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Der Dezember mit seinem leichten klaren Frost war gegangen, und der Januar war an seiner Stelle mit Regen und Schlackerwetter gekommen. Seufzend holte Kufalt aus dem Kleiderschrank statt des schönen schwarzen Ulsters den gelben sackartigen Gummimantel.
Der Dezember war der größte Erfolgsmonat in Kufalts Leben gewesen. Der Januar setzte ein mit einer Serie widrigster Mißerfolge. Weitab lagen noch die Inventur-Ausverkäufe, erst am 21. Januar begannen sie – und kein Mensch wollte abonnieren.
Kufalt stand da und redete, wenn man ihn überhaupt reden ließ, heißt das. Man hörte zu, aber dann sagte man, er wisse doch, wie knapp das Geld jetzt nach dem Fest sei, oder man erklärte auch geradezu, der ›Freund‹ sei eben doch besser als der ›Bote‹. Der ›Bote‹ brächte ja nicht ein Viertel der Familienanzeigen des ›Freund‹ und die müßte man doch mindestens haben.
An manchen Tagen gab es sechs, sieben, ach, es gab zehn, zwölf Mißerfolge nacheinander, und mit den Mißerfolgen kam die Mutlosigkeit. Da stand dann Kufalt geschlagene zehn Minuten vor so einem Mietskasten mit zwölf Parteien und traute sich nicht rein, er ging die Straße rauf und ging sie wieder runter, der Nieselregen durchkältete ihn bis auf die Knochen. Am schlausten war es, nach Haus zu gehen, sich an den warmen Ofen zu setzen und zu dösen ...
Aber da war der leere Quittungsblock, und Herr Kraft erwartete um vier seine sechs Neuabonnements, und der hatte so eine hundsgemeine Art zu sagen: »So, heute nur zwei? – Heute nur zwei. – Heute nur zwei!«
Und dabei nuschelte er mit seinen Papieren.
»Übrigens haben von Ihren Neuabonnenten aus dem Dezember siebenunddreißig den ›Boten‹ wieder abbestellt. Da hat Werbung eigentlich wenig Sinn ...«
»Ist das etwa meine Schuld?« fragte Kufalt gereizt.
»Kein Mensch hat ein Wort von Schuld gesagt«, antwortete Kraft gleichmütig und nuschelte weiter mit seinen Papieren. »Sie sind nervös, Kufalt.« –
Wenn nun aber auch ungewiß blieb, was eigentlich in der Silvesternacht wirklich vorgefallen war, Freese jedenfalls war die Freundlichkeit selbst. Ja, er wurde noch freundlicher.
»Friert Sie?« konnte er fragen. »Ja, stellen Sie sich man ran an meinen getreuen Knecht Fridolin, dem habe ich heute was eingekachelt! Ich hab' übrigens auch 'ne Arbeit für Sie!«
Er kramte rum.
»Da ist so'n Waschzettel vom Kino. Ich hab' mir den Mist nicht angesehen. Streichen Sie zwanzig Zeilen und den dicksten Schmus raus. – Hier ist ein Fuffziger.«
Und als Kufalt protestieren wollte: »Nee, nee, Kufalt, umsonst ist nur der Tod, und auch der nur für die Verstorbenen. Stecken Sie den Fuffziger ruhig ein: einst wird kommen der Tag ...«
Unverändert ... unverändert mit seinen Anspielungen, seiner Versoffenheit, der rauhen Schale um den fraglichen Kern.
Unverändert blieb auch Vater Harder in seiner Bewunderung der Kufaltschen Qualitäten, aber verändert, sehr verändert war Hilde.
Kein freiwilliger Kuß mehr, kaum ein Ja, kaum ein Nein, nichts mehr von Gedichten, kein gemejnschaftlicher Singsang.
Es war halb zehn. Frau Harder gab das Abschiedssignal, gute Nacht wurde gesagt, das Brautpaar war allein, und nun mußte er anstandshalber mindestens noch eine halbe Stunde bleiben.
Er steht auf, er brennt sich eine Zigarette an, er geht auf und ab.
»Wie es stürmt«, sagt er, bleibt stehen und lauscht nach dem Fenster.
»Ja«, sagt sie und stickt weiter, ohne Aufsehen, an dem Monogramm.
»Man möchte am liebsten hierbleiben, die Nacht«, sagte er und lacht ein bißchen verlegen.
Sie sagt nichts.
Er wartet einen Augenblick, dann nimmt er seine Wanderung wieder auf. Er zergrübelt sein Hirn, endlich fragt er: »Hat der Junge heute besser gegessen, Hilde?«
»Nein«, sagt sie und stickt weiter.
Weiter auf und ab gehen, weiter grübeln, und der Regulator macht Ping-Pang, Ping-Pang, und schließlich wieder eine spärliche Frage, ein dürftiges Nein oder Ja.
Aber – die Lampe brennt so düster –, wenn er auf den geneigten dunklen Scheitel starrt, auf das Stückchen weißen Nacken, das zwischen Haaransatz und dem roten Krägelchen des Jumpers leuchtet, wenn er hinsieht und bedenkt, was er ihr alles tat, und vielleicht, vielleicht noch tun wird, dann überkommt es ihn, den Mund aufzutun, das Herz aufzutun, zu sprechen:
»Du, Hilde ...«
Sie stickt.
»Hör mal zu, Hilde ...«
Er kommt ganz dicht an sie heran.
Sie stickt dabei weiter, sieht nicht auf.
Sie rückt ein wenig auf dem Sofa. »Ja?«
Er macht noch einen Ansatz: »Bist du mir böse, Hilde?«
»Ich –? Wieso?«
Nein, nichts. Aber doch ist es nicht ihre Kühle, ihre Abweisung, die ihm die Lippen verschließen – das spürt er nun doch, daß nur beleidigter Stolz hinter dieser Abweisung steckt –, es ist etwas anderes.
Jene Nacht und der weiße Pappkarton mit der Druckschrift – die haben gespukt.
›Soll ich beichten und sie hat mir nichts zu sagen? Beleidigter Stolz, jawohl, aber auch ich habe ein Recht ...‹
Doch etwas später: ›Habe ich es denn nicht gewußt? Kind ohne Vater, hat es von der ersten Minute an geheißen. Natürlich ist sie im Recht, aber sie könnte doch ...‹
Nein, nichts, nichts wie Quackelei. Alles zerrinnt. Es geschieht nichts. Er wandert weiter auf und ab mit seiner Zigarette. Eine lange Zeit verrinnt und er fragt schließlich: »Sind die Kopfkissen eigentlich schon gesäumt, Hilde?«
»Noch nicht«, antwortet Hilde.
Nein, nichts geschieht – oder kann man das Geschehen nennen, daß er sich irgendeines Tages nach der Wollenweberstraße 37 auf den Weg macht, die drei Treppen hinaufklettert und nach Herrn Dietrich fragt –?
Jawohl, Herr Dietrich ist zu Haus, und Kufalt wird ohne jede Förmlichkeit in sein Zimmer gelassen.
Herr Dietrich liegt angekleidet, aber ohne Schlips und Kragen, auf einer Chaiselongue und schläft mit weit offenem Munde. Es ist gegen zwölf Uhr mittags.
»Herr Dietrich«, sagt Kufalt von der Tür her.
»Hallo, Kufalt«, sagt Dietrich hellwach und setzt sich mit einem Ruck auf. »Trinken Sie'n Kognak mit mir.«
»Ich wollte Ihnen nur die zwanzig Mark zurückbringen«, sagt Kufalt und legt den braunen Schein auf den Sofatisch.
»Aber das hätte doch keine solche Eile gehabt! – Quittung ist wohl unnötig –?« Herr Dietrich hat den Schein zu einem Röllchen gedreht und in seine Westentasche gesteckt. »Also, setzen Sie sich. Gott, Mensch, sehen Sie verfroren aus. Gehen Sie bei dem Wetter auch werben? Wo gehen Sie denn jetzt werben?«
»Im Norden«, sagt Kufalt. »So die Arbeiterstraßen von den Lederfabriken.«
Dietrich pfeift durch die Zähne. »Faul was? Oberfaul wie? Ich an Ihrer Stelle bliebe zu Haus und wartete auf die Inventur. Sie verrungenieren ja mehr Zeug, als der Kram einbringt.«
»Ach, so'n Gummimantel hält was ab.«
»Aber die Hosen!« ruft Dietrich. »Und die Schuhe! Doch jetzt müssen Sie erst mal Ihren Kognak haben. Oder wollen Sie lieber einen Grog? Es geht ganz schnell, meine Wirtin hat Gas.«
»Nein«, sagt Kufalt und tut, als wenn er sich schüttelte. »Von Grog habe ich erst mal genug. Ich mein' immer, ich rieche noch Ihre Grogs aus der Nacht.«
Und Kufalt kommt sich wie ein sehr kluger Diplomat vor.
»Also prost«, sagt Dietrich. »Daß unsere Kinder lange Hälse kriegen. Noch einen? Richtig! So wie Sie verfroren sind.«
»Sind Sie eigentlich damals gut nach Haus gekommen?« bohrt Kufalt beharrlich weiter.
»Wann – damals?«
»In der Silvesternacht doch, Herr Dietrich, aus dem Café Zentrum.«
»Ach, haben Sie davon gehört?« lacht Dietrich. »Ja, den Abend war ich hinüber.«
»Ich war auch da, Herr Dietrich«, sagt Kufalt mit sanftem Nachdruck. »Wir beide haben uns sogar unterhalten.«
»Sie waren auch da!« wundert sich Dietrich. »Kiek einer an! Ja, den Abend war ich völlig plemm.«
Kufalt überlegt fieberhaft. ›Ist das nun Frechheit von dem oder weiß er wirklich nichts? Er muß doch zum mindesten beim Aufwachen das Schild gefunden haben. Oder hat es die Minna abgemacht?‹
Und, als hätte er dem andern ein Stichwort gegeben, sagt der: »Ja, wenn Sie aber auch da waren, lieber Kufalt, dann finde ich es nicht nett, daß Sie mich da so hilflos haben sitzenlassen.«
»Wie haben sitzenlassen –?«
»So molum. Hätte mich mein Freund, der Fleischer Kutzbach, nicht gefunden, ich hätte ja wahrhaftig bei der Minna im Bett schlafen können!«
Zu schlau. Viel zu schlau. Kufalt gab es auf. »Na, ich muß wohl wieder los. Hab' noch niemanden auf meinem Block.«
»Aber trinken Sie doch noch einen! Wie sehen Sie denn aus?! So blaugefroren können Sie doch nicht zur Kundschaft, – Also, Sie wollen wirklich –? Na, dann schnell noch einen im Stehen. Prost!«
»Übrigens«, sagte er plötzlich ernst – zwei Finger verschwanden in der Westentasche und brachten das braune Röllchen zum Vorschein. »Übrigens – können Sie das wirklich entbehren?«
»Aber ja«, sagte Kufalt verwirrt »Ich habe doch ganz gut verdient.«
»Denn wenn nicht ...«, sagte Herr Dietrich. »Ich stehe Ihnen jedenfalls immer gerne zur Verfügung. Vergessen Sie nie, ich habe stets das tiefste Mitleid mit Ihrem schweren – aussichtslosen Schicksal.«
Plötzlich strahlte Herr Dietrich über das ganze Gesicht. »Also, es hat mich sehr gefreut Herr Kufalt. Wenn Ihnen mal wieder so ist – ich freue mich immer, wenn Sie zu mir kommen.«
Händedruck. Adieu.
Nein, nichts ist geklärt. Nichts ist geschehen. Es lauert wie eine dunkle Wolke, es kann losbrechen von allen Seiten: Hilde, Harder, Freese, Stark, Dietrich, Bruhn, Batzke ...?
Und dann bricht es von einer ganz anderen Seite her los.
An diesem verhängnisvollen Donnerstag, dreizehnten Januar, schlich gegen halb fünf Uhr nachmittags Kufalt besonders unlustig auf den ›Boten‹. Sieben Stunden war er unterwegs gewesen, und der Fang war jämmerlich: zwei Abonnenten. Oder eigentlich nur anderthalb, denn die Witwe Maschke, die seinem beharrlichen Reden nicht hatte widerstehen können, hatte nur sechzig Pfennig angezahlt, den Rest sollte er sich am Ersten holen, wenn es Renten gab.
Kufalt graute es vor der groben Stimme des Kraft: »Zwei, soso, jaja, nur zwei ... zwei!« Er ging in die Schenke von Lindemann und setzte das Scherflein der Witwe in Kognak um. Dann ließ er das Abonnementsgeld des Lederarbeiters Pachulke denselben Weg gehen.
So kam er kurz nach fünf etwas aufgeräumt in die Expedition, wo Kraft schon wartete.
»Nur zwei, Herr Kraft«, sagte er leichthin und wunderte sich, warum ihn die kleine Stenotypistin Utnehmer so entsetzt anstarrte. »Es wird immer schlechter.«
»Zwei ...«, sagte Kraft und setzte ihn in Erstaunen. »Zwei sind ja auch ganz schön, besser als nichts. – Gehen Sie mal rein zu Herrn Freese, er möchte Sie sprechen.«
Kufalt sah fragend von Kraft zur Utnehmer. Das Mädchen bewegte wie verneinend den Kopf.
»Warum schütteln Sie denn den Kopf?« fragte Kufalt erstaunt.
»Ich hab' doch nicht den Kopf geschüttelt«, log sie und lief rot an.
»Also machen Sie schon, Herr Freese wartet doch«, rief Kraft plötzlich sehr gereizt.
»Schönschön«, sagte Kufalt und ging gegen das Redaktionszimmer. Noch hatte ihn keine Ahnung des drohenden Unheils überkommen, schön warm und ermunternd hatte sich der Schnaps in ihm ausgebreitet, aber verwunderlich war es doch, wie sich die beiden heute benahmen.
»Warum sind Sie eigentlich heute so, Herr Kraft?«
»Ich bin gar nicht so – machen Sie doch bloß los, Mensch.«
Herr Freese war nicht allein. Neben ihm im Lehnstuhl saß ein Mann, der Kufalt auf den ersten Blick mißfiel. Es war ein dürrer, länglicher Mann mit einem lächerlichen Bauch, mit einem trockenen, vogelartigen Kopf, der ganz gelb war. Hinter einer Nickelbrille saßen scharfe, schwarze Augen.
Beide hatten ein Glas Kognak vor sich stehen.
»Herr Kufalt – Herr Brödchen«, machte Freese bekannt. Kufalt verbeugte sich, aber Brödchen nickte nur einmal, kurz und scharf. Er sah Kufalt unverwandt an, Kufalt sah ihn wieder an.
»Sie stellen sich wohl am liebsten an den Ofen«, sagte Freese gemütlich. »Sicher sind Sie wieder ganz durchgefroren. – Wieviel haben Sie denn ergattert?«
»Zwei«, antwortete Kufalt.
»Zwei«, seufzte Freese. »Fünf halbe Mark. Davon kann man eigentlich auch nicht leben, was?«
»Doch«, sagte Kufalt aufmerksam.
Der Dürre mit dem Bauch sagte gar nichts, er sah immer nur Kufalt an.
»Wo waren Sie denn heute eigentlich?« fragte Freese voller Interesse, aber Kufalt merkte wohl, daß dies Interesse erheuchelt war.
»Im Norden«, sagte er kurz.
»Im Norden, so?« fragte Freese. »Bei den Lederfabriken? Fabrikstraße? Weberstraße? Linsingenstraße? Töpferstraße? Talstraße?«
Der Lange hatte eine Bewegung gemacht, als wollte er abwehren, saß aber schon wieder still.
»Ja«, sagte Kufalt.
Unheil war in der Luft, so viel war klar. Aber so viel war auch klar, daß man, mochte dies Unheil heißen, wie es wollte, solch ungewöhnliches Verhör nicht ohne weiteres hinnehmen konnte, für den Fall eines Falles mußte man vorsorgen ...
»Wieso fragen Sie übrigens, Herr Freese?« erkundigte er sich und sah Herrn Freese an.
Der sah ihn mit seinen geröteten fischigen Augen wieder an. Die Zunge erschien im Mundwinkel, leckte die Lippen ab – ›jetzt denkt er: Trehne‹ –, die Zunge verschwand wieder.
Freese hatte nichts geantwortet, dafür ließ sich plötzlich, eilig und böse, die Stimme des Dürren vernehmen: »Heller Gummimantel – stimmt! Dunkle Hornbrille – stimmt! Käsiges Gesicht – stimmt! Grauer Filz stimmt nicht, aber sicher hat er doch einen grünen im Haus. Wir werden das nachsehen.«
›Kriminalerfresse! Hätte ich doch längst sehen müssen, ich Idiot!‹ denkt Kufalt erschauernd. ›Aber ich hab' den Gummimantel ja gar nicht am Lübecker Tor angehabt!‹
Er fühlt – und ärgert sich darüber wütend –, wie er rot wird und wieder blaß, plötzlich werden seine Knie weich, er muß sich fest an den Ofen lehnen.
Die beiden sehen ihn unverwandt an. Er versucht zu lächeln – es geht nicht. Er möchte etwas sagen – es wird nichts. Sein Mund ist plötzlich ganz trocken.
»Kriminalassistent Brödchen«, sagt der Dürre schließlich, als dies Schauspiel lange genug gedauert hat. »Mit Rücksicht auf meinen Freund Freese führe ich die Sache ohne Aufhebens.«
Er sieht sinnend das Kognakglas an.
»Sie haben also in der Töpferstraße geworben?«
Kufalt will antworten, Brödchen hebt die Hand.
»Ich mache Sie übrigens der Form halber darauf aufmerksam, daß alles, was Sie zu mir aussagen, gegen Sie verwandt werden kann. Sie brauchen nicht auszusagen.« Er unterbricht sich unzufrieden. »Aber, Sie kennen den Rummel ja schon. Sie sind vorbestraft?«
»Ja«, sagt Kufalt.
»Wieviel?«
»Fünf Jahre Gefängnis.«
Der nickt, sicher weiß er das längst.
»Wegen was?«
»Unterschlagung.«
»Verbüßt wo?«
»Hier am Ort.«
Der Dürre mit dem Bauch nickt wieder und sagt gemütlicher:
»Also, Sie kennen den Rummel, und ich denke, Sie machen keine unnötigen Scherereien. Wir haben Sie nun mal geklappt, Kufalt ...«
»Wieso?« fragt Kufalt aufgeregt. »Ich verstehe überhaupt nichts. Ich bestreite alles.«
Der Kriminal nickt, sieht Freese, dessen Augen vor Spannung und Vergnügen funkeln, bedeutungsvoll an und sagt zu ihm gottergeben: »Du siehst, er kennt den Rummel! Bestreitet von vornherein alles! – In der Töpferstraße haben Sie aber doch geworben? – Übrigens haben Sie das schon zugegeben.«
»Das gebe ich auch wieder zu«, sagt Kufalt ganz verblüfft. (›Was will er bloß mit seiner dämlichen Töpferstraße?!‹)
»So, das geben Sie also zu. Schön. – Und bei einer Frau Zwietusch, sind Sie auch gewesen?«
Kufalt überlegt. Die beiden lauern so. Das scheint eine wichtige Frage. Es muß also doch etwas mit der Töpferstraße sein, trotzdem er nicht die Bohne versteht, wieso.
»Das kann ich nun nicht so einfach sagen«, erklärt er vorsichtig. »Ich geh' jeden Tag in dreißig, vierzig Wohnungen. Da behält man nicht jeden Namen.«
»Sie bestreiten also, bei Frau Zwietusch gewesen zu sein?«
»Das habe ich nicht gesagt, Ich habe gesagt, ich wüßte es nicht. Ich müßte erst mal das Haus sehen. Und die Etagentür. Vielleicht auch die Frau.«
»Nummer 97«, sagt Herr Brödchen.
»Keine Ahnung, ich seh' nicht auf die Nummern.«
Eine Weile herrscht Schweigen.
»Was ist denn überhaupt mit der Frau Zwietusch los?« fragt Kufalt. Er hat das sehr gut rausgebracht, findet er.
Die antworten ihm aber nicht, sondern der Dürre fragt statt dessen: »Besitzen Sie einen grünen Filzhut?«
»Nein«, sagt Kufalt.
»Was besitzen Sie denn noch für einen Hut?«
»Einen steifen schwarzen und einen bläulichen Filzhut.«
»Bläulich und grün sind leicht zu verwechseln«, erklärt Herr Brödchen dem Herrn Freese. »Jedenfalls ist es am besten, ich geh' mit dem Kufalt erst mal auf seine Bude und revidier' den Kleiderschrank.«
»Vorläufig immer Herr Kufalt«, protestiert Kufalt.
»Geben Sie bloß nicht an, Mensch«, sagt der Kriminalassistent ohne Aufregung. »Also denn gehen wir, Freese. Schönen Dank.«
»Trink doch erst deinen Kognak aus, Brödchen«, sagte Freese. »Komm, Kufalt, trink auch einen. Auf den Schreck.«
Kufalt voran, Brödchen hinterher, gehen sie los. Das Fräulein Utnehmer macht erschrockene, teilnehmende Augen, Herr Kraft aber hat sich in sein Hauptbuch versenkt und antwortet nicht einmal, als Kufalt ziemlich vergnügt ›guten Abend‹ sagt.
Ja, er ist ziemlich vergnügt: wenn die Kriminaler diesmal nicht einen Bummel gemacht haben, frißt er einen Besen!
Vor der Tür vom ›Boten‹ bleibt Herr Brödchen überlegend stehen.
»Sie brauchen nicht neben mir zu gehen, Herr Kufalt«, sagt er schließlich. »Freese sagt, Sie haben sich verlobt. Ich gehe hinter Ihnen. Aber wenn Sie Geschichtchen machen –!«
»Knallt's!« bestätigt Kufalt. »Weiß schon. Ich mach' keine Geschichten. Wenn Sie mir nur sagen wollten, was los ist mit der Frau Zwietusch, Herr Kriminalassistent.«
»Also ab nach Ihrer Wohnung!« kommandiert er.
»Schön«, sagt Kufalt und marschiert los.
Auf der Treppe vereinigen sie sich wieder. Brödchen scheint schlechter Stimmung, daß Kufalt hierher ohne Wippchen marschiert ist.
»Fein wohnen Sie für zwei Mark fünfzig den Tag.«
»Ich hab' auch schon mehr verdient«, erklärt Kufalt. »Zweihundertvierzig Mark die Woche.«
»Davon hat mir Freese nichts gesagt«, bemerkt Brödchen unzufrieden.
»Dafür gibt's Zeugen, Herr Assistent. Nach so was müssen Sie Herrn Kraft fragen«, entgegnet Kufalt fröhlich. »Das steht alles in den dicken Büchern. Und Quittungen sind auch da.«
Er knipst das Licht im Zimmer an.
»Und nun ist das Geld wieder alle?« fragt der Kriminaler.
»Wieso denn?« wundert sich Kufalt. »Wer hat Ihnen denn den Quatsch erzählt?! Elfhundertdreiundsiebzig Mark habe ich auf der Sparkasse.«
»So«, sagt der andere und wird immer unzufriedener. »Darüber sprechen wir noch. Schließen Sie erst mal den Kleiderschrank auf.«
»Der ist offen, Herr Assistent«, sagt Kufalt höflich.
»Feine Klamotten haben Sie«, bemerkt der Assistent. »Alles vom Werbelohn bezahlt?«
»Die Sachen hat mir mein Schwager geschickt. Auch dafür gibt's Zeugen, Herr Sekretär.«
»So! – Setzen Sie mal diesen Hut auf«, sagt der Beamte triumphierend. »Der sieht entschieden grünlich aus. Das müssen Sie doch wenigstens zugeben, Herr Kufalt.«
»Bläulich-grau finde ich«, entscheidet Kufalt vor dem Spiegel.
»Ach was, grün ist der! Das hat doch gar keinen Zweck, alles zu leugnen. – Zeigen Sie mal Ihr Sparkassenbuch.«
Kufalt holt es aus dem verschlossenen Schreibtisch.
»Seit dem 2. Januar haben Sie nichts mehr eingezahlt? Wieviel Bargeld haben Sie noch hier?«
Kufalt sucht es zusammen, es sind sechsundvierzig Mark.
»Und wo sind die dreihundert Mark?« fragt der Beamte.
