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Erstens hatte Petrow viel zu doll auf den Mantel gespuckt, Kufalt hatte das Gefühl, alle Leute lachten. So hing er den Mantel über den Arm, die Placken verwischten sich nun zwar, aber das galt nicht: er kam doch nicht wieder rein!
Zweitens hatte er vom Zug auf die Stadt zurückgeschaut, da sah er plötzlich zwischen den Häusern noch einmal die grauen, steilen Zementwände mit ihren vielen Gitterlöchern – auch das galt nicht, denn jetzt fuhr er dem Bunker fort: er kam doch nicht wieder rein!
Wenn er es aber recht überdachte, jetzt im Zug, so hatte er doch schon verschiedenes ganz verkehrt gemacht. Einmal hatte er sich eine Autodroschke genommen zum Bahnhof, weil ihn die Leute so ansahen, er konnte es nicht vertragen, daß sie ihn so ansahen. Und dann hatte er auf dem Bahnhof zu Mittag gegessen, wo er doch im Kittchen sein Rumfutsch hatte stehenlassen. Und dann zehn Zigaretten zu sechs, die Sorte vom Direktor. Und dann eine Zeitung. Und dann, was das schlimmste war, zum Mittagessen auch noch ein Glas Bier, trotzdem er dem Alkohol abgeschworen hatte. Fünf Mark neunzig völlig überflüssig ausgegeben, die Arbeitsbelohnung für dreiundsechzig Pensums. Dreiundsechzig Tage hatte er dafür stehen müssen und stricken, und im Anfang hatte er zwölf, dreizehn Stunden für ein Pensum gebraucht. In zwei Stunden weg, die Arbeit von dreiundsechzig Tagen, es fing ganz niedlich wieder an!
Eigentlich hatte er sie sich etwas anders gedacht, die Fahrt in die Freiheit. Da ging es nun durch das sommerliche Land, gewiß, es war ganz angenehm anzusehen, aber hatte er Zeit dafür? Er mußte sich Sorgen machen, ebenso Sorgen wie in der Zelle. Und wie es mit dem Heim wurde ...?
»Kann einer von den Herren mir wohl sagen, wo ich in Hamburg aussteigen muß, wenn ich zur Apfelstraße will?«
Stille – schon fürchtete Kufalt, keiner wird antworten, schon wird ihm zweifelhaft, ob er wirklich laut gefragt hat, da läßt der Herr in der Ecke die Zeitung sinken und sagt: »Apfelstraße? Da müssen Sie beim Hauptbahnhof umsteigen. Sie fahren dann noch bis Berliner Tor weiter.«
»Erlauben Sie mal«, widerspricht der Herr neben Kufalt, »das stimmt doch nicht. Da ist doch keine Apfelstraße. Wo soll die denn da sein?«
»Natürlich ist sie da. Das ist die bei der Badeanstalt ...«
»Der Herr hat Ihnen nicht richtig Bescheid gesagt«, bemerkt Kufalts Nachbar, »Holstenstraße müssen Sie aussteigen. Die Apfelstraße ist da gleich ...«
Ein kleiner Dicker entscheidet: » Der Herr hat recht. Und der Herr hat auch recht. Es gibt nämlich eine Apfelstraße in Altona und eine in Hamburg. Zu welcher wollen Sie denn?«
»Mir ist gesagt worden, Hamburg.«
»Dann müssen Sie also bis Berliner Tor fahren, Hauptbahnhof umsteigen.«
Stille herrscht.
Plötzlich fängt Kufalts Nachbar neu an: »Wo wollen Sie denn da hin in der Apfelstraße? Man sagt das so hin, Hamburg, und nachher ist doch Altona gemeint.«
»Bitte, der Herr hat gesagt, Hamburg, also muß er auch Berliner Tor raus.«
»Ist Ihnen denn ausdrücklich gesagt worden: Hamburg? Oder nur so hin?«
»Ja, ich weiß doch nicht. Ich will zu Verwandten.«
»Und wie haben Sie denn geschrieben an die Verwandten: Hamburg oder Altona?«
»Ja – ich habe nie selbst geschrieben. Das hat jemand für mich gemacht – meine Mutter.«
Der Nachbar hat ein pickliges Gesicht und blinzelnde Augen. Außerdem riecht er schlecht, wenn er sich so nah zu Kufalt beugt.
»Du willst doch – dahin?« flüstert er.
»Wieso? Wohin?« tut Kufalt.
»Na, Mensch. Ich weiß doch. Und ich rate dir, steig Holstenstraße aus, da ist es. Sonst tippelst du nachher mit deinem Koffer durch die ganze Stadt.«
»Ja, danke. Ich weiß ja nicht. Ich fahre zu Verwandten nach Hamburg.«
»Wenn du mit denen verwandt bist ...«
Kufalt verflucht sich, daß er dies Gespräch entfesselt hat. Sucht nach seiner Zeitung.
»Wenn ich du wäre, ich führe ja lieber zu den Hallelujabrüdern in der Steinstraße.«
Kufalt entfaltet die Zeitung.
»Da kostet es auch nur vier Groschen die Nacht.«
Kufalt liest.
»Wenn du willst, ich trag dir deinen Koffer.«
Kufalt hört nicht.
»Ich geh' dir damit nicht über den Harz, verstehste. Ich trag' dir den Koffer, und wenn du bis Blankenese tippelst.«
Kufalt steht auf und geht aufs Klo.
»Apfelstraße?« fragt der Schupo und sieht Kufalt an. »Na natürlich. Da gehen Sie hier runter und die zweite Querstraße rechts rein.«
»Danke«, sagt Kufalt und marschiert los. ›Hat's mir auch angesehen. Es muß an meiner gelben Farbe liegen. Ich wollte, ich säh' erst anders aus, keinen kann man grade anschauen ...‹
Apfelstraße. Nummer achtundzwanzig soll es sein. ›Vereinshaus der Stadt-Mission. Schlafsäle über den Hof. Bett fünfzig Pfennig.‹
›Das ist doch nicht das?‹
In dem Torweg steht ein dicker Mann mit unfreundlichem Gesicht. Kufalt geht ihm zögernd näher. Der Mann hat so eine besondere Mütze auf. Noch ehe Kufalt bei ihm ist, schreit er los: »Was wollen Sie denn jetzt schon? Um sieben werden die Schlafsäle aufgemacht!«
›Was ist denn das mit mir?‹ fragt Kufalt sich angstvoll. ›Ich bin doch genau so anständig gekleidet wie früher, und doch sehen es mir alle gleich an.‹ Er sagt: »Ich will doch nicht in die Schlafsäle. Ich will nur fragen, ob hier Friedensheim ist.«
»Friedensheim? Meinetwegen können Sie's ja Friedensheim nennen. Heute abend. Morgen früh werden Sie's wohl anders heißen.«
»Friedensheim ist ein Heim für stellungslose Kaufleute. Ist das auch hier?«
»Nein, das ist nicht hier.«
»Können Sie mir denn sagen, wo das ist?«
»Nein, was weiß ich, wo ihr Brüder alle ab bleibt.«
Der Mann geht in den Torweg und Kufalt tritt auf die Straße zurück. Es ist zwecklos, hier weiter zu suchen. Nummer achtundzwanzig stimmt. Es ist also doch in Hamburg. Er faßt seinen Koffer fester und geht wieder gegen den Bahnhof. –
Auf sein Klingeln öffnet dem Kufalt ein Mädchen in blauer Schürze, jung, doch unerfreulich anzusehen. Sie fixierte ihn, er fühlt das, wenn er es schon nicht sehen kann, so stark schielt sie. ›Wenn die nicht Fürsorge ist ...‹, denkt Kufalt. ›Aber hier bin ich richtig.‹
»Was wollen Sie denn?« fragt das Mädchen im Ton der Entrüstung. »Wieso kommen Sie denn hierher am Abend?«
»Ich soll in Friedensheim aufgenommen werden.«
»Davon weiß ich nichts. Ihr Geld haben Sie versaubeutelt und jetzt kommen Sie zu uns. Sind Sie nüchtern?« Sie geht gegen ihn an. »Ein bißchen zurück, junger Mann, ein bißchen zurück ins Licht, daß ich sehen kann, ob Sie nicht duhn sind.«
Sie drängt ihn, Schritt um Schritt, bis er wieder draußen steht, da aber schrammt sie die Tür vor seiner Nase zu.
Kufalt steht wieder auf der Straße oder, genauer, im eingegitterten, gepflasterten ›Vorgarten‹.
›Was für 'ne Rübe!‹ denkt er interessiert und schielt zu den gotischen Lettern ›Friedensheim‹ empor. ›Sehr friedlich kann es nicht sein, wo die kommandiert.‹
Durch die Haustür hört er ihre gellende Stimme: »Herr Seidenzopf, es ist einer da. Besoffen ist er nicht. Hat 'nen Handkoffer. Nee – kommen Sie selbst runter, er steht draußen im Gärtchen.«
Dann Stille.
Es ist eine Vorstadtstraße, die Apfelstraße in Hamburg. Dreißig kleine zweistöckige Häuschen wie das Friedensheim, manche noch mit richtigen Gärten und Baum und Busch, und achtzig fünfstöckige Mietskasernen.
Viele Leute unterwegs. Kleine Leute. Kufalt hat das Gefühl, hier braucht er sich nicht zu genieren, wenn sie auch alle erraten, wieso er hier vor Friedensheim mit seinem Handkoffer steht. Die wissen Bescheid, die regt das nicht mehr auf. Überhaupt hat ihm der Empfang nicht mißfallen, es war der beste Empfang von der Welt, ein vertrauter Ton klang: auch im Kittchen gab man gerne so an.
Mittlerweile könnte der sogenannte Seidenzopf kommen.
Wie gerufen erscheint er. Die Tür geht schnell auf, ein kleiner Mann in schwarzem, sehr weitem Anzug schiebt sich geschwind durch, und schon ist die Tür wieder zu.
Herr Seidenzopf steht vor Willi Kufalt, etwa anzusehen wie ein Schnauzhund, so dicht ist sein Gesicht mit wolligen schwarzen Haaren bewachsen, aus denen nur eine bleiche große Nase und grelle schwarze Augen leuchten. Das Kopfhaar aber ist glatt angeklatscht und glänzt mit öligen Lichtern.
Herr Seidenzopf betrachtet den jungen Mann lange und schweigend. Die Betrachtung erstreckt sich nicht nur auf Gesicht und Hände, nein, Mantel und Hosen, Schuhe und Handkoffer, Kragen und Hut – alles wird genau besichtigt.
Die Prüfung ist scheinbar beschlossen, der kleine Mann räuspert sich. Sein Räuspern erfolgt sehr laut in überraschend tiefem Baß.
»Ich kann warten«, antwortet Kufalt bescheiden.
»Können Sie es, so fragt sich, ob es Zweck hat. Angemeldet sind Sie nicht«, sagt der Mann. Seine Stimme ist ein löwenhaft brüllender Baß, ein paar Kinder, die ihre Kreisel schlugen, sammeln sich am Gitter.
»Angemeldet bin ich. Und die Anmeldung müßte hier sein. Ich habe gestern früh schon unterschrieben.«
»Gestern früh!« schreit der Kleine. »Und ›schon‹! Sie verstehn nichts, Sie wissen nichts, aber hier stehen Sie und sagen, Sie können warten.«
»Kann ich auch«, sagt Kufalt, der immer leiser spricht, je mehr der Kleine brüllt.
»Anmeldungen gehen zuerst an unsern Herrn Vorsitzenden, Herrn Diakonus Doktor Hermann Marcetus. In vier Tagen sind sie vielleicht bei uns. – Können Sie so lange vor der Tür warten?«
»Nein«, sagt Kufalt, der das Gefühl hat, ausgezeichnet aufgenommen zu sein.
›Hauptwachtmeister Rusch hat es auch immer auf die Tour gemacht‹, sagt er zu sich. ›Soviel Theater macht man nur für jemanden, an dem einem gelegen ist.‹
»Wenn Sie also nicht so lange warten können, dann werden Sie fein bitten müssen, mein junger Freund.« Mit gesteigerter Stimme: »Bitten ist keine Schande, wie Sie vielleicht denken werden, auch unser lieber Herr Jesus Christus hat sich nicht geschämt, zu bitten, seine Jünger sowohl, wie seinen himmlischen Vater.«
»Ich bitte also um Aufnahme am heutigen Abend in das Friedensheim«, sagt Kufalt sanft.
»Sehen Sie! Und wen bitten Sie –?«
»Herr Seidenzopf, wenn ich recht verstanden habe.«
»Auch. Aber sagen Sie Vater zu mir. Ich bin der Vater von euch allen.« Mit ganz anderer Stimme, nicht mehr für das Publikum auf der Straße berechnet: »Das andere erledigen wir drinnen. Nicht, daß ich Sie schon aufgenommen hätte, aber ...« Wieder mit brüllender Stimme, aber nur zur andern Straßenseite hinüber: »Es hat gar keinen Zweck, daß Sie da umherschleichen und lauern, Berthold. Habe Sie längst gesehen. Sie kriegen kein Bett bei mir, Sie kriegen kein Essen bei mir, denn Sie sind wieder – besoffen! Gehen Sie dahin!«
Die schlotternde Gestalt drüben im Lodenmantel hebt beide Arme und schreit in höchster Fistel über die Straße: »Erbarmen Sie sich, Herr Seidenzopf! Wo soll ich denn schlafen, heute nacht? In den Anlagen ist es noch so kalt.«
Die Gestalt hastet über die Straße.
»Kommen Sie rasch!« flüstert Seidenzopf. Die Tür öffnet sich, Kufalt wird hindurchgedrängt, Seidenzopf nach – und rasch schlägt sie vor dem nahenden Berthold zu. »Klingel abstellen, Minna!« brüllt Seidenzopf. »Berthold ist an der Tür!«
Der Vorplatz ist dunkel, aber nicht so dunkel, daß Kufalt nicht auf einer ins obere Stockwerk führenden Treppe zwei Frauengestalten sähe, die eine die Maid von vorhin, die andere voluminös, zerfließend, drei Stufen höher.
Von dieser kommt die klagende, weinerliche Stimme: »O Vater! Am späten Abend bringst du noch einen Mann ins Heim. Sicher ist er betrunken und hat sein Geld vertan bei den Weibern, Vater. So spät kommt keiner aus dem Gefängnis, Vater!«
Und die helle scharfe Stimme der Schielenden: »Betrunken ist er nicht, Frau Seidenzopf. Aus dem Kittchen kommt er frisch, kann keinen grade ansehen. Seine Hosen sind ganz frisch gebügelt, noch nicht verknautscht, bei Weibern ist er also nicht gewesen ...«
»Stille!« brüllt der Löwe. »An euer Geschäft, Frauen! Kein Wort mehr!«
Die beiden Gestalten entschwinden.
Durch die Tür klingt eine weinerliche Stimme: »Vater Seidenzopf, wo soll ich schlafen?! Vater Seidenzopf ...«
»Husch! Husch!« macht Seidenzopf gegen die Tür. »Pflicht ist es, daß auch manchmal die Stimme des Mitleids schweige ... Kommen Sie, junger Freund.«
Durch das Schlüsselloch jammert es: »Vater Seidenzopf, ach, Vater Seidenzopf ...«
Sie aber gehen vom Flur in ein noch einigermaßen helles Zimmer. Auf einen Riesensessel mit Ohrenklappen hinter einem Schreibtisch setzt sich der Kleine, wie Fittiche stehen die Ohrenklappen über seinem Haupt. Auf die andere Seite des Schreibtisches darf sich Kufalt setzen.
»Meine Frau, junger Freund«, sagt der Kleine, »hat die Sache getroffen. Wo kommen Sie so spät noch her?«
»Aus dem Zentralgefängnis.«
»Aber das Zentralgefängnis entläßt um sieben Uhr früh. Sie hätten um zwölf Uhr hier sein können. Wo sind Sie so lange gewesen?«
»Ich ...«, fängt Kufalt an.
Der Kleine richtet sich steil auf: »Halt, halt, mein Lieber! Reden Sie nicht unbedachtsam! Leicht entschlüpft uns eine Lüge. Sagen Sie lieber: ich schäme mich, es Ihnen zu sagen, Vater. Dann wollen wir eine Weile schweigen und bedenken, wie schwach wir sind, allezumal.«
»Ich bin doch erst um ein Uhr zwanzig entlassen, Herr Seidenzopf.«
»Vater«, verbessert der. »Vater. Ich glaube Ihnen, Freund, aber besser ist es, Sie zeigen mir Ihren Entlassungsschein.«
Kufalt nimmt seine Brieftasche, sucht, entnimmt ihr den Entlassungsschein und reicht ihn Herrn Seidenzopf.
Der kennt solche Dinge, er wirft nur einen Blick darauf. »Gut. Sie haben die Wahrheit gesprochen. Aber immerhin ... Nein, lassen Sie die Brieftasche auf dem Tisch liegen. Wir sprechen sofort darüber. – Jetzt nur ...«
Mit einem Ruck wendet sich der Kleine zum Fenster und trommelt wild gegen die Scheiben: »Gehst du weg? Gehst du weg? Soll ich die Polizei rufen? Gehst du weg!«
Kufalt sieht gerade noch das bleiche, langnäsige Gesicht Bertholds hinter der Scheibe verschwinden.
Seidenzopf aber sagt strahlend: »Angst hat er vor mir! Haben Sie gesehen, was er für Angst hat vor mir? Ja, wir machen keine Wippchen. Wir sind streng. Streng muß man sein mit den Verlorenen, streng und mild. – Nun aber zu uns. Auch noch mit ein Uhr zwanzig hätten Sie eine Stunde früher hier sein können!«
»Ich bin erst in Altona in die Apfelstraße gegangen, das war gut eine Stunde hierher zu laufen mit dem schweren Handkoffer.«
»Kommen Sie rum!« ruft Seidenzopf. »Kommen Sie rum! Sehen Sie doch mal Ihre Brieftasche!« Er hat sie geöffnet und sieht staunend in ein Fach, in dem nichts zu sein scheint.
Kufalt blickt, ungewiß, abwartend, sieht nichts wie ein leeres Fach.
»Pusten Sie doch rein, Mensch. Sehen Sie da nicht die Spinne?« Kufalt sieht keine, aber er pustet kräftig.
Seidenzopf schnuppert. »Alkohol haben Sie getrunken, junger Freund. Aber nicht viel. Ein Glas, nicht wahr? Na ja, aber Sie sollten es ganz lassen. Sehen Sie den Berthold, so ein kluger Mensch, ein Mann mit Gemüt und Religiosität, aber säuft. Dreimal schon hat er das Gelübde im Blauen Kreuz abgelegt – ich bin da der Leiter, ich kam vom Blauen Kreuz als Vater in dieses Friedensheim – und immer gebrochen! Immer gebrochen!«
»Ich hätt' Sie auch so angepustet ohne Theater.«
»Glaub' ich, glaub' ich. Sie sind ein ehrlicher Mensch. Ich sehe es Ihnen an. An Ihnen werden wir Freude haben, Sie sollen mal sehen, wie Sie bei uns hochkommen. – Na, und Ihr Geld, das geben Sie mir in Verwahrung ...«
»Nein. Mein Geld will ich behalten.«
»Aber, aber, Sie wollen doch nicht, daß es Ihnen abhanden kommt? Sie wissen doch, was wir hier für Gäste haben! Wir haften nicht, wenn Sie's bei sich behalten. Und natürlich bekommen Sie eine Quittung, und wenn Sie was brauchen, gebe ich Ihnen was. So: vierhundertneun Mark siebenundsiebzig. Gleich die Quittung.«
Kufalt sieht sein Geld ärgerlich an: »Aber ich brauche Geld, sofort. Ich muß Sockenhalter kaufen und Hausschuhe. Ich bin die Lederschuhe nicht gewöhnt, meine Füße tun mir weh.«
»Sie werden sich daran gewöhnen. Ich gebe Ihnen drei Mark. Aber Sie gehen achtsam mit dem Geld um, nicht wahr? Drei Mark sind schwer verdient.«
»Ich brauche mindestens zehn Mark«, sagt Kufalt mürrisch.
»O was! O was! Sind wir Millionäre? Sie können ja immer frisches haben, wenn die drei Mark alle sind. Sie kriegen's, lieber Freund. Aber wenn man erst zu Vater Seidenzopf gehen muß, überlegt man's zweimal. Und wieder hat man Geld gespart.«
Der Kleine ist schon am Schrank, die Brieftasche ist fort.
›Hätt' ich das geahnt‹, denkt Kufalt verblüfft. ›Hätt' ich mir was beiseite gesteckt. Immer wieder fällt man auf diese Brüder rein.‹
»Und nun unterschreiben wir noch schnell die Heimordnung und die Schreibstubenordnung, und dann gehen Sie hinauf und packen aus und rüsten Ihr Bett.«
»Können wir nicht Licht machen?« fragt Kufalt, vor dem zwei eng gedruckte Formulare liegen. »Ich möchte doch auch gerne wissen, was ich unterschreibe.«
»Das wollen Sie alles lesen? Lieber Freund, was hat denn das für einen Sinn? Tausend Menschen haben das unterschrieben, da werden Sie's doch auch unterschreiben.«
»Aber wissen möcht' ich doch, was hier los ist. Lassen Sie mich lieber lesen.«
»Aber Sie ärgern sich unnütz, lieber Freund. Natürlich, wenn Sie wollen. Am Fenster ist noch Licht genug.«
Am Fenster ist nicht mehr Licht genug. Kufalt sieht nach dem Schalter, auf die dämmrige Straße, in den Vorgarten. Da hockt eine Gestalt, ein bleiches, weißnasiges Geschöpf und macht Grimassen zu ihm hin. »Da sitzt doch der Berthold!« ruft er.
»Wo –? Oh, dieser Unglückselige! Nun muß ich ihn wieder wegschaffen lassen durch die Polizei. Lieber Herr Kufalt, tun Sie mir die Liebe, unterschreiben Sie schnell. Ich muß zu dem Unseligen, das Ärgernis muß weg. Unser Haus darf nicht auffallen, ein wahres Friedensheim muß es sein. Sehen Sie, nun haben Sie unterschrieben. Ich schüttele Ihre Hand. Mein Sohn sind Sie nun. Gott segne Ihren Eingang.«
»Interkonfessionell ist das Heim aber doch?« grinst Kufalt.
»Aber natürlich! Ganz interkonfessionell! Minna, bringen Sie Herrn Kufalt seine Bettwäsche und ein Handtuch. Minna, dies ist Ihr Bruder Kufalt. Kufalt, dies ist Ihre Schwester Minna.«
›Ohgottohgott‹, denkt Kufalt.
»Gebt euch die Hand. Natürlich nennt ihr euch weiter Sie. Kufalt, einfach die Treppe hinauf. Suchen Sie sich Ihr Bett aus. Sie sind jetzt hier zu Haus. Sie werden einen Bruder oben finden ...«
»Der spinnt ja, Vater«, sagt Minna, das Mädchen im Friedensheim.
»Ja, er ist krank. Er ist krank noch, der Bruder Beerboom, liebe Minna. Die lange Haft ...«
»Er hat mich gefragt, ob ich mit ihm ausgehen will«, sagt Minna mit den Schielaugen.
»Oh! Oh! Oh! Aber es braucht nichts Unsittliches zu sein, wenn er mit Ihnen ausgehen möchte, natürlich werde ich ihn aber vermahnen. Gehen Sie jetzt, Kufalt, ich muß zu dem gefallenen Bruder.«
Ein Blick aus dem Fenster zeigt Kufalt, daß sein Bruder Berthold wirklich gefallen ist: jetzt kriecht er auf allen Vieren durch den Vorgarten und trägt seinen Hut in den Zähnen.
»Ich muß wirklich die Wache anrufen«, sagt Seidenzopf angesichts der Menge, die sich am Gitter des Vorgartens drängt. Er reißt das Fenster auf und ruft: »Geht doch fort, ihr Neugierigen, ihr Gaffer! Erbarmt sich euer Herz nicht ...«
Eine grobe Stimme ruft aus der Menge: »Wolle-Teddy, mach dir keinen Fleck ins Hemde ...«
Kufalt tastet sich die fast dunkle Treppe hinauf.
Oben auf dem Flur ist es kaum noch hell. Mit Mühe unterscheidet Kufalt eine Tür. Er drückt auf die Klinke und die Tür geht auf. Ein dunkler Raum, der groß zu sein scheint. Kufalts Hände suchen nach dem Schalter, finden ihn schließlich, das Licht brennt, eine runzlige Sechzehn-Kerzen-Birne in einer langen Schlucht.
Zwölf schnurgerade ausgerichtete Betten. Zwölf schmalbrüstige schwarze Schränke. Dazu ein einziger eichener Tisch.
›Üppig ist das nicht‹, denkt Kufalt, ›das trauliche Friedensheim. Wenigstens sind die Fenster nicht vergittert. Sonst ist es eigentlich Kittchen. Die Betten sind auch nicht besser.‹
Erst jetzt sieht er, daß auch die Bettwäsche über seinem Arm Gefängnisbettwäsche ist, blaugewürfelt. ›Haben sie geschnorrt von der Justizverwaltung. – Hier wohnt jedenfalls keiner. Wollen mal die nächste Tür versuchen.‹
Die nächste Tür ist verschlossen.
Die letzte Tür führt in einen erleuchteten Raum, wo auf einem Bett ein Mann liegt. Der Mann hebt den Kopf, betrachtet Kufalt und sagt: »Na, bist du endlich auch da, oller Knastschieber, Stubben, elender? Wird Zeit. Wieviel abgerissen? Hat dir Wolle-Teddy Geld gelassen? Hast du Schnaps im Koffer? Hast dich schon ausgeschlämmt vom Knast bei den kleinen Mädchen –?«
»Guten Abend«, sagt Kufalt.
Der Mann steht auf und lacht verlegen. Es ist ein mittelgroßer, breiter Kerl mit grauer, lederartiger Haut, dunklen, stumpfen, schwarzen Augen, krausem, schwarzem Haar. »Entschuldigen Sie bloß. Diese Begrüßung sollte nämlich ein Witz sein. Wir sind ja jetzt in der sogenannten goldenen Freiheit. Mein Name ist Beerboom ...«
»Kufalt«, sagt Kufalt.
»Mein Vater ist Universitätsprofessor, kennt mich aber nicht mehr. Elf Jahre Zeit abgerissen, wegen Raubmord. Ich hab' 'ne kleine Schwester, die war süß, muß jetzt ein großes Mädel sein. Haben Sie 'ne Schwester?«
»Ja.«
»So. Ich möchte meine gerne wiedersehen. Darf aber nicht. Mein Vater meldet mich sofort bei der Polente, wenn ich in sein Kaff komme und – Schluß mit der Bewährungsfrist! Wenn ich Sie übrigens störe, dahinten ist noch ein Zimmer, da können Sie auch schlafen.«
»Ich will mal sehen«, sagt Kufalt. »Sind wir die beiden einzigen hier?«
»Ja. Ich bin zwei Tage hier. Dachte schon, ich bleibe der einzige Idiot, der freiwillig in diese Besserungsanstalt geht. Ich hau' mich wieder hin. Bis zum Abendessen ist noch 'ne halbe Stunde Zeit.«
»Ich will mal sehen«, sagt Kufalt zu dem Raum hin, der hinter diesem liegt.
»Genieren Sie sich nicht. Kann ich verstehen, ich verstehe alles. Übrigens heule ich meistens abends vor dem Einschlafen 'ne Stunde, würde Sie stören. Im Zet haben sie mich deswegen auf Gemeinschaft immer vertrimmt, ich kann es aber nicht lassen. Ist übrigens ein guter Name, Kufalt, ich denke an Einfalt und Dreifaltigkeit. Was ist eigentlich Dreifaltigkeit?«
»Irgend was mit dem Heiligen Geist. Ich weiß auch nicht. – Ich will jetzt aber mal sehen ...«
»Gehen Sie ruhig los, Mensch, Kufalt, Heiliger Geist. Genieren Sie sich nicht. Ich rede immer weiter, wenn ich 'nen Menschen sehe. Hab' ich mir so angewöhnt im Knast. Brauchen Sie nicht zuzuhören. Ich hör' auch nicht zu ...«
»Also dann gehe ich ...«
»Haben Sie schon gesehen, das Affentheater mit den Fenstern? Schlimmer als im Kittchen. Keine Gitter, nee, aber die schmalen Scheiben gehen immer nur zehn Zentimeter weit um 'ne Stahlachse. Und Rahmen und Leisten sind Eisen. Türmen, nachts auf die kleinen Mädchen, mulle, mulle, oller Jenießer, is nich. Vater Seidenzopf, der weiß Bescheid.«
»Ich gehe also.«
»Mensch, gehen Sie doch! Sie sind genau so ein Trottel wie ich. Wenn ich abends heule, denk' ich immer, so 'nen Idioten wie mich gibt's nicht wieder. Es gibt aber auch andere. Zum Beispiel Sie, daß Sie hier immer noch stehen ...«
»Bin schon drüben«, sagt Kufalt und lacht.
Das Zimmer dahinter ist genau so ein Loch, vier kahle Wände, vier schmale Schränke, vier unbezogene Betten. Kufalt wählt das Bett an der Wand zuhinterst. Er wirft den Koffer auf das Bett und schließt ihn auf. Die Schranktür steht offen, kein Schlüssel steckt darin. Das Schloß ist auch nur Tinnef, Blech, eine Zuhalte, mit jedem Draht aufzutändeln. Kufalt probiert daran herum.
»Kleb den Schrank mit Spucke zu«, ruft der von drüben. »Hab bloß keine Angst um dein Gelumpe. Wenn ich's dir schon klaute, ich käm' ja nicht raus aus dem Haus, das Schielauge paßt uns auf, noch und noch ...«
»Und mit der wollten Sie ausgehen?« fragt Kufalt und legt seine Oberhemden in den Schrank.
»Warum nicht, Weib ist Weib. Hat sie's also dem Wolle-Teddy erzählt. Na, warte Mariechen! Dir lackieren wir auch mal die Fassade. Es paßt schon mal so ...«
Kufalt packt aus. ›Der ist ja alle‹, denkt er. ›Der spinnt ja. Elf Jahre Zet, der ist hübsch gründlich fertiggeworden, der wird nicht wieder.‹
Er packt weiter aus. Plötzlich steht der andere in der Tür, lautlos auf Socken angeschlichen. »Ein richtiger Raubmord war es gar nicht. Hab' meinen Leutnant alle gemacht, und als das Schwein dalag, dacht' ich erst daran, daß ich kein Geld zum Türmen hatte. – Saubere Sachen hast du, muß man sagen. Mir haben sie im Zet lauter Pofel gegeben, meine Sachen waren ja alle hin vom langen Liegen. Die Hemden nichts wie Baumwolle. Und der Anzug – was ist denn das für ein Anzug? So ein Ding von der Stange – dreißig Mark. Aber der Pfaffe, der schwarze Mann, hat mich nie ausstehen können. Verkaufen Sie die Socken? Die mag' ich. Was wollen Sie haben für die lilaen?«
»Nein, verkaufen nicht«, antwortet Kufalt. »Aber ich schenke sie Ihnen, ich mag' sie nicht besonders.«
»Immer her damit, wenn einer so dumm ist. Erst war das Urteil: Kohlrübe weg bei mir, dann lebenslänglich, dann fünfzehn Jahre. Und jetzt mit elf haben sie mich rausgelassen. Und dabei keine gute Führung, keine Fürsprache. Und doch raus? Weil mein Fall stinkt, zum Himmel stinkt er. Zu den Roten müßte man gehen und denen erzählen ...«
»Jetzt sind Sie ja draußen.«
»Aber Polizeiaufsicht. Verlust der Ehrenrechte auf Lebenszeit. Ach was, ich scheiß' auf die Ehrenrechte, ich will gar keine Ehre von denen haben. Aber dem Pfaffen möcht' ich es besorgen. In vier Wochen kommt er hierher, unser Pfaffe aus dem Zuchthaus. Wissen Sie, daß die hier dann fünfundzwanzigjähriges Jubiläum feiern, die hier vom Friedensheim –?«
»Ne.«
»Räuber sind das hier. Der geölte Aal, der Seidenzopf, ist ein Räuber, aber die kalte Wasserschlange, der Pfaffe, der Marcetus, der ist noch zehnmal so schlimm, und am schlimmsten ist der Bürovorsteher, der Eikopf, der Mergenthal. Von unserm Blut leben die. Deswegen haben die doch den ganzen Apparat hier aufgemacht, die Speckjäger, sogenannte Wohltätigkeit, daß die was zu fressen haben durch unsere Arbeit. Ich könnte Ihnen was erzählen ...«
»Sie sind doch erst zwei Tage hier –?«
»Wieso denn? – Wollen wir rauchen? Es ist verboten, aber die schmeißen uns nicht raus, solange sie so wenig Leute im Heim haben. Eine stoßen, zum Fenster raus, genau wie im Zet ... Was das Erzählen angeht, ich seh' was, wissen Sie, irgendwas, der Pfaffe sagt: ›Gehen Sie da rauf‹, oder Seidenzopf: ›Sie sind ein Lügner!‹ Und wenn ich dann abends im Bett liege und heule, dann spinn' ich das aus, dann mach' ich mir Geschichten dadraus, dann seh' ich durch die Wände, darum weine ich ja auch, weil ich mir so leid tue ...«
»Jetzt haben Sie es ja überstanden.«
»Gar nicht überstanden. Mein Lieber, jetzt geht es los. Jetzt fängt es erst richtig an. Wenn ich hier aus diesem Heim rauskomme, dann in 'ne Klappsmühle oder wieder ins Zet, was anderes gibt es nicht. – Hören Sie bloß, was für ein Krach! Kommen Sie, wollen mal lauschen, oben an der Treppe. Schmeißen Sie die Kippe nicht zum Fenster raus, draußen ist der Heimgarten, da findet sie morgen sonst Schielebock ...«
Ein toller Lärm brandet von unten herauf. Seidenzopfs Baß rollt tief und sonor, spitz schreit die Minna, Frau Seidenzopf protestiert weinerlich in den höchsten Tönen, dazwischen eine flehende Stimme ...
»Ich fordere Sie auf«, schreit Seidenzopf, »Verlassen Sie dieses Haus, dessen Sie unwürdig ...«
Die flehende Stimme schreit: »Erbarmen Sie sich, Vater!«
Kufalt flüstert: »Das ist der Saufkopp, der Berthold ...«
Und Beerboom: »Welcher Berthold –?«
»Hausfriedensbruch«, grunzt Seidenzopf. »Zum ersten. Zum zweiten. Zum dritten ...«
Ein schwerer Fall.
Die Weiber kreischen: »Ohgottohgottohgottohgottohgott!«
Seidenzopf: »Mich täuschen Sie nicht ...«
Frau Seidenzopf jammert: »Er blutet ...«
Und Minna: »Mein schönes blankes Linoleum!«
Seidenzopf brüllt: »Herr Beerboom! Herr Kufalt! Ich bitte Sie ...«
In fünf Sprüngen sind sie die Treppe hinunter. Auf der Erde, in seinem Lodenmantel, mit offenem Mund, bleich, bewußtlos, mit blutig geschlagener Stirn, liegt Berthold.
»Ich bitte Sie, meine Söhne, tragen Sie den Unglückseligen in Ihr Gemach. Auf die Stirn genügt eine nasse Kompresse. Minna, geben Sie Ihrem Bruder Kufalt ein Handtuch ...«
Es ist nicht ganz leicht, einen Bewußtlosen, dessen Glieder schwer wie Blei sind und wie Quecksilber die Tendenz fortzurollen haben, eine steile, schlecht beleuchtete Treppe hinaufzutragen, deren Linoleumbelag eisglatt ist.
»Legen Sie ihn hier auf das Bett neben meinem«, sagt Beerboom. »Dann kann ich ihm immer eins in die Fresse geben, wenn er heute nacht aufwacht, so was macht mir Laune ...«
»Ich will ihm gleich einen Umschlag machen.«
»I was! Der brauch doch keinen Umschlag für das bißchen Schrammen. Sollten Sie gesehen haben, wie die mich manchmal im Zet in der Mache gehabt haben!«
»Warum haben Sie denn so 'ne Wut auf den Berthold? Der hat Ihnen doch nichts getan.«
»Ich wollte, ich wäre so schön besoffen wie der! Das kann einen doch neidisch machen. Das letztemal war ich's Weihnachten 28 im Zet, da haben wir Möbelspiritus aus der Tischlerei getrunken ...«
»Guten Abend, Kinder«, sagt der Betrunkene und richtet sich auf. »Bin scheinbar ein bißchen doller gefallen als beabsichtigt. Na, Wolle-Teddy hat klein beigegeben, hat mich doch wieder aufgenommen! Was dem Morgen sein Pastor für 'nen Marsch blasen wird!«
»Sie sind ja gar nicht besoffen«, sagt Beerboom mürrisch. »Dann ist es eine Gemeinheit, sich so die Treppen raufschleppen zu lassen.«
»Natürlich bin ich besoffen. Nur so wie ihr Kindlein kann ich nicht mehr besoffen sein. Ich bin frei, wenn ich trinke. Ihr seid gefangen, wenn ihr trinkt. Ich kann alles, wenn ich trinke. Ihr gar nichts. – Kinder, ich habe eine glänzende Idee. Einer von euch, du da, du Dunkelblonder, du siehst so unverdorben aus, du sagst Teddy, daß du noch mal auf die Straße mußt, und holst 'ne Flasche Schnaps.«
»Quatsch«, sagt Berboom. »Der läßt uns jetzt um acht doch nicht mehr aus dem Haus. Und wer gibt Geld?«
»Geld. Geld. Ihr habt doch Geld, ihr Kittchenjungfern. Ihr arbeitet doch für Geld. Ich – seht meine Hände, nichts kann ich mehr halten, so einen Tatterich.«
»Bist noch stolz drauf, edles Saufloch!«
»Nein«, schluchzt Berthold. »Eine Plage ist das. Und ich tu' jetzt dem Teddy auch die Liebe. Ich tret' wieder dem Blauen Kreuz bei. Ich schwör' den Schwur. Und ich halt' ihn auch. Ein Mann muß können, was er will. Und wenn ich ihn nicht halte, fange ich nur ganz, ganz langsam zu saufen an ...«
»Sag mal«, fragt Beerboom, »bist du eigentlich vorbestraft?«
Berthold grient schon wieder: »Nee, mein Junge, nichts zu machen. Ich bin nur Säufer und arbeitsscheu.«
»Und was willst du da hier?« fragt Beerboom wütend. »Das ist hier für Vorbestrafte! Arbeiten willst du nicht, aber fressen willst du. Sollen wir etwa für dich arbeiten –?«
»Fang doch keinen Streit an«, jammert der Betrunkene. »Ich vertrag' keinen Streit. Ich bin so glücklich, daß ich bei Ol Vadder Teddy bin. – Hör zu, ich hab' 'ne glänzende Idee. Warte, hier in der Tasche habe ich was.« Er kramt und bringt einen Block zum Vorschein. »Rezepte. Rezeptformulare. Hab' ich heute früh einem Arzt geklaut.«
»Wie kommst denn du zu einem Arzt?«
»Bin einfach in seine Sprechstunde gegangen, das kann man doch. Wie ich drin bin in seinem Zimmer, bitte ich ihn um ein Darlehen von fünf Mark. Er sagt, es ist eine Frechheit, ich soll machen, daß ich rauskomme. Ich sag', ich geh' erst, wenn ich fünf Mark habe. Er rennt rum wie ein Huhn ohne Kopf, ich bleib' ruhig sitzen. Schließlich läuft er nach Leuten zum Rausschmeißen. Unterdes hab' ich die Rezepte geklaut und mich leise verdrückt.«
»Und? Wozu? Was willst du denn mit den Rezepten?«
»Das ist doch das Feine. Da schreiben wir Morphium drauf und Koks und so'ne guten Sachen und verscheuern das nachher vor den Nachtlokalen.«
»Das ist nicht dumm. Weißt du denn, wie man das raufschreibt?«
»Ich hab' doch mal 'nen Mediziner gekannt! Ich soll das nicht wissen. Fein geht das.«
»Daher kriegst du dein Geld, oller Saufkopp! Na warte, wenn ich ...«
Eine Kuhglocke bimmelt.
»Abendessen! Kommen Sie mit –?«
»Laßt mich nur liegen, Kinder. Wenn ich denke, ich soll was essen, dreht sich alles in mir um. Mein Magen ist aus Glas.«
»Also bleibst du liegen. Aber das sag' ich dir, wenn du unsere Sachen auch nur anfaßt, du olles dreckiges Schwein du –!«
»Ich träume, ihr Äffchen. Was brauch' ich Sachen? Ich brauch' schon lange keine Sachen mehr.«
Am nächsten Morgen um halb neun sitzt Kufalt in der Schreibstube. Er ist noch unbeschäftigt, die anderen arbeiten. Eine ganze Menge sind gekommen, zehn, zwölf Herren, und haben sich an ihre Tische gesetzt. Nun schreiben sie alle, nichts wie Adressen, manche mit der Hand, manche mit der Maschine. Auch der fahle Beerboom sitzt am Tisch neben Kufalt und schreibt emsig.
»Tausend Stück vier Mark fünfzig«, hat er geflüstert. »Ich will heute mindestens fünfzehnhundert schaffen. Zwei Mark fünfzig Pension, da habe ich fünf Mark über. Fein, was?«
»Kann man denn fünfzehnhundert schaffen?«
»Klar. Gestern habe ich schon fast fünfhundert geschafft und heute bin ich doch eingearbeitet.«
Nun erscheint Vater Seidenzopf in einem Lüsterjackett, gefolgt von einem Mann mit glattem Eikopf und grauem Spitzbart. Er geht einen Gang hinauf, den anderen hinunter, sagt zweimal ›guten Morgen‹ und verschwindet wieder. Der Eikopf stumm hinterher.
Kufalt sitzt und sieht in den Garten. Schön grün ist es da, und der Rasen sieht so frisch aus.
»Gehört der zu uns?« fragt er Beerboom.
»Das tut er, aber rein dürfen wir nicht. Der ist so da, zur Parade, wenn Besichtigungen kommen ...«
Kufalt grinst verständnisinnig.
Ein langer sagt halblaut: »Wenn die Adressen fertig sind, soll die Arbeit mal wieder alle sein.«
»Wieviel sind denn noch nach?«
»Dreißigtausend.«
»Das reicht ja höchstens für zwei Tage. Dann sitzen wir wieder da.«
»Bis dahin kommt neue Arbeit.«
»Darauf warten Sie man.«
Der Eikopf erscheint von neuem und trägt einen Umschlag in der Hand. »Herr Kufalt, schreiben Sie hier mal Ihre Adresse auf. Einfach Ihre Adresse: Herrn Willi Kufalt, Hamburg, Apfelstraße, Friedensheim. – Nanu, geht das nicht besser? – Schön, wollen wir mal sehen.«
Er verschwindet mit dem Umschlag, und Kufalt schaut wieder in den Garten.
Einer fragt: »Was machen Sie, wenn die Arbeit hier alle ist?«
»Ich weiß auch nicht, es bleibt nur die Wohlfahrt.«
»Ich kann vielleicht 'ne Staubsaugervertretung kriegen.«
»Dann hängen Sie sich lieber gleich auf, Staubsauger ist noch schlechter als Margarine.«
Eine neue Stimme: »Mit Fußbodenwachs und Zerstäubern ist noch was zu machen.«
»I wo, das war einmal. Alles längst abgegrast.«
Wieder erscheint der Eikopf, maßlos erstaunt: »Es wird doch hier nicht gesprochen? Ich müßte aber sehr bitten!«
»Hier spricht keiner, Herr Mergenthal.«
»Also, ich bitte sehr nachdrücklich. Sie wissen alle, was das Übertreten der Schreibstubenordnung nach sich zieht. Wenn einer der Herren die Straße vorzieht –?«
Viele Federn kritzeln, die Maschinen schmettern.
»Herr Kufalt, Herr Seidenzopf läßt Ihnen sagen, Sie hätten Doktor werden sollen.«
»Ich? Wieso?«
»Ihre Handschrift – vollkommen unbrauchbar. Sind Sie schon mal in Ihrem Leben auf einem Büro gewesen? So. Das muß ein komisches Büro gewesen sein. – Aber Schreibmaschine können Sie doch schreiben?«
»Ja.«
»Das sagen Sie. Ich glaub's deswegen aber noch lange nicht.«
»Natürlich kann ich Schreibmaschine schreiben. Gut sogar.«
»Zehnfingersystem?«
Zögernd: »Nicht ganz. Aber sechs bestimmt.«
»Sehen Sie. Zum Schluß nehmen Sie zwei Finger und sind glücklich, wenn Sie die richtige Taste treffen. – Sie müssen sich erst einmal eine Schreibmaschine in Ordnung bringen. Auseinandernehmen und reinigen und ölen. Können Sie das?«
»Es kommt auf das System an.«
»Es ist 'ne Mercedes. Also denn machen Sie los.«
»Da brauch' ich aber Benzin und Öl und Lappen.«
»Gehen Sie zu Herrn Seidenzapf, der gibt Ihnen einen Groschen für Benzin. Und Minna hat Lappen und Nähmaschinenöl.«
Eine halbe Stunde später sitzt Kufalt vor einer Blechschüssel, in der sämtliche Typenhebel der Maschine in Benzin baden, seine Finger sind mit einem Überzug von violetter Farbbandfarbe und schwarzem Öldreck bedeckt.
Er fängt gerade an, die Typenhebel reinzubürsten, als Minna in der Tür erscheint: »Der Neue soll bohnern kommen.«
»Aber das ist doch!« protestiert Mergenthal. »Der sitzt jetzt bei einer Arbeit, wo er nicht wegkann. Herr Beerboom kann gehen.«
»Frau Seidenzopf sagt, der Neue soll bohnern. Beerboom macht's nicht ordentlich. Und wenn der Neue nicht kommt, sage ich ihr, daß Sie es ihm verboten haben!«
»Also gehen Sie bohnern«, sagt Mergenthal. »Wischen Sie Ihre Hände an dem Lappen ab. Sie kommen ja gleich wieder.«
Gleich dauert anderthalb Stunden. Kufalt hat sämtliche Schlafsäle, den Vorplatz, die Treppen zu bohnern, streng beaufsichtigt von dem Dienstmädchen Schwester Minna.
»Warum machen Sie das eigentlich nicht?« erkundigt sich Kufalt.
»Ihnen Ihren Dreck nachräumen? Ich bin nur für Seidenzopfens da!«
Zum Schluß erscheint noch Frau Seidenzopf, in einem Schlafrock zerfließend, von Kufalt begrüßt mit dem Rufe: »Guten Morgen, gnädige Frau, wünsche wohl geruht zu haben.«
Da Frau Seidenzopf keinen Sinn für Ironie hat, sagt sie ziemlich gnädig: »Für den Anfang geht es. Aber der Mann muß noch besser in die Ecken, Minna.«
Dann sitzt Kufalt wieder vor seinen Typenhebeln und bürstet die Gelenkstellen rein von Schmutz. Er ist ziemlich fertig mit dieser Arbeit, als Mergenthal, der scheinbar ständig zwischen Chefbüro und Schreibstube hin und her pendelt, auftaucht mit dem Ruf: »Herr Kufalt und Herr Beerboom zu Herrn Seidenzopf.«
Der Vater aller sitzt in seinem Lüsterjackett am großen Schreibtisch. »So, meine jungen Freunde. In der Arbeit sind wir nun und möge sie Ihnen gedeihen. – Wieviel Geld haben Sie, Kufalt?«
Kufalt sagt mürrisch, denn dies ist ein sehr wunder Punkt: »Das wissen Sie doch. Drei Mark.«
»Zeigen Sie mal Ihr Portemonnaie. Richtig, sehen Sie, so ist es recht. Klare Geldverhältnisse heißt reines Gewissen. – Und sie, Beerboom? Zeigen Sie her, erzählen Sie nichts. Leer? Wo sind Ihre drei Mark?«
»Die sind mir heute früh ins Klosett gefallen.«
»Beerboom! Herr Beerboom! Mein Sohn Beerboom, soll ich Ihnen das glauben?«
»Fressen tu' ich kein Geld,« sagt Beerboom. »Und überhaupt, ich komm' ja gar nicht raus aus dem Stall hier, wo soll ich denn hin mit dem Geld? Denken Sie, ich hab's Ihrer Minna gegeben?«
»Nein, aber dem Berthold.«
Einen Augenblick ist Beerboom verlegen: »Berthold? Welchem Berthold? Ach, dem ollen Penner? Ich geb' doch Besoffenen nicht mein einziges Geld! Reingefallen ist es mir, mit der Hand hab' ich noch nachgefaßt. Sie können's selbst sehen, den ganzen Ellbogen hab' ich mir zerschrammt im Rohr.«
»Lassen Sie«, sagt Seidenzopf ziemlich giftig. »Ich weiß Bescheid. Sobald bekommen Sie kein Geld wieder von mir. – Also, Kufalt und Beerboom, ich schicke euch jetzt beide allein in die Stadt ...«
»Ja?«
»Wirklich?«
»Es ist euer erster Ausflug in die Freiheit ...«
Die Tür öffnet sich wieder und ein blonder, sehr junger Mensch erscheint.
»Ach, entschuldigen Sie, Herr Seidenzopf, ich störe wohl ...«
»Nein, im Gegenteil, Herr Petersen, darf ich Ihnen unsere beiden neuen Gäste vorstellen? Das ist Herr Beerboom, seit vorgestern hier, und dies Herr Kufalt, seit gestern abend unser Gast. – Berthold war auch wieder da, wieder habe ich mich erweichen lassen und wieder hat er mich enttäuscht. Heute früh, ich lauere darauf, daß er wie immer einen Pumpversuch bei mir macht, eher geht er doch nie fort – und in einem Moment, wo ich gerade – wo ich eben – kurz, wo ich einem natürlichen Bedürfnis Folge zu leisten gezwungen war – diesen Augenblick hat er benutzt und ist entflohen. Und ich fürchte, mit dem Geld unseres Schützlings Beerboom.«
»Gestohlen –?«
»Mein Geld ist ins Klosett gefallen!«
»Lassen wir das. – Meine jungen Freunde, der Herr, den Sie hier vor sich sehen, Petersen mit Namen, ist Ihr Freund und Bruder, Ihr Beschützer und Berater. Er ist ...« Seidenzopf kommt in Fluß, als sagte er sorgfältig Erlerntes auf: »Er ist ein sozial interessierter, innerlich gefestigter und sittlich hochstehender junger Mann, den Sie in Ihre Mitte aufnehmen wollen, der mit Ihnen zusammen wohnt, die Mahlzeiten mit Ihnen einnimmt und Ihnen in jeder Hinsicht Freund und Berater sein wird. Die Abende und die freien Sonntage verbringt er in Ihrer Gesellschaft, er sucht, Sie zu edler Geselligkeit anzuleiten und, soweit Sie es ihm gestatten, erzieherisch auf Sie einzuwirken. Er hat seine Examina als Volksschullehrer absolviert und studiert jetzt im vierten Semester Nationalökonomie, wozu ihm neben seiner Tätigkeit im Heim ausreichende Zeit zur Verfügung steht. – Reichen Sie ihm die Hand, meine Herren.«
Sie reichen sich die Hände.
»Herr Petersen, ich stehe im Begriff, die beiden Herren allein in die Großstadt zu schicken. Haben Sie Bedenken?«
»Wenn ich fragen darf, zu welchem Zweck?«
»Sie sollen sich auf dem zuständigen Polizeirevier anmelden.«
Der junge Petersen lächelt: »Nein, Herr Seidenzopf, ich sehe da keine Bedenken.«
»Und Sie meinen, Herr Pastor Marcetus wird mir keine Vorwürfe machen? Daß ich etwa zu vertrauensselig bin –?«
»Nein, sicher nicht. Lassen Sie die Herren ruhig allein gehen. Sie werden Ihr Vertrauen nicht enttäuschen.«
»Wissen Sie«, sagt Beerboom auf der Straße zu Kufalt, »das ist doch wieder nur so ein Aufpasser, ein Spion, dieser Petersen oder wie er heißt. Der soll bloß abhauen, der Lampenmacher, der!«
»Ich fand ihn eigentlich ganz nett, er hat so hübsch mit den Augen gelacht bei dem Vortrag von Vater Seidenzopf.«
»Ach, der Wolle-Teddy, der kann auch abhauen. Nicht mal das mit meinem Geld hat er mir geglaubt.«
»Haben Sie's denn wirklich verloren?«
»Gar nicht. Dem Berthold hab ich's gegeben. Glauben Sie, daß er es mir wiedergibt?«
»Wieso haben Sie es ihm denn gegeben?«
»Als Betriebskapital. Er holt Morphium dafür und den Gewinn teilen wir.«
»Auf den Gewinn werden Sie wohl lange warten.«
»Ich muß Geld haben, Kufalt, Geld muß ich in der Tasche haben. Würden Sie mir 'ne Mark leihen?«
»Wozu brauchen Sie denn jetzt Geld?«
»Nur so. Ich muß Geld in der Tasche haben. Wir können ja auch ein Glas Bier davon trinken, ich halte Sie frei.«
»Sie müssen doch 'ne Masse Geld bei Seidenzopf stehen haben. Bei Ihrem langen Knast.«
»Ja, 'ne Menge ist es schon, neunzig Mark.«
»Was! nur neunzig Mark bei elf Jahren Knast!«
»Erst war doch die Inflation, da ging unser ganzer Arbeitsverdienst flöten. Da haben wir nur dreißig Mark Aufwertung für all die Jahre gekriegt. Und dann später habe ich keine Lust mehr gehabt, ich hab' immer auf die Amnestie gewartet und nachher war es nichts, und dann hatte ich erst recht keine Lust.«
»Neunzig Mark sind schnell alle.«
»Neunzig Mark sind 'ne Masse. Ich wollte, ich hätte sie, ich ginge los. Haben Sie 'ne Ahnung, was hier die Mädchen nehmen? Nicht für 'ne ganze Nacht, nur so mal schnell.«
»Keine Ahnung.«
Sie gehen weiter. Es weht ein ganz angenehmer Wind, die Bäume sind gut hellgrün. Dann geht eine Straße schräg ab, die sie entlang müssen, und es ist hübsch, über den Damm zu gehen und die lange bunte Straße ganz weit hinunterzusehen. Gleich vorne ist eine Tankstelle scharlachrot.
»Das Mädchen hat mich angesehen.«
»Warum soll sie nicht? Sie sehen doch sehr gut aus.«
»Finden Sie? Meinen Sie, daß ich 'ne Nummer bei den Mädchen habe? Ich bin doch dunkel, man sagt doch immer, dunkel mögen die Weiber gerne. Nur mein Teint, meinen Sie, daß ich Wolle-Teddy um Geld für Höhensonne bitte? Im Zet haben sie mir gesagt, davon krieg' ich einen anderen Teint.«
»Würde ich nicht tun. Sie leben doch jetzt ganz anders wie im Zet, da kriegen Sie von selbst einen anderen Teint.«
»Sehen Sie mal, Kufalt, das Café sieht nett aus. Das ist sicher mit Weiberbedienung. Pumpen Sie mir zwei Mark, wir gehen rein, ich halte Sie frei.«
»Jetzt melden wir uns erst mal an«, sagt Kufalt, der sich weise und abgeklärt wie ein Opa vorkommt. »Mit zwei Mark können wir in einem Weibercafé auch nichts machen.«
»Aber vielleicht verliebt sich eine in uns und wir brauchen nichts zu zahlen.«
»Um Gottes willen! Nur nicht!«
»Haben Sie denn schon eine? Nehmen Sie mich mit, wenn Sie zu ihr gehen?«
»Ich hab' doch keine.«
»Aber warum wollen Sie dann nicht, daß sich eine in Sie verliebt?«
»Keine aus solchem Café. Ich denk' mir was anderes.«
»Ach denken! Haben will ich eine! Und möglichst rasch.«
In der Polizeiwache stehen zwei Beamte an zwei Stehpulten und sehen einander an. Der eine hat etwas vogelartig Gesträubtes mit seinem spitzen, borstigen Bart, der gekrümmten Nase, den grellen Augen, der andere ist ein kleiner blasser Mann.
»Ich kann nur sagen«, erklärt der Blasse, »ich hab' 'ne Parzelle bei der Horner Rennbahn. Die ist mein halbes Leben. Da gärtnere ich so rum.«
»Gärtnern«, sagt der gesträubte Vogel mißbilligend, »wenn ich schon so was höre! Sie sind doch kein Gärtner. Das ist doch alles Pfuscherkram. Wenn Sie so weit sind und ernten Kohlrabi, dann wird er Ihnen in den Gemüsehandlungen nachgeschmissen.«
»Ich mach' es nicht um Geld«, sagt der Blasse. »Es macht mir – so – Freude, wissen Sie.«
»Pfusch«, sagt der Vogel. »Nichts wie Pfusch. Sehen Sie, ich spiele Skat. Ich mache nichts wie Skatspielen. Manche Abende bring' ich zwei, drei Mark nach Hause. Ich kann Skat. Keine halbe Sache. Kein Pfusch.«
»Ja, wer das Genie dafür hat«, bestätigt der Blasse.
»Und wenn Wettskaten ist um Karpfen oder Wurst oder Gänse, dann geh' ich rum, dann bin ich jeden Tag wo anders. Vorigen Winter habe ich sechs Gänse gewonnen! Wenn die Wirte mich nur sehen, wird ihnen das Bier schon sauer. ›Hau du ab‹, sagen sie, ›du nimmst ja unseren Stammgästen nur die Groschen ab.‹ – ›Wie ist das hier?‹ frage ich. ›Ist das hier ein öffentliches Lokal? Kriegt hier ein Polizeisekretär sein Helles ausgeschenkt? Ist das hier ein offenes Wettskaten oder nur für den Stamm?‹ (Dann sind sie ja stille, aber Blicke, sage ich Ihnen ...) Was wollen Sie denn?« schnauzt er entrüstet Beerboom an, der sich durch Husten dringlich bemerkbar macht.
»Erlauben Sie bloß, Herr Oberwachtmeister«, sagt Beerboom, »wir wollen uns ein bißchen anmelden.«
»Sehen Sie da das Plakat nicht? Können Sie nicht lesen, daß Sie erst die Formulare ausfüllen müssen?«
»Das geht bei uns nicht so«, sagt Beerboom und grient zu Kufalt, denn auf seine Zuchthausart, mit Subalternbeamten umzugehen, ist er sehr stolz. »Bei uns gilt das Plakat nicht, Herr Leutnant. Wir sind anders wie die anderen.«
»Das sind ...«, vermittelt der Blasse, »sicher wieder zwei aus dem ...«, er macht eine Kopfbewegung um die Ecke, »Sie wissen schon ...«
»Na, dann gebt mal eure Zettel her, wir werden ja sehen, werden ja sehen ...«
»Ach, Herr Sekretär, ist denn das Vorschrift? Ist das Bestimmung hier in Hamburg? Das hab' ich ja noch gar nicht gewußt!«
»Was haben Sie nicht gewußt? Was ist hier Vorschrift? Was ist hier Bestimmung?« Der Vogel wird immer wilder, gleich fängt er an zu kreischen.
»Daß solche, wie wir aus dem ...« Beerboom wiederholt die Kopfbewegung des Blassen, »daß solche mit ›Ihr‹ angeredet werden müssen. Da werde ich mal den Reviervorstand nach fragen. Da will ich mal in sein Zimmer gehen.«
Einen Augenblick Stille. Dann: »Geben Sie bitte Ihren Entlassungsschein her.«
Beerboom, ganz fröhlich: »Aber gewiß doch, Herr Sekretär. Mir liegt nichts daran, hier lange zu stehen. Ich bin nicht gerne hier. Sie doch auch nicht? Sie spielen doch auch lieber Skat?«
»Ich hab' keine Zeit für private Unterhaltungen.«
»Nein, gewiß doch. Es ist nur, was man so hört.«
»Was sind Sie?«
»Raubmörder. Es steht auf dem Schein, Herr Sekretär. Raubmörder.«
»Was Sie vorher waren, will ich wissen.«
»Gar nichts. – Nee, Soldat war ich, richtig, Vaterlandsverteidiger war ich, Herr Sekretär. Meinen Leutnant habe ich umgelegt.«
»Das interessiert hier nicht.«
»Es ist nur, weil Sie fragten, Herr Sekretär. Ich dachte, es interessierte Sie.«
Der andere hat gewühlt in Papier, jetzt bringt er ein Aktenstück. »Ich habe Ihnen zu eröffnen ... Vier Jahre Ihrer Strafzeit sind Ihnen mit dreijähriger Bewährungsfrist erlassen ... Sie stehen unter Polizeiaufsicht. Sie haben sich jeden Tag in der Zeit zwischen sechs und sieben Uhr abends hier auf der Wache zu melden. Wenn Sie verziehen, haben Sie es vorher anzumelden. Unterlassen Sie die tägliche Meldung, so wird sofort Ihre Inhaftnahme verfügt. – Haben Sie verstanden?«
»Wenn ich nun krank werde, Herr Sekretär?«
»Dann schicken Sie jemanden mit einer ärztlichen Bescheinigung hierher.«
»Von mir läßt sich keiner schicken.«
»Nun, wir kümmern uns schon um Sie, wir sehen schon nach.«
Beerboom scheint schwer zu grübeln: »Und es stimmt doch nicht, Herr Sekretär!«
Der Sekretär, sehr gereizt: »Was stimmt nicht?«
»Was Sie mir da vorgelesen haben.«
»Das stimmt, Sie werden sofort verhaftet, wenn Sie sich nicht melden.«
»Nee, werd ich nicht. Ich werde mich überhaupt nicht melden.«
Der Beamte ist direkt vor einem Ausbruch. »Ich hab' nämlich 'ne Erlaubnis vom Polizeipräsidium, daß ich mich nicht zu melden brauche, weil die nämlich im Heim die Schutzaufsicht über mich haben.« Er kramt in den Taschen, gibt dem Sekretär einen Schein.
»Warum geben Sie mir den nicht gleich? Warum lassen Sie mich hier reden und reden? Sie haben mir Ihre sämtlichen Papiere gefälligst sofort zu geben.«
»Alle habe ich nicht hier. Welche habe ich noch zu Haus.«
»Was für welche?«
»Impfschein. Und ein Schulzeugnis.«
Nun kreischt der Vogel hoch: »Sie sind ...« Beerboom grinst erwartungsvoll. »Ach was!« Zum Blassen gewendet: »Sind Sie mit Ihrem fertig? Ja? Schön, Sie können gehen.«
»Ich auch?«
»Ja, Sie auch! Sie auch!«
Sie stehen beide wieder auf der Straße, Beerboom und Kufalt.
»Warum machen Sie so was? Was hat denn das für einen Zweck?« schimpft Kufalt los. »Ich habe mich richtig geschämt für Sie.«
»Solche muß man durch den Kakao ziehen. Die sind ja so doof. Das ist meine Hauptfreude. Mein Stationswachtmeister im Zet, sage ich Ihnen ...«
»Ich sage ja nichts, wenn einer ein Aas ist. Aber bloß so ... Nee, ich geh' mit Ihnen nicht wieder auf ein Revier.«
»Ich will's nicht wieder tun, wenn Sie dabei sind und es stört Sie. Was soll man denn tun, im Bunker, all die Jahre, und nie ist was los –? Da muß man doch stänkern.«
»Na ja, ich hab' auch gestänkert. Aber jetzt sind wir doch draußen.«
»Ich kapier' es noch immer nicht. Wissen Sie, innen kapier' ich es nicht, daß ich draußen bin. Und es wird auch schon nicht stimmen. Ich bin bald wieder drin.«
»Keine Ahnung.«
»Sehen Sie das Mädchen auf der Bank da mit dem Kinderwagen? Nett, wie? Soll ich mal hingehen und die fragen: ›Fräulein, wollen sie nicht auch ein Kind von mir?‹«
»Warum? Was hat Ihnen die getan? Die ist doch selbst noch ein halbes Kind.«
»Ich weiß nicht. Ich habe solche Wut. Auf alles. Die hat es gut, die weiß noch von nichts. Warum soll sie nichts wissen? Alle sind doch gemein. Warum die denn nicht? Ach, Kufalt, ich hab' 'nen schrecklichen Kater, ich wollte, ich läge auf meinem Bett und könnte heulen.«
Es ist der schönste Nachmittag von der Welt, das Mittagessen war gut gewesen, für jeden Mann hatte es zwei Rouladen gegeben. Kufalt sitzt vor seiner Emailleschüssel, die Typenhebel sind sauber, nun trocknet er sie und reibt die Gelenkstellen mit dem Ölläppchen ab. Er arbeitet ruhig und schläfrig, eigentlich fühlt er sich sehr wohl.
Beerboom hatte sich gleich nach dem Mittagessen verdrückt, war ins Bett gegangen, wohl um zu heulen. Aber diese Flucht wurde rasch entdeckt. Die Schreibstube hörte oben Seidenzopfs Baß grollen, Beerboom protestierte gellend, dann aber erschien er, gejagt von Seidenzopf.
»Bürozeit ist Bürozeit! Sie haben das unterschrieben.«
»Ich hab' ja gar nicht gelesen, was ich unterschrieben habe.«
»Hepphepphepp, nun setzen Sie sich fein an die Arbeit ...«
»Meine Nerven halten das nicht aus, hier neun Stunden stillesitzen.«
»Sie wollen doch Geld verdienen. Schreiben Sie! Schreiben Sie! Sehen Sie, wieviel der Maack schon fertig hat – und Sie ...«
Ja, es sieht nicht so aus, als wenn Beerboom heute seine fünfzehnhundert Adressen schaffte. Kufalt kalkuliert den Stoß, der vor Beerboom liegt. Das sind vielleicht dreihundert Adressen. Fünfundvierzig Pfennig das Hundert. Nein, Beerboom wird heute nicht mal sein Kostgeld verdienen ...
Der Maack dagegen, der Große, Lange, Blasse, schreibt wie eine Maschine. Das ist nur ein flüchtiger Blick in die Adressenliste vor ihm, dabei schreibt die Hand schon – und die Adresse ist fertig. Hundert auf Hundert türmt sich dort, Stöße über Stöße. Aber er sieht auch nie hoch, er ist eine Maschine, Adresse um Adresse, ein unbewegtes Gesicht, er schreibt.
Nur von Zeit zu Zeit, wie alle andern übrigens auch, steht er auf, geht in den Vorraum, an dem eiköpfigen Wachthund Mergenthal vorbei, taucht in den Keller. Mergenthal murrt dann immer etwas wie: »Schon wieder!« – »Macht es nicht zu schlimm!« – »Sie können auch noch warten!«
Als Maack das nächstemal verschwindet, folgt ihm in kurzem Abstand Kufalt. Mergenthal murmelt: »Jetzt ist einer unten«, aber wie alle anderen beachtet Kufalt dieses Murmeln nicht und steigt in den Keller.
Wie nicht anders zu erwarten, ist dort unten ein Klo. Und wie nicht anders zu erwarten, ist es besetzt. Und wie wieder nicht anders zu erwarten, riecht es stark nach Zigaretten.
Wartend dreht sich Kufalt auch eine und brennt sie an.
Die Spülung rauscht, und Maack tritt heraus. Erst will er wortlos an Kufalt vorbei, dann aber, als der ein bißchen lächelt, sagt er leise: »Nur drinnen im Klo rauchen. Wenn Seidenzopf Sie klappt, kostet es Strafe. Mergenthal brummt nur, für einen Antreiber ist er ganz anständig.«
»Danke«, sagt Kufalt und lächelt wieder. »Danke sehr.«
Maack geht schon. Plötzlich dreht er sich um. »Wenn ich Sie wäre, würde ich Seidenzopf das nächstemal, wenn er durch die Schreibstube geht, fragen, was er für das Reinigen von der Maschine bezahlt. Sonst sehen Sie in den Mond.«
»Ja«, sagt Kufalt. »Gut, das werde ich tun.«
»Die Stunde dreißig Pfennig, das ist hier Tarif.«
»Danke schön. Dreißig Pfennig. – Sie wohnen nicht hier im Heim?«
»Ich muß jetzt wieder rauf«, sagt Maack und verschwindet.
Kufalts Rückkunft beachtet niemand. Es ist ein Aufstand, eine Art Tumult da oben. Beerboom hat den Federhalter hingeworfen und geschrien, er könne nicht mehr weiter, er würde irrsinnig, das sei schlimmer als Rohrstöcke spalten. Das sei schlimmer als Zet. Wozu ihn die freigelassen hätten, wenn er hier doch wieder eingespunnt sei?
Mergenthal sucht ihn zu beruhigen: »Das ist nur die ersten Tage so. Sie werden das gewöhnt, schließlich denken Sie sich gar nichts mehr dabei.«
»Ich kann das nicht, ich halte das nicht aus! Lassen Sie mich eine halbe Stunde auf die Straße. Ich schwöre, ich komme wieder. Aber ich muß raus ... Da ist die Stadt, ich kann doch hier nicht sitzen, ich habe elf Jahre gesessen ...«
Er fließt über, es geht immer weiter.
Angelockt von dem Lärm naht Seidenzopf. »Was ist denn nun schon wieder? Aber, mein lieber Sohn, mein guter Sohn, das geht nicht. Die andern Herren wollen arbeiten.«
»Lassen Sie mich raus. Ins Freie. Warum haben Sie mich nicht auf meinem Bett gelassen, ich hätte mich so schön in Schlaf geheult ... Lassen Sie mich raus!«
»Aber, Herr Beerboom, Sie sind doch ein großer Mensch, Sie wissen doch, was eine Bestimmung ist. Es ist hier Bestimmung, daß jeder neun Stunden abarbeitet.«
»Und ich will raus! Ich schlage alles ...«
»Beerboom, soll ich die Polizei rufen, Sie wissen doch ...«
Mergenthal hat etwas in Seidenzopfs Ohr geflüstert, der denkt nach: »Nun gut. Ich will es verantworten. Beerboom, jetzt schreiben Sie noch drei Stunden Adressen und dann fahren Sie die fertigen Umschläge mit dem Handwagen zur Post. Herr Mergenthal begleitet Sie. Da kommen Sie raus. Nein, jetzt keine Widerreden mehr. Erst fleißig schreiben, sonst erlaube ich es nicht. Sie haben ja noch nichts fertig. Die Schrift muß auch viel besser sein. Wer soll denn das lesen? Einen gefälligen Eindruck müssen unsere Adressen machen, den Empfänger muß es richtig freuen, wenn er so eine Drucksache bekommt. Sehen Sie, Beerboom, wenn Sie jetzt schreiben: ›Herrn Obersekretär‹, da legen Sie ein bißchen Schwung in das ›Ober‹, da freut sich der Mann, daß er es so weit gebracht hat. Adressenschreiben ist eine Kunst, das ist nichts Langweiliges. – So ist es recht, lieber Maack, so einen Tisch sehe ich gerne. Nun vermittele ich Ihnen auch bald eine schöne Stellung.«
»Die haben Sie mir schon vor anderthalb Jahren versprochen, Herr Seidenzopf.«
»Und Sie, mein lieber Kufalt, ja, das ist recht, das ist hübsch, wie das wieder glänzt und gleißt. Das freut Sie, nicht wahr, wenn Unordnung und Unsauberkeit vertilgt werden? Das muß einen rechten Mann freuen.«
»Mach' ich das eigentlich im Akkord oder Tagelohn, Herr Seidenzopf?«
»Das ist eine Vorbereitung für Ihre morgige Arbeit, mein lieber Kufalt. Davon haben Sie den Nutzen, da geht es morgen wie geschmiert. – Hähä, es ist ja auch frisch geschmiert.«
»Und wieviel verdiene ich? Meine Hände habe ich mir auch ganz versaut.«
»Wir sind eine Schreibstube, Herr Kufalt. Wir machen Schreibarbeiten für Firmen in Lohn. Adressen bezahlen die uns, aber nicht, wenn Sie eine Maschine reinigen.«
»Ich kann doch nicht einen Tag umsonst arbeiten! Bekomme ich denn heute auch Essen und Schlafen umsonst?«
»Ich hoffe, mein lieber Freund, Sie sind nicht gierig, nicht geldgierig, meine ich.«
»Es hat doch geheißen, hier wird gut bezahlte Arbeit gegeben?«
Aber Seidenzopf ist schon weiter. »Und Sie, lieber Leuben, langsam geht es. Langsam, was?«
Der Lange, Blasse sieht zu Kufalt hinüber, er bewegt den Kopf aufmunternd.
Kufalt springt auf, er steht neben Seidenzopf: »Ich will wissen, was ich für die Dreckarbeit kriege! Fünf Stunden sitze ich jetzt dran. Dreißig Pfennig ist Ihr Stundenlohn.«
Seidenzopf sieht ihn kalt und böse an: »Wir geben Ihnen eine Mark. – Kein Wort mehr. Es ist vollkommen unzulässig, daß Sie hier aufspringen und mich bedrängen. – Setzen Sie sich auf Ihren Platz. Sie haben mich schwer enttäuscht.«
Und mit einem Seufzer, weitergehend, fortgehend: »Es gibt so viele Arbeitslose, nicht wahr?«
Drüben, an seinem Tisch, der blasse Maack, nickt unmerklich.
Kufalt ist mit sich zufrieden.
Das Abendessen ist erledigt. Es ist Feierabend für Willi Kufalt, der zweite Abend seiner Freiheit, nach rund eintausendachthundert Abenden in der Gefangenschaft.
Er sitzt im Gemeinschaftszimmer des Heims und sieht durch die Scheiben auf die dämmerige Straße. Das Fenster ist groß, hat schöne, klare Scheiben, auf der Außenseite ist ein hübsches Gitterwerk, Kunstschmiedearbeit, na ja.
Leute gehen vorüber, der Abend ist lau, manche gehen nach Haus und manche gehen von Haus fort. Auch Mädchen sind darunter. Es ist kein solcher Gewinn, wie man es sich im Kittchen geträumt, die Beine dieser Mädchen in den kurzen Röcken zu sehen.
Aber immerhin. Hier in der Nähe soll ein großer Park sein, es wäre ganz hübsch, da umherzugehen. Aber man müßte von Seidenzopf eine feierliche Erlaubnis zu diesem Ausgang erbitten, und Kufalt hat das Gefühl, als hinge ihm dieser Seidenzopf allgemach zum Halse heraus.
Beerboom streicht wie ein ruheloser Geist durch das Haus, oben, unten, an den Fenstern, an den Türen, aber alles ist gut gesichert. Armer Beerboom, er wartet auf die erste Gewinnbeteiligung aus seinen drei Mark. Wenig Wahrscheinlichkeit, daß Berthold damit überkommt. Nun, wenn es ganz dunkel geworden und die Hoffnung zergangen ist, wird er sich auf sein Bett legen und heulen. Das erleichtert, das tränkt das Gehirn mit Müdigkeit und macht es doof und schläfrig.
Kufalt schaltet das Licht ein and geht an den Bücherschrank. Es sieht unerfreulich in den Fächern aus, die Bücher liegen halb schräg, manche stecken mit dem Schnitt nach vorn. Kufalt zieht ein Buch heraus. ›Unsere U-Boot-Helden‹. Er zieht den dunklen Nachbarn des Heldenbuchs heraus: ›Hamburgisches Gesangbuch‹. ›Nun will ich noch ein drittes Mal ...‹
In der Tür erscheint Minna: »Für einen Herrn brennen wir hier aber kein Licht«, sagt sie spitz, schaltet das Licht aus und verschwindet.
»Gottverdammich!« brüllt Kufalt und schaltet das Licht wieder ein.
Er zieht ein neues Buch aus dem Schrank. ›Die Sünde wider den Geist‹ von Artur Dinter. Er schlägt das Buch wahllos auf und beginnt zu lesen.
Von der Tür erklingt die weinerliche Stimme Frau Seidenzopfs.
»Hier darf aber nicht Licht gebrannt werden am frühen Abend. Es ist ja noch ganz hell draußen. Einer brennt oben Licht, einer brennt unten Licht. Was soll denn das für eine Lichtrechnung werden?«
Frau Seidenzopf schaltet das Licht aus und geht fort. Die Tür läßt sie offen. Kufalt legt das Buch fein sachte in den Schrank zurück, schließt die Tür und setzt sich auf einen Stuhl am Fenster.
Es ist fast ganz dunkel draußen.
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Plötzlich wird es hell im Zimmer. Der sittlich hochstehende und innerlich gefestigte junge Mann ist eingetreten, der Student Petersen, vielleicht sechsundzwanzig Jahre alt, der Berater der Strafentlassenen.
»Sitzen Sie hier im Dunkeln? Mögen Sie das?« fragt er.
»Das mag' ich«, sagt Kufalt und sieht blinzelnd zu dem langen, blonden jungen Menschen hinüber.
Petersen zieht die Gardinen zu. Er setzt sich behaglich stöhnend in einen Sessel und streckt die Beine von sich. »Gott, was bin ich müde! Was bin ich herumgelaufen!«
»Ist die Universität weit ab?«
»Ja, auch. Aber ich war nicht auf der Uni. Ich bin bei einem Herrn gewesen, der früher auf die Schreibstube kam.«
Kufalt sieht fragend.
Petersen erzählt bereitwillig: »Er wohnt mit einem Mädchen zusammen. Und nun will sie weg von ihm.«
»Nicht halten, was laufen will«, sagt Kufalt.
»Sie erwartet aber.«
»Und was haben Sie gemacht? Was haben Sie gesagt?«
»Was soll man sagen? Ich habe mich hingesetzt. Erst haben sie sich gefreut, daß ich kam. Ich hab' ihnen auch 'ne Unterstützung gebracht von uns hier. Dann sind sie ins Streiten gekommen.«
»Worüber haben sie denn gestritten?«
»Über eine Eau-de-Cologne-Flasche, fast leer. Wissen Sie, er ist so ein ordentlicher Mensch, es muß alles an seinem Platz liegen. Und nun hat er die Eau-de-Cologne-Flasche im Küchenschrank gefunden. Und sie gehört doch auf den Waschtisch. Darüber haben sie gestritten.«
»Blech.«
»Ziemlich heftig haben sie gestritten. Schließlich schrien sie. Als sie fertig waren, waren sie auch fertig. Dann haben sie geweint.«
»Es ist«, sagt Kufalt, »ja nicht die Eau-de-Cologne-Flasche, es ist, weil es ihnen dreckig geht. Wenn es einem dreckig geht, wird alles schwer. Ich hab' mich im Kittchen auch über jeden Dreck aufgeregt.«
»Ja«, sagt der Student. »Ja, das ist wohl so. Aber was soll man machen?«
»Wovon leben sie denn?«
»Er war früher auf der Schreibstube. Er hat gut geschrieben. Aber dann plötzlich hat er gesagt, er kann nicht mehr über die Straße gehen. Das ist bei manchen so. Wenn sie rauskommen, merkt man ihnen nichts an. Dann ist alles neu. Aber dann kriegen sie es plötzlich ...«
»Dann fangen sie an zu spinnen, ja. Der Beerboom spinnt auch schon. Bei dem passen Sie bloß auf.«
»Ja, man muß mal sehen«, sagt Petersen unsicher, »man kann so wenig machen.«
»Sie sollten mit Herrn Seidenzopf reden. Das ist ein Unsinn, solchen Spinner neun Stunden aufs Büro zu setzen, da dreht er noch ganz durch.«
»Es ist Vorschrift, wissen Sie, Hausordnung, daß jeder neun Stunden absitzen muß.«
»Absitzen, ja.«
Die Tür geht auf. Minna ruft giftig, die Hand am Schalter: »Frau Seidenzopf läßt Ihnen sagen, Herr Kufalt, das Licht ...«
»Was ist denn los, Minna?« fragt Petersen.
»Ach, Sie sind auch hier«, sagt Minna. »Eine Stunde Licht wird Ihnen von Ihrem Lohn abgezogen, Herr Kufalt«, verkündet Minna und zieht sich zurück.
Petersen und Kufalt sehen einander an.
»Ich werde mit Herrn Seidenzopf sprechen«, sagt Petersen. »Das Licht wird Ihnen nicht abgesetzt.«
Kufalt macht eine Bewegung: »Es spielt keine Rolle. Jedenfalls danke.« Dann: »Wie ist das hier eigentlich? Dürfen wir nur mit Ihnen aus dem Haus?«
»Nein, natürlich auch allein. Immerhin empfiehlt es sich, namentlich abends ... wissen Sie, ich gehe überall mit Ihnen hin.« Leise, mit Fältchen um die Augen: »Ich tanze auch gerne.«
»Was machen wir am Sonntag?«
»Wir können ja mal zum Hafen gehen. Und nachher in ein nettes Lokal, wo es nicht so teuer ist. Zum Abendessen lassen wir uns Brote mitgeben.«
»Ich habe eine Verabredung am Sonntagabend. Sie müssen mich eine Stunde weglassen. Ich verspreche Ihnen, ich bin pünktlich wieder da.«
Der Student sagt: »Sie können allein gehen. Es kann Ihnen keiner verbieten.«
»Nein«, sagt Kufalt. »Nicht allein. Ich will offiziell, für die hier, bei Ihnen gewesen sein ...«
Petersen steht auf und geht hin und her. Verlegen sagt er: »Lieber Herr Kufalt, nein, das möchte ich lieber nicht. Ich könnte Unannehmlichkeiten haben.«
»Schön«, sagt Kufalt. »Es war keine wichtige Verabredung. Im Grunde war es gar keine Verabredung. Ich wollte nur Bescheid wissen über Sie. Gute Nacht, Herr Petersen.«
Kufalt sitzt an seiner Schreibmaschine und schreibt Adressen. Es ist nun der zweite Tag, daß er das tut. Gestern hat er siebenhundert geschafft, heute muß es besser werden. Es geht schon einigermaßen, er vertippt sich noch ein bißchen viel, aber das rutscht so durch unter den vielen hundert Adressen. Alle paar Stunden kommt Herr Mergenthal, notiert, was fertig ist, bündelt es und trägt es hinaus.
Kufalt kann von seinem Platz aus Beerboom nicht sehen, aber in den Pausen, in denen er die neue Adresse in der Liste sucht, hört er ihn rascheln. Beerboom hat heute wieder einen schlimmen Tag, dreimal schon ist er aufgesprungen und wollte aus der Schreibstube fortlaufen. Er hört ständig Bertholds Stimme. Mergenthal hat ihn dann abgefangen und ihn mit Zureden und Schieben auf seinen Platz zurückgeführt. Aber auch heute wird Beerboom keine tausend Adressen schreiben, seine Leistung wird von Tag zu Tag niedriger.
Nun kommt Seidenzopf ins Büro und ruft Kufalt. Der erhebt sich mit Wut. Sicher hat er nicht schön genug gebohnert, er hat es eilig gehabt wieder an die Arbeit zu kommen.
Aber diesmal ist es nicht das Bohnern. »Herr Pastor Marcetus möchte Sie sprechen. Gehen Sie dort hinein.«
Kufalt klopft, eine Stimme ruft ›Herein‹, und er tritt ein.
Hinter dem Schreibtisch sitzt in vollem Licht ein großer, schwerer Mann mit schönem, weißem Haar, einem blühenden Gesicht, die Nase ist fleischig, die Mundpartie sehr ausgebildet, kein Bart. Weiße, große Hände.
An der Schmalseite des Schreibtisches sitzt eine Dame mit Stenogrammblock, neben ihr die Schreibmaschine. Vor dem Tisch steht einladend für die Besucher ein großer Stuhl, aber Kufalt wird nicht aufgefordert, sich zu setzen.
Der Pastor blättert in Papieren, Kufalt kennt dies Konvolut, er erkennt es wieder, es ist ihm nachgereist, es ist sein Aktenstück aus dem Zentralgefängnis.
Der Pastor läßt sich Zeit. Kufalts ›Guten Morgen‹ hat er mit einem kurzen Brummen erwidert.
Nun schlägt er eine Seite in dem Aktenstück auf und sagt, ohne hochzusehen: »Sie heißen Willi, das heißt Wilhelm Kufalt, von Beruf Buchhalter, mit fünf Jahren Gefängnis wegen Unterschlagung und schwerer Urkundenfälschung bestraft ...«
»Ja«, sagt Kufalt.
»Sie sind aus guter Familie. Wie kamen Sie dazu? Weiber? Suff? Spiel?«
Es ist ein kalter, geschäftsmäßiger Ton, in dem zu Kufalt geredet wird. Kufalt kennt diesen Ton. Der Mann da am Schreibtisch hat ihn nicht eine Sekunde angesehen, er braucht den Mann Kufalt nicht anzusehen, er hat das Aktenstück Kufalt.
Der kennt den Ton, der kennt das Echo auch, er zittert am ganzen Leibe, es ist die alte Welt, sie sollte versunken sein, es sind die Jahre, es sind fünf Jahre, es geht so weiter. Soll es immer so weitergehen?
Die Seidenzöpfe mögen mit ihm reden, wie sie wollen, die Beerbooms, wie sie wollen – aber der hier, der müßte es besser wissen, der darf nicht. Der darf nicht!
Der Mann Kufalt zittert am ganzen Leibe, er fühlt, wie sein Gesicht weiß und kalt geworden ist, aber er fragt im gleichen Ton wie der Pastor: »Muß in Gegenwart der Dame verhandelt werden?«
Pastor Marcetus sieht zum ersten Male hoch. Er hat einen langsamen, gleichgültigen Blick, der sich festsetzt auf Kufalts Gesicht.
»Fräulein Matzke ist meine Sekretärin. Durch ihre Hände geht alles. Sie weiß alles.«
»Ist die Dame vereidigt?«
»Was heißt das? Sind Sie hier, um zu fragen? Die Dame ist meine Angestellte.«
»Ich frage darum, weil ich nicht weiß, ob Privatpersonen meine Strafakten lesen dürfen.«
»Fräulein Matzke ist vollständig zuverlässig.«
»Trotzdem. Ich weiß nicht, ob es gesetzlich zulässig ist.«
»Sie sehen, Ihre Gefängnisverwaltung hat mir Ihre Akten zugeschickt.«
»Ja, Ihnen. – Die Dame ist vorbestraft?«
Der Mann hinter dem Schreibtisch macht einen Ruck. »Bürschchen ...«, sagt er.
»Ich frage darum: wenn es eine Kollegin wäre, wäre es nicht so schlimm. »
Einen Augenblick ist Stille. Dann sagt der Pastor: »Also, bitte, Fräulein Matzke, warten Sie draußen.«
Die Dame entschwindet, Kufalt steht mit gesenktem Kopf vor dem Schreibtisch.
»Der Bericht Ihres Anstaltsgeistlichen lautet nicht günstig über Sie.«
»Nein«, antwortet Kufalt »Ich will nämlich aus der Kirche austreten.«
»Das hat damit gar nichts zu tun.«
»Vielleicht doch.«
Pastor Marcetus setzt von neuem an: »Auch was Herr Seidenzopf mir über Ihre Führung und Leistung sagt, klingt nicht sehr ermutigend.«
»Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen.«
»Sie brauchen ständig Widerworte.«
»Ständig? Ich habe einmal dagegen protestiert, einen ganzen Tag ohne Lohn zu arbeiten.«
»In Ihrer Lage ist man demütig.«
»Bei Demütigungen ist es nicht schwer, demütig zu sein.«
»Sie können nichts. Ihre Handschrift ist miserabel ...«
»Ich war kein Schreiber.«
»Auch auf der Schreibmaschine fehlt viel. Sie vertippen sich ständig und schaffen nichts.«
»Man muß sich nach der langen Haft auch wieder einarbeiten.«
»Das sind Ausreden. Maschinenschreiben verlernt man nicht, man ist in zwei Stunden wieder im Gang.«
»Nicht, wenn man die Nachwirkungen von fünf Jahren Haft verspürt.«
»Die meisten Gefangenen sind Stümper in ihrem Beruf. Deswegen sind sie in der Welt nicht vorwärtsgekommen und auf den falschen Weg geraten.«
»Vielleicht sehen sich Herr Pastor einmal meine Zeugnisse an.«
»Wozu? Ich sehe Ihre Leistungen. Wirkliche Qualitätsarbeit findet man nur unter den Affektverbrechern. Wer wegen Eigentumsvergehens bestraft ist, konnte nichts. Tüchtige Arbeit findet in der Freiheit immer ihren Lohn.«
»Fünf Millionen Arbeitslose beweisen das.«
Rede und Gegenrede sind sich immer schneller gefolgt. Der fleischige Pastor hat nicht mehr seine milden fröhlichen Farben, er ist dunkelrot angelaufen. Kufalts Gesicht ist fahl, es zuckt und zerrt. Nach einer Pause des Atemholens sagt der Pastor böse: »Ich überlege eben, ob ich Sie nicht am besten sofort der Polizei übergebe ...«
Kufalt sagt wütend: »Bitte! Tun Sie es doch! Das Ganze nennt man Entlassenenfürsorge.«
Aber in ihm warnt etwas: das sagt der nicht nur so, der hat was auf dem Kieker. Was hab' ich denn ausgefressen? Nichts. Aber – dumm ist der nicht.
Der Pastor sagt: »In den sechs Stunden von Ihrer Entlassung bis zu Ihrem Eintreffen hier haben Sie sich bereits eines Eigentumsvergehens schuldig gemacht.«
»Ich hab' geklaut –? Nun, Herr Pastor werden ja nicht lügen. Geistliche lügen nicht. Aber jedenfalls muß ich da geschlafen haben, wie ich geklaut habe.«
»Sie sind«, sagt der Pastor und hängt seine Augen ganz fest in Kufalts Gesicht, »mit hundert Mark mehr hier eingetroffen, als Ihnen im Zentralgefängnis ausgehändigt worden sind.«
In Kufalt jagt es, dreizehn Möglichkeiten und zwölf schon ausgeschieden, aber er hat längst gesagt: »Das stimmt. Und die hab' ich natürlich geklaut. Fragt sich nur, wem?«
»Sie wollen mir keine Angaben über die Herkunft des Geldes machen?«
»Warum? Wo Herr Pastor doch schon wissen, daß ich es geklaut habe.«
»Also ich rufe die Polizei.« Und der Geistliche faßte gegen das Telephon, hebt aber den Hörer nicht, wie Kufalt befriedigt feststellt.
»Telephonieren Sie ruhig, Herr Pastor«, sagt Kufalt. »Mir macht es nichts. Ihr Amtsbruder im Zentralgefängnis wird Ihnen gerne von dem verlorenen Einschreibebrief meines Schwagers erzählen. Er oder der Hauptwachtmeister haben ihn verschusselt. Das wird er vor Gericht zugeben müssen.«
»Was ist das?«
»Das sind so Geschichten, Herr Pastor. Es ist nicht alles klar, was in den Akten ist. Na, jedenfalls bestellen Sie, die sollen in meiner Zelle sich mal das Gitter anschauen, da ist der Brief angebunden.«
»Ich denke, der Brief ist verschusselt?«
»Und Ihr Herr Amtsbruder soll von jetzt an bei der Briefkontrolle auch das Futter im Briefumschlag ansehen, darin steckte das Geld. Meine Schwester hatte es reingesteckt. Heimlich.«
»Was ist das alles!« sagt der Pastor unwillig. »Märchen sind das.«
»Alles findet sich wieder an«, sagt Kufalt ungerührt. »Wenn manche auch das Geld gerne beiseite brächten.«
»Ich versteh' kein Wort. Ich denke, Herr Pastor Zumpe hat es grade nicht im Briefumschlag gefunden? Die Sache scheint mir völlig dunkel.«
»Rufen Sie die Polizei, dann wird sie schon hell werden. Oder, noch ein Vorschlag, schreiben Sie Herrn Zumpe. Der wird Ihnen antworten: der Kufalt ist ein ekelhafter Kerl, aber diesmal funkt der Laden.«
»Funkt der Laden –?«
»Hat er die Wahrheit gesagt, heißt das.«
»Also gut, ich werde schreiben, und wehe Ihnen, wenn nicht jedes Wort wahr ist! Ich rufe unnachsichtlich die Polizei.«
»Und ich schiebe wieder Knast, gewiß doch, Herr Pastor.«
Der Pastor macht eine mutlose Bewegung. »Also führen Sie sich wenigstens so lange gut.«
Kufalt beugt sich über den Schreibtisch. Jetzt ist er wirklich böse. Und hat keine Angst mehr.
Er flüstert dem erstaunten Geistlichen ins Gesicht: »Wenn Sie das nächste Mal mit einem alten Knastschieber reden, dann sagen Sie ihm guten Morgen. Dann fragen Sie ihn nicht in Gegenwart von hübschen jungen Mädchen, ob er wegen Weibergeschichten ins Kittchen kam. Dann bieten Sie ihm lieber noch einen Stuhl an. Dann kotzen Sie ihn nicht an. Das Angekotztwerden, das sind wir gewöhnt, Herr Pastor, das macht uns munter und scharf, das ist das Salz in unserer Suppe, Herr Pastor. Das nächste Mal versuchen Sie es vielleicht mal mit einer anderen Tonart, Moll statt Dur, Freundschaft statt Feindschaft. Guten Morgen, Herr Pastor ...«
»Halt!« brüllt der Pastor. »Sie können auf der Stelle ...«
»Das Friedensheim verlassen –?« fragt Kufalt.
»Ach was! Gehen Sie an Ihre Arbeit. Sie sind es alle nicht wert ...«
»Natürlich sind wir alle die Arbeit von Herrn Pastor nicht wert. Guten Morgen, Herr Pastor.«
»Machen Sie, daß Sie wegkommen, Fräulein Matzke soll wieder reinkommen.«
»Guten Morgen, Herr Pastor!«
»Na, meinethalben guten Morgen.«
An diesem Abend, es ist Sonnabend, sagt beim Essen der Student plötzlich: »Ich geh noch ein bißchen spazieren. Wenn einer von den Herren Lust hat –?«
So weit sind sie doch schon, daß sie erst einmal unschlüssig zu Seidenzopf hinsehen, der aber sehr friedlich sagt: »Aber gewiß doch. So ein schöner, lieblicher Abend ...«
Und Frau Seidenzopf: »Aber Punkt zehn wird das Haus geschlossen und nicht wieder aufgemacht.«
»Dann wollen wir also die Uhren vergleichen«, sagt Petersen. »Es ist sieben Uhr zwanzig ...«
Und Beerboom: »Ich gehe nur mit, wenn Herr Seidenzopf mir Geld gibt. Ohne Geld gehe ich nicht auf die Straße, da kommt man ja an keinem Hunde vorbei.«
»Ich rechne also mit den Herren noch rasch ab, Herr Petersen.«
Aber es geht dann nicht so rasch. Kufalt steht am Gangfenster und sieht in den langsam dämmrig werdenden Garten, während drüben im Büro die Stimmen gegeneinander anschwellen und wieder leise werden. Die Büsche verschwimmen sachte gegen die dunklen Gartenmauern, die äußersten Spitzen der Baumkronen reichen noch in die Sonne, Beerboom drinnen jammert flehend, Seidenzopfs Baß grollt – und schließlich geht die Tür auf und Seidenzopf schreit: »Gehen Sie raus, Sie Mensch Sie! Ein Ärgernis sind Sie! Keinen Pfennig mehr gebe ich. – Kommen Sie rein, mein lieber Kufalt.« Kufalt kommt rein.
»Na, Sie haben ja erst drei Arbeitstage. Für den Donnerstag Maschinenreinigen – na, sagen wir, fünfzig Pfennig ...«
»Eine Mark ist ausgemacht.«
Langer Blick. »Meinethalben eine Mark. Freitag und Sonnabend je siebenhundert Adressen – sehr wenig, Herr Kufalt, und recht liederlich geschrieben –, fürs Tausend sechs Mark, macht acht vierzig, alles in allem Arbeitsverdienst neun Mark vierzig. Sie haben zu zahlen fünf Tage Kost und Logis je zwei Mark fünfzig, macht zwölf Mark fünfzig, bleiben Sie uns schuldig drei Mark zehn, die von Ihrem Depot gekürzt werden. Alles klar?«
»Ach nee«, sagt Kufalt und holt tief Atem, »das ging ja furchtbar einfach. Wieso erst mal fünf Tage Kost?«
»Der Ankunftstag rechnet voll.«
»Ich habe aber nur das Abendessen gehabt.«
»Das macht nichts, das sind unsere Bestimmungen so, die haben Sie unterschrieben.«
»Und der fünfte Tag?«
»Ist morgen der Sonntag.«
»Den bezahle ich im voraus? Auch nach Ihren Bestimmungen?«
»Dann geht er bei der nächsten Abrechnung nicht ab. Das ist doch nur Ihr Vorteil.«
»Ich verdiene hier also nicht so viel, wie ich ausgebe?«
»Das kommt noch, mein junger Freund, das kommt alles noch.«
»Viel mehr kann man nicht schaffen auf der Maschine.«
»O doch, das kann man schon. Machen Sie das nur erst ein halbes Jahr.«
»Ich brauche auch noch Geld für die nächste Woche.«
Seidenzopfs Stirn verdunkelt sich. »Ich habe Ihnen am Mittwoch erst drei Mark gegeben. Wieviel wollen Sie schon wieder?«
»Zehn Mark.«
»Das ist ganz ausgeschlossen. Das gestattet Pastor Marcetus nie. Zehn Mark Taschengeld in der Woche! Da erzögen wir Sie ja zum Verschwender!«
Kufalt sagt finster: »Ich will Ihnen mal was sagen, Herr Seidenzopf. Das ist mein Geld, um das ich Sie bitte. Das ekelt mich hier. Sie haben mir gesagt am Mittwoch, ich kann jederzeit Geld haben. Sie lügen doch nicht, Herr Seidenzopf?«
»Wozu brauchen Sie denn das Geld? Sagen Sie mir einen vernünftigen Zweck!«
»Erst mal brauche ich Porto.«
»Porto? Wozu denn Porto? Ihre Verwandten wollen doch nichts mehr von Ihnen wissen – wem wollen Sie denn schreiben?«
»Stellenbewerbungen.«
»Das ist nur rausgeworfenes Geld, das lassen Sie lieber. Wer nimmt Sie denn? Da warten Sie, bis wir Sie kennen und empfehlen können. – Wozu brauchen Sie noch Geld?«
»Ich muß meine Wäsche waschen lassen.«
»Für zehn Mark? Was müssen Sie denn waschen lassen? Ein Hemd und einen Kragen! Die Unterwäsche können Sie ruhig vierzehn Tage tragen, ich wechsle meine auch nicht öfter. Macht achtzig Pfennig. Wozu brauchen Sie noch Geld?«
Die Stimmen schwellen an und sinken dann wieder. Nach einer Viertelstunde ist Kufalt besiegt, trotzdem er zweimal gebrüllt und auf den Tisch geschlagen hat Er verläßt mit fünf Mark Anzahlung das Büro.
»Auf diese Weise werden Sie mit Ihrer Rücklage ja schnell alle werden, mein lieber Kufalt«, schilt Seidenzopf hinter ihm her. – – – Aber dann hängt in den Straßen eine fast leuchtende Dämmerung. Am tiefen Nachthimmel glüht die Schnur der Bogenlampen sanft und hell. Viele Menschen sind unterwegs. Sie schlendern. Man hört sie sprechen, leise oder lauter, dann lacht einmal ein Mädchen.
Nebenher die beiden reden eifrig, Petersen und Beerboom. Beerboom ist voll Gift und Galle, neun Mark dreißig hat er draufzahlen müssen. Petersen versucht ihn zu besänftigen.
Kufalt bummelt langsam daneben her. In den Lauben vor den Cafés sitzen die Leute, trinken und essen. Man hört Musik. Löffelchen klappern gegen Teller. Die beiden anderen überlegen, ob man sich in ein Café setzen soll. Aber es wird zu teuer. Besser, man geht in den Hammer Park, wo gratis Musik zu hören ist.
Beerboom beweist jetzt dem Petersen, daß sein Leben völlig verpfuscht ist, daß es ebensogut wäre, gleich heute Schluß zu machen, Petersen beweist dem Beerboom das Gegenteil.
Nun taucht es dunkel und massig vor ihnen auf, die Luft wird kühler und feuchter, Bäume, viele, hohe Bäume, der Hammer Park.
Erst gehen sie einmal rundum durch die schwach beleuchteten Wege voller Pärchen. Dann landen sie in der Mitte bei einem strahlend beleuchteten Kaffeehaus. Dort musiziert in einem muschelförmigen Pavillon eine Kapelle, Tische sind aufgestellt und viele Menschen sitzen daran. Die nichts verzehren, sind abgesperrt durch Seile.
Auch die drei bleiben eine Weile unter dem Volk stehen und lauschen. Das Hören hat man nicht absperren können, so gerne man es wohl getan hätte. Es geht fröhlich zu bei den Zaungästen, ganze Büschel junger Mädchen hängen dort herum, Jungens jagen sich mit Mädchen, viele lachen. Kufalt wird von einer Kette junger Leute beinahe umgelaufen.
Er drängt in die dunklen Wege zurück, die anderen wollen im Licht bleiben. So zeigt er auf einen Weg: »Da sitze ich irgendwo. Holen Sie mich dann.«
Er findet im Dunkeln eine Bank, auf der nur ein Paar sitzt. Hockt sich auf eine Ecke, dreht sich eine Zigarette, lehnt sich bequem zurück und sieht vor sich hin.
Manchmal bewegt der Nachtwind ein wenig die Zweige, das rauscht ferne an, kommt näher mit tausend einzelnen Geräuschen und verliert sich wieder fern mit einem allgemeinen Rauschen.
Der Mann und die Frau auf der Bank reden miteinander. Kufalt hört halb hin. Es wird von einem Garten geredet, von einer alten Mutter, die immer schwieriger wird ... ›Verliebte sind es nicht‹, denkt Kufalt. Er hätte gerne ein Mädchen, mit dem er sitzen und schwatzen könnte. Über was aber könnte er mit ihr schwatzen –?
Es gehen viele Menschen vorüber, manche halten sich an den Händen. Nein, nicht einmal im Gefängnis hat Willi Kufalt das Gefühl gehabt, wie sehr er sich außerhalb von all dem gestellt hat. Er ist draußen aus all diesem Leben – kommt er je wieder hinein? Von all dem, was ihm in den letzten fünf Jahren geschehen ist, wird er nie reden dürfen.
Das Mädchen ist aufgestanden und macht ein paar Schritte auf und ab. »Es ist doch kühl. Mir wird fröstelig«, sagt sie. Der Mann antwortet nicht. Sie spricht das spitze ›S‹ der Hamburger, nun kommt sie in den Lichtschein der Laterne – eine zierliche, rasche Figur, ein Herzgesicht, blondes Haar. Wieder im Schatten.
»Gehen wir«, sagt das Mädchen.
Der Mann steht auf.
Petersen und Beerboom kommen. »Gehen wir dort entlang«, sagt Kufalt und folgt dem Paar. »War die Musik noch nett?«
Die beiden erzählen, Kufalt behält sein Paar im Auge. »Nein, wir wollen hier entlanggehen. Sie haben ja keine Ahnung, was ich für einen Ortssinn habe. Ich führe Sie glatt nach Haus.«
»Aber wir gehen in der falschen Richtung!«
»Gar nicht. Wir gehen nachher rum. Wetten, daß ich Sie richtig führe?«
»Um was?«
»Zehn Zigaretten.«
»Abgemacht. Hauen Sie durch, Beerboom!«
Es ist nicht ganz leicht, ohne Auffallen dem Paar zu folgen. Kufalt hält sich auf der anderen Straßenseite und macht manchmal Bemerkungen, die seinen suchenden Ortssinn beweisen sollen: »Nein, nun gehen wir besser hier um die Ecke. – Jetzt wieder geradeaus – nein, doch besser links.«
»Ihr Ortssinn, Kufalt«, sagt Beerboom.
Hinter einer Bahnunterführung biegt das Paar überraschend nach links ab, und im Augenblick, da Kufalt seine beiden mit Mühe und Not in diese unerwartete Kurve gebracht hat, ist es in irgendeinem Hauseingang verschwunden.
Kufalt bleibt aufatmend stehen. »Nun bin ich doch ganz wirr geworden. Wo sind wir eigentlich? Wie heißt denn die Straße?«
»Sie sind gut«, sagt der Student Petersen. »Jetzt, wo Sie endlich die rechte Richtung gefaßt haben ... das ist die Marienthaler Straße, in einer Viertelstunde sind wir im Heim.«
Und nach einem Blick auf die Uhr: »O Gott, wir haben nur noch neun Minuten. Nun aber trapp, so schnell es geht!«
»So gefährlich wird es doch nicht sein«, sagt Kufalt im Laufen. »Fünf Minuten werden die schon auf uns warten.«
»Der wirft jeden raus, der nur drei Minuten zu spät kommt. Läßt ihn gar nicht erst ins Haus, die Tür bleibt zu, und am nächsten Morgen Sachen packen, weg!«
»Wir sollen eben durchaus nicht an die Mädchen«, keucht Beerboom. »O Gott, ich kann nicht mehr, laßt uns einen Augenblick Schritt gehen.«
»Öder Quatsch«, schilt Kufalt »Wenn Sie dabei sind, gilt es doch nicht, Herr Petersen.«
»Ich ändere auch nichts«, keucht Petersen. »Ich bin nach außen gut, als Aushängeschild. Los, Beerboom, wieder traben! Nur noch vier Minuten!«
In der Haustür entspinnt sich eine heftige Debatte mit Minna, ob es eine Minute nach oder Punkt zehn ist. Jedenfalls wird sie es Herrn Seidenzopf melden.
Am Vormittag – es ist nun Sonntag geworden – haben sie zur Kirche gemußt, denn nach der Hausordnung hat jeder Heiminsasse den Gottesdienst seiner Konfession zu besuchen. Dann spielten Kufalt und Petersen bis zum Mittagessen Schach, während Beerboom seine Hosen über einer Stuhllehne mit einem flachen Brett ›bügelte‹. Als sie dann am Nachmittag losgingen, hatte er zwei Bügelfalten nebeneinander und wurde weinerlich. Alles ging ihm quer.
Der Hafen ermunterte sie, und eine Weile stolperten sie an den Bollwerken entlang. Aber dann wurden sie müde. Beerboom klagte über Hunger und Durst. Das Essen hielte rein nichts vor, was das für Portionen seien, im Zet ...
Sie gerieten in die Anlagen beim Bismarck und setzten sich dort unter Bäume. Eine Selterbude war dicht dabei, Beerboom trank Zitronenlimonade, Himbeerlimonade, aß die Stullen, die fürs Abendessen bestimmt waren, klagte eine Weile und schlief ein.
Die beiden anderen, müde und zufrieden, sahen schläfrig auf den Strom der Vorbeiziehenden und flüsterten ab und zu ein paar Bemerkungen über Beerboom, mit dem es nicht gut ablaufen könne. »Aber Seidenzopf hört nicht und Marcetus weiß alles über Entlassenenfürsorge. Dem kann man nichts erzählen.«
Sie sehen sich weiter die Vorübergehenden an. Von Zeit zu Zeit setzen sie Beerboom zurecht, der von der Bank rutscht.
Als der aufwacht, ist es schon gegen sechs. Er ist wütend, daß sie ihn so lange haben schlafen lassen, um zehn müssen sie schon wieder in Friedensheim sein, da kann er schlafen, aber doch nicht hier!
Dann kauft er sich eine Bockwurst mit Kartoffelsalat und zum Abschluß einen kalten Kuß. Er steht auf und sagt: »Gehen wir.«
Die Reeperbahn, die Kleine und die Große Freiheit helfen über eine Stunde weg. Aber sie sind Leute ohne Geld, außerdem erklärt Petersen, daß er unmöglich mit ihnen hier in ein Lokal gehen könne, dann sei er seinen Posten los. Zur Not könne man in der Nähe des Hauptbahnhofs in ein Konzertcafé. Sie müßten aber den Mund halten.
Schließlich sitzen sie dort in einem halbleeren Café. Es ist die unglückliche Stunde zwischen sieben und acht, in der die Kapelle pausiert. Beerboom schimpft und trinkt Bier, Kufalt grübelt und trinkt ein Kännchen Kaffee, Petersen sieht sich mit seinen schnellen Augen unter den jungen Mädchen um. Er trinkt Tee.
Als Kufalt sich eine Zigarette dreht, flüstert er: »Ich weiß nicht, ob das hier üblich ist. Vielleicht kaufen Sie sich welche. Wir fallen sonst auf. Ich würde Ihnen die fünfzig Pfennige unserer Wette erlassen.«
»Na schön«, sagt Kufalt und steht auf. »Ich hole sie mir dann drüben im Hauptbahnhof. Hier deren Apothekerpreise bezahle ich nicht.«
Kufalt geht. Seinen Hut läßt er hängen. Es ist kurz vor acht. Unten fragt er, wo der Rathausmarkt ist. – Dort die Ecke, die Mönckebergstraße hinunter, kaum fünf Minuten.
Kufalt läuft.
Da ist schon der Rathausmarkt, die Uhr schlägt eben acht, er sieht sich nach dem Denkmal, nach dem Pferdeschweif um.
Nichts.
Er fragt. »Ja, das war mal hier. Aber jetzt nicht mehr. Wie lange waren Sie denn nicht hier?«
Kufalt umrundet den Rathausmarkt. Er geht kreuz und quer. Immer glaubt er, zwanzig Meter weiter Batzke zu sehen. Manchmal erreicht er ihn, dann ist es jemand anders, manchmal entschwindet der andere, dann war er es vielleicht doch. Außerdem kann er sich nicht recht vorstellen, wie Batzke eigentlich aussieht, immer wieder stellt er sich einen Menschen in blauer Kittchenkluft mit Lederpantoffeln vor.
Die Uhr am Rathaus zeigt Viertel, zeigt Halb. Kufalt sucht verbissen weiter. Er muß kommen, Batzke muß kommen. Er will nicht ins Heim zurück. Dieses kleine, mickrige Leben, dieses Kämpfen um den Groschen, dieses Streiten mit Seidenzopf, dieses Quälen an der Maschine, dieser Beerboom, dieser Petersen, dieser Marcetus – soll das die Freiheit sein, auf die er fünf Jahre gewartet hat?
O Gott! die Freiheit! Tun und lassen, was er mag ...
Es ist nach neun, als er wieder ins Café kommt. Es soll also wohl so sein, Friedensheim heißt die Losung. Nun gut, auch das wird er ertragen, er muß eben noch ein wenig länger warten ...
Aber wenn Petersen ihm jetzt ein Wort sagt –! Doch Petersen tanzt mit Begeisterung, er hat wohl keine Ahnung, wie lange Kufalt fort war. Als er mal an den Tisch kommt, schwärmt er von einer Blauen, die sicher was Besseres ist.
Beerboom trinkt sein zweites Glas Bier und erörtert die Frage, ob er Seidenzopf morgen schon wieder um Geld angehen kann.
Einerseits – andererseits.
Zehn Minuten nach halb zehn: »Jetzt müssen wir aber unbedingt los, sonst schaffen wir es nicht.«
Unten sagt Petersen sorgenvoll: »Wir müssen eine Elektrische nehmen.«
Und Beerboom: »Die bezahlen Sie aber! Bloß wegen Ihrer blöden Tanzerei.«
Im Wagen wird Beerboom plötzlich gelb und weiß: »Mir wird so schlecht.«
Er wankt auf die Plattform. Und muß sich schon erbrechen.
Der Schaffner tobt: »Nein, meine Herren, das geht nicht! Sofort steigen Sie ab!«
Petersen ist verzweifelt: »Es hilft alles nichts. Wir müssen ein Auto nehmen. Herr Beerboom, nehmen Sie sich ein bißchen zusammen, daß Sie das Auto nicht dreckig machen.«
Beerboom röchelt.
Und im Auto, in kurzen Abständen: »Ein Taschentuch, schnell, ganz schnell – Ihr Taschentuch, doch nur schnell! Da! Wischen Sie's ab!«
Und plötzlich lauthals weinend: »Was ist das mit mir?! Ich habe doch gar nichts getrunken! Was habe ich früher vertragen! O Gott, o Gott, was haben die aus mir gemacht, die Schufte, die elenden ... An nichts kann man sich mehr freuen ...«
Sie kommen zwei Minuten nach zehn an. Vater Seidenzopf schließt mit einem Begräbnisgesicht auf, beantwortet ihren Gruß nicht, betrachtet scharf den Beerboom.
»Herr Petersen, kommen Sie noch mal auf mein Zimmer. Wenn Sie Ihren Schutzbefohlenen ins Bett gebracht haben. Ich habe mit Ihnen zu sprechen.«
Es vergehen zwei und drei Wochen, Kufalt sitzt in der Schreibstube und schreibt. Es geht nicht so schnell vorwärts, wie er geglaubt hat, tausend Adressen erreicht er nie. Mal ist das Adressenmaterial schlimm und mal ist ihm schlimm.
Er wacht trübe auf. Dann irritiert ihn jedes Geräusch, das Gebrumm und Gegreine von Beerboom in seinem Rücken macht ihn wahnsinnig. Er sitzt an der Maschine, aber er schreibt nicht, er überlegt: ›Soll ich aufstehen und dem Beerboom eins in die Fresse hauen?‹ Das wird eine fixe Idee: er sitzt und horcht nur nach Beerboom: Soll ich –? Und er müßte doch schreiben!
Aber es scheint so zwecklos, ohne Atemholen Adressen zu klappern, nur daß bei jeder Wochenabrechnung mit Seidenzopf die Rücklage um fünf oder zehn Mark kleiner wird. Soll es ewig so weitergehen? Es gibt Leute, die kommen schon Jahre auf die Schreibstube.
Bürovorsteher Mergenthal ist nicht schlimm. Zum Beispiel hilft er manchmal, wenn eine Arbeit eilig ist. Dann verschenkt er seine Adressen, meistens an Beerboom, aber auch Kufalt hat einmal hundert bekommen. Und er kann es überhören, wenn sie ein Wort sprechen, nur darf Seidenzopf nicht im Lande sein. Mergenthal geht dann vor die Tür. Vielleicht horcht er, aber jedenfalls klatscht er nicht.
»Wieviel haben Sie?« fragt Maack den Kufalt.
»Vierhundert. Nein, noch nicht. Dreihundertachtzig. O Gott, ist das schwer! Es wird eigentlich jeden Tag weniger, statt mehr.«
»Ja«, sagt Maack und nickt mit seinem energischen blassen Gesicht. »Ja. So geht es den meisten zu Anfang. Es wird immer schlechter.«
»Sind Sie auch ...?« fragt Kufalt und bricht wieder ab.
»Ich auch«, nickt Maack lächelnd. »Wohl die meisten hier. Vielleicht sind ein paar dabei, die nur stellungslos sind. Aber das weiß man nicht.«
»Ist Mergenthal auch vorbestraft?« flüstert Kufalt.
»Mergenthal?« Maack scheint nachzudenken. Aber vielleicht ist ihm die Frage auch nur unangenehm. »Das weiß ich nicht authentisch.«
Und schreibt endgültig weiter.
Beerboom erregt sich wieder einmal. Er hat am Abend vorher Adressen mit dem Handwagen abgeliefert und bei der Firma gehorcht, was die wohl zahlen fürs Tausend. »Zwölf Mark. