Aber sie riecht stark nach irgendeinem Parfüm. Sie hat ihm die Träume und Begierden eingegraben, die das Mädchen nicht hatte hervorrufen können.

Er ist sehr zeitig ins Bett gegangen. Nein, er will nicht mehr ausgehen. Es wird alles zu gefährlich. Er muß nun bald irgendwelche Beschlüsse fassen, aber nicht heute abend mehr. Vielleicht morgen früh. Heute abend hat er zu viel getrunken. Es dreht sich angenehm langsam in seinem Kopf. Er legt ihn auf die Handtasche, und nun ist ihm ganz so, als führe er in einer Schiffskajüte nach fernen Landen. Das Schiff schwankt leise, er meint, die Wellen sanft gegen die Bullaugen klatschen zu hören, und nun riecht er auch den Duft von jenen fernen, blühenden Kokosinseln, denen er zufährt.

Darüber schläft er fest ein.

Dann ist es ihm, als sprächen Männer draußen. Er weiß nicht genau, ist es auf dem Schiff oder wo er ist – ach, richtig, er ist im Kittchen, und die Nachtwache quasselt vor seiner Zelle. Aber er kann auch weiterschlafen.

Dann kann er es doch nicht. Denn eine Stimme, die ihn völlig wach macht, sagt neben ihm: »Wachen Sie gefälligst auf!«

Er möchte das Öffnen der Augen hinausschieben, aber ganz rücksichtslos wird ihm die Bettdecke fortgezogen, und wie er auffährt, steht der Kriminalbeamte von gestern vor ihm. Der nettere von beiden. Aber heute sieht er nicht nett aus.

»Los, los! Werden Sie wach, Mensch! Wir haben noch viel vor.«

Kufalt sieht ihn an. »Wie kommen Sie denn hierher?« fragt er. »Sie haben mir doch Ihr Ehrenwort gegeben.«

»Ach was, Ehrenwort«, sagt der andere. »Lesen Sie das mal.«

Und er hält ihm ein Zeitungsblatt unter die Nase.

Zuerst denkt Kufalt, es ist sein neuester Handtaschendiebstahl Aber dann ist es ein großes Inserat, mit der Schlagzeile. ›An die geehrten Herren Einbrecher‹. Und Herr Wossidlo kündigt darin seinen Wunsch an, sich direkt mit den Herren Einbrechern in Verbindung zu setzen. Er gibt ihnen sein Ehrenwort, sie nicht bei der Polizei anzuzeigen, und erklärt sich bereit, ihnen zehn Prozent vom Wert der gestohlenen Ware zu bezahlen. ›Mehr als Ihnen jeder Hehler bezahlt. Mit der nochmaligen Zusicherung meiner unverbrüchlichen Verschwiegenheit, für die ich mit meinem Namen als ehrlicher Hamburger Kaufmann einstehe, Hermann Wossidlo.‹

»Und nu los«, sagt der Kriminalbeamte. »Wo wohnt der Batzke?«

»Batzke?« fragt Kufalt gedehnt.

»Fangen Sie nicht noch einmal mit Ihren Geschichten an«, sagt der Beamte ärgerlich. »Jetzt kommt es auf Minuten an. Vielleicht treffen sich die noch heute früh. Wir lassen zwar Telephon, Post und Laden überwachen. Und der Wossidlo kommt uns auch nicht aus den Augen. Aber wer weiß, was die für Wege finden, sich in Verbindung zu setzen.«

»Glauben Sie denn«, sagt Kufalt ganz erstaunt, »daß der Batzke darauf eingehen wird?«

»Aber natürlich«, ruft der Beamte. »Kein Schwärzer gibt ihm mehr als drei- oder viertausend Mark. Der geht hin – es ist eine Gemeinheit von diesem Wossidlo! Uns Polizei will er vor ganz Hamburg lächerlich machen. Daß er in vierundzwanzig Stunden sich seine Ringe wiederverschafft. Also los, wo wohnt Batzke?«

»Ich weiß es nicht«, sagt Kufalt schüchtern. »Er wohnt jede Nacht bei anderen Mädchen.«

»Aber Sie kennen ihn?«

»Ja, das schon.«

»Wie stehen Sie mit ihm? Los, Menschenskind, ziehen Sie sich doch an, während wir reden!«

»Nicht gut«, sagt Kufalt und fängt mit Anziehen an.

»Hat Sie ausgeschifft bei der Sache? Na, ich will Sie nichts fragen. Gehen Sie sofort los. Sie wissen doch, wo er verkehrt, nicht wahr?«

»Ja«, sagt Kufalt leise.