»Welche dreihundert Mark?«
»Die Sie der Zwietusch aus der Kommode genommen haben. – Tun Sie doch nicht so, Kufalt, es hat gar keinen Zweck. Ich mach' heut abend noch Haussuchung in Ihrer Bude, und wenn Sie's beiseite geschafft haben, finde ich es auch.«
Kufalt ist ganz fröhlich. Sein Herz hat einen erleichterten frohen Schlag getan.
»Also der Frau Zwietusch hat einer dreihundert Eier aus der Kommode geklaut? Na, Herr Assistent, dann ist es das einfachste, wir gehen gleich zu ihr. Und dann wird sie Ihnen bestätigen, daß ich es nicht war.«
Der Beamte sieht ihn aufmerksam an. »Warum freuen Sie sich denn so?« fragt er.
»Weil ich nun weiß, was es ist, und weil ich nun weiß, es wird sich gleich aufklären. – Gehen wir also los.«
Aber Herr Brödchen setzt sich. »Und warum haben Sie vorhin solche Angst gehabt am Ofen?«
Kufalt wird verwirrt. »Gar keine Angst habe ich gehabt«, bestreitet er.
»Natürlich hat er Angst gehabt«, sagt der Beamte wie zu sich. »Freese wird's bestätigen können. – Nein, nein, Kufalt, etwas haben Sie auf dem Kerbholz – wenn Sie es auch bei der Zwietusch nicht gewesen sein sollten ... was ich bezweifle ...«
»Ich hab keine Angst gehabt«, sagt Kufalt und hat sich wieder gefaßt. »Aber wenn einer vorbestraft ist wie ich, dann ist es ihm ungemütlich, wenn er mit 'nem Kriminaler redet. Man weiß ja nie, kann man seine Unschuld auch beweisen, unsereiner ist doch immer gleich im Verdacht ...«
»Nee, nee, Kufalt«, sagte der andere. »Mich reden Sie nicht dumm. Ich kenn' euch Brüder doch. Irgendwo stinkt's bei Ihnen.« Er versinkt wieder in Grübeln. »Na, gehen wir also erst einmal zur Zwietusch.«
»Ja, gehen wir«, sagt Kufalt trotzig. »Verdächtigen, das kann jeder ... Sehen Sie, Herr Assistent, wo ich so schön Geld verdient habe, und es liegt auf der Kasse und ich will zu Ostern heiraten – ich wär' doch saudumm, wenn ich wegen dreihundert Mark mir alles vermasseln wollte.«
»Mancher ist dumm und weiß es nicht«, sagt der Assistent melancholisch. »So klauen ist überhaupt dumm.«
»Ja, und darum tu' ich's auch nicht. Ich hab' mal unterschlagen; das wissen Sie doch selbst, Herr Assistent, daß Unterschlagung und Klauen was ganz Verschiedenes ist.« Er macht ein Geständnis: »Ich wär' viel zu feige, zum Klauen, Herr Assistent.«
»So, so«, sagt der. »Trinken Sie jeden Tag so viel Kognak?«
»Ich hab' doch nicht viel Kognak getrunken!«
»Jedenfalls mehr, als Ihnen gut ist, und auch mehr, als Ihnen Freese gegeben hat. – Haben Sie auch Kognak getrunken, als Sie in der Töpferstraße geworben haben?«
»Nein, ich trinke fast nie Kognak.«
»Aber heute haben Sie getrunken?«
»Ja ... ich war schlechter Laune, weil's Geschäft schlecht ging.«
»Wo?«
»Bei Lindemann.«
»Und wieviel?«
»Und dazu den von Freese. Macht fünf. Mit fünf Kognaks kann 'ne Hand schon mal ausrutschen.«
»Ich hab' aber nicht getrunken, wie ich in der Töpferstraße werben gegangen bin.«
»Das werden wir sehen.« Der Beamte gähnt. »Gehen wir also zu Frau Zwietusch.«
»Ich glaube, in dem Haus bin ich nicht gewesen«, sagt Kufalt und sieht an dem Mietskasten Töpferstraße 97 hoch, der im ungewissen Licht einer Gaslaterne daliegt.
»Glauben ist Religionssache«, antwortet Kriminalassistent Brödchen. »Warum sollten Sie grade in diesem Haus nicht gewesen sein, wo Sie die ganze Töpferstraße abgeklappert haben –?«
»I wo, ich geh' doch nicht in alle Häuser! Manche sehen mir von vornherein nicht so aus, da gehe ich erst gar nicht herein!«
»So!« sagt Herr Bröckben. »Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, aber man kann auch zu vorsichtig sein, Kufalt. – Kennen Sie das Treppenhaus?«
»Ist ein Arbeitertreppenhaus«, sagt Kufalt prüfend. »Direkt kennen, mich erinnern –? Die sehen sich doch alle ähnlich!«
Und er bückt sich, um die Schilder an den drei Etagentüren im Parterre zu lesen.
»Nee! Zweiten Stock doch!« ruft Brödchen ungeduldig, und Kufalt ersteigt gehorsam die erste Treppe, die zweite Treppe, Brödchen hinterher.
»Also kommen Sie wieder runter«, sagt Brödchen unzufrieden. »Wenn Sie es gewesen sind, sind Sie ein ganz ausgekochter Hund. Es ist natürlich im Parterre.«
»Ach Gott, Herr Assistent«, sagt Kufalt fröhlich, »seit ich weiß, worum es sich dreht, habe ich gar keine Bange mehr.«
Aber das war ein Fehler, denn der Kriminal sagt mit Bedeutung: »Seit Sie wissen, daß es sich nicht darum dreht! – Klopfen Sie an und gehen Sie zuerst rein ... Ich möchte mal sehen ...«
Also Kufalt klopft und eine fette Weiberstimme ruft ›Herein!‹. Es ist eine kleine Arbeiterwohnung, zuerst kommt man in die Küche, die Tür zur Stube dahinter steht offen. Kufalt sieht zwei Betten mit einer großen Waffeldecke.
Am Herd steht eine dicke, schwammige Frau, schmierig-dunkel gekleidet, mit einem weißen, vollen Gesicht mit hängenden Backen, dunklen, unruhigen Augen.
Kufalt sieht die Frau prüfend an, er ist ganz sicher, er hat sie nie gesehen. Dann nimmt er seinen (doch bläulich-grauen!) Filz ab und sagt höflich: »Guten Abend.«
»N' Abend«, sagt die Frau. »Was soll's denn sein?«
Kufalt antwortet ihr nicht.
»Na?« ruft er triumphierend zum Kriminalbeamten, der im Schatten geblieben war. »Hat sie mich erkannt oder hat sie mich nicht erkannt?«
Ihm nun wieder antwortet Herr Brödchen nicht. Er tritt aus dem Schatten: »N' Abend, Frau Zwietusch. Das ist also der junge Mann ...«
»Ich protestiere!« schreit Kufalt wütend. »Wenn Sie der Frau erzählen, ich bin das, so glaubt sie es auch. Ich bin es nicht, Frau Zwietusch, Sie haben mich überhaupt noch nicht gesehen, nicht wahr?«
»Halten Sie den Mund, Kufalt«, sagt Brödchen grob. »Sie haben hier gar nichts zu fragen! – Frau Zwietusch, das ist also der junge Mann, der hier in der Straße für den ›Boten‹ geworben hat. Ist er bei Ihnen gewesen?«
»Sehen Sie mich an!« beschwört Kufalt. »Sehen Sie mich bitte genau an.«
»Den Mund sollen Sie halten, Kufalt!«
Die Frau sieht hilflos von einem Mann zum andern.
»Ich weiß ja nicht ...«, sagt sie. »Man sieht sich die Leute doch nicht so an. – War er so groß?« fragt sie hilfesuchend den Beamten.
»Das frage ich Sie! – Heller Gummimantel, dunkle Hornbrille, fahles Gesicht – Sie sehen, das stimmt, Mutter Zwietusch.«
»Ja ...«, sagt sie zögernd.
»Hab' ich denn so 'nen Hut aufgehabt?« fragt Kufalt dringend. »Ich meine, hat der solchen Hut aufgehabt? Sie haben doch gesagt, er hat einen grünen Hut aufgehabt! Mein Hut ist doch nicht grün –?«
»Nee ...«, sagt sie mißtrauisch. »Grün ist der wohl nicht ...«
»Hat der Mann denn solchen Hut aufgehabt, solche Fasson, Mutter Zwietusch?« fragt auch der Beamte.
»Ich weiß doch nicht«, sagt sie. »Er hat ihn doch gleich abgenommen. Hab' ich grün gesagt?«
»Grün haben Sie gesagt.«
»Vielleicht hat er auch so ausgesehen?«
»Ja, Sie müssen es wissen, Frau Zwietusch«, sagt der Beamte streng. »Sie haben übrigens ausgesagt, er hat den Hut auch drüben, im Zimmer, aufbehalten, erst beim Schreiben hat er ihn neben sich auf den Tisch gelegt.«
»Hab' ich das? Dann wird es wohl stimmen. Dann wird es wohl der Hut sein, Herr Kommissar.«
»So!« sagt Herr Brödchen. Aber er ist sichtlich sehr unzufrieden. »Und ist das der junge Mann?«
»Erst hab' ich gedacht, er ist es nicht, der andere ist größer gewesen und hat auch 'ne rauhere Stimme gehabt. Aber jetzt glaube ich beinahe, er ist es doch gewesen.«
»So«, sagt Brödchen, immer unzufriedener.
»Hat er denn das Geld noch, Herr Kommissar?« fragt sie zutraulich und deutet mit dem Daumen auf Kufalt.
Der Kriminalassistent antwortet nicht.
Kufalt steht da. Nichts mehr von Fröhlichkeit, nur Furcht, grenzenlose Furcht. Dafür hat er sich abgestrampelt, dafür hat er sich gequält, daß ihn solch ein altes, dummes Weib grundlos reinsenkt. Brödchen braucht es nur ein bißchen leichtzunehmen: ›Hat ihn erkannt, also gut, ist er's auch gewesen, hab' ich die Sache geklärt‹ – und er sitzt drin. Denn nur noch fünf Minuten – und sie erkennt ihn bestimmt wieder. Ja, sie glaubt sogar felsenfest daran, beschwört es besten Glaubens vor jedem Richter der Welt! Und er hat gar keine Möglichkeit, sich zu wehren, er ist vorbestraft, jeder traut es ihm zu, sinnlos ist alles. Was soll werden? Was in aller Welt soll werden mit Hilde und Harder und Freese und Kraft? Und mit ihm? Und mit ihm!
»Frau Zwietusch!« beschwört er sie. »Sehen Sie mich doch genau an! Hat der solch dunkelblondes Haar gehabt? Hat er so den Scheitel getragen? Hat er hochdeutsch gesprochen wie ich? Oder hat er platt geschnackt? Überlegen Sie doch mal ...«
Brödchen sitzt auf einem Küchenstuhl und sieht musternd von Kufalt zur Frau, von der Frau zu Kufalt.
»Nee, nee, junger Herr«, sagt die alte Frau weinerlich. »Sie wollen mich bloß verwirrt machen. Der Herr Kommissar hat auch gesagt, Sie sollen den Mund halten. Und eine Schande ist es von Ihnen, einer alten Frau ihr ganzes Erspartes aus der Kommode zu klauen, und ganz scheinheilig haben Sie noch gesagt: ›Machen Sie nur erst am Herd, daß Ihr Essen nicht anbrennt, ich kann warten‹ ...«
Plötzlich erzittert Kufalt, eine Erinnerung kommt ihm, als hätte er wirklich irgendwo gesessen, hätte wirklich so was gesagt ...
Da erklärt Herr Brödchen streng: »Nee, Zwietuschen, so einfach ist das nun auch nicht. Jetzt dürfen Sie sich nun auch keine Geschichten einbilden! Viel spricht bisher nicht dafür, daß Sie ihn wiedererkannt haben.«
»Aber wo ich es doch sage, Herr Kommissar«, klagt sie. »Natürlich habe ich ihn erkannt. Der ist es gewesen!«
»Nie, nie bin ich bei Ihnen gewesen!« ruft Kufalt erbittert.
»Und so 'nen goldenen Ring hat er auch an der linken Hand getragen, genau hab' ich's gesehen, als er das Buch beim Schreiben festhielt!«
»Davon haben Sie aber bisher nichts angegeben, Frau Zwietusch!«
»Weil' s mir eben erst eingefallen ist, Herr Kommissar. Bestimmt hat er solchen Ring gehabt!«
In diesem Augenblick wird sie unterbrochen.
