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Fünftes Kapitel. Schreibstube Cito-Presto

1

Es war die herrlichste Sache von der Welt –!

Einer hatte gerufen: »Zuerst einmal gehen wir futtern! Ich habe Kohldampf noch und noch.«

»Ich auch!«

»Und ich!«

Die mahnende Stimme »Warmessen am Wochentag« verhallte ungehört, und sie verschwanden acht Mann hoch in einem Bräukeller. Von dem sparsam besonnenen Maack, der saure Linsen für fünfunddreißig Pfennige aß, bis zum wildverfressenen Jänsch, der ein Gulasch und noch ein Eisbein vertilgte, dazu zwei Helle (drei Mark sechzig), waren alle Temperamente vertreten.

Montes helle Stimme schrie überschnappend: »Ich zahl' euch allen ein Bier! Gott sei Dank, daß ich da raus bin aus diesem Affenstall!«

»Dankend abgelehnt«, brummte Jänsch. »Ich zahl' mein Bier alleine.«

Und Maack: »Trinken dürfen Sie in einem Monat, wenn's geklappt hat.«

»Uch«, sagte Monte. »Seid doch nicht so ete. Ich bin ja sooo froh, daß die verfluchte Adressenschmiererei vorbei ist. Angekotzt hat mich das schon. Gearbeitet habe ich im Kittchen wahrhaftig genug.«

Die sieben anderen sitzen und sehen, Eßgerät in den Händen, den Knaben Emil Monte, dann einander ernst an.

»Also sagt schon, was ihr für eine Sache auf der Pfanne habt. Quatscht euch rein aus, ich mach jeden Dreck mit.«

»Aber wir nicht!« ruft Fasse und bekommt einen strengen Blick von Jänsch.

Schon zeigt sich, daß sich hier zwei die Führerrolle streitig machen werden, denn statt Jänsch sagt Maack: »Was wir für ein Ding auf der Pfanne haben, Monte? Adressenschreiben!«

»Und zwar«, sagt Jänsch hastig, um auch ein Wort zu sagen, »und zwar Adressenschreiben, wie du es noch nicht erlebt hast: fünfzehn Stunden täglich, und wenn dir das nicht paßt, den Arsch voll!«

Er hebt seine große, schaufelartige Pratze und zeigt sie drohend dem Monte.

»Ich bin allerdings der Ansicht«, sagt Maack eilig und leise, »daß es noch sehr zweifelhaft ist, ob wir Monte überhaupt mitnehmen. Er gehört nicht zu uns.«

»Ogottogott«, flüstert der hübsche, blondlockige Monte, völlig überwältigt, »ihr wollt richtige, solide Arbeit machen, ihr?! Ogottogott, was bin ich für ein Dussel gewesen!«

»Über all das werden wir zu sprechen haben«, sagt Jänsch. »Ich bin satt. Ober, zahlen!«

»Wir auch!«

»Wir gehen zu dir, Kufalt, deine Bude liegt am bequemsten.«

 

2

Es war die herrlichste Sache von der Welt –!

Zuerst wurde mit zwei Stimmen Mehrheit der ruhige Maack zum Schreibstubenvorsteher gewählt.

»Ich nehme die Wahl mit Dank an«, sagte Maack rasch und sicher und gab seiner Brille auf dem Nasenrücken einen kleinen Schubs, »und werde mich bemühen, immer eure Interessen wahrzunehmen. Aus der Reihe tanzen«, sagte er noch rascher, denn Jänsch fing eifersüchtig an zu brummen, »gibt es nicht. Ich werde möglichst wenig anordnen, aber was ich anordne, muß unbedingt befolgt werden. Wer sich widersetzt –«

»Arsch voll«, brummte Jänsch.

»Ungefähr, Jänsch, ungefähr so dachte ich es mir auch«, sagte Maack lächelnd. »Dabei fällt mir Monte ein. Ich habe mir den Fall noch einmal überlegt. Ich bin jetzt anderer Ansicht ...«

»Ich auch ...«, brummte Jänsch.

»Sie sind jetzt gegen Behalten?«

»Ja, jetzt bin ich gegen Behalten.«

»Ich bin«, sagt Maack, »anderer Ansicht. Wir haben in einem Monat dreihunderttausend Adressen abzuliefern. Zwei Mann müssen ständig falzen und kuvertieren. Bleiben, Monte eingerechnet, sechs Mann zum Tippen. Sechs mal zehn ist sechzig, sechs mal sechs ist sechsunddreißig, neuntausendsechshundert ...«

»Was rechnest du für 'nen Mist?«

»Muß, selbst wenn Monte bleibt, jeder Mann jeden Tag zwischen sechzehn- bis siebzehnhundert Adressen schreiben.«

»Au backe!«

»Das zieht hin!«

»Ich schreib zweitausend«, erklärt Jänsch.

»Ich auch«, sagt Maack, »und Deutschmann bestimmt auch. Aber es gibt genug unter uns, die weniger schreiben. Ich schlag' also vor: wir setzen den Monte ans Falzen und Kuvertieren, mit Kufalt zusammen. Sonst schaffen wir es nicht.«

Verdrossenes Schweigen. Einer sagt ärgerlich: »Na ja. Und was soll der verdienen?«

Monte setzt ein: »Ich möchte aber gar nicht mitmachen. Ich habe nicht deswegen ...«

Jänsch steht auf und geht quer durch das Zimmer auf Monte los. Er faßt ihn an den Schultern, drückt ihm die Arme an den Leib und schüttelt ihn hin und her:»Puppenjunge«, sagte er dazu. »Puppenjunge!«

»Genug, Jänsch«, sagt Maack. »Also du weißt Bescheid, Monte. In einem Monat kannst du machen, was du willst. Bis dahin ...«

»So!« sagt Jänsch, hebt den Monte hoch und setzt ihn mit einem Krach auf den nächsten Stuhl.

Monte reißt sein Taschentuch heraus, trocknet sich die Stirn, reibt sich den Oberarm, sieht albern-empört von einem zum anderen, und plötzlich fängt er weibisch an zu kichern ...

»Was der für Kräfte hat!« kichert er.

»Ehe wir an die Arbeitsverteilung gehen«, sagt Maack, »müssen wir feststellen, welche Geldmittel wir als Betriebskapital zur Verfügung haben. Wir müssen sechs Schreibmaschinen auf Abzahlung kaufen, ich rechne dreißig Mark pro Stück die erste Rate, ein Zimmer mieten, dreißig Mark, Tische, Stühle, sechzig Mark ...«

»Aber das können wir uns doch alles so ›– Handgriff –‹ besorgen.«

»Tische und Stühle sechzig Mark! – Das wäre wohl alles. Hundertachtzig die Maschinen, zweihundertzehn die Miete. Zweihundertsiebzig alles in allem ... Wieviel kann jeder von euch dazu geben?«

Stille.

Noch viel stiller. Jeder sieht krampfhaft vor sich hin.

»Wir sind acht Mann«, sagt Maack. »Es würden auf jeden vierzig Mark entfallen. Wer hat so viel?«

Stille. Stille. Stille.

»Ich zeichne also vierzig Mark«, sagt Maack. »Na, und du, Kufalt?«

»Ich habe doch den Auftrag gebracht«, sagt Kufalt hilflos. Er fürchtet, gibt er jetzt vierzig Mark her und die anderen sehen, er hat dann noch immer dreihundertvierzig in der Brieftasche – so muß er alles zahlen.

»Und Sie, Jänsch?«

»Ich fress' all mein Geld immer gleich auf«, sagt Jänsch mürrisch. »Sie sind doch der Schreibstubenvorsteher, Maack.«

»Und Sie, Fasse? – Deutschmann? – Sager? – Oeser? – Monte?«

»Geld soll ich auch noch geben«, schreit Monte. »Wo ich so behandelt werde!«

Langes, verdrossenes Schweigen.

»Ja, wozu sind Sie denn der Schreibstubenvorsteher?« sagt Jänsch noch einmal.

»Der Kufalt hat uns überhaupt reingerissen«, sagt Oeser böse. »Schön blöd sind wir gewesen. Siebzehnhundert Adressen den Tag, so ein Quatsch!«

»Scheiße!« schreit Sager und haut auf den Tisch.

»Scheiße!« schreit auch Fasse.

Und plötzlich schreien sie alle »Scheiße!« Sind wie wild, trommeln auf den Tisch, geraten in einen Paroxysmus von Verzweiflung: ach, die schöne, so leichtsinnig aufgegebene Schreibstube da hinten.

»Einen Augenblick«, sagt Maack, und langsam wird es still.

Maack sagt – und er sieht ja wirklich tadellos aus, dieser Maack mit dem weißen, selbstbeherrschten Gesicht, mit der schmalen Goldbrille – also er sagt: »Unter der Voraussetzung, daß uns die Geldbeschaffung gelingt ...«

»Scheiße!«

»Bitte! Ich bin überzeugt, ihr alle habt Geld – ausgenommen vielleicht Monte.«

»Hab auch keines«, sagt Monte. »Wenn ich hier mitarbeiten soll, muß ich Vorschuß haben.«

»Also – unter der Voraussetzung, daß das Geld zusammenkommt und wir morgen mit Arbeiten anfangen, so bekommen wir übermorgen von der Firma dreiundneunzig Mark fünfzig für die ersten Zehntausend und jeden weiteren Tag weitere dreiundneunzig Mark fünfzig Arbeitslohn ...«

»Ja, wenn –!«

»Ich schlage nun vor, daß wir vorläufig jedem nur einen Wochenlohn von fünfundzwanzig Mark auszahlen, bis die Geldgeber ihre Einlagen zurück haben. Und zwar bekommt jeder Geldgeber für hergegebene zehn Mark fünfzehn Mark aus den Eingängen zurück, als Belohnung für sein Risiko.«

Höher atmendes Schweigen.

»Wird dieser Vorschlag von mir«, sagte Maack hurtig, »angenommen, so bin ich bereit, hundert Mark zu zeichnen.« Einen Augenblick Stille – und Maack setzt träumerisch hinzu: »Ich würde dann hundertfünfzig zurückbekommen.«

»Wieso hundert Mark?« sagt Jansen brummig. »Wieso gerade Sie hundert Mark? Dann zeichne ich auch hundert Mark!«

»Ich auch!«

»Ich auch!«

»So viel brauchen wir doch gar nicht.«

»Ich hundertfünfzig«, schreit Kufalt.

»Und ich habe nicht mehr als vierzig Mark«, klagt Monte. »Wieso soll gerade ich so wenig verdienen?«

Brüllendes Gelächter.

»Kiek, der Pupe, der wittert auch was!«

»Will Vorschuß, der Goldjunge! Nachschuß, mein Süßer.«

»Da also«, sagt Maack, »die Geldfrage in dem Sinne geregelt ist, daß jeder von uns vierzig Mark zahlt ...«

»Aber wir kriegen sechzig wieder!«

»Natürlich! ... So bitte ich erst einmal alle, möglichst schnell nach Hause zu gehen und das Geld zu holen. Wir haben heute noch einen Haufen zu erledigen.«

Alles eilt fort.

»Junge, Monte – wenn du nicht wieder anzitterst – wir finden dich!«

»Ich komm' schon«, sagt Monte. »Wenn ich sechzig Mark für vierzig kriege!«

Kufalt und Maack bleiben zurück. Maack liniiert einen Bogen, schreibt die Namen der acht untereinander, zu oberst den seinen, neben jeden Namen die Zahl vierzig. Dann nimmt er aus einer abgegriffenen roten Brieftasche zwei Zwanzigmarkscheine, legt sie vorsichtig vor sich hin und quittiert sich selbst: »Erhalten Peter Maack.«

Dann empfängt er von Kufalt ebenfalls vierzig, quittiert wieder und sieht lächelnd zu Kufalt auf: »Ein bißchen dumm seid ihr ja alle. Denkt, ihr verdient zwanzig Mark, jeder, und merkt nicht, daß die euch allen gleichmäßig vom Arbeitsverdienst abgezogen werden.«

»Mensch«, sagt Kufalt atemlos. »Das hast du die ganze Zeit gewußt! Wenn das die anderen wüßten!«

»Ich erzähl's auch dir alleine«, sagt Maack. »Hoffentlich kommt keiner von den anderen darauf, bis sie wieder hier sind mit ihrer Marie.«

 

3

Und nun wurde es wirklich und wahrhaftig die herrlichste Sache von der Welt.

Es zeigte sich, daß von dem immer schmierig aussehenden Oeser und von dem ewig puppenjungenhaft gekleideten Monte abgesehen – daß alle anderen Würde und Ernst der Stunde begriffen hatten: nicht nur das Geld brachten sie mit, nein, auch umgekleidet hatten sie sich. Selbst der wilde Jänsch sah nahezu elegant und fast glatt rasiert aus, und Deutschmann kam sogar, trotz des glühenden Sommernachmittags, im Cut und mit einem schwarzen, steifen Hut.

Sie umstanden ihn und stimmten einen Brummgesang an:

»Die Melone ...«

»Und der Judenhelm ...«

»Ach, dein süßer, steifer Schwarzer ...« (Natürlich Monte.)

»Mit dem Bibi, kleiner Schelm ...«

Deutschmann ertrug diese etwas lärmende Bewunderung mit lächelnder Gelassenheit. Maack belohnte ihn: »Du, Deutschmann, gehst mit Fasse und mietest uns ein Geschäftslokal. Möglichst in der Nähe von der Firma – wie heißt sie doch?«

»Emil Gnutzmann, Stielings Nachfolger«, half Kufalt aus.

»Also schön. Ein Zimmer genügt. Meinethalben unter'm Dach. Gutes Licht. Nicht mehr als dreißig Mark ...«

»Ob ich das schaffe!«

»Keinesfalls mehr als dreißig Mark!!! Hier hast du Geld, unterschreib die Quittung. Und lass dir eine von unserem neuen Hauswirt geben ...«

»In Ordnung«, sagt Deutschmann. »Mach' ich. Wer sorgt für Lampen?«

»Wart's ab. Sie, Herr Jänsch ...«

»Hör bloß mit dem Getu auf! Hier nennen wir uns jetzt alle du, wo wir schon unser Geld zusammengeschmissen haben.«

Maack sagt höflich: »Danke schön, Jänsch. Also, ich bitte dich, geh mit Sager und Monte los und besorg die Möbel. Vielleicht kriegt ihr Leihmöbel, sonst kauft ihr einfach Böcke, über die man Bretter nageln kann. Dazu drei, vier alte Ziehlampen. Hier ist Geld und Quittung. Und bitte Belege mitbringen.«

»Versteht sich alles. Sabbel bloß nicht so viel.«

»Ich geh mit Kufalt und besorg die Maschinen. Um sieben Uhr dreißig treffen wir uns hier bei Kufalt wieder, und melden, wie alles erledigt ist.« Mit ernster Besorgnis: »Aber, Jungens, ihr wißt, es muß klappen, morgen müssen wir unbedingt sitzen und tippen.«

»Besorg du nur die Maschinen, ich schaff die Möbel schon an.«

»Und ich die Wohnung.«

»Und was mach' ich?« fragt Oeser.

»Ja, du«, sagt Maack und wird von einer fast verlegenen Feierlichkeit ergriffen. »Für dich hab' ich einen Spezialauftrag ...«

»Quatsch dich rein aus. Daß ich die dreckigste Arbeit machen soll, ist mir schon klar.«

»Gar nicht. Nur, ich weiß nicht, ob es dir unangenehm ist. Ich muß dich was fragen, ich habe mal so was gehört ...«

»Nu aber los, Maack«, sagt Jansen.

»Ich hör' zu«, sagt Oeser. »Zuhören kann man, man muß nicht gleich hauen.«

»Also ich hab' so was gehört, Oeser«, fängt Maack wieder an, »aber es kann natürlich Gesabbel gewesen sein ...«

»Jetzt hau' ich aber gleich!« erklärt Jänsch.

»Falschmünzerei?« fragt Maack.

Oeser ist ein langer, schlenkriger Mann, Mitte der Dreißiger, mit einem kantigen, scharfen Gesicht, fuchsroten Haaren, langen Händen mit komischen Fingern, die überall Buckel zu haben scheinen.

»Sabbel nur weiter«, sagt er. »Ich hör' schon zu ...«

»Ihr wißt doch, der Kufalt soll morgen eine Bestätigung abgeben über die Vereinbarung zwischen unserer und deren Firma. Nun haben wir doch keine Briefbogen mit Firmeneindruck und kriegen so schnell keine und wissen noch nicht einmal, wo wir wohnen. – Ob du das wohl kannst, daß du uns einen oder zwei Briefbogen machst mit der Hand, weißt du, daß sie genauso wie gedruckt aussehen? Hast du mal die von Presto gesehen –?«

»Red nur weiter, ich schlag' dir schon zur rechten Zeit hinter die Löffel.« Aber Oeser grinst.