»Also in drei Stunden müssen Sie spätestens seine Adresse haben. Rufen Sie mich sofort an. Apparat 174. Lassen Sie ihn nicht aus dem Auge. Ich finde Sie dann schon, Mensch!«

Der Beamte ist ganz aufgeregt. »Denken Sie doch bloß die Blamage, wenn heute in den Abendzeitungen steht, der Wossidlo ist mit den Einbrechern zusammengekommen und hat seinen Schmuck wieder. Geben Sie sich Mühe. Sie sollen eine Nummer bei uns haben! Und ich schinde Ihnen bestimmt Geld raus. Sie sollen nicht zu klagen haben. Wie heißen Sie übrigens?«

»Lederer«, sagt Kufalt, »Ernst Lederer.«

»Hauen Sie ab, Mensch«, sagt der Beamte wütend. »Denken Sie, Sie können mir den Unsinn vom Schauspieler aufbinden, den Sie Ihrer Pastorin erzählt haben? Wie Sie heißen, will ich wissen.«

»Bruhn«, sagt Kufalt, »Emil Bruhn.«

»Und weswegen waren Sie drin?«

»Raubmord«, sagt Kufalt leise.

»Sie?« sagt der Beamte. »Sie?«

»Es war eigentlich auch Totschlag«, sagt Kufalt zögernd.

»So, klingt auch nicht sehr wahrscheinlich, wenn man Sie ansieht. Aber wenn Sie wieder gelogen haben! – Sind Sie übrigens Fetischist?«

»Was?« sagt Kufalt.

»Ob Sie Fetischist sind, frage ich! – Warum schlafen Sie denn mit 'ner Damenhandtasche?« Er deutet auf die schwarze Tasche, die auf dem Kopfkissen liegt.

»Nein, nein«, sagt Kufalt verwirrt. »Die ist von meiner Braut. Die hat sie liegen lassen, gestern abend.«

»Hier bei der Pastorin 'ne Braut im Bett?« sagt der Kriminalbeamte. »Ich glaube, Bruhn, oder wie Sie heißen, Sie werden sich die nächsten Stunden mächtig Mühe geben müssen, daß wir Sie nicht ein bißchen sehr nahe angucken. Jetzt aber weg mit Ihnen. Rufen Sie mich mindestens alle Stunden einmal an. Wo gehen Sie hin?«

»Ins Gängeviertel«, sagt Kufalt.

»Zu wem da?«

»Zu Lütt. Kugels Ort.«

»Na schön«, sagt der Beamte etwas milder. »Das klingt doch, als ob's wahr sein könnte. Also jetzt weg mit Ihnen. Und glauben Sie nicht, daß Sie türmen können. Sie greife ich unter allen Umständen.«

Kufalt geht. Und weiß, der zurückbleibende Beamte wird nicht zögern, den Handkoffer zu öffnen.

Er geht sozusagen auf immer.

 

7

Kufalt geht wirklich direkt ins Gängeviertel.

Es hat keinen Sinn, jetzt schon zu versuchen, fortzukommen, denn sicher wird er beschattet. Es hat auch keinen Sinn, sich umzudrehen und herauszubekommen, wer ihn beschattet. Er macht die Leute nur mißtrauisch und geht erst recht hopps.

Er muß sie in Sicherheit wiegen. Er muß ihnen wirkliche Dienste leisten. Dann lassen sie ihm noch Schonzeit. Das weiß er, wenn er erst den Batzke oder die Beute oder beides für die erwischt hat, dann lassen sie ihn hochgehen, von wegen der Handtaschen. Dann ist von Dank keine Rede mehr. Ja, in Kleinigkeiten sind sie groß. Aber sobald es sich wirklich um etwas Größeres handelt ...

Jedenfalls hat er seinen besten Anzug, seinen neuen Mantel und Hut, und dazu beinahe siebenhundert Mark in der Tasche. Damit kann man fortkommen. Nur erst fortkommen!

Es ist komisch. Während er so läuft, ist alles weg, was ihn die letzten Wochen beherrscht hat. Niedergedrücktsein, Rachegefühl, Gier auf Geld. Weg! Nur das Gefühl beherrscht ihn, noch einmal loszukommen, noch einmal den Greifern zu entgehen, noch einmal Wochen in Freiheit zu verbringen.

Und wenn gar nichts geschieht in diesen Wochen, wenn er spazieren laufen kann und irgendwo essen und ein Glas Bier trinken und sich in ein sauber bezogenes weißes Bett legen – nur nicht der Bunker – nur jetzt noch nicht der Bunker!

Er kommt ins Gängeviertel und läuft sofort nach Kugels Ort, in die Lüttsche Wirtschaft. Die ist noch leer an diesem Morgen. Es ist ja erst zehn Uhr. Auch Lütt schläft noch. Kufalt macht die Frau des Wirtes mobil. Er erreicht, daß er in die Schlafkammer geführt wird, wo Lütt unter einem rotgewürfelten Deckbett schnauft.

Aber Lütt ist heute morgen ungnädig. Er hat natürlich keine Ahnung, wo Batzke sein könnte. Er will auch keine Ahnung haben.