Ein großer, untersetzter Mann in gelblichweißer Maurerkleidung stürzt herein, eine blaue Emaillekanne wie ein Wurfgeschoß in der Hand schwingend. In das von Kalkspritzern befleckte Gesicht hängen lange, schwarze Haarsträhnen.
»Wo ist der Lump, der meiner Frau ihr Erspartes geklaut hat?« schreit er wütend. »Komm her, du Aas, ich schlage dir alle Knochen im Leibe zu Brei –!«
Und er springt auf Kufalt zu, faßt ihn an der Brust ...
»Sachte, Zwietusch ...«, sagt Brödchen. »Sachte ...«, sagt der Herr Brödchen und beeilt sich nicht sehr, dazwischen zu treten.
»Lassen Sie mich gefälligst los!« schreit auch Kufalt. »Nichts habe ich Ihnen geklaut!«
Und er versetzt dem Riesen einen Stoß.
In der offenen Tür drängen sich die Nachbarinnen.
Der Stoß ist nicht sehr kräftig gewesen, denn Kufalt ist nicht sehr kräftig. Aber doch verliert der große Mann sofort jeden Halt, er taumelt zurück, rutscht aus und setzt sich auf den Fußboden.
An der Küchentür wird bedauerndes Tuscheln hörbar.
In die schwarzen, eben noch wutfunkelnden Augen des Maurers tritt ein Ausdruck blöden Erstaunens, dann lacht er schallend auf.
»Betrunken! Schon wieder betrunken!« ruft Frau Zwietusch klagend. »Jeden Abend jetzt betrunken –!«
»Das ist der Kummer wegen dem Geld!« ruft eine spitze Frauenstimme von der Küchentür her.
»Totschlagen müßte man solche jungen Kerls!«
»Arbeitergroschen mit ihren Weibern veraasen –!«
Brödchen hat die Szene aufmerksam betrachtet. »Sie dürfen aufstehen, Zwietusch. Seit wann trinken Sie denn wieder?«
»Das geht keinen was an«, sagt der starke Mann mürrisch, mühsam mit Hilfe eines Küchenstuhls hochkommend. »Aber wenn ich dich Bürschchen mal wieder erwische –!«
»Dürfen Sie nicht wieder besoffen sein«, ergänzt Brödchen trocken. »Kommen Sie, Kufalt. Vielleicht sprechen wir morgen früh noch mal vor, Frau Zwietusch, daß Sie sich den Herrn bei Tageslicht ansehen. Guten Abend!«
Und durch das schimpfende Spalier der Weiber geht er ab mit seinem Beschuldigten.
Ein Weilchen gehen sie auf der Straße stillschweigend nebeneinander.
Dann sagt Kufalt: »Wenn Sie mich der morgen noch mal vorführen, Herr Kriminalassistent, bin ich hopps. Dann erkennt sie mich bestimmt wieder.«
Und, da der andere nicht antwortet: »Wo sie mich heute den ganzen Abend beglotzt hat.«
»So«, sagt Herr Brödchen nur.
Dann, nach einer Weile: »Sie haben schöne Begriffe von unserer Arbeit. Sie denken auch, Sie sind allein schlau.«
»Und was denken Sie?«
»Jetzt denk' ich, Sie sind gar nicht ausgekocht, jetzt denk' ich, Sie sind dumm. Und Dumme machen immer die meiste Arbeit.«
Pause. Sie gehen wieder schweigend nebeneinander.
»Wo gehen wir eigentlich hin?« fragt Kufalt.
Brödchen brummt nur.
»Sie lassen mich doch wieder laufen? Die Olle heute beweist doch gar nichts.«
Aber auch darauf antwortet Herr Brödchen nicht.
Sie gehen in das Zentrum der Stadt, über den Marktplatz, in das Rathaus, durch die Polizeiwache, in der auf Pritschen ein paar Stadtsoldaten liegen, eine halbdunkle Treppe hinauf – und Brödchen stößt die Tür zu einem schmalen, kleinen Büro auf. Hier sitzt hinter einer Schreibmaschine ein Polizist, ein Oberwachtmeister, Kufalt kennt die Abzeichen.
»Setzen Sie sich!« sagt Brödchen zu Kufalt. Und ungeduldig: »Also setzen Sie sich schon! – Wrede, dieser Herr darf nicht ...«
»Weiß Bescheid«, sagt der Oberwachtmeister Wrede gleichmütig und tippt weiter.
»Ich geh' mal 'nen Augenblick zum Chef rein«, erklärt Brödchen und verschwindet durch eine Polstertür im Nebenbüro.
Eine Weile sitzt Kufalt dösend da. Er möchte gerne auf die Stimmen im Büro nebenan lauschen, aber die Polstertür ist zu dick und die Maschine klappert zu sehr – so bleibt ihm nichts als das Dösen: ›Lassen sie dich raus? Natürlich lassen sie dich raus, ist ja gar kein Beweis da!‹
Es dauert lange Zeit, schließlich steht Kufalt auf und fängt an, hin und her zu gehen.
»Von der Tür weg! Setzen!« ruft der Mann an der Schreibmaschine scharf, und Kufalt setzt sich und döst weiter: ›Natürlich lassen sie dich raus. Da komm' ich grade noch recht zu Hilde.‹
Wieder vergeht eine endlose Zeit, dann tut sich die Polstertür auf und mit Herrn Brödchen erscheint ein großer, gewichtiger Mann in Polizeiuniform.
Kufalt springt auf und nimmt seine Habachtstellung ein, die er im Kittchen gelernt hat.
Aber der Polizeioffizier betrachtet ihn nur flüchtig.
»Also vorläufig in Polizeigewahrsam«, sagt er.
»Aber ...«, fängt Kufalt fast schreiend an.
»Abführen!« sagt der Offizier scharf und verschwindet durch die Polstertüre.
Der Oberwachtmeister ist von seiner Maschine aufgestanden und nimmt von einem Brett Schlüssel.
»Herr Assistent!« schreit Kufalt. »Sie wissen doch selbst, ich bin's nicht gewesen. Lassen Sie mich doch raus, ich lauf Ihnen bestimmt nicht weg. Sie wissen doch, ich muß heute noch ...« sehr leise »...zu meiner Braut. Machen Sie mir doch nicht alles kaputt!«
»Aber was sind denn das für Zicken, Kufalt«, sagt Brödchen. »Was macht Ihnen eine Nacht im Kittchen schon aus! Wenn Sie wirklich unschuldig sind, kommen Sie morgen wieder raus. Und für die Aufklärung ist es besser, Sie sind uns erst einmal aus dem Wege.«
Er verstummt, dann sagt er geschäftsmäßig: »Außerdem besteht Verdunkelungsgefahr und Fluchtverdacht – Abführen, Wrede!«
»Mitkommen!« sagt Wrede. »Na, ein bißchen dalli! Ich habe heute abend noch mehr zu tun.«
Sie gehen über einen dunklen Hof, eine Eisentür klirrt, der Wachtmeister knipst Licht an, ein Steinflur, die geliebten Gitterstäbe, eine Zellentür ...
»Geheizt ist nicht«, sagt Wrede zögernd. »Na, die eine Nacht geht es schon mal. Ich gebe Ihnen eine Decke mehr. Wollen Sie noch was essen? Einen Kanten Brot kann ich Ihnen geben. Suppe ist schon verteilt. Legen Sie alles aus den Taschen raus. So. In fünf Minuten hole ich Hosenträger und Schlips und mache das Licht aus. Ein bißchen dalli also!« – – – Es ist nicht ganz dunkel in der Zelle, dieser Eisgruft. Die Hoflampe wirft einen fahlen Schein gegen die Decke. Kufalt hockt, vor Kälte am ganzen Leibe zitternd, auf seinem Lager und starrt gegen die graue Wand.
›Was macht Ihnen eine Nacht im Kittchen aus! – Was macht Ihnen schon eine Nacht im Kittchen aus! – Was macht Ihnen eine Nacht im Kittchen schon aus!‹
Eine unsägliche Wut erfüllt ihn. Nein, es ist nicht nur die Kälte, die ihn so zittern macht.
›Wartet nur, wenn ich wieder raus bin, ihr sollt sehen –!‹
Und immer wieder: ›Was macht Ihnen eine Nacht im Kittchen schon aus!‹
Später hört er die Feuerwehr klingeln.
›Ja, das wäre schon das Richtige, Bruhn hat ganz recht: alles abbrennen ... totschlagen muß man euch alle, ihr Speckjäger! Was macht Ihnen eine Nacht im Kittchen schon aus ...‹
Die Feuerwehr, die Kufalt hatte klingeln hören, fuhr zur Holzwarenfabrik. Es brannte. Ja, nun brannte es – und einen langen, bitteren Weg hatte der kleine, seehundsköpfige, gutmütige Emil Bruhn gehen müssen, bis es zu diesem Brande kam, seinetwegen, aber nicht durch ihn. –
Allerdings hatte er sich geirrt, damals, als er erzählte, die Werkleitung hielte ihn wegen seiner Äußerung über leicht brennbare Holzwarenfabriken. Nein, so etwas und ähnliches hörte man dort nicht allzu selten, Hunde, die bellen, beißen nicht, und für den schlimmsten Fall war man ausreichend versichert.
Nein, man hielt ihn allein darum, weil er wirklich ein außergewöhnlich tüchtiger Arbeiter war, dazu noch ein Wühler, Roboter, wie er sich selbst genannt hatte. Einen Antreiber wie ihn – noch dazu einen so billigen – fand man in zehn Jahren nicht wieder!
Bedenklich wurde die Sache erst, als sein Saal wirklich anfing, schlecht abzuliefern, als man auf die von Bruhn organisierte Sabotage der Arbeit stieß.
Damals hatte Bruhn wirklich direkt vor einem Hinauswurf gestanden. Aber immer wieder hemmte der Gedanke an den wirklich unersetzbaren Arbeiter. Es mußte doch möglich sein, diesen Kerl klein zu kriegen!
Es war ein Buchhalter, ein galliger, gelber, älterer Lohnbuchhalter, der den Vorschlag machte, Bruhns Lebenslauf seinen Arbeitskollegen bekanntzugeben, ihn dadurch zu isolieren und auf die Werkleitung als seinen einzigen Schutz zu verweisen. Zur Ehre der Firma Steguweit muß gesagt werden, daß dieser Vorschlag abgelehnt wurde. Man kannte den Buchhalter, der, niedrig bezahlt, von einem grimmigen Haß gegen jeden gut verdienenden Arbeiter, dessen Lohn er auch noch errechnen mußte, erfüllt war. Man amüsierte sich über ihn und behielt ihn, weil man bei ihm vollkommen sicher war, es wurde kein Pfennig zuviel ausbezahlt. Aber so etwas wollte man nun doch nicht.
Statt dessen besann man sich auf einen gewissen polnischen Wanderarbeiter Kania, der an der Hobelmaschine ein nicht völlig ausgenutztes Dasein führte, Kania, gegen Vorgesetzte schmeichlerisch, devot, zu jedem Dienst und jeder unbezahlten Überstunde bereit, haßte niemanden so sehr wie seine eigenen Arbeitskollegen, die er als dumm, nicht strebsam und untüchtig verachtete. Immer bereit, sie zu denunzieren, ihnen Schaden zuzufügen, war er der geborene Vorarbeiter, der an nichts als an seine Fabrik und damit an sein Vorwärtskommen denkt, bis er dermaleinst sein Ideal einer Zweizimmerwohnung mit Radio und Plüsch erreicht hat.
Ihn dem Bruhn vor die Nase zu setzen und die beiden zu einem irren Wettstreit anzutreiben, würde im Interesse der Arbeit das Bekömmlichste sein.
Leider kamen beide Pläne zur Ausführung, und zwar der des galligen Lohnbuchhalters noch eher als der der Werkleitung. Dem Zahlenknecht hatte es keine Ruhe gelassen, daß sein ausgezeichneter Vorschlag abgelehnt worden war. Heimlich hetzte er die Arbeiter gegen Bruhn. Der aber ergab sich nicht. Ja, es glückte ihm sogar, eine kleine Gruppe in der Werkstatt zu bilden, die auf seiner Seite stand und der größeren Partei der Lästerer alles zuleide tat, was nur möglich war. Die Stunden, die früher dem emsigen Zusammenschlagen von Fallennestern gewidmet waren, galten jetzt nur dann dieser Beschäftigung, wenn gerade das Auge eines Werkmeisters auf der Belegschaft ruhte. Kaum kehrte der Mann den Rücken, begannen die Feindseligkeiten neu, die bis zum Aufbrechen von Kleiderschränken und zum Verwüsten ihres Inhaltes gingen, bis zum Beschädigen der Transmissionsleitungen, damit der Gegner von einem schlagenden Riemen erwischt und ins Getriebe gezogen wurde. Hämmer flogen unversehens durch die Luft, und das Schimpfwort »Raubmörder«, halblaut gesagt, genügte, um eine Schlacht zu entfesseln.
Dazu kamen ständige Petitionen der stärkeren Gruppe an die Werkleitung, den ›Raubmörder‹ sofort zu entlassen. Blessuren wurden gezeigt – er hatte sie hervorgerufen. Geld fehlte – er hatte es gestohlen. Anzüge waren von Säure zerfressen – er allein besaß eine Säureflasche.
Da erschien Kania in der Werkstatt. Kania war kein beliebiger Arbeiter, der bei den Fallennestern beschäftigt wurde, mit Kania hatte die Werkleitung etwas vor, das wußte der ganze Nestersaal sofort. Was – darüber gingen die Ansichten auseinander, aber daß es sich um Bruhn handelt, darüber waren sich alle klar.
Kania trat auf, und damit kam es vorerst einmal zu der von der Werkleitung lange ersehnten Beruhigung. Beide Parteien warteten ab. War Kania einfach ein Aufpasser, der alles, was gesagt und getan wurde, der Leitung melden würde? Oder war er mehr? Er war jedenfalls ein bescheidener Mensch. Er kam von der Hobelmaschine, er verstand nichts von Fallennestern, die Kunst, Nägel im Akkord in Bretter zu treiben, war ihm fremd. Er püttjerte so herum, schielte rechts, schielte links – »Der macht pro Tag ein Fallennest«, schrie einer und alle lachten. Kania lachte auch. Zur Mittagspause hatte Kania sein erstes Fallennest fertig. »Ausschuß, zurück!« sagte der Werkmeister, und Kania lächelte bescheiden.
Sofort war man sich einig, mit Kania war nichts los, und am nächsten Tage schon war er eine gewohnte Sache. Beim Regal für die Nägel gerieten Willi Blunck und Ernst Holtmann aneinander.
»Brauchst mir auch nicht auf die Zehen zu pedden!«
»Wer peddet auf die Zehen? Du oder ich?«
Und trat ihm auf die Zehen.
»Dreckiger Raubmörder!«
»Dreckiger Ehebrecher!« Denn Blunck war in einen Ehescheidungsprozeß verwickelt, von dem er gerne und nicht sauber erzählte.
»Hallo, Bruhn!«
»Hallo, Stachu!«
»Läßt du den Willi los, ich schmeiß mit dem Hammer!«
»Wenn du meinen Hammer an deine Birne haben willst –!«
»Dreckiger Raubmörder!«
Etwas wie ein tierisches Gebrüll ertönte. In das Knäuel Streitender, schon sich Schlagender, sprang Kania mit nackten Armen, nacktem Hals.
»Hach!! Wer hier Raubmörder?! Du! Du auch! Da hast du! Willst du noch! Da hast du auch! Gehst du, dreckiger Pollacke!« (Das galt Stachu und sprach für die Überparteilichkeit des kommenden Vorarbeiters.) »Wer will noch schlagen? Ich mich immer schlagen. Komm her du, wie heißt du?«
In drei Minuten hatte er das Knäuel von zwanzig Balgenden aufgelöst. Blutige Gesichter, zugeschwollene Augen gab es genug. Stachu hatte einen Riß wie von einem Schlagring über die ganze Backe, Bruhn war unverletzt weggekommen.
Kania schrie wie ein Berserker: »Wenn einer schlagen, immer zu mir kommen! Hach! Ich immer schlagen! Wenn einer Raubmörder, zu mir kommen, ich ihn raubmorden! Wie heißt du, wie du kommst, Brustkind, ich dich zerschlagen.«
Und ruhiger: »Mach, Bruhn. Was du arbeiten, mir zeigen. Was ich arbeiten – Scheiße! Du mir zeigen! Rrrichtje Arbeit, verstehen?!«
Das gab es einmal und nicht wieder. Es kam zu keiner neuen Massenschlägerei. Es brauchte nur eine kleine Reiberei, ein kurzer Wortwechsel zu sein, schon ertönte das fürchterliche ›Hach!‹ Kanias und sein Ruf erscholl: »Wie du heißen, Hundeblut? Zu mir kommen, ich dich schlagen!« und es war ruhig. Das Wort ›Raubmörder‹ verschwand aus dem Sprachschatz der Nestleute; die Sympathien zwischen Kania und Bruhn waren zu offensichtlich.
Kania war ein gelehriger Schüler Bruhns, und solange er das war, herrschte Friede. Vielleicht hatte Kania gehofft, Bruhn zu schlagen, wenn er erst einmal eingearbeitet war, und so glatt zum Vorarbeiter aufzurücken. Darin aber hatte er sich getäuscht. Hier entschied eben nicht nur Körperkraft, darin war Kania dem Bruhn sicher zwei-, dreimal überlegen, vor allem gehörten eine angeborene Geschicklichkeit, ein unfehlbares Auge, eine kluge Hand dazu.
Solange Bruhn den Kania anlernte, hatten sie ihre Arbeitsplätze nebeneinander gehabt, dann, als Kania merkte, es gab nichts mehr zu lernen, verlegte er seinen Arbeitsplatz ans andere Ende des Saales, er sagte, es sei ihm zu kalt am Fenster. Noch nannten sich die beiden weiter Josef und Emil und redeten miteinander während der Mittagspause, aber der Ton war kühler geworden. Bruhn spürte, daß ihn Kania nie aus den Augen ließ, er spürte, wie jedes Nest, das er zusammenschlug, ihm nachgezählt wurde, wie Kania mit Aufbietung aller Kraft arbeitete – und mit lächelnder Leichtigkeit schlug er Nagel um Nagel ein, half noch andern, und doch kam Kania nie auch nur in die Nähe seines Pensums. Saß Bruhn noch beim Essen oder stieß er noch schnell eine auf der Toilette, so stand Kania längst wieder verbissen arbeitend an seinem Tisch. Schließlich kam Bruhn, quatschte noch was, sah dem Kania womöglich noch zu, griff endlich zum Hammer, und keine halbe Stunde und Kania war eingeholt und hinten.
Nein, es gab nun nichts mehr von Schimpfworten und Schlägereien, aber eigentlich spürte jeder im Saal, daß etwas viel Schlimmeres im Gange war. Bruhn fühlte den Haß auch, aber er nahm ihn nicht wichtig. Er vertraute da auf Kania. Aber er hatte nicht begriffen, Haß Kania die Angriffe gegen ihn nur darum gestoppt hatte, um der Werkleitung seine Autorität und damit seine Eignung zum Vorarbeiter zu beweisen. Für Kania war es eine Lebensfrage, Bruhn zu schlagen, er verstand ganz gut die Taktik der Vorgesetzten, sie beide gegeneinander auszuspielen. Er war sich klar darüber, daß er sich selbst helfen mußte und das nicht auf den früheren Wegen.
An einem Mittag ging Bruhn, kaum hatte er seine Brote verdrückt, wie gewohnt auf die Toilette, um eine Zigarette zu rauchen. Er hatte sich eingeriegelt und war im schönsten Rauchen, da hörte er Wispern an der Tür. Dann erschollen dröhnende Hammerschläge, und es war zu spät, als er sich gegen die Tür warf: sie war vernagelt.
Zwei oder drei Stunden schrie er aus Leibeskräften, er hörte, holte er Atem, die Maschinen surren, die Treibriemen schlagen und das Süt-Süt der Sägemaschinen, ihn aber schien niemand zu hören. Schließlich verlor er die Geduld und warf sich mit seinem kurzen, stämmigen Körper gegen die Türfüllung, die er auch zerbrach.
Er kam in den Saal, niemand schien ihn zu beachten, er ging an seinen Arbeitsplatz. Natürlich war sein Handwerkszeug verschwunden, der Werkmeister nicht aufzufinden, und als er ihn nach einer Stunde Suchen im Kesselhaus aufgetrieben hatte und mit ihm in den Saal zurückkam, lag das Werkzeug schön ordentlich an seinem Platz. Unterdessen war aber die Meldung eingelaufen, die Toilettentür sei zerbrochen, Bruhns Beteuerungen wurden nicht beachtet: er hatte mit einem Wochenlohn die zerbrochene Füllung zu bezahlen.
Wenige Tage darauf hatte Bruhn etwas länger auf der Werkstatt gearbeitet als die andern, sie waren alle längst fort. Als er durch den ziemlich dunklen Gang zwischen Maschinenhaus und Pförtnerei ging, fiel plötzlich von oben aus einem dunklen Fenster ein Holzklotz mit aller Wucht, die ihm ein kräftig schleudernder Männerarm geben kann, auf seinen rechten Arm: er hätte einen schwächeren Knochen wie den Bruhns glatt zerbrochen. Drei oder vier Tage konnte er den Arm nicht bewegen, und auch als er wieder in die Fabrik kam, brauchte er noch zwei Wochen, ehe er seine alte Arbeitsleistung wieder erreichte.
In diesen zwei Wochen triumphierte Kania, fing wieder an, mit Bruhn zu reden, alles schien in Ordnung.
Aber dann begann es von frischem. Es war sicher längst nicht mehr nur einer, der ihm nachstellte. Es mußten viele sein, vielleicht alle. Es war eine Hetzjagd, der Instinkt dieser Leute, zu jagen, war erwacht, von allen Ecken hetzten sie ihn.
Nirgends war er mehr sicher. Ob zu Haus, ob in der Werkstatt, im Kino, auf der Straße – überall geschahen ihm Dinge. Seine Fensterscheiben zerbrachen, ein Passant, den er sicher nie vorher gesehen hatte, schlug ihm den Hut in die Gosse. Nadeln stachen ihn im Dunkeln, seine Hemden verschwanden, der Hammerkopf war immer lose, Glatteis lag auf den Stufen, kam er nachts zurück. Er konnte in kein Lokal mehr gehen, eine dumpfe Mauer von Feindschaft umstand ihn. Jetzt hätte er Kufalt gebraucht, aber den hatte er sich verscherzt. Er erwog den Gedanken zu fliehen, nach Hamburg, nach Berlin, wo man nichts von ihm wußte, wo er untertauchen konnte, aber da war die Chance beim Direktor, die er nicht preisgeben mochte, da war der Ehrgeiz, diesen Kerlen nicht zu weichen.
Aber er war immer verzweifelt. Er wußte längst nicht mehr, wie er dies ertragen konnte. Er ging zusammengefallen, gelb, durch den Tag, er schlief nachts nicht, ohne an seinem eigenen Geschrei schreckvoll zu erwachen. Die ganze Welt war sein Feind, und aufatmen konnte er nur, sicher war er nur die kargen Minuten, da er durch die Pforte der Gefangenenanstalt zum Besuch beim Direktor eingelassen worden war.
Dort wurde er vertröstet.
In der letzten Zeit hatte es damit angefangen, daß jeden Morgen, wenn Bruhn zur Arbeit kam, sein Werktisch mit Kot beschmutzt war. Er war richtig bestrichen damit, Bruhn hatte unter dem schreienden Protest der andern jeden Morgen eine halbe Stunde Wasser zu tragen, zu wischen, zu scheuern, ehe er mit der Arbeit anfangen konnte.
Bruhn mochte so früh kommen, wie er wollte: sein Werktisch war verdreckt.
Bruhn beschwerte sich bei der Leitung, man ließ ihm sagen, der Nachtwächter habe noch um halb sieben seinen Tisch sauber gefunden, er möge gefälligst pünktlich zur Arbeit kommen und im übrigen sich so führen, daß zu solchen Bubenstreichen gegen ihn keine Veranlassung bestehe.
Bruhn war es klar, hier bestand ein Komplott, und es war nur möglich, es aufzudecken, wenn er nachts in der Fabrik den Täter selbst erwischte.
Eines Nachts stieg er ein in die Fabrik.
Das Einsteigen war leicht. Die Fabrik stieß mit ihrer Hinterfront an eine kleine, nachts kaum belebte Gasse. Löschte man dort die einzige Gaslaterne, so konnte man in aller Ruhe über die nicht sehr hohe Mauer klettern und war auf dem Hof.
Bruhn löschte die Gaslaterne und stieg über. Die Hunde, die auf den Nachtwächter warteten – es war noch nicht neun Uhr –, schlugen einmal an und kamen dann winselnd zu ihm: sie kannten ihn gut aus den Nächten, da er regelmäßig übergestiegen war, um die Ablieferung zu verderben.
Er gab ihnen etwas Brot, warf einen Blick auf die vierstöckige Front der Fabrik, die sich über ihm dunkel, in den sternenlosen Nachthimmel tauchend, aufbaute. Er stutzte: im Lohnbüro brannte noch eine Lampe.
Einen Augenblick stand er und überlegte. Aber dann kam er darauf, daß man sicher vergessen hatte, das Licht auszumachen – wer sollte um diese Zeit noch auf dem Lohnbüro sein? Er holte die Nachschlüssel hervor, die er auch noch von damals besaß, schloß die Tür sachte auf, scheuchte die Hunde fort und schloß drinnen sofort wieder ab.
Wieder stand er einen Augenblick lauschend, dann zog er seine Schuhe aus, versteckte sie hinter einem Bretterstoß und ging langsam den Gang zu den Werkstätten. Es war ziemlich dunkel hier und Bruhn wagte nicht, Licht anzumachen, der Wächter kam immer um neun herum und konnte den Lichtschimmer immer an irgendeinem Fenster entdecken. Aber er tastete sich an der Wand entlang, bekam richtig die Stiegenstufen nach oben unter die Füße und stieg langsam und vorsichtig empor.
Die Treppenstufen knarrten, aber das bedeutete nichts, in der Fabrik war so viel Holz verbaut, das sich in den Winternächten, wenn die Heizung ausging, knackend zusammenzog: niemand konnte über Knarren und Knacken unruhig werden.
Bruhn stand an der Tür zum Fallennestersaal. Er holte den zweiten Schlüssel hervor, suchte mit dem Finger, fand das Schlüsselloch, stieß den Schlüssel ein und schloß. Die Zuhalte sprang zurück, Bruhn hörte sie knacken, er legte die Hand auf den Türgriff, er gab nach, aber die Tür ging nicht auf.
Er drückte noch einmal, und wieder ging die Tür nicht auf.
Einen Augenblick stand er überlegend da, dann fingen seine Hände an, die Tür abzutasten: es mußte etwas sein, was sie noch immer zuhielt.
Plötzlich hielt er inne. Ihm war der Gedanke gekommen, der andere, jener verfluchte andere hielte die Tür von innen zu. Er stand lautlos, er lauschte. Nichts, nur sein Herz ging langsam und wie träge, dazu das eilige, feine Ticken der Taschenuhr.
Die Welle von Angst war vorüber: wie konnte der zuhalten, da der Türgriff nachgab? Bruhn suchte von neuem. Er wurde im Dunkeln nicht schlau, da war etwas wie ein ganz kleines Loch über der Klinke, während das eigentliche Schlüsselloch unter der Klinke saß – was war das? Er mußte schnell einmal den Lichtschein seiner Taschenlampe darüber werfen.
Er tat es. Ja, es war wie er gefürchtet hatte. Man war wohl der ewigen Schmiereien, des widerlichen Gestankes müde geworden, man hatte ein zweites Schloß, ein Sicherheitsschloß über der Klinke angebracht. Er konnte nach Haus gehen, Kania kam nicht, Kania wußte das sicher, er erwischte ihn nicht, die Auseinandersetzung war wieder vertagt.
Eine grenzenlose, erbitterte Wut erfüllte ihn. Morgen würde es sicher wieder etwas Neues geben, eine andere Gemeinheit, von Kania erdacht, unter dem Beifall der ganzen Arbeiterschaft durchgeführt – und er hätte so schön heute mit dem Kerl abrechnen können! Hätten die nicht noch einen Tag mit ihrem dämlichen Yaleschloß warten können?
Er hielt inne. Wer sagte denn, daß das Schloß heute erst drangekommen war? Am Tage war es nicht zu sehen, da stand die Tür immer weit auf, damit die Karren mit dem Holz durchfahren konnten, das Schloß mochte schon länger daran sitzen. Und Kania kam doch herein, das war ja Schwindel, daß der Wächter um halb sieben seine Bank revidiert und sauber gefunden hatte! Kania hatte Helfer – vielleicht gab der Wärter ihm selbst den Schlüssel? Bruhn hatte vor Kanias Bude am frühen Morgen aufgepaßt, nein, Kania war so früh nicht in der Fabrik gewesen, um drei Viertel sieben erst kam er aus seiner Wohnung, es war gelogen, daß die Bank noch um halb sieben sauber gewesen war! Aber was half ihm das alles? Er konnte hier nicht stehen und auf Kania warten. Der Wärter fand ihn, Kania sah ihn schon von weitem, Bruhn konnte sich auf eine offene Prügelei mit ihnen nicht einlassen, er mußte Kania überfallen bei seinem Tun, er mußte sich verstecken!
Eine Weile stand er da und dachte nach.
Nein, es war zu ungewiß, auf welchem Wege Kania bis hierher kam. Bruhn konnte sich weder unten im Gang noch auf der Bühne des Maschinenraums verstecken. Kania hatte drei Möglichkeiten, bis hierher zu kommen, es wäre unsinnig gewesen, sich auf eine festzulegen, wahrscheinlich saß er dann die ganze Nacht umsonst. Bruhn mußte in den Saal kommen, wenn nicht durch die Tür, dann ...
Er stieß den Schlüssel ins Schloß und schloß die Tür wieder ab. Dem Wächter brauchte nichts aufzufallen.
Es gab natürlich die Möglichkeit vom Dach her, aber Bruhn war kein guter Kletterer; sein schwerer, kurzer Körper war während der Gefängniszeit steif geworden. Außerdem hätte man sich den Kletterweg erst einmal bei Tage ansehen müssen. Eine Wand von irgendeinem anstoßenden Raum durchzubrechen, jetzt in der Nacht ohne das nötige Handwerkszeug, und der Wächter wahrscheinlich schon im Haus – das ging auch nicht.
Bruhn wandte sich langsam zum Gehen. Es war nichts zu machen, er hatte nun eben immer Pech. Ach, wäre es schön gewesen, den Kania aus dem Hinterhalt anzufallen und ihn mal zu verwackeln, daß er drei Wochen krank lag und doch nie auf Bruhn mit den Fingern zeigen konnte! Aber Pech ist Pech.
Er stieg die ersten Treppenstufen hinunter.
Und blieb stehen.
Er sah einen Lichtschein ganz unten, das konnte der Wächter sein, aber er hörte auch sprechen. Diesen Rückweg gab es also nicht mehr.
›Ich kann‹, dachte er, ›durch die Leimküche in den Sägemehlraum, das Gebläse ist weit genug, ich rutsche durch in das Kesselhaus ...‹ Er ging schon zurück, da hörte er deutlich eine Stimme.
Er ging wieder an die Treppe, er lauschte.
Ja, es war die Stimme, er hörte sie laut rufen: »Komm, herr, Hunnndeblut verdammtes! Weiß ich, du bis obben, habbe ich dich über Mauer gehen gesehen!«
Bruhn hatte nichts bei sich, nur die beiden Schlüssel, sie waren schön groß und stark, er faßte sie und schleuderte sie durch den Treppenschacht nach dem Lichtschein.
Er hörte jemanden aufschreien, nein, es war nicht Kanias Stimme, es war auch nicht des Wächters Stimme, die rauh und tief war, es war eine helle, dünne, schreiende Stimme, die er kannte ... Es waren mehr da, eine Jagd ...
»Zeigen Sie doch, Herr Kesser ... Das ist nicht schlimm, ein Ratzer ...«
Ein Gesicht kam in den Lichtkreis der Laterne, ach, es war der Lohntütenmann, dem schadete es auch nichts, mit dem hatte er genug Krakeel gehabt!
»Nicht, nur ein Ratzer«, sagte der Wächter zu dem immer noch Klagenden. »Dann müssen Sie nicht mitkommen, denken Sie, das Aas läßt sich sooo fangen?!«
Plötzlich war das Treppenhaus hell, jemand, natürlich Kania, hatte die Lampen eingeschaltet, und grade noch sah Bruhn: er war schon in Gefahr: lautlos, mit langen Sätzen, auch in Strümpfen, sprang Kania die Treppe hinauf.
Bruhn lief, er lief aus dem Licht ins Dunkel, das machte alles schwerer, er kam in die Leimküche, es war sehr dunkel, die Luke würde schwer aufgehen.
Er hörte den andern an der Tür zum Fallensaal rütteln, an der er eben noch gestanden hatte – wo war der Ring an der Luke? Hier in der Ecke mußte es sein, seine Hände tasteten, dabei sah er gegen die Tür, die offengeblieben war, die sich, vom Lichtschein des Treppenhauses erhellt, deutlich in der schwarzen Wand abzeichnete.
Er hatte den Ring noch nicht gefunden, mit dem er die Luke anheben mußte, da sah er einen Schatten in der Tür. Der andere schnaufte, horchte, Bruhn hielt sich geduckt, seine Hand tastete, kriegte einen eisernen Leimtopf zu fassen, er richtete seinen Blick zur Decke ...
Richtig, das Licht ging an, Kania brüllte freudig: »Bist du da, komm, Emil, ich dich totschlagen, Verbrecher verdammtes!«, da klirrte es, es war wieder Dunkel, die Splitter fielen, Bruhn hatte die Glühbirne zerschmissen ...
Und leise war er weggeglitten, stand jetzt in der andern Ecke hinter dem Leimofen, sah auf den Gegner, der fluchend in der Türöffnung stand ...
Dann war es ganz still ... Er sah auf die Gestalt, die Gestalt stand reglos, lauschte wohl ...
Kania sagte: »Komm doch herr, Emil. Hast du Schiß? Brauchst nicht Schiß habben, ich dich gleich schlag tot, ich habb Tottschläger, geht schnell, tutt sich nich weh.«
Und er schwang wirklich einen Knüppel in der Hand.
Bruhn hatte lautlos auf dem Leimofen vor sich gesucht, hatte gefunden und mit einem Schwung warf er einen eisernen Leimtopf gegen die Gestalt.
Kania stieß einen fürchterlichen Fluch aus, halb Schmerzbrüllen, Bruhn hatte getroffen. Kania war fort, er hörte ihn auf dem Flur rufen: »Kommt doch her mit Taschenlampe, Schweine, soll ich kaputtgehen im Dunkeln?«
Die Stufen knarrten.
Es war die höchste Zeit. Er faßte den Ring zur Luke, stemmte sie hoch, unten war alles schwarz, er ließ sich fallen in die Schwärze, und mit einem Donnergetöse schlug die schwere eichene Luke wieder über ihm zu.
Er war weich gefallen, auf Sägemehl. Ungewiß wie weitab hörte er über sich rufen oder reden. Er mußte eilig weiter, er kroch über das Sägemehl. Die Tür zu versuchen, war unsinnig, sicher war sie verschlossen, er mußte die Gebläseöffnung finden.
Er glaubte sich zu erinnern, sie mußte in der andern Ecke sein, er fand sie, das Gebläse war sehr eng, aber vielleicht ging es. Er riß sich die Jacke vom Leib, die Hosen ab, streckte die Anne vor und stieg, mit den Beinen zuerst, ein. Dann fing er langsam an, sich zurückzuschieben, wobei er mit aller Gewalt sich durch den engen Blechschlauch pressen mußte.
Er war noch nicht weit ab vom Eingang, zwei oder drei Meter, da wurde der hell, die waren jetzt auch im Sägemehlraum. Er hörte sie aufgeregt reden, aber er verstand nichts, die Luft war so schlecht in dem engen Schlauch, es ging so mühsam zurück, sein Kopf schien zu dröhnen, es wurde ihm rot vor den Augen.
Sicher suchten sie ihn unter dem Sägemehl. Es würde eine Weile dauern, bis sie begriffen hatten, da war er nicht, und auf das Gebläse gerieten. Er schob sich zurück, beharrlich, Zentimeter um Zentimeter. Bis sie es gemerkt hatten, wo er steckte, mußte er bis zum Knick des Gebläses gekommen sein, das senkrecht in das Kesselhaus im Erdgeschoß abfiel, da würde er glatt durchrutschen, fallen und konnte weg, bis sie über die Treppen unten waren ...
Der runde Lichtkreis verdunkelte sich, etwas hatte sich davor geschoben, nun hörte er eine Stimme: »Gebt die Lampe, vielleicht ist er hier.«
Der Lichtschein blendete ihn unsäglich, eine triumphierende Stimme schrie: »Da ist er! Da ist er! Gib Pistole, daß ich ihm schießen kann, ins Gesicht, in dämliche Fresse! Gib Pistole, Wächter!«
Einen Augenblick war er wie gelähmt von unsinniger Angst, dann schob er sich mit einem Ruck zurück, daß die Muskeln und Knochen knackten, wieder, wieder ...
Der Eingang zum Gebläse war einen Augenblick frei, sicher stritten sie sich um die Pistole ...
›Die dürfen doch nicht so ohne weiteres schießen‹, dachte er. ›Ich leiste ja keinen Widerstand ...‹
Und schob sich zurück, schob sich zurück ...
Da war der Lichtschein wieder, er konnte nichts sehen, die Lampe blendete direkt in sein Gesicht: ›Kam denn der Knick noch immer nicht? O Gott, er knallt mir einfach ins Gesicht ...‹
Seine Beine hatten jeden Halt verloren, baumelten. Er gab sich noch einen fürchterlichen Stoß, rutschte, es war, als sei alle Luft weg, die Lunge riß in der Brust, er fiel, er fiel, er konnte nichts mehr denken, es war vorbei ... vorbei ...
Dann kam er wieder zu sich, in einem Haufen Sägemehl neben der großen Kreissäge. Er sah um sich, lauschte: still. Er stand taumelnd auf, ihn fror in der dünnen Unterkleidung, er zitterte. Er lauschte wieder, nichts. Vielleicht war er nur eine Sekunde ohnmächtig gewesen, aber nun mußten sie doch kommen? Nein, nichts.
Dann fiel ihm ein, daß sie ihn sicher im Kesselhaus suchten. Auch er hatte gedacht, er käme ins Kesselhaus, aber das war natürlich Unsinn, jetzt sah er es ein, die Luftsaugvorrichtung war sicher kein so weiter Schacht, er war glatt in den Maschinensaal gefallen. Dunkel war es, aber er tastete weiter, stieß gegen die Tür, natürlich war die Tür zu. Er Ochse, daß er die Schlüssel fortgeworfen hatte, vielleicht hätte einer gepaßt. Sicher kamen sie nun gleich, sicher schlugen sie ihn tot.
Was sollte er tun?
Er war ganz verwirrt, der Sturz in dem Schacht hatte seinen Kopf schlimmer mitgenommen, als er geglaubt, er konnte sich kaum bewegen.
Erst jetzt fielen ihm die Fenster ein. Er war ja hier im Parterre, drei Etagen war er hinabgestürzt, die Fenster gingen auf den Hof, er mußte oben nur durch die Lüftungsklappe steigen.
Mühsam humpelte er zum Fenster. Es war nicht zu begreifen, daß sie noch immer nicht kamen. Sie sollten ihn ruhig festnehmen, er war so müde. Bei Vater Philipp gab's schöne Betten, es war alles gleich, und die Hauptsache war, daß der Mensch auf seinem Arsch liegen konnte.
Dieser Satz gefiel ihm. ›Der Mensch muß auf seinem Arsch lang liegen‹, dachte er, ging aber weiter zum Fenster, zog die Lüftungsklappe auf und sah hoch. Es waren drei Meter bis dahin, unten waren die Fenster kleine Drahtglasscheiben in festen Eisenrahmen, oben mußte er durch.
Er war so müde, er müßte sich an einem Transmissionsriemen hochangeln, besser wäre es eigentlich, sie kämen.
Er faßte den Riemen und fing an, sich mit den Händen an ihm hochzuziehen. Seine Arme schmerzten unsinnig, es war, als hätte er in ihnen nicht mehr die geringste Kraft. Aber das schlimmste waren seine Beine, er wollte sich mit ihnen gegen die Wand stemmen, um seinen Armen das Gewicht des Körpers zu erleichtern, aber sie verweigerten den Dienst. Trotzdem kam er langsam, Hand um Hand, höher, er war schon nahe daran, den Rand der Lüftungsklappe zu fassen, als der Riemen auf seiner Scheibe zu rutschen anfing und Bruhn abstürzte.
Er schlug mit dem Körper gegen die Kante eines Sägetisches und verlor ein zweites Mal die Besinnung.
Als er die Augen wieder aufschlug, stand Kania vor ihm. Im Maschinensaal war es hell, Kania stand vor ihm, sah ihn mit seinen kleinen, schwarzen, funkelnden Augen an, wippte mit einem Gummiknüppel und sagte nichts.
Bruhn sagte auch nichts, er blieb liegen, er war eisesstarr und totenmüde. Seine blauen Lippen bewegten sich, es wurde aber nur etwas wie ein kümmerliches Lächeln daraus. Er fürchtete sich nicht mehr.
»Marrsch! Los, Schwein!« schrie Kania plötzlich und stieß Bruhn mit dem Fuß in die Seite.
Bruhn rollte träge, dem Druck nachgebend, etwas weiter und schloß wieder die Augen.
»Willst du auf, Verbrecher!« schrie Kania und riß Bruhn am Rockkragen.
Sobald er ihn losließ, fiel Bruhn wieder zusammen.
»Soll dich traggen, möchtste?« schrie Kania und schlug Bruhn den Gummiknüttel mit aller Wucht über den Kopf. Bruhn hob den Kopf etwas an, sein Körper straffte sich, als wollte er aufstehen, dann sank er mit einem kleinen leisen Seufzer in sich zusammen, seine Augen verdrehten sich, aus ihren Winkeln traf ein blauer Blick Kania ...
»Verstell dich, du Schwein!« schrie der und schlug noch einmal zu.
Bruhn lag da, die feste, breite, verarbeitete Hand hatte sich geöffnet, die fleißigen Finger hingen schlaff.
Kania sah verständnislos auf ihn. Dann überkam ihn eine Ahnung, sein Mund zuckte, er beugte sich zu dem Liegenden und rief leise, mit einem Blick zur offenen Tür: »Emil! Emil!«
Der antwortete nicht mehr.
Der Mörder sah scheu zur Tür, nein, sie kamen noch nicht, er konnte noch fort. Er sprang hin, lauschte auf den Gang, knipste das Licht aus – und machte es wieder an.
Er ging schnell in den Raum, er sah nicht nach der stillen Gestalt des Schläfers auf dem Fußboden, er lief zu den Hobelmaschinen, raffte Späne zusammen, Holzabfälle, warf sie an einen Bretterstoß, nahm Streichhölzer ... eine kleine blaue Flamme züngelte auf, er blies ...
Dann lief er schon. Er vergaß das Licht auszulöschen, warf die Tür ins Schloß, lief weiter, den Gang hinunter nach dem Hof, lief auf den Hof ...
Der Wächter kam mit dem Lohnbuchhalter aus dem Maschinenhaus.
»Na, hast du ihn gefunden?«
»Nichts«, sagte Kania.
»Er muß durch irgendein Fenster sein. Oder er ist bei den Brettern versteckt?«
»Wir müssen ihn kriegen!«
»Schwein, verfluchtes!« sagte Kania mühsam.
Er stand mit dem Rücken zum Maschinensaal, er beobachtete die Gesichter der beiden.
»Ich geh' noch mal mit den Hunden die ganze Fabrik durch«, sagte der Wächter.
»O Gott!« schrie der Lohnbuchhalter plötzlich. »Da!!!«
Hinter den Scheiben des Maschinensaales erhob sich eine ungeheure Flamme, stieg höher, höher, sie hörten es prasseln ...
»Hat err angesteckt!« schrie Kania. »Seht, Lüftungsklappe ist auf!«
»Hat er doch getan, was er gedroht hat«, sagte der Lohnbuchhalter.
»Was quasselt ihr«, schrie der Wärter. »Lauft zum Feuermelder. – Telephonieren Sie nach der Polizei – Mensch, Kania, lauf ins Kesselhaus, mach die Klappe zum Elevator zu, das Feuer schlägt sonst durch das ganze Haus!«
»Zu spät!« sagte der Kania. »Da sieh!«
Im dritten Stock war es plötzlich taghell, sie hörten ein Brüllen, ein Fauchen, hinter der Hofmauer wurden schreiende Stimmen laut ...
»Kapott! Alles kapott!« sagte Kania. »Is sich Fabrik hin. Kann ich wieder stempeln gehen, Schwein verdammtes!«
»Heißen –?!«
»Kufalt.«
»Vorname auch!«
»Willi Kufalt.«
»Wilhelm! Mitkommen!«
Es ist der alte Ton, so klingt die alte Melodei.
Kufalt geht vor dem Wachtmeister her, in einer Zelle lärmt ein Stromer und bettelt um Schnaps: »Eenen lütten Köm! Blot en Lütten!!«
Dann klirrt die Eisenpforte, sie gehen über den Hof, im Rathaus laufen viele Menschen, alle sehen Kufalt neugierig oder betreten an.
Es ist beinahe Mittag des nächsten Tages, aber Kufalt, der ja den Rummel kennt, ist erstaunt, daß er schon wieder zur Vernehmung kommt. Oder wird daraus doch noch eine zweite Gegenüberstellung?
Er ist jetzt ruhig, von einer bösen, gehässigen Ruhe: ›Die können machen mit mir, was sie wollen. Nachzuweisen ist mir nichts, sie müssen mich laufenlassen. Und dann –! Und dann –!‹
Herr Brödchen sitzt im Zimmer bei seinem Chef, dem großen, kräftigen Polizeioffizier, der sich hinter seinem Schreibtisch aufgebaut hat und irgendwelche Akte liest. Er tut so, als hörte er gar nicht hin nach der Vernehmung, die sein Untergebener mit Kufalt anstellt, aber Kufalt kapiert, nachdem er einen Seitenblick aufgefangen hat, daß der eben nur so tut.
»Setzen Sie sich, Herr Kufalt«, sagt Brödchen merkwürdig friedlich.
Kufalt sagt guten Tag und setzt sich.
Brödchen legt den Kopf auf eine Seite und schaut Kufalt prüfend an. »Haben Sie sich die Sache nun überlegt, Herr Kufalt?« fragt er.
»Ich hab' nichts zu überlegen«, sagt Kufalt. »Sie haben mich widerrechtlich eingesperrt: die Frau hat mich nicht gekannt.«
»Wohl hat die Frau Zwietusch Sie gekannt«, widerspricht der andere. »Nur das künstliche Licht hat sie verwirrt.«
»Ich bin nie in der Wohnung gewesen«, sagt Kufalt.
»Sie sind doch in der Wohnung gewesen!«
»Das muß einem erst bewiesen werden!«
»Frau Zwietusch wird es beschwören.«
»Die –? ›Habe ich grün gesagt, Herr Kommissar, war er nicht größer?‹ Sie haben ja selbst nicht daran geglaubt.«
»Warum lügen Sie eigentlich so nutzlos, Herr Kufalt? Sie waren ja in der Wohnung.«
»Ich war nicht in der Wohnung!«
»Und was ist dies?«
Kufalt sieht und erstarrt. Sieht und erstarrt.
Das ist eine Abonnementsquittung des ›Boten‹ für Frau Emma Zwietusch, Töpferstraße 97, auf den Monat Januar, ›eine Mark und 25 Pfg. erhalten – Kufalt‹.
Sieht und erstarrt.
Und sogleich kommt eine Erinnerung in ihm hoch aus dem Zimmer, eine Erinnerung von gestern abend, als die dicke Frau weinerlich zu ihm sagte: »Und Sie haben mir noch zugeredet, ich sollte mich um mein Essen kümmern, Sie könnten warten ...«
So oder ähnlich ...
Damals regte es sich in ihm, er war auf der Spur, dann kam der Maurer dazwischen und er vergaß es wieder ... Also doch dagewesen, verschwitzt unter den Hunderten von Gesichtern der letzten Wochen ...
Sein Kopf senkt sich auf die Brust er sieht keinen an. ›Erschossen wie Robert Blum‹, denkt er.
Die lassen ihm Zeit.
Erst nach einer langen Weile fragt Herr Brödchen ganz friedfertig: »Nun, Herr Kufalt –?«
Kufalt reißt sich zusammen. Also schön, er ist reingeschliddert. Er wird nicht so schnell rauskommen, wie er gedacht hat. Er muß sich damit abfinden. Vorbestrafte kommen eben leicht wieder rein, so oder so.
Wird er also gestehen, wird er ein pikfeines Geständnis machen.
Wenn er das jetzt vor der Polizei schon macht, kommt er vielleicht billiger weg. Was kann die Geschichte kosten –? Es ist einfacher Diebstahl, aber er ist vorbestraft – ein Jahr? Anderthalb Jahre? Wie schön, daß er keine Bewährungsfrist nachzubrummen hat, es ist doch immer ein Trost da ...
Es schwirrt nur so durch seinen Kopf, da kann man schon mal die beiden von der Polente vergessen. Dann fühlt er wieder ihre Blicke und hört Brödchen schon ungeduldiger fragen: »Also bitte, Herr Kufalt?!«
(›Warum sagt er eigentlich noch immer Herr zu mir?!‹)
»Na schön.« Kufalt gibt sich einen Ruck. »Ja, ich bin in der Wohnung gewesen.«
»Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?«
»Hab' gedacht, ich käme so durch.«
»Sie haben gedacht, wir ließen Sie laufen und Sie könnten türmen?«
»Auch.«
»Was noch?«
»Hab' gedacht, ich könnte die Olle verwirren.«
»So – und Sie haben also die dreihundert Mark genommen?«
»Ja. Selbstredend.«
»Sie haben sie genommen?!! Gestohlen –?«
»Natürlich.«
Zu seiner Verwunderung merkt Kufalt, daß Brödchen keineswegs mit ihm zufrieden ist. Nein, Herr Brödchen starrt ihn nachdenklich an und kaut mit den Zähnen an der Unterlippe herum.
Auch der Polizeioffizier hat mit Blättern aufgehört und sieht sich seinen geständigen Verbrecher an.
»Hab's geklaut«, hat Kufalt das Bedürfnis, seine Aussage zu ergänzen. »Ich brauchte Geld, wollte heiraten.«
»Sie haben doch aber sehr viel Geld verdient?«
»Das war eben nicht genug.«
Es wird still.
Nun sehen sich Chef und Untergebener an. Kufalt wieder betrachtet die beiden. Etwas ist nicht im Lote, soviel ist klar. Nun neigt der Polizeichef seinen Kopf zum Kriminalassistenten und flüstert dem was zu. Brödchen sieht Kufalt wieder nachdenklich an und nickt langsam mit dem Kopf.
»Herr Kufalt«, sagt er. »Sie wissen also bestimmt, Sie haben das Geld gestohlen?«
»Aber natürlich!«
»Und was haben Sie sonst noch ausgefressen –?!!«
Die Frage fährt auf Kufalt zu, messerscharf. Sein Herz krampft sich für einen Augenblick zusammen, dann sagt er mit einem dummen Lächeln: »Aber gar nichts, Herr Sekretär, das war mein erster Versuch.«
»Doch! Leugnen Sie nicht! Wir haben uns erkundigt. Sie – haben –«
Brödchen neigt sich vor und starrt Kufalt durchdringend an.
Vieles jagt durch Kufalts Hirn: ›Haben sie Batzke gekitscht? – Erkundigt, seit wann sagt denn Polente erkundigt –? Bluff ist es, Maske muß man haben, ich starr' wieder, Ochsenkopf – Ossenkopp met Hürn, mecklenburgisches Wappen ...‹
Wirklich, er starrt wacker wieder zurück.
Und richtig: Herr Brödchen kann seinen so tüchtig mit ›Sie – haben‹ begonnenen Satz nicht beenden.
»Wenn Sie auf längere Polizeihaft Wert legen, Kufalt«, sagt er statt dessen.
»Was machen mir schon ein paar Nächte im Kittchen aus?« fragt Kufalt böse zurück.
Herr Brödchen geht darüber hin, kapiert sichtlich nichts von Kufalts Wut.
»Aus welcher Schublade haben Sie denn das Geld genommen?«
»Aus der Kommodenschublade!«
»Aus der ersten, zweiten oder dritten?«
»Aus der obersten – nein, ich weiß es nicht mehr genau, ich war ziemlich aufgeregt.«
»Wo lag es denn da?«
»Ich glaube, unter Wäsche.«
»Wie sind Sie denn darauf gekommen? Hat Ihnen jemand erzählt, daß da Geld drin lag?«
»I wo. Hab's eben mal versucht, weil sie so lange am Herd blieb.«
»So. So.« Herr Brödchen reibt nachdenklich seine schlecht rasierten Backen. »So. So. Und das Protokoll können wir dementsprechend aufsetzen?«
»Und Sie unterschreiben?«
»Ja.«
»Und gehen dafür ins Kittchen?«
»Ja.«
»Ich taxiere so ein bis zwei Jahre.«
»Habe ich auch gedacht, Herr Assistent«, sagte Kufalt frech und schaut Brödchen gemacht demütig an. Er ist sich klargeworden, die bluffen nur, das Protokoll wird nie geschrieben.
»Schmeißen Sie den Kerl raus, Brödchen!« sagt der Offizier plötzlich. »Ich kann ihn nicht mehr riechen, das verlogene Aas.«
»Jawohl, Herr Major.«
Brödchen steht stramm, auch Kufalt ist aufgefahren bei dem Ausbruch.
Brödchen sagt halblaut: »Und die andere Sache?«
»Rausschmeißen! Rausschmeißen! Sie sehen doch! So was henkt sich immer von alleine, warum sollen wir uns damit quälen?! Du kommst uns schon, Bürschchen!« schreit der Offizier Kufalt direkt ins Gesicht und schüttelt die Faust gegen ihn.
»Guten Tag«, sagt Kufalt höflich, als er von Brödchen geführt aus dem Büro geht.
»Was ist denn bloß los, Herr Assistent?« fragt er draußen. »Warum ist denn der so wütend? Habe ich das Geld nicht geklaut?«
»Hauen Sie bloß ab, Mensch. Lassen Sie sich drüben Ihre Sachen geben und verduften Sie. Ich klingele gleich rüber.«
»Aber habe ich Ihnen was vermasselt? Ich versteh' nichts, sagen Sie mir bloß ...«
»Komm du mir einmal richtig in die Finger, Jungchen, dann sollt du was erleben –!«
Kufalt sieht in das gelbe, wutzitternde Gesicht.
›Habe ich fein auf Touren gebracht‹, denkt er.
»Was macht mir schon eine Nacht im Kittchen aus, Herr Assistent«, sagt er, und diesmal kapiert Herr Brödchen.
»Hören Sie mal!« ruft er.
Aber Kufalt ist schon auf dem Wege zu Vater Philipp, sich seine Sachen geben zu lassen.
Zwei Stunden später sitzt Kufalt im Zuge nach Hamburg.
Es ist wie am Entlassungstage im Mai: er muß wieder von vorne anfangen, alles ist ungewiß.
Es ist nicht ganz wie im Mai: er weiß, so wie damals fängt er nicht wieder an.
Diesmal geht es auf die andere Tour. Er hat keine Lust mehr, sich Mühe zu geben, es geht doch schief. Lebeschön, denkt er.
»Sehen Sie mal«, hat Herr Kraft gesagt, »das hatten wir ja nun auch schon von Brödchen gehört, daß Sie das Geld nicht genommen haben, aber trotzdem ...«
»Wissen Sie eigentlich, wer es genommen hat?« hat Kufalt neugierig gefragt.
»Das weiß Er noch nicht einmal! Der Maurer Zwietusch doch selbst! Ja, da staunt Er!«
»Und der wollte mir alle Knochen zu Brei schlagen«, wundert sich Kufalt wirklich. »Wieso hat er's denn genommen?«
»Weil er ein oller Süffel ist. Anderthalb Jahre ging's, da war er bei den Guttemplern, aber jetzt ist er wieder auf Touren. Jetzt holt er alles auf einmal nach.«
»So ein Aas!« sagt Kufalt mit Nachdruck. »Und ich hätte Knast schieben dürfen für den! Hat das Brödchen rausgekriegt?«
»Nee, nee. Der Gastwirt, bei dem Zwietusch das Geld deponiert hat, damit er immer saufen kann und die Alte findet es nicht bei ihm – der Gastwirt hat sich von selbst gemeldet, als er von Ihrer Geschichte gehört hat.«
»Dann ist die also rum im Städtchen, meine Geschichte?« fragt Kufalt.
»Ja!« sagt Herr Kraft mit Nachdruck. Und setzt hastig dazu: »Und sehen Sie, Kufalt, darum können wir Sie auch nicht weiter beschäftigen. Solange es nicht bekannt war, Sie verstehen –? Aber jetzt, wo es rum ist, Sie verstehen! So in die Wohnungen, uns macht man womöglich haftbar!«
Kufalt sieht ihn einen Augenblick stumm an. »Bisher ist nichts weggekommen!« sagt er.
»Nein, nein, neinnein, das sage ich auch nicht. Aber es kann doch viel behauptet werden, es ist doch auch für Sie unangenehm.«
»Ich hab' gut geworben.«
»Haben Sie! Darüber kein Streit, haben Sie! Unser bester Werber! Aber wie die Verhältnisse nun einmal liegen ... wir wollen Ihnen auch gerne einen Abstand zahlen, dreißig Mark, nein, fünfzig Mark, nicht wahr, Herr Freese –? Trotzdem Sie ja ein schönes Geld bei uns verdient haben. Aber Sie verstehen ...«
Es konnte gar nicht eilig genug gehen, daß er Abschied nahm.
»Mein Zimmer hier müssen Sie mir aber auch noch bezahlen«, sagt Kufalt mürrisch. »Ich bleibe nicht hier, ich fahr' wieder nach Hamburg.«
»Aber ...«, fängt Herr Kraft an.
»Mach schon, Mensch«, sagt Freese. »Gib ihm. Und, Kufalt, zu Harders würde ich nicht gehen, mich verabschieden ...«
Kufalt sieht ihn mit großen Augen an.
»Brödchen ist auch bei Harders gewesen.«
Aus. Ab dafür. Ende. Auch gut.
»Nehmen Sie sich unsere neue Ausgabe mit«, eilt Freese ihm nach. »Gerade fertig. Riesenschadenfeuer; auch von einem Ihrer ...« Bricht ab. Sagt dann: »Also, alles Gute, Kufalt.«
»Trehne ist nicht«, sagt Kufalt und versucht zu lachen.
»Ach, die Trehne, die Trehne«, sagt Freese. »Die fließt Ihnen nicht weg, die bleibt Ihnen immer noch. Und in Hamburg haben Sie übrigens auch die Fleete ...«
»Neenee«, sagt Kufalt. »In Hamburg steigt nun ein anderer Laden, vielleicht hören Sie mal von mir ...«
Und lachend geht er los, hebt auf der Sparkasse sein Guthaben ab, soweit es ohne Kündigung geht, packt die Sachen, die knurrende, aber angstvolle Wirtin streicht immer im Gelände herum – ›Daß man so was frei herumlaufen läßt!‹ – und endlich in den Zug!
Adieu.
Hilde, Harder, Bruhn, Bunker, ›Bote‹ – Adieu!
Nun kommt ein anderer Film.
Und er entfaltet die neueste Ausgabe des ›Boten‹.
›Dreckblatt‹, murmelt er.
Ja, aber nun findet er etwas, über anderthalb Seiten lang, in dem Dreckblatt, das ihn die Bahnfahrt vergessen macht.
Die Holzwarenfabrik ist abgebrannt!
»Von dem Brandstifter, dem mit elf Jahren Gefängnis vorbestraften ungelernten Arbeiter Emil Bruhn, hat man trotz eifrigster Fahndung der gesamten städtischen Polizei und der Landjägerei noch keine Spur. Man nimmt an, daß er sich noch in der Nacht nach Hamburg gewandt hat. Vermutlich ist ihm auch der Diebstahl eines während des Brandes vor der Wirtschaft von Kühn gestohlenen Herrenrades zuzuschreiben, mit dem er sich ...«
›Nun, oller Emil, wenn ich dich in Hamburg treffen sollte, ich mach' nicht Kippe oder Lampen, ich verpfeif dich nicht!‹