Darum fährt Maack auch eifriger fort: »Briefbogen müssen wir haben, es macht sonst einen zu schlechten Eindruck. Und, weißt du, es müßte ein bißchen nett aussehen, so was Modernes, vielleicht ein junges Mädchen an der Schreibmaschine, Schreibstube Cito-Presto, modernster Betrieb des Kontinents, und dann noch: Unerhört rasch – unerhört billig – unerhört genau, und ein Blitz vielleicht durch alles. Weil wir so schnell arbeiten. Aber es müßte genau wie Gedrucktes aussehen ...«

»Arschloch!« brüllt Oeser los, aber begeistert. »Hund, dämlicher! Ich habe Zwanzigmarkscheine gemacht mit den Guillochelinien, das sind die ganz feinen verschlungenen Linien, die kein Mensch nachmachen kann, und ich hab' sie nachgemacht und kein Mensch hat's gemerkt und die Reichsbank hat sie in Zahlung genommen – und ich soll nicht so 'nen Pimpel-Pampel-Pumpel-Druck-Briefbogen nachmachen können?!!! Kohlköppe, ihr, von wegen Blitz, weil wir so schnell arbeiten! Haut bloß alle ab, laßt mich allein, und heute abend um sieben Uhr dreißig sollt ihr Bauklötzer husten! Gib mir fünf Mark her, ich unterschreib', kriegst nachher die Belege ... Geht doch los, ihr, glotzt nicht so – Kindersch, so 'ne Arbeit, das ist doch 'ne Arbeit für 'nen Facharbeiter! Ich hab' immer gedacht (glotzt nicht so!), wenn ich so 'ne Arbeit noch mal im Leben kriege, aber solide, solide, denn bei mir stinkt's immer nach Zet – ach, haut bloß ab, laßt 'nen Arbeiter seine Arbeit alleine arbeiten ... Haut bloß ab!«

»Der ist ja rein durchgedreht!«

»Na, mach's gut, Oeser!«

»Mach bloß keine Zwanzigmarkscheine auf die Bogen!«

Und lachend ziehen sie los.

 

4

Sicher war die Aufgabe keiner Abteilung ganz leicht, aber ebenso sicher – darüber waren sich Maack und Kufalt ganz einig –: ihre Aufgabe war die schwerste. Sechs Schreibmaschinen für hundertachtzig borgen, leihen, kaufen – das war schon so eine Sache.

Sie hatten ihre Hoffnung auf Herrn Louis Grünspohm gesetzt

Louis Grünspohm inserierte regelmäßig in den Hamburger Zeitungen, daß man auf seinem unerhört reichhaltigen Lager gebrauchte und neue Maschinen, die modernsten Maschinen aller Systeme, kaufen könne. In Monatsraten von zehn Mark an!

Es erwies sich, daß das Geschäftslokal des Herrn Grünspohm in einer etwas abgelegenen, dunklen Trödelgasse lag, daß Herr Grünspohm ein langer, bleicher, strubbelbärtiger Mann war, der über Schreibmaschinen aller Modelle seit Erfindung der Schreibmaschine an befehligte, daß man aber mindestens einen Ministerpräsidenten oder Bankdirektor als Referenz aufgeben mußte, um in den Genuß einer Monatsrate von zehn Mark zu gelangen. Grünspohm sah die beiden Kunden mit seinen eiligen, trüben, schwarzen Äuglein unverwandt an und sagte dabei: »Nehmen Sie doch die! So eine schöne Maschine! Neunzig Mark, zwei Drittel Anzahlung bar, der Rest auf Vierteljahreswechsel mit einem guten, sicheren Giranten.«

Die beiden sahen die schöne Maschine an: sie trug auf ihrer Stirn eine Tabelle mit Buchstaben, eine Nadel tippte den gewünschten Buchstaben, eine Walze kam ins Trudeln und wackelte gegen das Papier, oho, oho, schon stand ein Buchstabe auf dem Papier – Kufalt und Maack bewegten die Schultern.

»So ein schönes Maschinchen«, versicherte Herr Grünspohm. »Wie eine Puppe schreibt es, wie eine Puppe!« (Und das war nicht einmal gelogen.)

»Ich will Ihnen was sagen«, erklärte Maack. »Wir machen eine Schreibstube auf, wir sind eine junge Firma, wir haben gute Aufträge, wir haben sogar glänzende Aufträge. Aber wir brauchen innerhalb drei Stunden sechs Maschinen, große, moderne Büromaschinen, verstehen Sie! Wir zahlen Ihnen pro Maschine dreißig Mark an und den Rest in Monatsraten von dreißig – nun, was meinst du? – von vierzig Mark.«

Kufalt nickt beistimmend, Herr Grünspohm bewegt nachdenklich den Kopf: »Von wem sind denn die großen, glänzenden Aufträge, wenn ich die Herren fragen darf?«

Kufalt und Maack wechseln einen Blick.

Kufalt sagt: »Zum Beispiel von einer Textilfirma. Emil Gnutzmann, Stielings Nachfolger.«

Grünspohm nickt beistimmend: »Eine schöne Firma. Eine solide Firma. Schreibt Adler, kauft direkt beim Vertreter. Ich hab' ihr ein paar alte Maschinen abgekauft – handeln kann der Herr Bär – grausig!«

»Da haben Sie recht«, lacht Kufalt. »Mit mir hat er auch so gehandelt. Hab' ich geschwitzt, bis ich den Auftrag hatte!«

Herr Grünspohm ist fröhlicher geworden, ist nicht mehr so bekümmert. »Und wie groß ist der Auftrag, wenn ich die Herren fragen darf?«

»Ungefähr dreitausend Mark reiner Arbeitsverdienst«, sagt Maack feierlich.

Herr Grünspohm denkt nach. Er geht hin und her, dann hat er einen Entschluß gefaßt, er bleibt vor den beiden stehen.

»Weil Sie jung sind und Sie wollen arbeiten und Sie sehen ehrlich aus und anständig, will ich Ihnen ein Angebot machen: ich liefere Ihnen morgen früh um zehn sechs Maschinen, so gut wie neu ...«

»Nicht so gut wie neu, neu!« sagt Maack.

»So gut wie neu«, sagt Herr Grünspohm unbeugsam. »Gute Ware: Mercedes, Adler, Underwood, AEG ... Sie zahlen dreihundert Mark an und bringen mir eine Bescheinigung von Herrn Bär, daß ich mir heut' in einem Monat tausendfünfhundert Mark von Ihrem Arbeitsverdienst abholen kann ...«

»Ausgeschlossen!« schreit Kufalt. »Wovon sollen wir denn leben?«

»Das sind dreihundert Mark für 'ne alte Maschine! Sie sind ja nicht ganz in Ordnung!« protestiert Maack.

»Sie schneiden uns den Hals ab, weil Sie merken, wir haben den Auftrag und keine Maschinen.«

»Nunu«, sagt Grünspohm. »Es ist ein Angebot. Gehen Sie durch ganz Hamburg und horchen Sie, ob Ihnen noch jemand so ein Angebot macht.«

»Das glaub' ich«, höhnt Kufalt. »So was riskiert keiner!«

»Überlegen Sie sich's, die Herren«, sagt Grünspohm. »Eine schöne, nette Bescheinigung von der Firma Gnutzmann, mit dem Namen des Herrn Bär, und ich will ...«, er gibt sich einen Stoß, »... ich will nicht so sein, ich will sagen, zweihundert Anzahlung.«

»Das möchten Sie«, sagt Kufalt.

Aber Maack, plötzlich sehr höflich: »Also guten Tag, Herr Grünspohm, vielleicht überlegen wir es uns wirklich.«

»Maack –!« sagt Kufalt.

»Guten Tag, die Herren«, sagt Grünspohm. »Sie kommen.« Er geleitet sie zur Tür. »Sie kommen wieder. Und ich gebe Ihnen auch wirklich schöne Maschinchen ...«

 

Sie sitzen auf einer Bank und rauchen.

»Ich versteh' dich nicht, Maack«, sagt Kufalt, »wenn wir zwölfhundert Mark abtreten und ziehen dann noch die dreihundertzwanzig Mark ab, die wir für die Unkosten aufgebracht haben, dann bleiben kaum noch dreizehnhundert Mark Arbeitslohn für uns, das macht auf die Nase ...«

Er rechnet.

»Hundertsechzig Mark und eine bezahlte Schreibmaschine«, sagt Maack. »Das ist gar nicht schlecht, wenn man eine eigene Schreibmaschine hat.«

»Aber wir sind acht und es sind nur sechs Maschinen«, beharrt Kufalt.

»Der Monte guckt in den Mond, der Dussel – wozu drängt er sich auf?«

»Und ich –?«

»Dir geben wir deinen Anteil in Geld.«

»Da kann ich lang drauf warten, da seh' ich auch in den Mond«, sagt Kufalt bitter.

Eine Weile schweigen sie.

»Und ich geh' nicht zu Bär«, ruft Kufalt plötzlich. »Und ich hol' mir die Bescheinigung nicht. Der schmeißt mich einfach raus, wenn er erfährt, ich hab' den Auftrag geholt und wir haben nicht einmal Maschinen. Ich geh' nicht hin! Ich tu's und tu's nicht!«

»Sollst du auch nicht«, sagt Maack langsam.

»Wieso?«

»Ich sag': sollst du auch nicht.«

»Wieso –?!«

»Oeser kriegt so 'ne Bestätigung schon hin.«

Lange, lange Stille. Sie sehen sich nicht an.

Da sitzen sie auf ihrer Bank, sie sind eigentlich sehr nett gekleidet, sie sehen gar nicht übel aus, die beiden, an diesem schönen Sommernachmittag. Sie rauchen Juno, sie sind Menschen mit Arbeitskraft und Hirn, zu was zu brauchen, äußerlich sieht man ihnen nichts an.

»Oeser ...«, hat Maack gesagt.

Nein, das sind gehandikapte Menschen, verkorkste Menschen, in ihnen sitzt – mit einer Straftat fing es an, im Kittchen ging es weiter, nach der Entlassung wurde es vollendet –, in ihnen sitzt das Gefühl, daß sie es doch auf dem normalen Wege nicht schaffen, daß sie nie, nie wieder in ein ruhiges, bürgerliches Leben zurückkönnen. Sie leben am Rande des Daseins, jeder Klatsch bedroht sie, jeder Schutzmann, jeder von der Kripo, Briefe bedrohen sie, Kittchengenossen bedrohen sie, Reden im Schlaf bedroht sie, der Beamte auf dem Wohlfahrtsamt bedroht sie – am schlimmsten bedroht sie ihr eigenes Ich. Sie glauben nicht mehr an sich, sie trauen sich nicht mehr – es geht ja doch einmal schief, wer einmal aus dem Blechnapf frißt, frißt immer wieder daraus.

»Oeser«, hat Maack gesagt.

Und nun setzt er eilig hinzu: »Versteh doch, wir wollen den ollen Grünspohm ja gar nicht bescheißen. Der kriegt sein Geld am Monatsende eben von uns. Das kann ihm doch egal sein, von wem er sein Geld kriegt. Oder wir geben ihm die Maschinen zurück. Das können wir dann alles sehen, ein Monat ist eine lange Zeit.«

»Warum eigentlich?« fragt Kufalt »Wir können es doch in anderen Geschäften noch mal versuchen.«

»Nein«, sagt Maack hartnäckig. »So ist es sicher am besten. Man weiß dann immer, man kann noch tun, was man will.«

»Das sagst du!« sagt Kufalt »Maack, du hast gesagt, du willst nichts anfassen, und jetzt, wo wir Arbeit kriegen, willst du doch was anfassen? Ich versteh' dich nicht.«

Maack brennt sich eine Zigarette an. Er blinzelt etwas, aber er sagt ganz ruhig: »Dussel du, ich sag' dir doch, ich will nichts anfassen. Ich will nur sehen, wie es am Monatsende ist.«

»Ich will dir sagen, was du möchtest«, schreit Kufalt plötzlich erleuchtet, »du willst die Maschinen verscheuern und willst stiften gehen mit dem Gelde!«

Maack ist keine Spur beleidigt. Er rückt die Brille zurecht, spuckt etwas Tabak aus und sagt: »Und ich will dir sagen, was mit dir ist: du hast hier eine und darum hast du keine Traute.«

»Und du? Und deine Liese?« fragt Kufalt aufgeregt und denkt an das nette Ding mit den grellen Kirschenaugen und den Korkzieherlocken.

»Ach, die Weiber!« sagt Maack. »Weiber gibt's überall.«

Er ist still und setzt dann hinzu: »Übrigens hat's bei meiner geschnappt.«

Kufalt schweigt bestürzt still. Denn das ist schlimm für Maack, da verliert das kleine Lieschen seine Stellung – und was machen die beiden dann zu dreien? Aber – und er denkt immer hastiger – warum hat dann der Maack gerade jetzt seine Stellung in der Schreibstube aufgegeben – die war doch wenigstens was Sicheres, so glänzend, wie der schrieb!

Und plötzlich durchschießt ein Gedanke seinen Kopf, und er sagt aufgeregt: »O Maack, ich weiß es jetzt: du hast uns alle bescheißen wollen um das ganze Geld! Wie du es hast machen wollen, weiß ich noch nicht. Aber du hast's gewollt und hast abhauen wollen damit!«

»Ein bißchen hätte ich euch schon gelassen«, sagt Maack und grinst.

»Und warum erzählst du es mir jetzt?« fragt Kufalt verblüfft.

»Weil ich es über habe!« schreit der stille, selbstbeherrschte Maack plötzlich. »Weil ich es zum Kotzen über habe! Das ganze Leben hier draußen stinkt mich an. Siehste, Kufalt, ich spiele immer den großen Ganoven, aber ich hab' nur drei Monate abgerissen, noch weniger als der Patzig – und vier Jahre ist das schon her und ich strampele mich ab und arbeite wie ein Vieh und gönne mir nichts – und komme nicht weiter und komme nicht weiter! Sorgen über Sorgen und der Jauch, das Schwein, und der scheinheilige Marcetus – alle treten sie rum auf einem, und zweimal hab' ich 'ne Stellung gehabt und denke: nun geht's los mit Anständigkeit und aufwärts. Aber dann erfährt's doch irgendeiner und dann geht das los mit den schiefen Gesichtern und den Stichelreden, und dann sagt einer: sein Gummi ist weg, kann nur der Maack haben, und dem andern fehlt Geld aus der Manteltasche – natürlich, der Maack, der Maack, nur der Maack –.«

Er ist aufgestanden und schreit beinahe. Vorübergehende gucken, Kufalt zieht ihn wieder auf die Bank und redet ihm zu.

Der Maack reißt die Brille ab und trocknet sich die Stirn.

»Und dann läßt einen der Chef kommen und sagt: ›Sie sehen selbst, es geht nicht. Ich will Ihnen nichts vorwerfen, aber Sie sehen selbst ein, nicht wahr?‹ Und nun, wo mein Mädchen den dicken Bauch hat, und sie sagt, sie läßt es sich nicht wegmachen, sie freut sich noch, das dämliche Aas, weil es von mir ist, ausgerechnet von mir ...«

Maack schluckt, Kufalt sagt gar nichts.

»Und gestern früh, wo ich die Stellung im Export haben sollte, freue ich mich noch wie ein Stint und denke: alles geht gut, und ich kann mit Lieschen irgendwo unterkriechen, und wir können ein Kind haben wie alle anderen ...«

Er schluckt wieder. Und dann sagt er noch: »Und wie mir die wieder aus der Nase gegangen ist, bloß weil die Arschkriecher vorwärtskommen, da hab' ich gedacht: nun ist mir alles egal, jetzt sehe ich, daß ich schnell ein bißchen Geld ranschaffe, ganz egal wie. Da sorge ich noch ein bißchen fürs Lieschen, daß sie auch was vom Sitzen hat.«

Er hockt da, auf einer Bank im Grünen, zwischen den Bäumen des Zoos leuchtet die Sonne.

»Ich will dir was sagen, Peter«, sagt Kufalt, »jetzt sehen wir im Branchentelephonbuch nach, was es alles für Schreibmaschinenfirmen gibt. Und die klappere ich ganz allein ab, und du sollst sehen: um sieben habe ich meine Schreibmaschinen ...«

Maack schüttelt den Kopf.

»Doch! Doch!« protestiert Kufalt eifrig. Er lächelt.

»Ich glaube, es ist gar nicht so schwer. Wir haben bloß den Fehler gemacht, daß wir gleich alle sechs auf einmal verlangt haben. Du sollst sehen, wie schön es mit unserer Schreibstube klappen wird, und wir werden neue Aufträge bekommen, und du wirst noch mal ganz richtiger Schreibstubenvorsteher mit Gehalt bei uns und kotzt uns alle an, genau wie der Jauch. Und dein Lieschen kriegt ihr Kind, sollste sehen!«

 

5

Es ist ein strahlender Sommermorgen, gegen neun Uhr, als die ganze Schreibstube Cito-Presto auf das Gnutzmannsche Textilwarenhaus anmarschiert. Die Herren Fasse und Monte ziehen einen vom neuen Hauswirt entliehenen Handwagen, den Herr Oeser nachschiebt.

Auf dem Bürgersteig, etwas vor dem Wagen, gehen die Herren Maack und Kufalt auf gleicher Höhe mit dem Gefährt. Herr Jänsch, der Weisungen wegen Verhaltens im Straßenverkehr gibt, befindet sich kurz vor den Herren Sager und Deutschmann.

So ziehen sie dahin, kaum ein Wort wird gesprochen, höchstens, daß Jänsch einmal ruft: »Steck den rechten Arm raus, wenn du um die rechte Ecke willst, Mensch, Monte« – also, eine ruhige Sache ist es, aber der Bedeutung dieser Stunde sind sich alle bewußt.

»Knorke, was?« fragt Deutschmann.

Und Herr Sager, dieser listige, überhöfliche Fuchs, sagt uneingeschränkt begeistert über solchen Aufzug: »Oberpiepenknorke!«

Sie langen an vor dem Textilhaus, und kurz und knapp trifft Herr Schreibstubenvorsteher Maack seine Anordnungen:

»Fasse, Monte – jeder an eine Straßenecke. Kommt Jauch oder jemand von Presto in Sicht, so pfeift ihr wie verabredet und geht in Deckung!«

»Sager, du hältst dich im Hausflur –: ertönt der Pfiff, so stürmst du die Treppe hinauf und warnst uns.«

»Jänsch, Deutschmann, Oeser, mit uns zum Verladen der Umschläge und des Adressenmaterials –«

»Kufalt, du stellst mich Herrn Bär vor. Wir übergeben ihm gemeinsam die Bestätigung.«

»Da will ich dabei sein«, bittet Oeser. »Nur zusehen, Maack.«

»In Ordnung«, sagt Maack. »Los!«

Das Fräulein in der Anmeldung weiß schon Bescheid: »Da stehen die Umschläge. Erst mal hunderttausend. Die Adressen sind auf den Kartothekkarten in diesen Kästen – aber daß Sie uns keine Unordnung machen!«

»I wo, Fräulein«, sagt Jänsch. »Wir sind sooo genau!«

»Paßt auf beim Runtertragen«, sagt Maack.