»Lassen Sie mich nur zufrieden mit Ihren halbseidenen Geschichten. – Ich will nichts mit dir zu tun haben. – Hau du bloß ab, Heidepriem! – Du bist jetzt wohl angestellt bei der Polente?«

Verdrossen klettert Kufalt die Treppe hinunter. Unten geht er noch an die Theke und trinkt zwei, drei Schnäpse mit der Wirtin, die ihn mißtrauisch mustert. Sicher hat sie oben an der Tür belauscht, was er mit Vater Lütt gesprochen hat.

Eigentlich weiß er schon nicht mehr weiter. Wo in aller Welt soll er Batzke suchen? Flüchtig fällt ihm die Reederswitwe in Harvestehude ein. Aber an die glaubt er nun doch nicht mehr.

Er verläßt die Wirtschaft, pilgert zum Großen Neumarkt, trinkt wieder einen Schnaps und telephoniert mit dem Apparat zweihundertvierundsiebzig. Nein, er weiß noch nichts Bestimmtes. Aber er verfolgt eine Spur. Er muß erst einmal zu einem Mädchen. Emma heißt sie.

Und während er telephoniert, überlegt er krampfhaft, wie er die Adresse dieses Mädchens Emma erfahren soll, mit der Batzke in letzter Zeit öfters zusammen gewesen ist. Man müßte die anderen Huren in der Gegend fragen. Aber er weiß nicht, wo sie wohnen, und um diese Morgenstunde ist nicht eine auf der Straße zu treffen.

Er taucht wieder im Gängeviertel unter. Er geht ziellos hin und her. Dann quatscht er einen jungen Briten an, der ihm nur dumm kommt.

Schon ist er im Begriff, es aufzugeben und es mit türmen zu versuchen, da fällt ihm das Mädchen Ilse ein. An sie hätte er zuerst denken müssen. Sie steht mit Batzke in Verbindung. Von ihr ist noch am ehesten etwas zu erfahren.

Er nimmt sich ein Auto und fährt nach dem Steindamm hinaus. Er klingelt. Aber die Wirtin bedauert, Fräulein Ilse ist weggegangen. (›Sicher hat sie einen Mann auf der Bude.‹)

»Aber Sie kennen mich doch, Frau Maschioll. Ich bin doch Ilses Bräutigam. Rufen Sie sie nur einen Augenblick auf den Flur. Ich schenke Ihnen auch zehn Mark.«

So etwas zieht. Aber wo nichts ist, ist doch nichts. »Sie können sich gerne selber überzeugen, mein Herr. Gehen Sie doch in das Zimmer von Fräulein Ilse. Sie ist wirklich weg. Sehen Sie doch.«

Und sie stößt die Tür auf.

Ja, sie ist fort. Kufalt sagt verzweifelt: »Aber sie geht doch nie morgens so früh weg. Ich hatte mich doch mit ihr verabredet.«

»Ach, da waren Sie es«, sagt die Wirtin, »der so früh schon angerufen hat.«

»Natürlich habe ich angerufen«, sagt er. »Sie sollte doch hier auf mich warten.«

»Nein«, sagt Frau Maschioll, »mir hat sie gesagt, sie muß in den Stadtpark. Sie hatte da ganz was Wichtiges. Und sie wollte mir auch hundert Mark schenken, wenn alles gut geht.«

»Richtig, im Stadtpark«, sagt Kufalt gedankenvoll. »Wie man das so verquatschen kann.«

Und ist schon fort.

Das Bezahlen der zehn Mark schiebt er fürs nächste Mal auf, trotzdem ihn die Wirtin die ganze Treppe hinunter mit ihrem Geschrei verfolgt.

Eigentlich müßte er jetzt wieder telephonieren und die Polizei in den Stadtpark bestellen. Aber einmal hat er keine Zeit zu verlieren, und dann dämmert eine neue, kleine Hoffnung in ihm auf, er könnte die Beute allein fassen. Allen Ruhm für sich ernten und freikommen.

Oder aber vielleicht viel Geld erben. Kippe oder Lampen zieht in solcher Lage immer.

Er ist großzügig. Er nimmt sich wieder ein Auto und fährt die lange Strecke bis zum Stadtpark. Dabei sieht er immer wieder hinten aus dem Fenster, ob er nicht verfolgt wird, aber es kommt ihm nicht so vor. Vielleicht haben die seine Geldmittel unterschätzt und ihm jemand auf die Fersen gesetzt, der kein Geld fürs Auto hat. Oder sie haben seine Spur im Gängeviertel verloren. Oder aber sie trauen ihm einfach.

Er überlegt sich fieberhaft, wo es sein könnte, daß die sich im Stadtpark treffen. Der Stadtpark ist groß, und wenn Batzke auch mutig ist, unvorsichtig ist er keinesfalls. Da mag solch ein Herr Wossidlo zehnmal sein Hamburger-Großkaufmanns-Ehrenwort ins Blättchen setzen. Das zieht bei dem noch lange nicht. Der wird sich schön in acht nehmen, an irgendeinen Platz zu gehen, wo die Polizei ihn überrumpeln kann.