»Kartothekadressen – schreibt sich prima«, sagt Deutschmann.

»Konnten wir wohl Herrn Bär sprechen, Fräulein?« bittet Kufalt.

»Einen Augenblick, will mal nachsehen.« Und sie verschwindet.

»Nehmt mich mit«, fleht Oeser.

»Wenn's geht«, sagt Maack.

»Herr Bär läßt bitten«, verkündet das rückkehrende Fräulein.

Kufalt voran. Maack hinterdrein, nach ihnen quetscht sich noch Oeser durch.

»Ich wollte mir erlauben, Ihnen unseren Schreibstubenvorsteher Maack vorzustellen, Herr Bär. – Herr Maack, Herr Bär –«. Hinten starkes Räuspern. »Ach ja, Herr Oeser, einer unserer Mitarbeiter ...«

»Darf ich Ihnen die Bestätigung des uns gütigst erteilten Auftrages überreichen?« fragt Maack und entnimmt einer Brieftasche einen blütenweißen Umschlag, den er Herrn Bär hinter seinem Schreibtisch überreicht.

Der nimmt ihn achtlos, hält ihn in der Hand und sagt dabei: »Ihre Schreibstube kennt aber kein Aas, Herr Meierbeer.«

»Wir sind ein ganz junges Unternehmen«, sagt Maack.

»In einem halben Jahr wird ganz Hamburg unsere Schreibstube kennen«, behauptet stolz Kufalt.

»So«, sagt Herr Bär trocken und entfaltet den Brief.

Oeser sagt gar nichts, aber aus brennenden Augen, mit Augen, die ihm fast aus dem Kopfe treten, mit Stielaugen also, beobachtet er Herrn Bär und das Briefblatt in seiner Hand.

Aber Herr Bär sieht es noch nicht an. Er sagt lächelnd: »Euch Jungens kenne ich doch.«

Den dreien bleibt das Herz stehen. Schließlich rafft sich Kufalt auf, er räuspert sich und sagt mit merkwürdig rauher Stimme: »Wieso – Herr Bär?«

Herr Bär sagt gemütlich: »Na, verzeihen Sie bloß. Sie sind ja ganz entgeistert. Aber daß Sie Arbeitslose sind, die irgendwie Wind von unserem Auftrag bekommen haben, und daß ich Sie für acht Mark auch gekriegt hätte, das habe ich nun mittlerweile kapiert.«

Drei Herzen schlagen wieder schneller.

»Na«, sagt Herr Bär abschließend, »mir kann's jetzt egal sein. Die Hauptsache, der Auftrag wird tadellos erledigt. Und das wird er doch?«

»Jawohl, Herr Bär«, sagen drei glückliche Stimmen.

»Und daß ich keine Scherereien mit dem Arbeitsamt kriege, von wegen Schwarzarbeit und widerrechtlich Stempeln«, sagt Herr Bär und wendet sich dem Briefe zu.

»Ausgeschlossen«, sagt Maack. »Wir beziehen alle nichts.«

»Aber wirklich hübsch!« sagt Herr Bär und betrachtet den Briefbogen. »Aber wirklich wunderhübsch.«

Oeser läuft vor Glück dunkelrot an.

Nein, er hat nichts gemacht von Blitz und so 'nem Quatsch (»als wenn wir 'ne Blitzableiterfirma wären!«): oben steht hübsch in Druckschrift ›Schreibstube Cito-Presto‹ – darunter kleiner: ›Erledigung aller Büroarbeiten‹ – darunter wieder größer: ›Unerreicht billig – unerreicht schnell – unerreicht exakt – unerreicht diskret‹ – Ort und Datum, alles wie sonst, alles wie üblich. Aber den ganzen linken Rand runter sind Zeichnungen: oben sitzt ein Mädchen an der Schreibmaschine, sie hat getippt und reicht ihren Brief einem jungen Mann, der etwas tiefer steht. Und der reicht mit der anderen Hand ein ganzes Paket Briefe einem großen, breiten, bärtigen Mann, der – wieder tiefer – hinter einer Art Packtisch steht.

»Hübsch«, sagt Herr Bär nochmal. »Den Briefbogen heb' ich mir auf, wenn er mal erledigt ist.« Er kann sich noch nicht trennen. Er grübelt: »Aber die Dame muß ich kennen, das Mädchen da an der Maschine. – Und den jungen Mann auch! – Und den Kerl mit dem Bart ja auch! Sagen Sie mal, wo haben Sie die her?«

»Ich weiß wirklich nicht«, sagt Maack. »Das hat ein Herr für uns gezeichnet.«

»Komisch«, sagt Herr Bär, legt den Brief hin und drückt auf eine Klingel. »Ich komm' noch dahinter. Gesehen habe ich die bestimmt schon.«

Und als das Fräulein eintritt: »Schreiben Sie die Bestätigung an die Schreibstube Cito-Presto, hier ist der Vorgang dazu. – Vorsicht damit! Nicht knittern, keine Flecke ...: ›Mit Ihrem Schreiben vom 15. d. M. gehen wir konform usw. Hochachtungsvoll. ‹ So, und nun danke ich Ihnen, hoffentlich klappt alles.«

Die Fuhre zieht zurück zur Schreibstube Cito-Presto: hunderttausend Umschläge und Drucksachen, Kartothekkarten für dreihunderttausend Adressen, acht Glückliche.

»Du, Oeser, komm doch mal!« ruft Kufalt plötzlich.

Oeser kommt. »Nu?«

»Sag mal, Oeser, wir, der Maack und ich, grübeln und grübeln, wir kennen die Leute auf deinem Briefbogen auch, und wir kommen und kommen nicht darauf. Wer ist das Mädchen bloß?«

Oeser erglänzt wieder vor Stolz, sagt aber nur: »Elisabeth Holbein, geborene Schmidt, aus Basel.«

»Wie –?« fragen die beiden langgezogen und verstehen vorerst gar nichts. »War das 'ne Schönheitskönigin?«

»Ich sage es doch«, erklärt Oeser unschuldig. »Und der junge Mann ist Dietrich Born, Kaufmann, und der mit dem Bart ist Hermann Hillebrandt Wedigh aus Köln!«

»Nie gehört. Wieso kennen wir die?«

»O ihr Ochsen«, bricht Oeser plötzlich triumphierend aus. »Ihr Rindviecher! Das Mädchen, das ist das Mädchen aus dem Zwanzigmarkschein. Und der Jüngling ist aus dem Zehnmarkschein! Und der mit dem Bart ist aus dem Tausendmarkschein, und ich hab' ihnen nur die Mützen und Hauben abgenommen und alle sind nach Gemälden von Holbein – und keiner sieht's! Und keiner sieht's!!«

Er knufft die beiden Verblüfften in die Seite. »O Kinder, Kinder bin ich glücklich ... so was machen und alle damit durch den Kakao ziehen ...«

»Du bist ein schönes Schwein«, sagt Maack streng. »Du hast überhaupt nicht durch den Kakao zu ziehen. Adressen hast du zu schreiben!«

»Aber die muß ich doch kennen, das Mädchen an der Maschine!« ahmt Oeser in den höchsten Tönen Herrn Bär nach.

Und alle drei brechen in ein tolles Gelächter aus.

 

6

Es ist zehn Uhr vormittags.

In der Schreibstube Cito-Presto stehen die sechs Schreibmaschinen schreibbereit. Neben jeder sind aufgehäuft Stöße von blauen Umschlägen; Kästen mit blauen, grünen, roten, gelben Kartothekkarten sind geöffnet, aus jedem ist eine Anzahl Blätter herausgenommen und liegt da, sich in Adressen zu verwandeln. Vor den Maschinen sitzen sechs Mann, die Hände ruhen noch tatenlos auf dem Tisch oder im Schoß.

An einem Ecktisch sitzen Kufalt und Monte, die Drucksachen sind aufgestapelt, die Karten sind noch säuberlich gebündelt, die Falzmesser liegen bereit.

Erwartungsvolle Stille herrscht.

Nun steht Maack auf, er schiebt die Brille zurecht, er setzt an: »Meine Herren ...«

Schon hält er inne, er wird ein wenig rot, als er sich verbessert: »Kameraden!«

Er sieht sie alle der Reihe nach an, und der Reihe nach erwidern sie seinen Blick.

»Kameraden«, sagt Maack und seine Stimme wird frischer, »gleich werden wir anfangen zu schreiben, was wir seit Jahr und Tag geschrieben haben: Adressen. Und doch gehen wir heute an eine neue hoffnungsvolle Arbeit: wir arbeiten allein für uns selbst!«

Er macht eine Pause.

Er sagt: »Wenn wir erfüllen wollen, was wir übernommen haben, muß jeder von uns bei der Stange bleiben. Jeder von uns kann in diesem Monat viel Geld verdienen. Kameraden, spart es euch auf. Keine Mädchen, kein Kino, keine Trinkerei, diesen einen Monat lang. Vielleicht gelingt es uns dann.«

Wieder eine Pause ...

Maack hält inne, lächelt, er sagt: »Wir haben gewissermaßen einen Monat Bewährungsfrist, es wird mit uns noch einmal versucht, wir versuchen es mit uns noch einmal ...«

Er steht da und lächelt noch immer. Dann vergeht das Lächeln langsam, er sieht sich um, er sagt: »Ich denke, wir können mit Arbeiten anfangen.«

»Einen Augenblick bitte«, ruft Jänsch. »Ich will einen Antrag stellen.«

»Ja?«

»Ich beantrage, daß wir für die eigentliche Arbeitszeit ein Sprechverbot einführen. Jede Übertretung wird mit einem Groschen Strafe zugunsten einer Gemeinschaftskasse belegt.«

Maack sieht sich fragend um. »Ich denke, das ist ein vernünftiger Vorschlag. Ist jemand dagegen?«

»Aber ...«, sagt Monte.

»Du hältst den Mund, Monte, du hast hier gar nichts mitzureden«, sagt Jänsch.

»Wenn ich hier mitarbeiten soll, will ich auch mitreden«, sagt Monte trotzig.

»Klappe! – sage ich dir«, sagt Jänsch drohend. »Oder ...«

Er hebt seine Hände.

»Ich stelle fest, daß der Antrag angenommen ist«, sagt Maack.

»Noch etwas?«

»Ja«, sagt Deutschmann, »ich beantrage, daß unter denselben Bedingungen ein Rauchverbot erlassen wird.«

Betretenes Schweigen, denn fast alle sind leidenschaftliche Raucher.

»Rauchen kostet nur Geld«, sagt Deutschmann überredend, »hält in der Arbeit auf, und so groß ist der Raum auch nicht, daß acht Mann ununterbrochen qualmen können.«

»Das wird ja hier das reine Kittchen«, sagt Oeser unzufrieden.

»Wenn ich nicht qualmen darf, macht mir der ganze Krempel keinen Spaß«, erklärt Fasse.

»Aber vernünftig ist es«, sagt Deutschmann.

»Finde ich auch«, sagt Maack. »Schließlich kann jeder, der will, eine auf dem Lokus stoßen.«

»Dann geht's von der Arbeitszeit ab«, widerspricht Sager. »So kann man während der Arbeit rauchen.«

Verdrossenes Schweigen.

»Soll ich abstimmen lassen?« fragt Maack zögernd.

»Ich hab' einen andern Vorschlag«, sagt Kufalt eifrig, »alle zwei Stunden oder meinetwegen alle anderthalb Stunden darf jeder eine Zigarette rauchen. Maack gibt das Signal. Dann freut man sich immer drauf und arbeitet um so schneller.«

»Gut, der Mann! Sehr gut!« lobt einer.

»Das ist vernünftig.«

»Besser noch alle Stunde!«

»Alle halbe Stunde!«

»Warum nicht alle zehn Minuten, du Dussel?«

»Ich denke also: alle anderthalb Stunden«, sagt Maack. »Wer dagegen ist, hebe die Hand. – Keiner. Der Vorschlag Deutschmann-Kufalt ist angenommen. Noch ein Vorschlag?«

Einen Augenblick Stille, dann sagt Jänsch: »Ich schlag' vor, daß wir endlich mit der Arbeit anfangen. Es ist schon zehn Uhr zwanzig.«

»Los!« sagt Maack scharf. »An die Arbeit, Kameraden, an unsere Arbeit.«

Und im gleichen Augenblick ist der Raum erfüllt von dem scharfen, schmetternden Klappern der Maschinen, die Glöckchen klingeln, die Wagen rasseln, Umschlag um Umschlag, das fliegt!

Kufalt falzt und falzt. ›Beste deutsche Qualitätsware aus der Firma Emil Gnutzmann – Stielings Nachfolger, Textil-Versand‹ liest er auf dem Prospekt.

›Ob ich je dazu kommen werde, den Inhalt zu lesen? – Der Monte falzt nicht schlecht, er macht es mindestens ebenso schnell wie ich – man muß eben erst warm werden und den Dreh heraushaben. – Fein habe ich das hingekriegt, eigentlich ist alles mein Werk, der Auftrag und die Maschinen. – Na, im schlimmsten Falle gebe ich die in einem Monat zurück ...‹

Monte neigt sich zu ihm und flüstert: »Der hat aber angegeben, der Maack, für so 'ne Mistarbeit so 'ne Rede!«

»Maack«, sagt Kufalt laut, »der Monte will dir einen Groschen geben, wegen Flüstern ...«

Monte will protestieren, aber Jänsch sagt: »Schnauze, du Aas!«

Worauf Maack sagt: »Jänsch, bitte auch einen Groschen.«

Gelächter. Weiter. Weiter. Die ersten Hundert sind fertig. Kufalt holt sie, notiert sie für jeden (sie arbeiten jeder für sich im Akkord), das Einstecken der gefalzten Druckbogen fängt an. Erst liegt nur ein kleiner Haufen in der Zimmerecke, dann wächst er, wächst, breitet sich aus, türmt sich höher ...

»Elf Uhr fünfzig«, sagt Maack. »Eine Zigarette.«

Und dann wieder Schmettern, Falzen, Schmettern, Einstecken. Draußen ist der Himmel blau. Und so viel Sonne ... Sie sitzen in einer großen Dachkammer, es wird heiß und heißer. Wortlos macht Maack das Fenster auf, später öffnet Deutschmann die Tür. Jänsch zieht zuerst die Jacke aus, dann folgen ihm die andern. Jänsch zieht zuerst Kragen und Schlips ab, dann folgen ihm die andern. Jänsch zieht zuerst die Jacke aus, dann folgen ihm die andern. Jänsch zieht das Hemd aus und schreibt mit bloßem Oberkörper –: brüllendes Gelächter. Dann folgen ihm die andern.

Und Schmettern, Falzen, Schmettern, Einstecken.

»Ein Uhr zwanzig«, sagt Maack. »Eine halbe Stunde Mittagspause. Sprechpause.«

Sie sind sehr aufgeregt, sie rechnen, wieviel sie geschafft haben, wie lange sie werden arbeiten müssen, um heute zehntausend zu schaffen.

»Zwölf wird's wohl werden«, sagt Maack sorgenvoll.

»I wo«, antwortet Jänsch. »Man muß nur erst richtig reinkommen. Nicht später als elf.«

»Feine Bude«, lacht Deutschmann. »Das sollte Jauch sehen, uns nackte Männer.«

»Bekommt aber der Arbeit gut.«

»Kieks, Puppenjunge«, schreit Fasse.

»Ich verbitte mir das«, kreischt Monte.

»An die Arbeit«, ruft Maack. »Sprechsperre.« –

Um neun Uhr zwanzig sagt Kufalt feierlich: »Zehntausend Stück, meine Herren, die ersten Zehntausend.«

»Hurra!«

»Heil!«

Und die kreischende Stimme Montes: »Kufalt zahlt einen Groschen!«

»Tu' ich, mach' ich«, sagt Kufalt. Und die Finger reckend: »O Kinder, bin ich glücklich!«

»Morgen früh um acht!« ruft Maack.

»Alles all right«, schreit Sager.

»Guten Abend, die Herren.«

»... Oberpiepenknorke ...«

 

7

»Sie werden wohl unsolide, Herr Kufalt?« fragt Liese.

Sie steht auf dem dunklen Vorplatz, es ist zehn Uhr nachts, er ahnt ihr Gesicht mehr, als daß er es sieht. Deutlich aber hört er den Spott in ihrer Stimme.

»Ja«, sagt er kurz und geht in sein Zimmer.

»Sie sind wohl noch böse mit mir?« lacht sie und folgt ihm.

Er tritt ein, knipst das Licht an, legt seine Mappe auf einen Stuhl und zieht das Jackett aus.

»Ich bin müde, Fräulein Behn«, sagt er. »Ich möchte gleich schlafen gehen.«

Er wagt nicht mehr als einen flüchtigen Blick auf sie, die unter der Tür steht. Sicher hat sie schon im Bett gelegen, sie hat einen Bademantel an, ein helles, fröhliches Ding aus Weiß und Gelb, ihre Beine sind bloß, ihre Füße sind in kleinen, blauen Schuhchen.

»Männer ...«, sagt sie, »sind komisch. Sie denken, wenn sie einmal mit einer Frau geschlafen haben, haben sie das Recht auf immer.«

Ihm wird heiß. Er spürt es schon wieder, wie eine glühende Wolke von ihr zu ihm. Aber er will nicht – was hat Maack gesagt? ›Und einen Monat keine Mädchen. Einen Monat Bewährungsfrist.‹ Und natürlich: heute kommt sie, am ersten Tag dieses neuen Monats – Quälerin, die!