Nein, Batzke hat es sicher nicht umsonst so eilig gehabt. Selbst wenn die Polizei benachrichtigt wird, hat sie keine Zeit mehr, den ganzen Stadtpark abzusperren. Er wird sich eine schöne, große, weite Fläche aussuchen, wo er immer weg kann, selbst wenn zwei, drei Greifer im Hintergrund stehen.

Kufalt steigt bei der Stadthalle aus und bezahlt das Auto. Dann geht er los. Erst durch das Parkcafé, in dem kaum Gäste sitzen, dann um den Parksee herum, und nun hat er die große Fläche der Festwiese vor sich. Hier ist es einsam. Er geht immer hinter den Büschen, am Rande des Weges, und sieht auf die Wiesenfläche, die mit einem leichten Neuschnee bedeckt ist.

Plötzlich bleibt er stehen, und sein Herz fängt an, schnell und freudig zu klopfen. Nein, er ist nicht zu spät gekommen. Dort auf der Wiesenfläche steht ein großer Mann in hellem Überzieher und – Kufalt fängt an zu grinsen – Batzke ist doch immer ein schlaues Aas!

Da hat er sich einen Photoapparat mit Stativ mitgebracht. Er ist dabei, ihn hübsch aufzubauen und seine Braut (ist das nicht Ilse? Natürlich ist das Ilse!) steht an einem schneebeladenen Baum, in einer hübschen Photographierpose.

›Ausgezeichnet‹, denkt Kufalt, ›so unverdächtig wie nur möglich.‹

Und etwas wie Stolz und Rührung über den tüchtigen Kollegen kommen ihn an. ›Den haben die Bullen noch lange nicht und wenn sie hinter jedem Busch stehen. Der läßt sich so leicht nicht greifen!‹

Drüben von der andern Seite kommt ein großer Mann mit einer Aktentasche über die Wiese gegangen, auf das Pärchen zu. Er trägt eine Hornbrille und einen graumelierten Spitzbart. Er geht harmlos und schlendernd durch den leichten Neuschnee auf die Gruppe zu, bleibt ein paar Schritte davon halten, damit er nicht ins Bild kommt, und scheint etwas zu fragen.

Was er fragt, kann Kufalt nicht hören, dazu ist es zu weit. Er steht gut hinter seinem Busch. Aber scheinbar ist es denen da auch ganz egal, ob Leute hinter Büschen stehen. Sie sehen sich nicht einmal um.

Die Ilse bleibt ruhig weiter bei ihrem Baum. Aber nein, leichtsinnig ist Batzke nicht. Kufalt sieht, daß sie die eine Hand in die Tasche gesteckt hat, etwas gezwungen, mit gewinkelten Ellbogen. Diese Bewegung kennt er. Sicher hat Batzke seine Braut für diesen Weg mit einer Kanone ausgerüstet

Unterdes sind die beiden Herren ins Gespräch gekommen. Sie stehen immer artig in drei Schritt Abstand voneinander. Einigen Respekt scheint doch jeder vor seinem Partner zu haben. Batzke hat das Hantieren am Apparat aufgegeben. Er hat sich in den Schnee gebückt und ist nun dabei, ein rundes Paket auszuwickeln. Keine übermäßig glänzende Verpackung für hundertfünfzigtausend Mark Wert, scheint es Kufalt. Es wird eine richtige alte Konservendose in Zeitungspapier sein, soviel er erkennt.

Batzke ist verflucht wenig ängstlich, Kufalt hätte sich denken können, daß ihm der Austausch der Waren: hier Ringe – dort Geld, einige Schwierigkeiten bereitet hätte. Aber Batzke reicht ruhig seine Konservenbüchse dem Herrn in Spitzbart hinüber. Dann freilich greift auch er in seine Manteltasche.

Doch der Herr sagt lächelnd etwas und Batzke nimmt die Hand wieder aus der Tasche und sieht gemütlich zu, wie der Herr Stück für Stück aus der Konservendose nimmt, betrachtet und in seine Aktentasche wirft.

Ja, eine Minute später sind die beiden Geschäftsleute nun schon so weit, daß der Ganove Batzke dem Großkaufmann Wossidlo die Aktentasche hält. Es macht sich besser so, und es geht auch schneller.

Dann wirft der Herr die Konservenbüchse in den Schnee, greift in seine Manteltasche, holt ein Bündel Papier heraus und gibt es Batzke. Batzke klemmt die Aktentasche unter den Arm und fängt an zu zählen. Dieser Großkaufmann Wossidlo scheint ein anständiger Kerl zu sein. Er hat sogar daran gedacht, nicht Tausendmarkscheine mitzubringen, mit deren Wechseln Ganoven immer Schwierigkeiten haben, sondern kleinere Scheine, denn Batzke zählt ziemlich lange.