»Ich denke gar nichts«, sagt er böse. »Ich bin müde, ich habe den ganzen Tag schwer gearbeitet ich will schlafen gehen – allein.« Er besinnt sich, will einhalten, und dann kommt doch wieder die rote Welle über ihn, er sieht sie an: »Außerdem haben Sie nicht mit mir geschlafen, sondern mit Beerboom.«

»Ziehen Sie sich ruhig aus«, sagt sie. »Sie werden sich doch nicht vor mir genieren?!«

»Nein«, sagt er und setzt sich in einen Stuhl am Fenster, so daß er sie nicht sieht.

Ja, Stille. Ja, nichts.

Draußen die Gleise glänzen im Licht, die Laternen sind da, bald rot, bald grün, die große Scheibe eines Vorsignals fällt mit einem leichten Klappen um, ein eiliger Zug fährt schlank, in seinen Kuppelungen klappernd, mit erhellten Fenstern vorbei. Ja, es ist Nacht, es ist weiche Sommernacht, da sind die Bäume unten, sie bersten vor Wachsen, alles treibt, wird voller, strömt über, als gäbe es nie Kälte, Verwelken, Ende – gibt es nicht ein Lied: ›Dies ist die Nacht der Liebe ...‹ –?

Nein, nein, nein, nein, sie ist die Böse. Sie ist die Quälerin. Heute so und morgen anders. Und alle Zeit nicht zu halten ... Ja, sie hat leise geraschelt, ein- oder zweimal, sicher ist sie weiter ins Zimmer gegangen – hat das sachte zugezogene Türschloß nicht geknackt? Vielleicht steht sie schon hinter ihm, vielleicht streckt sie schon ihre Hand nach seinem Haar aus, seinen Kopf zurückzubiegen zum Kuß, vielleicht kommt sie schon zu ihm – wo bleibt sie?

Diese Nacht, durch die immerzu Züge fahren, ist so still! Es ist, als hielte alles den Atem an, in einer großen Erwartung. Armes, irrendes, schwaches Herz – ein neues Leben? Warum auch war sie in jener Nacht in den Hammer Park gegangen, hatte auf derselben Bank mit ihm gesessen, bei einem andern Mann?

Aber er war nicht zu ihr gegangen! Bei ganz jemand anders hatte er gemietet. Und dann wieder, in überstürzter Hast, bei ganz jemand anders. Und dort war sie gewesen – Zufall? Und entging man diesem Zufall, der so gut Fallen stellte, nie? War alles Wehren umsonst?

Stille, ruhige Zelle, Pensum stricken, Zusatznahrung, ein Topf mit Schmalz, ausgebraten von den Schneidern, zwei Bücher die Woche. Man könnte hinausgehen aus dem Zimmer, auf die Mönckebergstraße zum Beispiel, da ist immer Schupo, man könnte einen Schaukasten einschlagen, irgend etwas herausnehmen, eine Handtasche, einen Photoapparat, man wurde gekitscht, und die gute große Ruhe kam, keine Probleme, keine Sorgen, kein Kampf mehr.

Rief sie nicht eben: ›Komm‹?

Nein, er kam nicht. Noch nicht, vielleicht nie.

Das hatten die andern Menschen nicht, davon wußten sie nichts, daß es solch einen Ausweg gab. Sie machten den Gashahn auf, hängten sich in eine Seilschlinge, schluckten Gift und verreckten mit aufgetriebenen Bäuchen, verdrehten Augen, im eigenen Dreck – er ging einfach hin und klaute was, und schon war er in der Ruhe, in der ewigen Geduld, in der Windstille, auf der andern Wetterseite des Lebens.

Maack wußte auch darum, Monte wußte darum, Jänsch, Oeser, Deutschmann, Fasse – jeder von ihnen! Die andern verstanden es nie. Die begriffen nicht, warum Bestrafte so waren, daß die Gefängnisluft sie verändert hatte, etwas war zerfetzt in ihrem Blut, das Gehirn verändert. All das Leben hier draußen war eine Sache auf Widerruf – jede Sekunde konnte man widerrufen.

Man konnte die Liese totschlagen oder auch ihre Mutter, für die andern war so etwas unausdenkbar – aber wieso denn?! Aber warum denn?! –: für ihn war es ganz in Ordnung. Er hatte fünf Jahre mit solchen gelebt, mit Zuhältern, Mördern, Dieben – er wußte, sehr gut war so etwas zu machen, es war nicht schwieriger als tausend andere Dinge im Leben, sicher war es leichter als Aufhängen.

Sie waren so komisch, diese Menschen draußen, irgendwie kapierten sie etwas nicht, von dem jeder Bestrafte wußte. Lebensuntüchtig, verkorkst, ein Schädling, Feind der Gesellschaft – nun ja. Nun ja. Hier saß er, Willi Kufalt, um die Dreißig, aber entschlossen wie ein Vierzehnjähriger in der Pubertät, vor jedem Problem Reißaus zu nehmen. War er so gewesen? Nein, so war er geworden, so war er gemacht worden! So hatten sie ihn fertiggemacht! Du spinnst ja, die kommt aus dem Kittchen, die Redensart, im Kittchen hatten sie wohl früher gesponnen. Sie hatten weiter nichts gemacht als Spinnen, eine Arbeit, eine ganz normale Handarbeit, wenn man sie nicht in der Kittchenluft macht, aber dort eben wurde daraus: du spinnst ja. Bei ihm, bei Kufalt, mußte es heißen: du strickst ja. Er hatte fünf Jahre gestrickt. Nun strickte er. Sein Leben lang. Sein – Leben – lang.

Hatte sie nicht eben geflüstert: ›Nun komm doch endlich!‹ –? Ja, schön, er würde kommen, oder er würde auch nicht kommen, aber natürlich würde er kommen. Er tat, was ihm begegnete, was man von ihm erwartete, er würde immer tun, was man von ihm verlangte. Das hatte man ihn gelehrt, das saß fest: ›Geh durch die Tür ... Schreib heute Brief ...‹

Schönschön.

Aber jetzt saß er erst einmal hier, ganz behaglich untergebracht am Fenster. Mochte sie warten, auch er hatte warten müssen, erst fünf Jahre, dann dreieinehalbe oder vier Wochen auf die junge Dame, die ihn in seinem Bett besuchte.

Rauch und Haar und Fleisch.

Gut. Rauch und Haar und Fleisch.

Es war Unsinn, das mit der eigenen Schreibstube, er hatte Maack herumgeredet, er konnte sich einen Schwung geben, daß er sechs Schreibmaschinenhändler nacheinander überredete, ihm je eine Schreibmaschine auf die einzige Sicherheit immer des gleichen polizeilichen Meldescheins auf Raten zu verkaufen – aber sich selbst konnte er nichts vormachen. Es saß in ihm. Man schrieb Doktor mit c, man müßte ein einfaches Mädchen haben, und man hängte sich an eine Liese ...

»Du, Liese ...« sagt er.

Nichts.

Sicher war sie – wie damals – in sein Bett gekrochen, vielleicht schlief sie schon. Ach, der leichtgebogene Nacken, durch dessen Haut kaum merklich die Halswirbelknochen traten ...

»Liese – liebste Liese ...«

Er sieht sich um.

Natürlich, das Bett ist leer, das Zimmer ist leer, von außen wurde die Tür zugemacht.

Und er hat es gewußt, er hat es natürlich die ganze Zeit gewußt, er hat sich ein Theater vorgespielt. War es nicht beinahe sehr gut, daß sie gegangen war? Sehnsucht ist besser als Erfüllung – im Kittchen gelernt; ein Weib zu begehren ist besser, als es zu besitzen – im Kittchen gelernt; Erfüllung im Hirn ist besser als Erfüllung im Fleisch – dito Kittchen.

Einen Augenblick steht er entschlußlos in der Mitte des Zimmers, dann fängt er langsam an, sich auszuziehen. Er legt seine Wäsche säuberlich auf den Stuhl, hängt Jacke und Weste über den Bügel, macht die Hosen im Spanner fest. Er wäscht sich Gesicht und Hände, spült den Mund ...

... Und er nimmt Decke und Kopfkissen aus dem Bett, mit nackten, leisen Füßen schleicht er auf den Vorplatz vor die Tür ihres Zimmers, dort legt er sein Bettzeug hin, geht noch einmal in sein Zimmer zurück, um das Licht zu löschen. Dann packt er sich hin vor ihre Tür, wickelt sich in seine Decke.

Es ist schon dunkel in ihrem Zimmer, kein Lichtschein dringt durch die Türritze, sie schläft wohl schon, kein Laut kommt aus dem Raum.

Da liegt er, er schläft nicht, durch sein Hirn und Herz geht es: ›Da liege ich, bitte, komm nicht, hebe mich nicht auf. Es ist so schön, vor dir zu liegen und verachtet zu sein ...‹

Und schließlich schläft er dann wohl ein ...

Er wacht auf von ihrem Blick. Sie kniet neben ihm, sie hat den Arm unter seinen Hals geschoben, den Kopf an ihre Brust gezogen.

»O mein Lieber«, flüstert sie. »Mein Lieber – ist es so schwer?«

»Süß ist es«, flüstert er, noch halb in Traum und Schlaf. »Sehr süß ist es.«

»Es ist schon so spät, Lieber«, flüstert sie. »Du mußt gleich aufstehen. Und ich muß auch fort aufs Büro. – Aber heute abend, nicht wahr, heute abend –?«

»Laß es so, Liese, laß es so, Quälerin.«

»Schön soll es sein«, flüstert sie wieder. »So schön will ich es für dich machen. Nicht wahr, du wirst früh hier sein. Ich warte auf dich.«

»Laß es so. Laß es so.«

»Wirst du früh kommen? Ganz früh?«

Oh, der gute Duft aus ihrer Brust!

»Ich will sehen ... so früh es geht ... so früh ich immer kann ...«

»Oh, du mein Liebster!«

 

8

»Na schön«, sagt Herr Bär, »na, ganz schön.«

Er macht Stichproben in der ersten Zehntausender-Ablieferung, nimmt hier, dort einen Umschlag aus den Stößen und prüft ihn.

»Wenn Sie so dabeibleiben, werden wir keinen Streit kriegen.«

Kufalt verbeugt sich und erklärt: »Das wird noch viel besser. Wir müssen uns nur erst richtig einschreiben.«

»Na, schön, Herr Meierbeer«, sagt Herr Bär noch einmal und sieht Kufalt freundlich an: »Dann also guten Morgen.«

Aber Kufalt weicht nicht und auch Monte sieht ihn vorwurfsvoll an.

»Ein bißchen Geld, Herr Bär, nur 'ne Kleinigkeit.«

»Schön, schön«, sagt Herr Bär. »Sie wollen also wirklich täglich Ihr Geld haben? Meinethalben. Wieviel macht es doch!«

»Dreiundneunzig fünfzig«, sagt Kufalt.

»Gut. Hier haben Sie eine Anweisung auf die Kasse. Lassen Sie sich das Geld geben. Guten Morgen.«

»Schönen Dank. Und guten Morgen.«

Sie wandern gemeinsam vergnügt aus dem Haus, macht pro Neese beinah zwölf Mark, o Junge, Junge, für einen einzigen Tag Arbeit ...

»Halt! Da guckt wer um die Anschlagsäule! Los, lauf doch los, Monte!«

Sie laufen, sie umrunden die Anschlagsäule von beiden Seiten: nichts!

»Wie man sich irren kann, Ich hätte geschworen, der Jablonski, weißt du, der so ein bißchen hinkt, aus der Presto, linste nach uns.«

»Hast geträumt.«

»Scheint so. Komisch, wenn man ein schlechtes Gewissen hat, sieht man immer was. Und ich brauch' doch gar kein schlechtes Gewissen zu haben, nicht wahr?«

Latrinenparolen gibt's nicht nur beim Militär und im Kittchen; als die beiden zurückkamen, war die Schreibstube voll davon, daß die Firma Gnutzmann nicht zahlen könnte, nicht zahlen wollte, daß der Kufalt ohne Geld, mit einem faulen Wechsel, einem ungedeckten Scheck, mit Vertröstungen, nein, mit Arbeitsabbruch zurückkäme.

Darüber hatten sie sich gestritten, ereifert, einander mies gemacht, trotz des Protestes von zweien oder dreien war das Sprechverbot aufgehoben gewesen. Es war geraucht worden, Jänsch hatte sich drei Flaschen Bier geholt, Oeser eine saure Gurke, es waren keine tausend Adressen in der Zeit von acht bis halb elf geschrieben worden ...

Und nun kam Kufalt mit der Kasse, bar Kasse, mit Marie.

Es war beinahe eine Enttäuschung.

»Na also – wer hat denn nun den Mist wieder aufgebracht?!«

»Du doch selbst Mensch, gib hier bloß nicht 'ne Stange an, von wegen Himmelblau!«

»Du hast gesagt, wenn die Brüder nun nicht zahlen –?«

»Ich ...«

»Stille«, sagt Maack. »Jetzt wird losgeschrieben. Wir haben zwei Stunden aufzuholen, sonst wird es wieder zehn. Jänsch, weg mit deinem Bier. Sprechverbot!«

»Wenn ich Bier trinke, spreche ich doch nicht«, knurrt Jänsch, fängt aber an zu tippen.

Sie fangen alle an, manche zögern noch, trödeln einen Augenblick, aber der Rhythmus der andern, die ewige Routine, das können sie ja nun, tippen und dabei denken, tippen und dabei sich fortträumen in eine Wunschwelt ...

Auch beim Falzen läßt sich's träumen, beim Kuvertieren, selbst beim Abzählen der Adressen. Kufalt träumt sich weit fort:

»Daß es nur heute abend nicht so spät wird! Sie wartet auf ihn – wie hat sie gesagt? Lieber? Liebster? Vielleicht wird noch alles gut, vielleicht ist es das, was seinem Leben in all den Jahren gefehlt hat: etwas, auf das man sich ein bißchen freuen kann!

Er freut sich auf den Abend, sie war so anders heute früh, ganz sanft. Sicher sitzt sie und wartet schon in seinem Zimmer auf ihn ...«

Wer aber auf ihn gewartet hat, wer sich im fast dunklen Zimmer in die Sofaecke gesetzt hat, wer nicht einmal aufsteht, sondern ihn nur ansieht, abends kurz vor zehn, das ist nicht Liese – Beerboom ist es!

Kufalt knipst das Licht an, er ist so wütend, daß er den Mann kaum ansieht im Sofa, er sagt nur: »Was wollen Sie hier? Ich will Sie hier nicht mehr haben!«

Denn Beerboom ist der böse Geist, er war der schwarze, schlimme Stern, der über der ersten Liebesnacht stand, kommt er nun auch – Geheimnis! – zu der zweiten? Denn schon öffnet sich die Tür, Liese tritt ein. Sie trägt ein weißes Kleid, über das kleine, bunte Blümchen gestreut sind, sie sieht so fröhlich aus, sie bietet ihm frank und frei die Hand, sie sagt: »Guten Abend.«

»Guten Abend, Liese.«

Er denkt nur daran, daß der andere gehen soll, wäre er nicht hier, könnte er sie schon in seine Arme ziehen.

»Herr Beerboom hat gebeten, daß er hier warten darf. Es ist sehr wichtig, hat er gesagt.« Sie macht eine kleine Pause und setzt vorsichtig hinzu: »Ich hab' ihn hier allein sitzen lassen. Sogar Licht zu machen, habe ich vergessen.«

»Also was ist denn, Beerboom?« fragt Kufalt.

»Ach nichts«, sagt Beerboom. »Ich gehe schon.«

Aber er bleibt sitzen.

Der Klang von Beerbooms Stimme ist so verändert, daß Kufalt sich seinen Klagebruder von dunnemals aufmerksam beschaut.

Beerboom hat immer eine fahle, lederartige Haut gehabt, aber heute scheint es, als brennte eine Glut hinter dieser Haut. Die Haare sind verklebt wie von Schweiß, die Augen flackern und glänzen ...

Er kann die Hände nicht ruhig halten, sie fliegen immerzu hin und her, bald auf den Tisch, bald suchen sie in den Taschen herum, bald befingert er sein Gesicht, sucht etwas, was er nicht findet.

»Also was ist?« fragt Kufalt. Und mit einem Blick auf die Uhr: »Du wirst zu spät ins Heim kommen, es ist gleich zehn.«

»Komme nicht zu spät ins Heim.«

»Wieso? Hast du etwa Schluß gemacht, da?«

»Schluß gemacht da? Rausgeschmissen bin ich!«

»Ach so«, sagt Kufalt und fragt dann: »Deine Sachen?«

»Sind noch da. Ich erzähl' dir doch, sie haben mich rausgeschmissen, zehn, zwölf Mann über mich her und rausgeschmissen.«

»Aber warum denn?« fragt Kufalt. »Wieso denn das? So sind die doch auch wieder nicht.«

»Hab die Schreibmaschine zerschlagen«, sagt Beerboom. »Konnte es nicht mehr sehen, das Dings, das mich anbleckt: hundert Adressen, fünfhundert Adressen, tausend Adressen.« Er steht auf, sieht sich einen Augenblick um, setzt sich wieder hin, sagt: »Is ja alles egal. Was kommt, kommt.«

»Du, hör mal«, sagt Kufalt entschieden, »das stimmt nicht, was du erzählst. Das stimmt todsicher nicht, daß die anderen dich deswegen rausgeschmissen haben, weil du 'ne Schreibmaschine zerkloppt hast. Seidenzopf schon, aber die anderen nicht. – Womit hast du sie denn zerkloppt?«

»Mit 'nem Hammer.«

»Wo hast du denn den Hammer her?«

»Hab' ich mir geklaut. Nee, hab' ich mir gekauft.«

»Stimmt nicht«, sagt Kufalt. »Stimmt alles nicht. Die anderen freuen sich doch, wenn du den Speckjägern 'ne Schreibmaschine zerhaust. Daß Wolle-Teddy dich darum rausschmeißt, verstehe ich schon, aber die anderen dich darum verkeilen – ausgeschlossen!«

»Ich hab' doch auch denen die Arbeit demoliert, mit 'nem Minimax. Hab' alles vollgespritzt. Da haben sie mich rausgeschmissen. Verdroschen und rausgeschmissen.«

»Und Vater Seidenzopf?«

»Den hab' ich in die Fresse geschlagen.«

»Der läßt dich doch nicht so einfach gehen, nach so was. Der ruft doch die Polente.«

»Ruf man, da war ich schon weg.«

»Ach, du bist also nicht rausgeschmissen, du bist getürmt?«

»Is ja alles egal«, sagt Beerboom brummig, steht auf und geht ans offene Fenster. Plötzlich fragt er sehr lebhaft: »Ob man wohl tot ist, wenn man da runter hopst auf die Gleise?«

Und er setzt einen Fuß aufs Fensterbrett.