Dann wechselt die Aktentasche endgültig ihren Besitzer. Ilse verläßt ihren Baum und tritt zu den beiden. Siehe da, der Herr Wossidlo lüftet richtig seinen steifen Schwarzen, und jetzt trennen sich die Parteien wirklich. Herr Wossidlo wandelt zurück zum andern Rand der Festwiese, Batzke aber, Arm in Arm mit seiner Braut, auf den Kufaltschen Gebüschsaum zu.

Einsam und verlassen, ein schwarzer Fleck in der Schneewüste, bleibt der Photoapparat auf der Wiese stehen, einziges Zeichen dafür, daß Herr Batzke es vielleicht doch etwas eilig hat.

Die Möglichkeit, Herrn Wossidlo auf einem Umweg zu erreichen und ihn nochmals durch einen kühnen Griff nach der Aktentasche um die Brillantringe zu erleichtern, verwirft Kufalt sofort. Der Absatz solcher Dinge scheint schwieriger, als er geglaubt. Und Bargeld lacht immer. Besonders, wenn man nicht mehr in seine Wohnung zurück kann.

Also Batzke. Batzke ist sicher kein leichter Bissen, aber so etwas hat Kufalt ja nun schon einmal bei ihm versucht, und er ist überzeugt davon, daß es auch diesmal glatt gehen wird. Er will auch keine übermäßigen Ansprüche stellen. Er will von den fünfzehn nicht mehr als drei- oder viertausend haben. Eine Summe, auf die Batzke glatt eingehen wird.

Das Paar kommt, mehr zur Stadthalle hin, auf Kufalts Weg. Kufalt muß rasch gehen, um ihm nachzukommen. Ganz gleichgültig sind die beiden, ganz sicher fühlen sie sich, sie sehen nicht einmal um die kleine Wegbiegung, die Kufalt ihren Blicken entzieht. So kann er denn wirklich ganz überraschend neben ihnen auftauchen und sagen:

»Morgen, Batzke, Morgen, Ilse. Schöner Morgen heute morgen.«

Batzke ist nicht die Spur überrascht, während Ilse leise aufschreit.

»Na, also«, sagt Batzke bester Laune. »Bist du auch da, Willi? Wieviel? Ich hab's nämlich sehr eilig.«

»Versteh' ich«, bestätigt Kufalt. »Ich dito.« Und da er Batzke in so glänzender Stimmung sieht, sagt er leichthin: »Fünftausend.«

»Achthundert, wie ausgemacht«, sagt Batzke.

»Achthundert waren bei fünftausend ausgemacht«, sagt Kufalt, »und die Sache liegt jetzt etwas anders.«

»Also zwei«, sagt Batzke, »damit ich meine Ruhe habe.«

»Vier«, sagt Kufalt hartnäckig.

»Drei«, sagt Batzke abschließend.

»Du wirst doch nicht so dämlich sein!« protestiert Ilse wütend.

»Halt die Klappe«, sagt Batzke, nimmt das dicke Geldpaket aus der Tasche, sieht sich um, sagt befriedigt: »Die Luft ist rein« und versetzt im selben Augenblick Kufalt einen Faustschlag von unten her gegen das Kinn, daß der zurücktaumelt, die Hände hochhebt ...

Aber schon fallen andere Hiebe wie Hammerschläge auf seinen Kopf, alles wird vor seinen Augen erst rot, dann schwarz, und er stürzt zusammen.

 

8

Es war mühsam für Kufalt, wirklich wach zu werden, sich zu erinnern, was geschehen war und wo er lag.

Noch ehe er die Augen öffnete, während das Bewußtsein langsam in ihn zurückkehrte, hatte er von außen ein Gefühl von Kälte, von Nässe. Er zog die Knie an, seine Hände tasteten umher, als suchten sie eine Decke. Dann war eine Weile wieder alles fort, aber wieder kam die Kälte, wieder griffen die Hände vergeblich nach der Decke.

Diesmal öffnete er ein wenig die Augen und schloß sie sofort wieder: eine trübe, graue Luft stand um ihn, durch die Schneeteilchen trieben. Er mußte sich geirrt haben.

Aber die Kälte wurde schlimmer, er setzte sich langsam auf, sein Kopf war seltsam dumpf und benommen. Er sah verständnislos um sich. Dann unterschied er im dicken, diesigen Grau der späten Dämmerung Büsche um sich, einen Baumstumpf, halb verschneit. Er schloß wieder die Augen. Er mußte doch noch träumen.

Die Kälte drang immer mahnender auf ihn ein, und als er die Augen zum zweitenmal öffnete, zum zweitenmal dieselben kahlen Büsche, denselben verschneiten Baumstumpf sah, versuchte er, sich zu erinnern, wie er hierhergekommen war.

Sein Kopf schmerzte unsinnig, es war ihm, als müßte er springen. Er faßte mit den Händen danach, spürte Schwellungen und Beulen – und langsam kehrte die Erinnerung zurück an Batzke, an die Schläge, die er bekommen hatte.

Er stand taumelnd auf. Er sah um sich. Nein, er lag nicht auf dem Weg, wo er seine Auseinandersetzung mit Batzke gehabt hatte, er lag irgendwo in einem Gebüsch, in das ihn der andere geschleppt haben mußte.

Er entdeckte im Schnee etwas Schwärzliches, hob es auf. Es war sein Hut. Er behielt ihn in der Hand und ging langsam los.

Er hatte nicht weit zu gehen. Nur sechs oder acht Schritte. Da stand er auf jenem Weg, auf dem er von Batzke überrumpelt war. Viel Mühe hatte der sich nicht mit ihm gegeben. Und trotzdem hatte er nicht nur Minuten, sondern Stunden unentdeckt gelegen. Es war fast schon dunkel. Nur, daß er gerade für die ersten Minuten außer Sicht war.

Das Gehen wurde ihm sehr schwer, alle paar Schritte überkamen ihn Schwindelanfälle, dann warf er sich rasch gegen irgendeinen Baum, um nicht zu fallen. Nur nicht auf die Erde! Es würde zu schwer sein, wieder hochzukommen.

Und während er die fünf oder zehn Minuten Weg, die er vor ein paar Stunden leicht gegangen war, mühsam entlangstolperte, dachte er ununterbrochen an sein gemütliches Zimmer bei der Fleege, an sein Bett, an die angebrochene Flasche mit Kognak, die noch im Schrank stand, wie gut ihm das tun würde! An Batzke, an die Ringe, an das Geld dachte er gar nicht mehr. Er war nichts als ein verwundetes Tier, das nur den einen Trieb hat, sich in seiner Höhle zu verkriechen.

Aber allmählich, während er weiterging, während die Schwindelanfälle seltener wurden, der Schritt fester, wurde auch das Erinnern stärker. Erst war es wie bei einem Menschen, der etwas sagen will, und gerade im Moment, wo er es aussprechen möchte, hat er vergessen, was eigentlich. Es war doch noch etwas zu bedenken, es war doch noch etwas nicht in Ordnung! Was war eigentlich los mit der Wohnung?

Dann kam es: Er sitzt auf der Bettkante, jemand spricht mit ihm. Er steht auf, fängt an sich anzuziehen. ›Sind Sie eigentlich Fetischist?‹ fragt der andere.

Er sieht ihn, oh, er sieht ihn, als stünde er jetzt hier, im winterlich verlassenen Stadtpark, der Bulle, der die Heimkehr zur Wohnung unmöglich macht.

Der Schwindel kreist wieder in ihm. Er hält sich an einem Baum fest. Plötzlich packt ihn Schüttelfrost. Er klappert mit den Zähnen und muß sich erbrechen.

›Habe Schiß‹, denkt er.

Dann läßt der Anfall nach, aber er bleibt noch sehr lange fast bewegungslos dort stehen, an seinem Baum. Der Abend rückt weiter vor. Es ist ihm, als peitschte ihn der Schnee immer kälter und böser, als heulte der Wind immer stärker.

Geräusche werden laut um ihn, Laub raschelt, ein Ast reibt sich knarrend an einem andern – eine dunkle Erinnerung überkommt ihn an eine andere solche Nacht. Damals war ein Mädchen bei ihm, wie hieß sie doch? Und damals ging es auch nicht gut aus. – Vorbei, verloren.

Schließlich geht er wieder weiter. Er geht nur weiter, weil er eben einfach nicht ewig dort stehenbleiben kann. Ginge das, bliebe er dort stehen. Aber nun geht er langsam weiter. Die Lichter des Parkcafés kommen in Sicht. Nun gut. Er kann sich nicht an die Menschen um Hilfe wenden. Aber er kann einen oder zwei Schnäpse trinken. Das wird ihn aufmuntern.

Flüchtig denkt er daran, wie er wohl aussehen mag. Ob er so ohne aufzufallen ins Café gehen kann. Er klopft den Schnee vom Mantel, so gut es geht, setzt den Hut zurecht und wartet den Schein einer Laterne ab, um sich in seinem Taschenspiegel zu mustern.

Es ist ein geisterhaft bleiches Gesicht, das ihn aus dem kleinen Scherben anschaut, Aber das kann die Beleuchtung machen. Das ist nicht so schlimm. Am Kinn ist eine dicke, rote Schwellung. Batzke hat nicht sanft zugeschlagen. Auf der Mitte der Schwellung ist die Haut geplatzt und Blut herausgetreten. Er sucht in seiner Brusttasche nach dem Taschentuch und reibt das Blut ab. So, nun kann er ins Café gehen.

Nein, er kann nicht gehen. Schon als er den Taschenspiegel aus der Westentasche nahm, dann, als er aus der Brusttasche das Taschentuch holte, hatte er ein deutliches Gefühl gehabt, daß nicht alles an ihm in Ordnung war. Er griff in seine Brusttasche, in die andere, auf der linken Seite, und siehe, es ist richtig, der Laden stimmt, die Brieftasche mit seinen Papieren und seinen siebenhundert Mark ist fort!

Einen Augenblick denkt er daran, zurückzugehen an die Stelle, wo er lag, ob sie ihm nicht etwa herausgerutscht ist. Aber es lohnt sich nicht Die Brieftasche war etwas zu groß gewesen. Sie hatte immer zu stramm in der Tasche gesessen, sie konnte nicht von selbst herausrutschen. Das hatte Freund Batzke getan. Nicht Kippe gemacht, ihn halbtot geschlagen und dann noch um sein letztes Geld erleichtert. Es war alles richtig. Es paßte alles haargenau in diese letzten Wochen, in denen es immer tiefer bergab ging, einem Ende zu, vor dem man wohl die Augen schließen konnte, aber das deswegen nicht weniger sicher herankam.

Nein. Jetzt, wo er allen Grund dazu gehabt hätte, war keine Rede von Wut oder Verzweiflung. Im Gegenteil. Es war gerade so, als hätte sich an diesem letzten, schlimmsten Schlag seine schon fast verbrauchte Widerstandskraft von neuem entzündet. Auf diesem schmerzvollen Weg, mit dem immer wieder versagenden Kopf hatte er zuerst den Gedanken aufgeben müssen an die Hilfe der Menschen: er war allein. Dann den Gedanken an sein Heim bei der alten, herzensguten Frau: er hatte kein Heim mehr. Dann den Gedanken an Geld: sein bißchen mühsam zusammengekratztes, gefahrvoll zusammengestohlenes Geld hatte ihn auch verlassen.

Es gab auch nicht mehr die Hilfe Alkohol für ihn. Was es an Hilfe gab, mußte aus ihm selbst kommen. Früher, in Wochen, da es ihm noch verhältnismäßig gut gegangen war, hatte er vielleicht einmal daran denken können, sich freiwillig auf einer Polizeiwache zu stellen, oder etwas auszufressen, bei dem er gekitscht wurde, daß er nur wieder in die Heimat, das Kittchen, kam – jetzt dachte er nicht einmal an so etwas.

Jetzt stand er unter seinem Baum, halb erfroren, halbtot geschlagen, und grübelte über einen Plan, wie er noch einmal zu Geld kommen und noch einmal sich die Freiheit erwerben könnte, mit der er doch nichts anzufangen wußte.

 

9

Das Gemüsegeschäft von Frau Lehmann liegt nicht in der Fuhlentwiete selbst, sondern um die Ecke herum, in der Neustädter Straße. Kufalt ist dort bekannt als Herr Lederer. Er hat sich da nach der Katze Pussi von Frau Pastor Fleege erkundigt. Auch hat er manchmal bei Frau Lehmann für sich oder seine Wirtin eingekauft.

So wird er dort freundlich begrüßt, als er wenige Minuten nach sieben auftaucht und noch zehn Eier und zwei Flaschen Bier verlangt. Er bekommt sie. Aber während sie noch zusammengepackt werden und ehe er noch bezahlen kann, wird dem armen Herrn Lederer schlecht. Frau Lehmann muß ihm schnell einen Stuhl hinschieben und läßt das letzte Dienstmädchen, das noch im Laden steht, schnell in die Kneipe an der Ecke laufen, um ein Achtel Kognak für den Herrn zu holen.

Es muß ihm sehr schlecht gehen. Er ist auf der Straße gefallen, erzählt er zwischendurch. Gerade auf einen Kantstein mit dem Kinn, und in seinem Kopf dreht es sich noch immer, sagt er.

Als das Mädchen mit dem Kognak kommt, will Frau Lehmann es noch zu der Frau Pastorin Fleege schicken, aber dem widersetzt sich Herr Lederer energisch. Die alte, siebzigjährige Frau könnte von einem solchen Schrecken den Tod haben, und es ginge doch gleich vorüber. Wenn er sich nur fünf Minuten in das warme Zimmer hinter dem Laden setzen dürfe?

Das darf er natürlich. Er nimmt sein Achtel Kognak mit und dann, während Frau Lehmann den Laden aufräumt, bittet er noch einmal, schon etwas munterer, um zwanzig Zigaretten. Er bekommt sie und verschwindet wieder im Hinterzimmer. Die Tür macht er zu.

Als er in der Hinterstube ist, trinkt er zuerst rasch den Kognak aus, brennt sich dann eine Zigarette an, öffnet das Fenster und springt auf den Hof.

Er kennt den Hof gut. Da stehen die Müllkästen, in denen Pussi so gern nach Bücklingsresten stöberte. Er steigt auf einen Müllkasten und zieht sich an der Mauer hoch. Nun ist er in einem Garten, der um diese Jahreszeit ganz verlassen ist. Er geht rasch hindurch, zieht sich auf der anderen Seite wieder hoch und steht auf dem Hofe des Fleegeschen Hauses.

Jetzt kommt das Schwerste. Er muß vom Hof in das beleuchtete Treppenhaus gehen, und vielleicht steht der Greifer, den er vorhin in der Fuhlentwiete gesehen hat, gerade vor der Haustür. Oder kommt gerade an die Haustür und entdeckt ihn im Treppenhaus, wenn er, offen jedem Blick, die Treppe zur Fleegeschen Wohnung hinaufsteigt.

Aber es muß gewagt werden, und Zögern ist sinnlos. So geht er rasch ins Treppenhaus, steigt die Treppe hinauf und schließt die Tür auf. Erst beim Aufschließen kann er einen Blick hinunter wagen: die Luft ist rein. Nun kommt es nur noch darauf an, daß auch der Rückweg glatt gelingt.

Er hat ganz leise aufgeschlossen, er ist ganz leise eingetreten. Dann zieht er lautlos die Entreetür hinter sich zu und bleibt lauschend stehen. In der Küche gleich neben ihm ist Licht und Geklapper von Töpfen. Die alte Frau macht ihr Abendessen. Er täte ihr ungern was. Gut so.

Er geht gar nicht erst in sein Zimmer. Er geht sofort in ihr Wohnzimmer und schließt die Tür leise hinter sich. Es ist dunkel darin. Aber nicht sehr dunkel. Die Straßenlampen werfen einen Lichtschein gegen die Decke, und er kann deutlich auf dem Fenstertritt den kleinen Nähtisch stehen sehen. Er braucht nur einen Augenblick mit den Händen zu tasten und hat schon den Schlüsselkorb gefunden. Es ist ein ganzes Schlüsselbund darin, aber das will er nicht. Seine Finger suchen weiter und finden unter einem Taschentuch den glatten Einzelschlüssel mit dem gezackten Bart.

Auf Zehenspitzen geht er rasch an das Vertiko, sucht mit der einen Hand im Dunkeln das Schlüsselloch, führt den Schlüssel ein, öffnet die Tür, die ein wenig knarrt, und steht einen Augenblick lauschend: nichts. Seine Finger tasten im obersten Fach, fassen den glatten, hohen Nähkasten aus Holz, heben ihn heraus. Er trägt ihn an den Sofatisch, schlägt ihn auf, nimmt den Einsatz heraus, setzt ihn neben den Kasten – und in diesem Augenblick knackt es an der Tür, das Licht geht an, die alte Frau Pastorin Fleege steht in der Tür.

Er steht wie erstarrt. Sie blickt ihn fassungslos an. Er sieht das Entsetzen in ihrem Gesicht, ihr Unterkiefer fängt an zu zittern, über das alte, faltige Frauengesicht laufen Tränen ...

Er weiß nicht, was er tun soll. Da steht sie und weint. Er sieht verwirrt in den Kasten. Er macht die Schachtel auf, sieht das Geld, das Sparbuch, seine Hand greift danach ...

»Oh, Herr Lederer ...«, flüstert sie.

Plötzlich hört er sich sprechen. Hört sich selbst sprechen, während er das Geld wegstopft, das Sparbuch, hört sich flüstern: »Setzen Sie sich hin, schnell, keinen Laut. Ich tu' Ihnen nichts.«

Sie flüstert noch einmal, noch entsetzter, noch fassungsloser: »Herr Lederer ...«

Dann macht sie eine Bewegung, als wollte sie hinaus auf den Flur.

Er ist in drei Sprüngen bei ihr. Er umfaßt die kleine, gebrechliche, wehrlose, zitternde Gestalt. Er legt die Hand über den Mund der Schluchzenden, zerrt die Frau durch das Wohnzimmer in das Schlafzimmer, legt sie auf das Bett und flüstert noch einmal: »Liegen Sie nur drei Minuten ruhig! Dann dürfen Sie schreien.«

Er läuft aus dem Schlafzimmer, wieder in das Wohnzimmer, sieht sich einen Augenblick verwirrt um: wo hat er seinen Hut? Ach, er ist wahnsinnig, er hat seinen Hut auf dem Kopf. Gleich wird sie schreien.

Er ist schon auf dem Gang, läuft auf die Entreetür zu und steht einen Augenblick lauschend still.

Nichts, alles totenstill. Kein Laut. Er faßt die Klinke. Er drückt sie behutsam herunter, Zentimeter um Zentimeter öffnet er lautlos die Tür, späht in den Flur, sieht nichts, tritt rasch heraus – und steht vor seinem Kriminalbeamten.

»Na also, Kufalt, habe ich Ihnen nicht versprochen, daß ich Sie wiederfinde?!« Und zu einem andern von der Schmiere, der dahinter steht: »Sehen Sie gleich nach in der Wohnung, ob er nicht auch da noch Geschichten gemacht hat.« Und wieder zu Kufalt: »Na, wie ist Ihnen denn so? Nicht sehr erfreut, was?«


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