»Mach bloß keinen Quatsch«, sagt Kufalt. »Ich will keine Scherereien haben deinetwegen.«

Er hält Beerboom fest. Aber wenn der ernstlich wollte, nützte Festhalten gar nichts. Liese ist es, die ihn zurückhält. Mit ihrer leichten Hand.

»Warum haben Sie denn das alles auf der Schreibstube gemacht, Herr Beerboom?« fragt sie.

»Hat den Wilden Mann markiert, kenn' ich aus dem Kittchen«, erklärt Kufalt.

»Hat mich alles angekotzt«, sagt Beerboom, sieht das junge Mädchen an und tritt wieder so weit zurück in diese Welt, daß er das Bein vom Fensterbrett nimmt. »Immer schreiben, schreiben, schreiben, und da drinnen verdreht es sich immer mehr.«

»Aber«, sagt Liese, »das hat Sie doch schon lange angekotzt? Warum jetzt plötzlich?«

»Weil es soweit ist, Fräulein«, erklärt Beerboom. »Einmal hat man den Mumm, dann ist es soweit.«

»Was ist soweit?«

»Ach«, sagt Beerboom böse, »Sie wollen ja doch nicht davon hören, Fräulein. Sie schreien ja doch bloß wieder: Mörder.«

Ziemlich lange Stille.

Dann sagt er: »Ich hab' gedacht, die bringen mich in 'ne Klappsmühle, aber die haben bloß das Überfallkommando angerufen. Da hab' ich gedacht: geh stiften.« Er lacht plötzlich schallend. »Der Minna an der Tür hab' ich eine auf die Nase gesetzt, das Nasenbein ist bestimmt hin.«

Liese ist etwas von ihm weggegangen, sie steht unter der Tür, wie fertig zur Flucht, aber sie nimmt keinen Blick von ihm.

Kufalt steht ziemlich nahe bei ihm, der noch immer am Fensterkreuz lehnt.

»Und was machen wir nun mit dir?«

»Ach –«, sagt Beerboom gedehnt, »vielleicht da runter?«

Er beugt sich sehr weit hinaus.

»Halt!« ruft Kufalt.

Aber er braucht sich wirklich keine Sorgen zu machen. Beerboom kommt mit dem Kopf zurück ins Zimmer. Er grinst. »Das könnte denen so passen, allen denen, die mich fertiggemacht haben: meinen Eltern und den Richtern und den Staatsanwälten und dem Pfaffen und den Bullen im Kittchen, daß ich so bequem für die abhaue! Das glaub' ich! Das möchten die. Nee –« Und er ereifert sich. »Einen Riesenstunk will ich erst machen, ich will denen schon was weisen. Fertigmachen, schön – aber dann will ich wenigstens 'ne große Gerichtsverhandlung haben, mit zwei Spalten jeden Tag in jeder Zeitung, und es denen zeigen ... Fliegen sollen sie alle, die Speckjäger! Und der Wolle-Teddy zuerst!« Er fängt plötzlich wieder an zu lachen, es schüttelt ihn dabei wie ein Krampf. »Dem hab' ich den halben Bart ausgerissen, hat der geschrien, wie 'ne Katze –!«

Die beiden sehen den dritten ernst an, mißbilligend. Aber dem ist aller Ernst und alle Mißbilligung gänzlich schnuppe. »Hast 'ne Zigarette für mich, Willi?« fragt er. »Ich hab' nichts mehr. Keinen Pfennig. Gar nichts.«

Kufalt gibt ihm eine Zigarette. »Und was denkst du, was nun wird?« fragt er.

»Findet sich alles«, sagt Beerboom und raucht mit Begeisterung.

»Hören Sie einmal zu, Herr Beerboom«, sagt nach einer Weile Liese.

»Ja?« sagt Beerboom, sieht sie an und grinst böse. »Sie sind auch nur ein Fetzen Fleisch, wenn Sie sich schon jeden Tag waschen, Fräulein. Sie stinken auch.«

Liese will nichts gehört haben. »Sie haben doch vorhin was gesagt, Sie hätten gedacht, die würden Sie in 'ne Irrenanstalt bringen? – Gehen Sie doch freiwillig dahin!«

»Das ist nicht schlecht, Beerboom«, lobt Kufalt.

Beerboom denkt nach, ziemlich lange. »Wenn mich die nun nicht nehmen, wenn die mich einfach der Polizei übergeben?« Und hartnäckig: »Wenn ich doch auf die Polizei soll, dann mache ich vorher eine ganz große Sache. Drei Monate wegen Sachbeschädigung und Körperverletzung ist nichts.«

»Wir können's gut hindeichseln«, sagt der plänereiche Kufalt. »Wir sagen, du wohnst bei uns, du hast 'nen Tobsuchtsanfall gehabt, bist auf uns losgegangen. Jetzt bist du ruhig, aber du hast Angst, es kann wieder losgehen. Sie sollen dich nur ein, zwei Tage behalten.«

»Und dann?«

»Bis dahin hast du mit dem Obermuckermuck von den Ärzten gesprochen, und das sieht ja wohl jeder Dümmste ein, daß du völlig meschugge bist, wenn du ihm alles genau erzählst. Du mußt namentlich das mit deiner Schwester erzählen.«

Blick zu Liese.

Auch ein Blick Beerbooms zu Liese.

Sie steht da, hell, blond, so ein zartes, weiß und rosiges Gesicht, ein Kind ...

»Das soll ich auch erzählen?« fragt Beerboom.

»Das gerade. Besonders das.«

»Findest du denn das so meschugge?«

»Also gehen wir schon«, drängt Kufalt. »Hier kannst du die Nacht nicht bleiben. – Ich will auch keine Unannehmlichkeiten mit der Polizei haben. – Welche ist die nächste, Liese?«

»Friedrichsberg«, sagt sie halb flüsternd, »ihr habt gar nicht weit zu gehen.«

»Hören Sie, Fräulein«, sagt Beerboom, »Ich geh' nur in die Klappsmühle, wenn Sie mich hinbringen.« Er schreit plötzlich: »So wahr mir Gott helfe, ich bleibe hier sitzen, wenn Sie mich nicht hinbringen.«

Kufalt und Liese Behn sehen sich an.

»Also schön«, sagt Liese. »Ich geh' mit. Aber Sie versprechen mir, daß Sie auch bestimmt in die Anstalt gehen?«

»Hör mal Kufalt«, sagt Beerboom, »pump mir zwanzig Mark und ich hau' so ab. Haste keine Scherereien, kannste mit deiner gleich in die Betten gehen.«

»Erstens habe ich keine zwanzig Mark«, sagt Kufalt böse, »und zweitens würde ich sie dir nie pumpen. Nachher besäufst du dich und frißt was aus im Suff, und ich sitze drin, weil ich dir das Geld gegeben habe.«

»Also schön«, sagt Beerboom, »gehen wir. Wohin, weiß ich noch nicht. Vielleicht sogar wirklich in die Klappsmühle.

 

9

»Hör mal, alter Junge ...«, fängt Beerboom in einem ganz anderen Ton auf der Straße an.

Also es ist wirklich gut, daß man nun mit ihm auf der Straße ist. Hier weht ein Wind, Leute gehen, die Lampen brennen, es ist alles plötzlich wirklicher geworden, normales, richtiges Leben, und unwirklich ist geworden, was da oben geschah und besprochen wurde, in jenem halbdunklen Zimmer, das nun immer weiter zurückbleibt.

Liese hat sich bei Kufalt eingehängt. Sie gehen wie ein richtiges Liebespaar, die Hände mit den Fingern ineinander verschränkt.

Beerboom zottelt nebenher. Da oben war Beerboom schlimm – was ist hier unten Beerboom? Man kann ein Auto rufen und ihn stehenlassen, man kann an einen Schupo herangehen, und er türmt – Beerboom muß nicht sein, Beerboom ist ein Zufall, ein häßlicher, verdrehter Mensch, dem die Haft nicht gut bekommen ist ... man wird ihn schon loswerden. Und dann sind sie beide allein. Und Liebe und Arbeit, und Arbeit und Liebe ...

Auch Beerboom bekommt die Straße ganz gut. In einem ganz anderen Ton hat er angefangen: »Hör mal, alter Junge, mit dir ist aber auch was nicht in Ordnung. Dich haben sie auch auf dem Kieker. Heute früh waren der Marcetus und der Jauch im Friedensheim und haben eine große Beratung mit Wolle-Teddy gehabt, und von dir war hauptsächlich die Rede ...«

»Woher weißt du denn das?« fragt Kufalt.

»Weil ich gelauscht habe«, sagt Beerboom stolz. »Bin aufs Klo gegangen und hab' dann an der Tür von Seidenzopfens Zimmer gelauscht. Aber die haben ja so 'nen Argwohn, keine drei Minuten, und sie haben mir die Tür an den Kopf geschlagen.«

»Na, und dann –?«

»Dann sind sie alle über mich hergefallen und haben mich niedergebrüllt, einer nach dem anderen – darum habe ich ja heute nachmittag auch solchen Rochus gehabt!«

»Und was haben sie gesagt von mir?«

Beerboom denkt nach. Dann ganz rasch: »Gibst du mir zwanzig Mark, wenn ich dir das erzähle?«

»Keine fünfzig Pfennige«, lacht Kufalt. »Geh du man lieber nach Friedrichsberg, statt dich zu besaufen.«

»Aber du gehst bestimmt hoch, wenn ich dir nicht erzähle, was sie vorhaben. Sie haben auch von Polente gesprochen.«

»Weiß ich alles«, lacht Kufalt. »Kann ich mir alles denken. Ich habe nämlich auf Presto Schluß gemacht.«

»Na und –?«

»Du weißt doch alles, denke ich. Gar nichts können mir die Brüder wollen, nicht einen Dreck.«

»Na, denn nicht!« sagt Beerboom patzig und verfällt wieder in sein altes, böses Schweigen.

»Was machst du denn nun, wenn es auf der Schreibstube alle ist?« fragt Liese.

»Ich hab' schon wieder neue Arbeit, viel bessere Arbeit«, flüstert Kufalt.

»Bei Kutzmann oder so«, sagt Beerboom.

»Wie?« fragt Kufalt und ist hellwach, »was weißt du denn von Gnutzmann?«

»Zwanzig Eier«, sagt Beerboom.

»Ich tue es nicht und ich tue es nicht«, sagt Kufalt. »Nicht nur, weil Zwanzig eine Masse Geld sind, sondern gerade weil du dann Dummheiten machst, und ich hänge drin.«

»Ich mache vielleicht auch so Dummheiten«, sagt Beerboom.

»Aber dann können sie mich nicht kappen. – Bitte, Beerboom, tu mir den Gefallen, erzähl, was die geredet haben!«

»Sie brauchen doch unter Kollegen nicht so zu sein«, sagt auch Liese. »Willi hilft Ihnen doch auch.«

›Willi‹, denkt Kufalt frohlockend.

»Schöne Hilfe, wenn mich einer in die Klappsmühle bringt. Schöner Kollege so was. Nee, ich sage nichts.«

»Dann läßt du es eben!« sagt Kufalt wütend.

Und überlegt halblaut: »Und wenn sie's auch wissen, sie können uns gar nichts wollen! Konkurrenz, da gibt es kein Gesetz dagegen, und auch der Herr Bär ist nicht so. Wenn wir ihn sehr bitten, läßt er uns die Arbeit auch, wenn wir vorbestraft sind.«

»Da ist schon Friedrichsberg«, sagt Liese.

Sie sind das längste Stück durch Anlagen gegangen, Gebüsch, schöne Rasenflächen, Rosenbeete. Ein Wässerchen.

Sie ist still und sanft, die Nacht, auf allen Bänken sitzen Pärchen. Und es ist ein Flüstern zwischen den Zweigen, ein Geräusch, ein Gesumm, mit klarglänzenden Tropfen von Fruchtbarkeit weht es durch die Luft ...

Aber drüben liegt niedrig und dunkel das Portalgebäude der Irrenanstalt Friedrichsberg. Kein Licht.

»Die schlafen ja alle«, sagt Beerboom und bleibt stehen. »Also gib mir wenigstens fünf Mark.«

»In einer Irrenanstalt ist immer eine Nachtwache, genau wie im Kittchen. Komm schon«, sagt Kufalt.

»Und drin ist's auch genau wie im Kittchen«, sagt Beerboom höhnisch. »Fräulein, schenken Sie mir drei Mark. Geben Sie mir zwei Mark, geben Sie mir wenigstens eine Mark.«

Aber Kufalt wird plötzlich wütend: »Dämlicher Hund, du, immer anderen Malesche machen! Mir den ganzen Abend verkorksen. Kommst du mit oder kommst du nicht mit?!«

Er faßt ihn am Arm und zerrt ihn gegen das Portal.

»Doch nicht so!« warnt Liese erschrocken. »Doch nicht so!«

Aber Beerboom ist plötzlich ganz friedfertig, er lacht sogar: »Halt mich lieber nicht fest, Willi, wenn ich wirklich mal haue, dann liegst du da ...« Er hat sich losgemacht, er steht mit dem Rücken zum Portal von Friedrichsberg, er sieht in die Anlagen mit den Bänken.

»Da sitzen sie«, sagt er, »die knutschen sich ab und werden satt, aber unsereiner ...« Er macht eine Bewegung auf Kufalt zu: »Wird denn der satt, Fräulein? Er gibt immer so an, aber wird er denn satt?«

»Red keinen Unsinn«, sagt Kufalt. »Kommst du oder kommst du nicht? Wir gehen sonst nach Haus.«

»Natürlich komm' ich«, sagt Beerboom plötzlich weinerlich. »Was soll ich denn machen? Wo ihr mir kein Geld gebt!«

Aber er steht wieder still. Nur, daß er diesmal nicht in den Park sieht, auch nicht in die Gesichter der beiden. Sondern er sucht. Seine Hände fahren an seinem Körper herum, sie fühlen vorsichtig, und sie bringen hervor – Liese schreit leise auf – sie bringen hervor ein Messer, ein offenes Rasiermesser.

Beerboom hält es in der Hand, er hält es etwas hoch, es klappt nicht zusammen, er hat es wohl irgendwie umwickelt, und ... Und die beiden sehen ihn an, dieses alte, böse, trotzige Kindergesicht, das den Kuchen nicht bekommen soll, mit dem dunklen Haar, den buschigen Brauen ...

»Weg damit«, sagt Beerboom plötzlich und wirft das Messer weit von sich in ein Gebüsch. Es blitzt auf, es ist wie ein silberner, heller Streif durch die Nacht Dann hört man es fallen.

»Schlapp«, sagt Beerboom aufatmend. »Hab' gedacht, ich könnte es. Aber selbst dafür haben sie mich fertiggemacht Also kommt.« Sie gehen schweigend gegen das Gebäude hin, Liese dicht eingehängt bei Kufalt. Er spürt, wie schwer sie ist, wie sie innerlich bebt vor Angst und Hingabe.

Natürlich gibt es eine Nachtglocke. Sie klingeln. Es bleibt dunkel. Sie klingeln noch einmal, es bleibt dunkel ...

Aber Beerboom sagt nicht noch einmal, daß sie gehen wollen, daß er Geld haben möchte, er wartet ganz geduldig.

Nach dem dritten Klingeln wird es hell, ein verschlafener Wärter schlurft heran und spricht durch's Türgitter: »Was ist denn?«

»Entschuldigen Sie bitte«, sagt Kufalt hastig. »Mein Schwager hier, der hat heute abend einen Tobsuchtsanfall bekommen. Alles hat er zerschlagen und uns wollte er auch totschlagen. Jetzt ist er ruhig, aber er hat so ein Gefühl, daß es wiederkommen kann – ob Sie ihn nicht auf eine Nacht behalten wollen? Bitte schön?«

Der Wärter hinter der Tür ist ein langer, schlenkriger, blasser Mann, mit einem Kopf fast ohne Fleisch, Haut und Knochen – eigentlich sieht er aus, als könnte er ganz gut ein Kranker der Anstalt sein.

»Geben Sie ihm nichts mehr zu trinken«, sagt er nach kurzem Überlegen. »Lassen Sie ihn seinen Rausch ausschlafen.«

»Er hat nichts getrunken«, sagt Kufalt. »Er hat so getobt, ganz plötzlich.«

Beerboom steht immer schweigend dabei.

»Bei welchem Arzt war er denn in Behandlung?« fragt der Wärter argwöhnisch.

»Bei keinem noch«, erklärt Kufalt eifrig. »Ich erzähle Ihnen doch, es hat ganz plötzlich angefangen.«

»Das gibt es gar nicht«, sagt der Wärter. »Was ist denn der Herr?«

»Jetzt – arbeitslos«, sagt Kufalt.

»Guten Abend«, sagt Beerboom ganz ruhig und gelassen und beginnt zu gehen.

Der Wärter sieht ihm nach, gespannt, durch die Gittertür.

»Lieber Herr«, sagt er zu Kufalt, »ich glaub' ja, sie meinen's gut mit dem Herrn, aber wenn Sie wüßten, wieviel Arbeitslose zu uns kommen und denken, sie kriegen Essen und ein gutes Bett, wenn sie den wilden Mann spielen ... Was macht der denn da? Was sucht der denn da?«

»O Gott«, sagt Kufalt und fährt herum. »Wärter, kommen Sie schnell, helfen Sie, er sucht ein Messer, er hat's vorhin weggeworfen ...«

»Machen Sie doch schnell ...«, schreit Liese.

Zögernd sagt der: »Ich darf doch nicht aus dem Tor, ich bin doch Nachtwache ...«

Und schließt schon. Die beiden andern laufen, Kufalt spricht, zu wem spricht er? –: »Er hat elf Jahre Zet gehabt oder wieviel, was weiß ich, er ist erst ein halbes Jahr raus ... er ist wahnsinnig ...«

Der dunkle Schatten vor ihnen läuft schon über einen Rasen, huscht um ein Gebüsch ...

»Lauf doch schneller, Liese! Wo ist denn der Wärter? Der weiß doch mit Verrückten umzugehen ...«

»Rennen Sie, Herr, sehen Sie, daß Sie einen Schupo erwischen. Ich darf doch nicht weg von der Pforte, die Pforte steht ja auf ...«

Sie kommen auf einen Weg. Hier sitzt ein Paar ...

»Ist hier einer langgelaufen?«

Die fahren auseinander ... »Wie –? Was –?«

In diesem Augenblick hören sie den Schrei. Es ist ein wahnsinnig hoher, schriller Schrei, der plötzlich abbricht, und ein tiefes, wie ersticktes Gurgeln ...

»Dorthin! Dorthin! Dorthin!«

Es ist ein Gebüsch – selbst in dieser Nacht, in dieser Sekunde duftet der Garten ...

Sie biegen die Zweige auseinander ...

Es ist etwas Weißes, was da liegt, ein weißes Kleiderbündel, so weiß, so weiß ... Und es wird dunkel darüber, vom Kopf her, vom Hals her wird es dunkel, strömendes Dunkel, dickes, klebriges Blut, großer Fleck, größerer Fleck, wird es dunkel, dunkel ... Und es gurgelt so seltsam ...

»Schupo! Hilfe! Polizei!« ruft grell eine Stimme.

Und Kufalt sieht das Gesicht von Liese Behn, von der Stenotypistin Liese Behn, den atmend geöffneten Mund, den zurückgelehnten Kopf –.

Fin Grauen erfaßt ihn, das Leben, o dieses Leben ...

»Schnell weg«, flüsterte er. »Schnell weg! Wir dürfen keine Zeugen werden in dieser Sache ...«

»Laß mich sehen ... laß mich doch sehen ...«, flüstert sie atemlos.

Er reißt sie mit sich durch die Menschen, die von überall heranlaufen.

 

10

Es gibt Glückstage und es gibt Unglückstage in jedem Leben – jeder weiß es. Auch Kufalt wußte es. Er hatte das Gefühl, daß dieser sechzehnte August ein schlimmer, düsterer Tag für ihn war – was alles barg er in seinem Schoß –?

Zuerst einmal hatte er sofort der Liese gesagt, daß er ausziehen würde, spätestens zum Ersten –: er konnte nicht ihr Gesicht vergessen, dieses holde Gesicht mit dem atmend geöffneten Mund, dem zurückgelehnten Kopf – und so gierig!

»So«, hatte Liese gesagt. Und noch einmal: »So.« Und dann nach einer Pause: »Von mir aus! ...«

Sie war aus seinem Zimmer gegangen, die Tür war zugefallen: Schluß, Ende, nichts mehr von solcher Liebe! Sicher hatte sie mit ihm schlafen wollen, unter dem Ehrenprotektorat von Herrn Lustmörder Beerboom – danke schön.

Vorbei ... Vorbei ...

Und dann hatte Kufalt sich eine Zeitung gekauft, auf dem Wege zur Schreibstube, ein Morgenblatt, und da hatte er allerdings den Fall des Mannes Beerboom in aller Ausführlichkeit gefunden. Dazu mancherlei Anlaß zum Lächeln, zum Beispiel den, daß Beerboom nun wirklich in Friedrichsberg untergebracht war (› vorläufig, da er auf raschestem Wege der empörten Bevölkerung, die ihn lynchen wollte, entzogen werden mußte‹), in jenem Friedrichsberg also, in das ihn aufzunehmen Kufalt so vergeblich gefleht hatte ...

›Und da wird er ja nun auch wohl bleiben – für sein Leben‹, stellte Kufalt fest.

Weiter aber fand Kufalt die Notiz, daß das Opfer (›in der Nacht noch gestorben‹) des Beerboom eine siebenunddreißigjährige Näherin sei, ein altes Mädchen also, das vielleicht nur darum nächtlich in die Anlagen von Friedrichsberg gegangen war, um im Anblick der küssenden Paare jenen Anteil Liebe abzubekommen, um den auch Beerboom sich so bemüht hatte ...

Ach, der große, böse, wilde Lustmörder Beerboom!

Nein, dieser Unglückselige, zu ewigem Scheitern verdammte Beerboom, dieser aberwitzige Tölpel, der von der Morgenzeitung zu einem bestialisch-dämonischen Mörder aufgeblasen wurde – dieser ewige Mißwuchs auf der Schattenseite des Lebens –!

Da hatten sie nun diesen Pubertätsnarren von seinem Schwesterchen getrennt, da hatten sie ihn durch elf Jahre zu einem Mönch wider Willen gemacht, in dem sich alle Triebe verkehrt hatten, und in dem nur das Fleisch brannte, da war er nun herausgekommen, unfähig, bei einer Frau zu schlafen und sich so zu befreien, den Schädel voll von wilden Phantasien, da hatte er sich eingesponnen in ein irres Verlangen nach Mädchen, Kindern, in Träume von nackten Kinderleibern ... da war er willens gewesen zu verzichten, wieder unterzukriechen mit seinen nie erfüllten Phantasien in einer Klappsmühle, in einer Zelle, ohne Erfüllung, ohne jede Aussicht auf Erfüllung in seinem ganzen Leben ...

Und da war er zurückgewiesen worden und, gegen seinen Willen beinahe, in der Aussichtslosigkeit eines Lebens, das kein Nachtquartier, keine Arbeit, kein Essen, keinerlei Glücksmöglichkeiten, kein gutes Wort und keinen guten Freund und überhaupt keinen Platz für ihn hatte ...

War er da losgerannt, mit dem Messer in der Hand, sich die eine, eine übriggebliebene Erfüllung seines Lebens zu holen ...

Und er war an sein Gegenstück geraten, an kein Mädelkind, sondern an eine halbvertrocknete alte Jungfer, seinen Abklatsch ins Weibliche ...

Und Kufalt hatte sich vorgestellt, wie dieser Narr Beerboom, dieser Flachkopf, den Rest seines langen oder kurzen Lebens in einer Zelle mit Gittern und Steinwänden verbringen und immer wieder um diesen Punkt kreisen würde: ›Hätte ich doch damals wenigstens etwas Junges ... wäre in jener Nacht nur ein Kind ... hätte ich doch einmal in meinem Leben Glück gehabt!‹

Glück – und Kufalt hatte in der hellen Augustsonne, auf seinem Weg in die Schreibstube Cito-Presto, geschaudert ... Glück, was so die Menschen ihr Glück nennen, was wirklich so der Menschen Glück ist ...

Glück: statt siebenunddreißig Jahren elf oder neun, ein kleines Mädchen mit Wadenstrümpfen ...

Wahrhaftig – Glück!

 

11

Auf Cito-Presto wußte jedenfalls noch keiner was von der Geschichte. Sich Zeitungen zu halten, gehörte nicht zu den Lebensbedürfnissen Entlassener, und selbst bei den verlockendsten Schlagzeilen zehn Pfennig für ein Morgenblatt auszugeben, zehn Pfennig, für die man schon drei Zigaretten bekam – also das kam gar nicht in Frage!

»Packt das Fertige zusammen und liefert ab«, sagte Maack zu Kufalt und Monte.

»Und bringt nicht wieder Zwanzigmarkscheine mit – wie soll man denn das Geld teilen?!« verlangte Jänsch.

»Nee, wir bringen es in Tausendmarkscheinen«, sagte Monte, und dann zogen die beiden los, jeder kräftig schleppend an fünftausend Adressen.

»Also, Fräulein«, sagt Kufalt, »hier sind wieder die nächsten Zehntausend. Herrn Bär brauchen wir wohl gar nicht zu stören, ist alles tadellos in Ordnung. Nur 'ne kleine Anweisung, wenn wir bitten dürften, für die Kasse.«

»Nein, Herr Bär möchte Sie sprechen, Herr Meierbeer«, sagt das Fräulein. »Die Adressen können Sie hierlassen, und der andere Herr kann auch hierbleiben. Sie möchte Herr Bär sprechen. Sie wissen ja den Weg.«

Ja, Kufalt weiß ihn und er geht ihn etwas schweren Herzens.

Jablonski gestern – vielleicht war es also wirklich Jablonski gewesen, und das Geschwätz von Beerboom über das, was er erlauscht hatte – vielleicht hätte man ihm doch die zwanzig Mark geben sollen? Oh, oh, oh – soll man denn nie zur Ruhe kommen?!

Herr Bär sitzt an seinem Tisch, raucht eine Zigarre und blättert in Briefen, er sieht nicht auf, als Kufalt eintritt und höflich guten Morgen sagt.

Ja, er beantwortet diesen Gruß nicht einmal.

Doch, schließlich beantwortet er ihn. »Guten Morgen, Herr Meierbeer. Sie heißen doch Meierbeer?« fragt er.

Kufalt steht stumm. (›Also doch, also doch!‹)

Bär sieht einmal flüchtig seinen Besucher an: »Sie heißen doch Meierbeer, nicht wahr?« sagt er und er sagt es beinahe drohend.

»Ja«, antwortet Kufalt gehorsam.

»Und mit Vornamen?«

»Willi.«

»Also, Willi Meierbeer, nicht Giacomo. Also – schön.«

Herr Bär betrachtet gedankenvoll seine Zigarre, streicht etwas Asche ab, fragt: »Und wenn ich Sie recht verstanden habe, sind Sie erwerbslos.« Er verbessert sich: »Waren Sie erwerbslos, ehe Sie hier die Arbeit bei uns bekamen?«

»Jawohl.«

Diesmal eine ganz lange, gedankenvolle Pause.

»Und sonst nichts? – Weiter nichts als erwerbslos?« fragt Herr Bär plötzlich.

»Weiter nichts«, antwortet Kufalt gehorsam.

Es ist eine treffliche Einrichtung, daß Menschen hinter Schreibtischen sitzen und fragen dürfen, Menschen vor Schreibtischen zu stehen und zu antworten haben. Der Gedanke ist vollständig sinnlos, daß Kufalt nun etwa mit Fragen anfinge, wieso der Herr Bär dazu käme und warum und weshalb – sinnlos!

Er hat zu stehen und zu warten, bis Herr Bär sich den Kufalt von oben bis unten angesehen hat und weiterfragt: »Es stimmt doch auch alles, was Sie mir erzählt haben, Herr Meierbeer?«

Kufalt steht einen Augenblick stumm. Er überlegt – aber was hätten Geständnisse für einen Sinn? Geständnisse haben nie einen Sinn, das weiß ein alter Ganove von jeder Vernehmung vor den Krimschen ganz gut.

»Alles stimmt, Herr Bär«, sagt also Kufalt.

»Schön, schön«, antwortet Herr Bär und nimmt die Beschäftigung mit seinen Briefen wieder auf. »Es stimmt also alles. Es ist alles, wie Sie mir gesagt haben. Und sonst ist nichts, weiß ich von nichts.«

»Nein«, sagt Kufalt. »Sonst ist gar nichts.«

»Also gut. Ich danke Ihnen schön. Das Geld kriegen Sie an der Kasse, Fräulein Becker hat die Anweisung. Guten Morgen, Herr Kufalt.«

Erst als die Tür längst zu, Kufalt zehn Schritte weiter ist, merkt er, daß Herr Bär zu Herrn Meierbeer ›Herr Kufalt‹ gesagt hat. Aber – was soll man dabei machen? Vielleicht hat es sogar Herr Bär sehr nett gemeint, eine Warnung gewissermaßen. Jetzt heißt es die Ohren steif halten, die Bombe ist am Platzen, aber wollen, wollen können die uns gar nichts!

Das schlimmste ist nur, daß man mit Monte kein Wort über diese Dinge sprechen kann. Da zottelt er nebenher, eigentlich ein hübscher Mensch mit seinem gewellten, blonden Haar, aber nichts im Schädel als seine Schweinereien. Er nimmt an nichts Anteil, er haßt regelmäßige Arbeit, er sucht immer nach irgendeinem Grunde, abzuhauen ... Kufalt schlottert neben ihm her: Unglückstag, finsterer Tag – was bringt er noch?

Und er ist doch verblüfft, als er die Tür zur Schreibstube öffnet – und wer steht da, in der Mitte des Raumes, umtost von schmetternden Maschinen? –

Wer anders als Herr Hausvater Seidenzopf, unser lieber Wolle-Teddy –?!!

Der fährt herum, als die beiden hereinkommen. »Ah, sieh da, mein lieber Kufalt, Sie hatte ich doch längst vermißt.«

Er stürzt auf Kufalt zu, die Hand herzlich ausgestreckt.

Aber: »Gib dem Mann keine Hand, Willi!« ruft Jansen.

»Sprechverbot«, mahnt Maack.

Kufalt kann gerade noch seine Hand, die fast schon die Fingerspitzen Seidenzopfs streifte, zurückziehen. Er geht mit Monte an seinen Platz, er setzt sich, ohne hochzusehen, und fängt an zu packen.

Los – los – los – weiter ...

»Meine lieben, jungen Freunde«, fängt Wolle-Teddy an und steht gar nicht entmutigt in der Mitte des Raumes ...

Und die Schreibmaschinen klappern und klingeln, und Jänsch hat mal wieder weder Rock noch Weste, noch Hemd an ...

»Meine lieben, jungen Freunde, ich finde es ja aller Ehren wert, daß Sie sich mit solchem Eifer achtbarer Arbeit widmen – es war da ein böser Verdacht ausgesprochen, gerade gegen Sie, mein lieber Kufalt ... Aber damit ist es ja nun nichts, Gott sei gelobt, dieser Verdacht ist nicht eingetroffen, damit ist es nun nichts ...« Vater Seidenzopf steht in der Mitte des Raumes und reibt sich langsam und genießerisch die Hände. Er schaut dabei um sich, ob ihn vielleicht einer ansieht, aber das tut keiner. Sie tippen und packen.

Der Herr von Haus Friedensheim macht ein paar Schritte und kommt hinter einen der Schreiber zu stehen. Er sieht über dessen Schulter auf die Maschine, die Typenhebel machen: ›Klapp-Klapp-Klapp‹, Seidenzopf sagt gedankenvoll: »Alles neue Maschinen. Schöne, neue Maschinen ... Mercedes ... Adler ... Underwood ... AEG ... Remington ... Smith Premier ... Damit läßt es sich schon schreiben. – Ein Wunder, ein Wunder –«

Die Blicke von Kufalt und Maack begegnen sich einen Augenblick. Schon spricht Seidenzopf weiter: »Dreihunderttausend Adressen – ein schöner Posten Arbeit – lange Arbeit, anderthalb Monate schätze ich – und was dann?«

Keiner antwortet.

»In Hamburg gibt es solch einen Posten Arbeit zweimal, dreimal im Jahre – und die andere Zeit? Oh, meine jungen Freunde ...« Seine Stimme schwillt an, läutet wie eine Glocke, sein schwarzer Bart ist in lauter Löckchen gesträubt ... »Oh, meine jungen Freunde, wir von Friedensheim, wir von Presto haben Sie aufgenommen, als Sie aus den Strafanstalten kamen, als Sie ratlos und verzweifelt und fast ohne Geld waren. Wir haben Ihnen zu essen gegeben, eine gute, reichliche Hausmannskost, ein Dach über den Kopf, ein geregeltes Leben.«

Gesteigert: »Wir von Friedensheim haben Sie erst arbeiten gelehrt, wir haben Ihnen mit unermüdlicher Geduld regelmäßige Arbeit beigebracht – und nun danken Sie es uns so?« Er ist sehr kummervoll, aufgeregt und kummervoll, weiß Gott, vielleicht glaubt dieses pharisäische Schwein in dieser Minute wirklich an das, was er sagt.

Seidenzopf macht eine Pause. Und als er neu zu sprechen beginnt erfüllt tiefe, ehrliche Empörung sein Herz: »Und zu welchem Preis werden Sie diese Arbeit übernommen haben, ich frage Sie, zu welchem Preis?! Sie werden ganze zehn Mark bekommen haben, vielleicht nur neun fünfzig, vielleicht nur ...«

Er beobachtet die Gesichter: »... vielleicht nur neun Mark – und wir hätten zwei Mark mehr erzielt. Sechshundert Mark mehr Arbeitsverdienst: weggeworfen, von unkundigen Menschen abgeschlossen. Ich werfe es Ihnen nicht vor, aber welch ein Jammer, die Preise werden auf Jahre hinaus gedrückt sein!«

Die Schreibstube ist unruhig, aber Seidenzopf fährt unbeirrbar fort: »Und was wird aus Ihnen selbst nach diesen anderthalb Monaten? Keine Arbeit – und die Fürsorge-Verbände, nun, die Wohlfahrtsämter und Heime, das sind wir ja, mit den Herren arbeiten wir ja, mit denen sprechen wir ja zuerst. Auskünfte, Recherchen, Nachfragen ...«

Er schüttelt den Kopf, plötzlich brüllt er los wie ein wütender Löwe: »Angewinselt werden Sie zu uns kommen, auf den Knien werden Sie gerutscht kommen zu uns: geben Sie uns doch ein Dach, Vater Seidenzopf, geben Sie uns ein warmes Essen! Um Gottes willen, helfen Sie uns, Vater Seidenzopf, wir können doch nicht verrecken! – Aber dann werden wir ...«

Was wir tun werden, geht in einem allgemeinen Tumult unter. Fast alle sind aufgesprungen von ihrer Arbeit, sie schreien mit zuckenden Lippen, sie werfen ihm ihre Beschuldigungen ins Gesicht:

»Speckjäger, dich mästen an uns!«

»Vier Mark fünfzig zahlst du uns fürs Tausend!«

»Wenn es euch nicht paßt, schmeiß' ich euch raus, es gibt ja so viele Arbeitslose!«

»Schlagt dem Schleicher doch in die Fresse!« (Jänsch.)

»Hängt ihn an den Beinen zum Dachfenster hinaus!« (Oeser.)

»Richtig, da wird er schon winseln!« (Kufalt.)

»Ruhe!« schreit Maack. Und dann noch ein paarmal: »Ruhe!« Er durchdringt die Gruppe, die wild gestikulierend sich um den bleichen, aber nicht sehr verängstigten Seidenzopf geballt hat, und sagt: »Herr Seidenzopf, jetzt gehen Sie!«

»Aber gar nicht gehe ich!« brüllt Wolle-Teddy. »Euch muß man ins Gewissen reden! Ihr müßt es einsehen: kehrt zurück zu uns und alles ist vergeben ...«

»Los!« sagt Maack zu Jänsch.

Und sie fassen Vater Seidenzopf jeder an einem Arm und führen ihn gegen die Tür. Seidenzopf aber schreit weiter: »Wer innerhalb drei Stunden zu uns zurückkehrt, wird ohne weiteres wieder aufgenommen. Wer als erster kommt, wird Schreibstubenhilfsvorsteher bei Herrn Jauch!«

Die Tür fällt zu, man hört nur noch Geschrei auf der Treppe. Dann kommen Maack und Jänsch zurück.

»So«, sagt Maack und sein weißes Gesicht zuckt. »So.« Er sieht sich um, er sagt: »An die Arbeit. Wir müssen unsere Zehntausend schaffen. Jetzt gerade! Sprechverbot.«

Er sieht alle noch einmal an. Er sieht Jänsch an und nickt ihm zu. Er sagt leise, aber drohend: »Oder will jemand das Angebot von Herrn Seidenzopf annehmen? Bitte schön! Dann aber gleich.«

Alle gehen an ihre Arbeit

 

12

Natürlich aber ist es unvermeidlich, daß in der Mittagspause alle von diesem großen Ereignis reden. Sie sind sehr stolz darauf, daß sie den hohen Herrn Seidenzopf, noch vor kurzem Gebieter über Gedeih und Verderb, so haben abfahren lassen ...

»Das hätte ihm so gepaßt, wenn wir uns in 'ne Streiterei eingelassen hätten!«

»Wenn der sich einbildet, er kann uns alles sagen –!«

»Der kann warten, bis wir kommen.«

»Angewinselt – wer wohl zuerst winselt!«

»Fein, wie ihr ihn rausgebracht habt, richtiger Polizeigriff. Wolle-Teddy – ab dafür!«

»Der kommt nicht wieder!«

»Das mach dir bloß ab! Natürlich kommt der wieder. Dreihunderttausend – dafür läuft der sich die Absätze schief.«

»Vielleicht kommt als nächster Jauch.«

»Au, schnafte, wenn der losbullert, lach' ich mir 'nen Ast.«

»Den Jauch wird der Marcetus schon nicht schicken, der weiß doch auch, daß der bloß ein Bulle ist!«

»Wenn nun Marcetus selber kommt –?«

Lange betretene Pause.

Eine etwas unsichere Stimme: »Ausgeschlossen, viel zu fein dafür.«

»Möglich ist es doch!«

»Möglich ist alles, aber ich glaub's nicht.«

»Halten wir eben auch den Rand, der wird schon gehen, wenn ihm keiner antwortet.«

Aber doch sind die Gesichter etwas bedenklich: »Marcetus – nee, hoffentlich nicht, er ist ein schlaues Aas.«

»An die Arbeit, die Herren«, sagt Maack. »Höchste Zeit, wir müssen reinhauen wie die Wilden.«

Das Geschmetter der Maschinen will einsetzen, hebt an, stolpert und – Stille!

Alle sehen auf einen Platz, auf einen Platz an einer Schreibmaschine, und der Platz ist leer!

Alle sehen sich um im Zimmer, aber im Zimmer blieb keiner übrig für diesen leeren Platz.

Einer pfeift lang, gedehnt.

»Ahoi! Ahoi! Mann über Bord!«

»Wo ist Sager?«

»Wollte Bier holen!«

»Hilfsstubenvorsteherschreiber!«

»Stubenvorsteherhilfsschreiber!«

»So ein Schwein, na warte!«

»Ahoi! Ahoi! Mann über Bord! Ahoi! Ahoi!«

»Kameraden –«, fängt Maack an und schluckt mühsam.

»Ach scheiß, Kameraden«, schreit das wilde Tier Jänsch wütend. »Ich scheiß auf die Kameradschaft. Lumpen!« schreit er, »Ganoven! Da ist die Tür! Kufalt, mach die Tür auf, laß sie offen, breit offen: so, stellt euch alle mit dem Rücken zur Tür an die Wand! Schön weit auseinander, daß ihr euch nicht berührt! Arm gewinkelt vor die Augen! Wer guckt, kriegt eine von mir geschallert. – Nun –!« Er brüllt. »Raus mit euch Ganoven, mit euch Lumpenmännerchen, mit euch Feiglingen – haut ab, keiner sieht euch in eure Verräterfresse, gut könntet ihr jetzt abhauen, keiner sieht hin, geht auf Zehenspitzen! Ab!«

Pause, lange Pause, sie stehen blind und dunkel an der Wand. Knackt eine Diele? Ging einer? Schlich einer? Oh, verlorene Kindheit, verlorener Glaube an den Mitmenschen! Jänsch schnauft, er ruft: »Bist du schon weg, Monte? Du kriegst auch einen feinen Druckposten bei denen!«

»Stubben, dämlicher!« piepst Monte.

Der ist also jedenfalls noch da.

Und Jänsch, in seinem tiefsten Baß, doch schon erlöster: »Mich möchste woll, Puppenjunge?!«

Schallendes Gelächter – und die Augen sehen wieder, sehen wieder neu ins Sonnenlicht, erkennen einander: nein, es ist keiner mehr fortgeschlichen, sie blieben beieinander.

»Na«, brummt Jänsch, »werden wir ja morgen früh sehen, wer sich die Sache noch mal beschlafen hat. Ich trau' keinem mehr.«

»Trauen – hab' ich nie getan.«

»Alle Menschen sind Schweine.«

»Hör zu«, sagt Maack zu Jänsch. »Es ist doch besser, du übernimmst von jetzt an das Schreibstubenkommando. Du machst das besser als ich, Jänsch.«

»Bist zu fein, Maack«, sagt Jänsch mißbilligend. »Ich denk' immer: fein kommt von dünn. Alles Scheiße. Also nun los. Kufalt, du mußt mittippen, nimm dich ein bißchen zusammen, verstehste?!«

»Ja«, sagt Kufalt.

»Und ich?« jammert Monte. »Ich kann doch nicht zehntausend alleine packen!«

»Wärst du vorhin aus der Tür getrudelt«, sagt Jänsch. »Na, laß man, reg dich bloß nicht künstlich auf. Wir helfen dir alle heute abend. Los!«

Und nun geht es wirklich los.

Kufalt, wieder einmal an der Maschine, an einer schönen, neuen Maschine, ist glücklich. Glücklich und unruhig.

Glücklich, denn die Finger tanzen los, kaum hat das Auge die Adresse auf der Kartothekkarte erwischt, tanzen, fehlerlos, und weiter, weiter. Wo ist die letzte Nacht? Versunken, vergessen, er wird einfach umziehen, aus, Liese, aus! Das ist das Gute im Leben: immer wieder kommt etwas anderes, man braucht sich nicht an das Vergangene zu hängen, vorbei, vorbei!

Wie die andern hat er die Umschläge zu Hunderten gebündelt neben sich liegen. Er reißt eine Schlaufe durch, sein Nachbar, der Fasse, hat vor drei oder vier Umschlägen seine Schlaufe zerrissen – und als Kufalt mit seinen hundert durch ist, hat Fasse noch ein paar Umschläge nach. Ach, Kufalt ist hoch in Form, es sind seltsame Dinge, aber so ist es, man weiß nichts voraus, heute hätte es schlecht gehen müssen und heute geht es gut. Er ist glücklich.

Aber unruhig. Und unruhig sind alle andern auch. So viel Geräusper, Stocken, nachdenkliches Pfeifen, Summen hat es noch nicht gegeben bei ihnen. Gut, Seidenzopf ist dagewesen, er hat gedonnert und gedonnert, aber darum ist das Gewitter noch nicht vorbei – der Blitz ist nicht niedergefahren. Sager war kein Blitz. Seidenzopf war kein Blitz ... Immer noch steht das Gewitter am Himmel – wann kommt der Blitz?

Punkt fünf Uhr fünfunddreißig fuhr der Blitz aus dem Himmel. Punkt fünf Uhr fünfunddreißig klopfte es hart gegen die Tür. Maack (natürlich Maack, als ob er noch Schreibstubenvorsteher wäre!) rief ›Herein‹, die Gesichter drehten sich zur Tür, ein trat Pastor Marcetus.

»Guten Abend«, sagte er und ging drei, vier Schritte bis in die Mitte des Raumes.

»Guten Abend«, sagten ein paar, gehorsam, halblaut, und verschluckten sich dabei.

Vier (Maack, Kufalt, Jänsch, Deutschmann) wandten sich wieder an ihre Arbeit, die Maschinen fingen wieder an zu tippen und ...

Und »Ruhe!« sagte Marcetus. »Ruhe!!!«

Drei (Maack, Kufalt, Jänsch) tippten doch weiter.

»Ruhe!« sagte der Pastor ein drittes Mal. »Sie werden doch soviel Anstand besitzen, Ruhe zu halten, wenn ich fünf Minuten zu Ihnen sprechen möchte. Ja?«

Einer (Einer! nämlich Jänsch) tippt weiter, vertippt sich, tippt wieder los, es klingt so dünn, so verloren in dem großen Raum, der eben noch so laut war – Jänsch sagt wütend: »Ach scheiß!« Und auch seine Maschine verstummt.

»Richtig!« sagt der Pastor scharf zu Jänsch. »Außerordentlich richtig. Sie haben sich schön hineingeritten.«

Er schweigt wieder, Jänsch brummt böse, der Pastor sieht sich um und sagt sehr höflich: »Herr Monte, überlassen Sie mir bitte für fünf Minuten Ihren Stuhl – ich bin ein alter Mann.«

Monte springt gehorsam und ein bißchen rot auf, Jänsch brummt noch böser, aber er hindert Monte nicht, den Stuhl in die Mitte des Zimmers zu setzen.

»Danke schön«, sagt Marcetus freundlich und setzt sich. Er setzt sich ruhig hin und sieht sich im Kreis um. Kufalt kommt es vor, als werde er besonders eindringlich und mit einem besonderen Stirnrunzeln angesehen.

»Nun ...«, sagt der Pastor langgedehnt.

Aber nichts erfolgt.

Der Geistliche hat seinen schönen, schwarzen, steifen Haarhut in der einen Hand, ein gutes, großes, weißes Leinentuch in der anderen. Er fährt sich damit manchmal leicht über das Gesicht. Ein rosiges, volles Gesicht mit einem ausdrucksvollen Mund und einem starken Kinn. (Die um ihn sitzen, haben alle ein schwaches Kinn, bis auf Jänsch, der nun wieder eine andere Art starkes Kinn hat, mehr ein Boxerkinn.)

Und Jänsch ist es also auch, der da schließlich sagt, brummig und böse: »Bitte, Herr Pastor, wir müssen arbeiten, wir haben nicht so viel freie Zeit wie Sie.«

Der Pastor geht darauf nicht ein, er sagt vielmehr zu Jänsch: »Sie sind hier der Obmann, ja? Der Schreibstubenleiter? Oder ist es nicht vielmehr Herr Maack?«

»Sager hat Sie angelogen«, grinst Jänsch. »Ich bin hier der Vorsteher.«

»So«, sagt der Pastor und denkt nach. Noch einmal: »So.« Er überlegt gründlich. Dann fragt er: »Dann erledigen Sie hier also alles: Auszahlen. Verrechnen und so weiter?«

Auch Jänsch überlegt. Er sieht einmal rasch zu Maack hinüber, aber der Pastor folgt so aufmerksam diesem Blick, daß die beiden sich nicht verständigen können.

So sagt Jänsch mürrisch: »Ja, tu' ich.«

Der Pastor sagt sanft: »Dann nehme ich an, daß dieser Gewerbebetrieb von Ihnen korrekt bei der Gewerbepolizei angemeldet worden ist.«

Stille.

»Und daß der Lohnabzug für Einkommensteuer von Ihnen richtig verrechnet worden ist, ja?«

Stille.

»Und daß die Anmeldungen zur Krankenkasse erstattet sind? Und die Marken geklebt?«

Ziemlich lange Stille.

Der Pastor sieht nicht mehr die Gesichter seiner Leute an, er schaut nachdenklich und gütig in den blauen Sommerhimmel, der ganz durchgoldet ist.

Dafür sehen sich die sieben untereinander an, sehr flüchtig nur, es liegt so was in der Luft ...

»Wir danken Ihnen verbindlichst, Herr Pastor«, sagt Maack höflich, »das kann alles noch erledigt werden. Heute ist ja erst der dritte Tag.«

»So«, sagt der Pastor.

»Man hat nämlich drei Tage Frist«, sagt höflich Jänsch. »Und ohne Ihren Wink hätte ich es vielleicht vergessen.«

»So«, sagt der Pastor noch einmal. Und es ist ihm anzumerken, daß er nicht mehr ganz so zufrieden ist.

»Mein Geschäft«, fängt der Pastor neu an, »ist ein undankbares Geschäft. Jeder von Ihnen kommt sich ständig von mir übervorteilt vor. Sie sehen nur, wir nehmen elf ein und geben Ihnen bloß sechs ...«

»Vier fünfzig«, sagt Jänsch.

»Vier fünfzig«, bestätigt auch der Pastor. »Sie denken nie daran, daß wir die Miete für die Büros bezahlen müssen und die Heizung und Licht und daß die Schreibmaschinen sich verbrauchen, und daß wir Sie durch arbeitsarme Zeiten durchschleppen – Ihr Arbeitsverdienst, oh, mein guter Herr und Gott!« Er lacht bitter. »Sie denken immer, ich tu' nichts als Sie alle Wochen ein-, zweimal anbellen. Und dabei sitze ich den ganzen Tag und schreibe Bettelbriefe für Sie, ich sammle Gönner, Stifter und Mitglieder. Der gibt fünf Mark, der gibt zehn Mark, achthundert solche Beiträge, tausend solche Beiträge im Jahre – davon lebt das Werk ...«

»Und sein Pastor«, ergänzt Jänsch.

»Und sein Pastor«, bestätigt Marcetus. »Sie, die Sie so sehr dafür sind, daß jede Arbeit nach ihrem Wert bezahlt wird, Sie werden doch nicht wollen, daß ich ohne Entgelt arbeite?«

»Hören Sie zu, Herr Pastor«, sagt Maack langsam. Er ist sehr weiß, seine Brille rutscht wieder einmal, er schiebt sie mit einem Ruck auf den Nasensattel zurück. »Das mag alles gut und schön sein, was Sie da erzählen, wir wollen uns nicht mit Ihnen streiten, aber ...« und Maack erhitzt sich, »aber warum lassen Sie uns nicht allein unsern Weg gehen? Wir haben 'ne eigene Arbeit gekriegt, wir tragen doch das Risiko, wenn's uns dreckig geht, zu Ihnen kommen wir sicher nicht wieder gelaufen – also lassen Sie uns. Jetzt macht es uns Freude, bei Ihnen hat es uns nie Freude gemacht. Kommen Sie doch nicht her mit Drohungen, Kippe oder Lampen kennen wir alle. Lassen Sie uns nur laufen, wir tun Ihnen ja auch nichts.«

»Richtig«, sagt Jänsch, und ein paar andere murmeln beifällig.

»Ich will nicht davon reden«, sagt der Pastor, »daß wir Sie erst zu flotten Maschinenschreibern ausgebildet haben. Ich will nicht davon reden, wie unfair ich das finde, daß Sie unsere Kundenadressen ausspionieren. Ich will nicht davon reden, wie verwerflich das ist, daß Sie unsere tarifmäßigen Preise unterbieten. Ich will Ihnen nur sagen, daß keiner von Ihnen an das erhoffte Ziel kommen wird, daß für Sie alle dieser Akt der Undankbarkeit der Anfang zu Verderben und neuen Straftaten sein wird ...«

»Als wie woher?« höhnt Jänsch ganz ungerührt.

»Weil Sie ...« Aber der Pastor bricht ab und steht auf: »Da sind diese neuen Schreibmaschinen, sie glänzen, sie blitzen, sie sind hübsch sauber, sehr schön ... Wie sind die gekauft, heh, wie sind die gekauft?«

Einen Augenblick Stille.

Dann sagt Jänsch: »Auf Stottern, denke ich.«

Sie wollen losbrechen mit Lachen, da bricht der Pastor los mit Wut: »Auf Betrug sind die gekauft, auf gemeinen strafwürdigen Betrug!«

Kufalt steht da, ja, er wird angesehen, flammend, böse, angstvoll, verderbend wird er angesehen ...

Und dann fährt der Pastor fort: »Als Herr Seidenzopf von Ihnen zurückkam und die Mär von den funkelnagelneuen Schreibmaschinen berichtete, haben wir natürlich die Sache sofort der Polizei übergeben. Die Erhebungen sind noch nicht abgeschlossen, aber es ist schon festgestellt, daß sämtliche Schreibmaschinen von dem gleichen mittellosen Burschen gekauft worden sind, und drei Geschädigte haben bereits Strafantrag gestellt ...«

Lange, lange Stille.

Der Pastor sieht Kufalt flammend an: »Ja, da wird Ihnen angst, da möchten Sie weg, aber nun ist es zu spät. Ich habe Sie gewarnt, Kufalt, immer wieder habe ich Sie gewarnt.« Er ruft laut: »Herr Specht, bitte, Herr Specht!«

Und die Tür geht auf und durch die Tür kommt ein Mann, ein breiter, untersetzter Mann, mit einem grauweißen Wachtmeister-Schnurrbart, dicken, buschigen, weißen Brauen und einer Glatze über den ganzen Kopf.

»Das ist der Kufalt, Herr Kriminalsekretär Specht«, sagt Pastor Marcetus.

»Also kommen Sie mal mit, Herr Kufalt«, sagt der Sekretär gemütlich. »Kommen Sie ruhig und ohne Zicken mal mit.«

Er faßt Kufalt leicht am Oberarm, die Gesichter der anderen sehen sehr weiß auf ihn hin, dann sind sie weg, und die Tür kommt näher und näher (›sagt denn kein einziger ein Wort zu mir?!‹) – und die Tür geht auf und die Tür geht zu, und das Treppenhaus – und da tönt von innen eine starke, feste Stimme: »Und nun, meine jungen Freunde, können wir ...«

Vorbei, verloren.

Verloren, vorbei.

 

13

Als Kufalt erwacht, glaubt er zuerst noch zu träumen. Es war ein widriger, böser Traum, der ihn heimgesucht hatte. Diese Nacht: immerzu war er verfolgt und floh und versteckte sich sinnlos, wo ihn alle sahen. Oder er wurde angeklagt und mußte sich rechtfertigen, und während er immer beschwörender sprach, kniffen sie die Augen ein und feixten einander an und hörten nicht zu ...

Kufalt hatte das Gefühl, als hätte er geweint, als sei sein Kopfkeil naß noch von Tränen, und ... und hatte er nicht geschrien? ›Laßt mich gehen, laßt mich gehen allein!‹ –? Ja. Ja. Ja und Ja. Aber nun ist er erwacht, ein fahles, graues Licht liegt in der engen Zelle, und direkt vor ihm, fast über seinem Gesicht, sieht er zwei Ungeheuer, Urwelttiere, bewehrt, wie bereit zum Angriff auf ihn.

Braunrot mit flachem, gepanzertem Körper, die Fühler gegen ihn gerichtet, den gierigen Schnabel auf ihn zu, hocken sie über ihm wie Gespenster, wie drohende Dämonen – und sein Geist, der aus den düsteren Schluchten des Traumes kommt, müht sich zu verstehen: wieso ...?

Aber dann spürt er das brennende Jucken an Armen und Beinen, er bewegt ein wenig den Kopf, die Bettdecke verrutscht, und die Tiere auf ihr verschwinden eilig ...

›Wanzen‹, denkt er. ›Natürlich wieder mal Wanzen, die haben noch gefehlt. Alles kommt wieder zusammen – wo gibt es ein Polizeigefängnis ohne Wanzen?‹

Er springt auf und wäscht sich. Er betrachtet seinen Körper, der nun schon wieder gezeichnet ist wie vor –? Er fängt an zu rechnen: wie lange ist er draußen gewesen? Einhundertundzwei Tage! Einhundertzwei Tage und nun wieder drin! Recht so. Wozu hat er sich abgestrampelt –?

Er läuft auf und ab in der schmierigen Polizeigefangenenzelle, mit den braunen Flecken an den Wänden von zerdrückten Wanzen. Er könnte ja jetzt auf die Wanzenjagd gehen, damit wenigstens die nächste Nacht etwas ruhiger wird – aber was hat Wanzenjagd für einen Zweck? Was hat eine ruhige Nacht für einen Zweck?

Gar keinen, Dussel!

Der Herr Specht, der Herr Krimmalsekretär Specht hat gestern abend nur so ein kleines Protoköllchen aufgenommen und dabei gegrinst: »Na, natürlich, alter Junge, betrügerische Absicht haben Sie nicht gehabt – nee, nee, wie denn? Wieso denn? Sechs Schreibmaschinen – hundertachtzig Emm haben Sie von Ihrem Arbeitsverdienst abzahlen wollen, jeden Monat ... Glaub' ich Ihnen, glaub' ich Ihnen alles! – 'ne Zigarette möchten Sie? Aber doch nicht, wenn Sie mir solchen Stuß erzählen, da muß man schon ein bißchen auspacken, alter Junge, wenn man 'ne Zigarette geschenkt haben will! Das wissen Sie doch von früher, wo Sie fünf Jahre Knast geschoben haben. Zigarette? Von nichts kommt nichts.«

Ja so, ja so, der alte Ton, die alte Melodei – es fangt alles wieder von vorne an, und vielleicht sitzt Beerboom im selben Haus, zehn Zellen weiter, und wird auch vorgeführt und auch von Wanzen geplagt und Rübe ab oder Zet lebenslänglich – und freut sich, der Affe ...

Und Liese. Da haben Sie sicher längst Haussuchung gemacht und seine schönen Sachen durcheinandergeworfen, und sie hat womöglich gedacht, sie kommen deswegen. Und sie hat alles verquatscht, und sie kommen gar nicht deswegen, sondern seinetwegen, und sie erzählt den ganzen Kohl wegen Beerboom. Und dann geht noch das Trara los, und die halten ihn ewig in Untersuchung ...

›Und, o Gott, mein himmlischer Vater, an den Wänden möchte man hochgehen, am Bettbein möchte man sich aufhängen, und soviel Sorgen gibt's gar nicht, wie ich in den letzten vier Monaten gehabt habe, und wenn einer einen Löffelstiel verschluckt, damit er ins Krankenhaus kommt und 'ne nette Operation hat, die aasig weh tut – ich verstehe das, ich versteh' alles! Wenn der Bauch so weh tut, daß man immerzu brüllt, kann man keine Sorgen im Kopf haben ...‹

O Augen, die trocken brennen.

Ratsch, bumm und der Riegel. Knack, knack, knack und das Schloß.

Habacht – Stellung unterm Fenster.

Eine graue Wachtmeister-Visage.

»Sie heißen?«

»Willi Kufalt.«

»Wilhelm Kufalt.«

»Nee, Willi Kufalt.«

»Mitkommen!«

Die Gänge und die Eisentreppen und die Eisentüren mit ihren ewig knackenden Schlössern und die Wachtmeister, die laufen (›der Wachtmeister ist ein Renntier!‹), und die Kalfaktoren, die scheuern und wienern –: alles wie einst!

Ein großes, düsteres Zimmer mit blinden Fenstern, mit häßlichen, gelben Aktenregalen. Und an einem Schreibtisch sitzt ein großer, starker Mann mit frischen Farben, ein paar Durchzieher in der Backe, eine blonde, steile Haarbürste über dem Schädel, und raucht eine ungeheure, schwarze Zigarre.

›Gott sei Dank, kein Specht, keine Kriminalerfresse‹, denkt Kufalt. ›Gott sei Dank, schon der Richter.‹

»Polizeigefangener Wilhelm Kufalt«, meldet der Wachtmeister. »Gut«, sagt der große Mann. »Ich klingele dann, Wachtmeister. Setzen Sie sich, Kufalt.«

Kufalt tut es.

Der Mann blättert: »Was Ihnen vorgeworfen wird, Herr Kufalt, das wissen Sie ja. Nun erzählen Sie mir mal, wie Sie, der Sie fast mittellos sind, dazu gekommen sind, in sechs Geschäften auf Ihren Meldeschein sechs Schreibmaschinen zu kaufen. Wozu brauchen Sie sechs Schreibmaschinen?«

Und Kufalt fängt an zu erzählen. Er erzählt erst schwer und stockend, er muß immer wieder zurück, er sieht, er muß ganz am Anfang anfangen, eigentlich bei der Entlassung, eigentlich noch vor der Entlassung, damit man alles versteht.

Aber diesem Mann da kann man schon erzählen. Zum ersten macht er keine Notizen, sondern hört zu. Und zum zweiten kann er richtig zuhören, Kufalt merkt, er hat noch keine feste Meinung von der Sache. Der Specht war gleich überzeugt, Kufalt sei ein Betrüger, dieser noch nicht.

Er erzählt und wird immer wärmer, siehe da, es ist ganz gut sogar, hier einmal zu sitzen und einem Menschen alles erzählen zu können. Aber dann ist er fertig, plötzlich ist er fertig, wie leergelaufen, und etwas hilflos und etwas abwartend sieht er den Richter an.

»Na ja«, sagt der und betrachtet nachdenklich den Aschenkegel seiner Zigarre. »Na ja, so rum kann man es auch erzählen. Herr Pastor Marcetus und seine Herren erzählen es ein bißchen anders herum.«

»Ach die!« sagt Kufalt verächtlich und fühlt sich plötzlich sehr überlegen. »Die haben ja nur eine Wut im Bauch, weil ich ihnen die Arbeit weggeschnappt habe!«

»Das wollen wir nun doch lieber nicht behaupten«, sagt der Richter streng, »daß diese Herren aus Konkurrenzgründen wissentlich falsch über Sie aussagen. Nein, so etwas wollen wir lieber nicht sagen.«

Und der Richter sieht Kufalt tadelnd an.

Kufalt ist plötzlich wieder ganz klein. Natürlich hat er eine Dummheit gemacht, der Richter und der Pastor, das sind beides Studierte. Und Studierte glauben zuerst einmal nur das Beste voneinander. Namentlich, wenn da so ein kleiner Vorbestrafter sitzt. »Hören Sie einmal zu, Herr Kufalt«, sagt der große Mann. »Sie wissen doch Bescheid. Sie sind doch lange genug in Strafhaft gewesen, um zu wissen, wie leicht ein Mensch in was reingerät.«

»Ja!« sagt Kufalt mit Überzeugung.

»Und Sie wissen ebensogut, daß ein Mensch wie Sie doppelt vorsichtig sein muß. Doppelt –? Hundertfach!«

»Ja, das weiß ich.«

»Wenn ich nun selbst voraussetze, daß alles, was Sie mir erzählen, wahr ist – sind Sie dann nicht unendlich leichtsinnig gewesen? Sie hafteten doch für das Geld, Sie allein laut Ihrer Unterschrift für alle sechs Maschinen – und Sie hatten doch nicht annähernd so viel Mittel und auch nicht so viel Einnahmen zu erwarten, um für solch eine Summe grade zu stehen.«

»Aber wir hatten doch ausgemacht, daß es allen andern auch gleichmäßig vom Verdienst abgezogen werden sollte!«

»So! Und heute, wo Ihre Schreibstube aufgeflogen ist und kein Verdienst kommt mehr, von dem man abziehen könnte, wie bezahlen Sie da nun?«

Kufalt windet sich. »Wenn Herr Pastor so gemein ist und macht uns die Arbeit unmöglich ...«

»Seien Sie kein Narr«, sagt der Richter streng. »Gebrauchen Sie Ihren Verstand. Was geht das die Verkäufer an? Sie haben zwölf Monate lang hundertachtzig Mark im Monat zu zahlen, wie wollen Sie das jetzt machen?«

Kufalt hat eine Erleuchtung: »Dann gebe ich die Maschinen einfach zurück. Es steht drin im Kaufvertrag, daß die Maschinen zurückgegeben werden müssen, wenn ich nicht pünktlich zahle.«

Der Richter lehnt sich vor: »Und wenn die Maschinen nun weg sind? Verstehen Sie, wenn die geklaut sind?«

Kufalt sagt ungläubig: »Unsere Maschinen werden doch nicht geklaut!«

»Heute nacht«, sagt der Richter mit Bedeutung, »heute nacht ist in Ihre Bodenstube eingebrochen worden. Die Diebe haben sich vier Maschinen eingepackt ...«

Kufalt hockt da, er denkt angestrengt nach. ›Die Lumpen, es kann nur einer von uns gewesen sein – wer kann es bloß gewesen sein? Fasse? Oeser? Monte? O Gott, oder etwa der Schreibstubenhilfsvorsteher Sager?! Und die hier denken womöglich, ich steck' mit ihnen unter einer Decke! Verloren ...verloren ...!‹

Er sieht den Richter verwirrt an.

»Und was machen Sie nun, Herr Kufalt?«

»Ich ...«, sagt Kufalt und reckt sich, »ich geh' wieder ins Gefängnis. Es hat alles keinen Zweck, ich seh' es schon ein, ich geh' wieder rein ... Meinethalben ... mir macht es nichts, mir kommt es nicht mehr darauf an ...«

Der Richter beobachtet ihn scharf: »Und warum haben Sie sich bei der Firma Gnutzmann ›Meierbeer‹ genannt, Herr Kufalt? Ist eine Sache sauber, legt man sich doch keinen falschen Namen bei.«

»Damit die auf der Schreibstube nicht merkten, ich hatte den Auftrag gekriegt«, sagt Kufalt und steht auf. »Aber es hat keinen Zweck, Herr Richter. Lassen Sie mich wieder in die Zelle. Ich hab' eben immer Pech.«

»Pech haben Sie?!« fragte der Richter bissig. »Unverdientes Glück haben Sie. Wenn man in so 'ner Lage ist wie Sie, dann macht man nicht solche Geschichten. Dumm sind Sie, leichtsinnig sind Sie, unüberlegt sind Sie. Damit kommt man nicht weiter. Immer unzufrieden, immer meckern, immer was anderes. Sie saßen da ganz gut und sicher auf Ihrer Schreibstube, das ist nun doch wohl wahrhaftig nicht so schlimm, wenn man mal angeschnauzt wird ... Aber natürlich: Abenteuer, einen Haufen Geld verdienen ...« Er ist sehr ungnädig: »Ausbimsen und Abenteuer, solch ein grüner Bengel –!«

Kufalt steht da, ein unruhiges Gefühl ist in ihm – er wird ausgeschimpft, schön, aber er spürt, hinter diesem Schelten steht etwas anderes, etwas Gutes ...

»Den Herrn Sekretär Specht haben Sie wohl nicht verknusen können?« fragt der Richter. »Er hat mir erzählt, Sie haben sich bei der Vernehmung ganz wie ein großschnäuziger alter Ganove benommen.«

»Der Herr Specht hat aber auch wie ein richtiger Kriminaler zu einem richtigen Ganoven mit mir gesprochen. Nicht so wie Sie, Herr Richter«, sagt Kufalt listig.

»Ach was! Der Specht hat Sie gerettet, nur der Specht. Der hat gestern abend noch die Kaufverträge gesucht, und weil er sie in Ihrer Wohnung nicht fand, ist er noch nachts in Ihre Bodenkammer gelaufen, und da hat er wohl die Kaufverträge gefunden, aber erst später. Vorher hat er noch was anderes gefunden – was wohl?«

»Die Einbrecher ...«

»Und wer sind wohl die Einbrecher gewesen?«

»Ich weiß doch nicht ...« stammelt Kufalt.

»Sie wissen schon. Na, zeigen Sie mal, ob Sie wenigstens eine Ahnung haben, wer Ihre Freunde und wer Ihre Feinde sind ...«

»Ich ...« fängt Kufalt an und schweigt wieder.

»Na bitte«, sagt der Richter.

»Fasse«, sagt Kufalt.

»Oeser«, sagt Kufalt.

»Monte«, sagt Kufalt.

»Sager«, sagt Kufalt gesteigert.

»Maack«, sagt der Richter.

»Jänsch«, sagt der Richter.

»So, und nun wissen Sie Bescheid. Ihr Glück war es, daß der Specht darüber zukam. Und Ihr Glück war es, daß die Kaufverträge da bei Ihnen aufbewahrt waren auf dem Büro, und daß der saubere Herr Maack so eine Art Tilgungsplan dazu geschrieben hatte, was jeder von Ihnen abzubezahlen hatte ... Daß er sich's nachher anders überlegt hat – ein Lump, Ihr Freund, Kufalt, ein erbärmlicher Lump.«

»Sein Mädchen erwartet ein Kind«, sagt Kufalt.

»Ich will Ihnen etwas sagen«, antwortet der Richter und ist nun wirklich wütend. »Das ist Duselei von Ihnen, das ist Schwäche, das ist blanke Dummheit von Ihnen. Entweder wollen Sie raus aus dem Dreck oder nicht. Ja?«

»Ja«, sagt Kufalt.

»Also!« sagt der Richter. »Die Schreibmaschinen werden heute durch die Polizei den Verkäufern zurückgegeben und dann werden ja auch die Strafanträge zurückgezogen werden. So lange müssen Sie noch warten. Aber ich denke, heute abend oder morgen früh können wir Sie entlassen.«


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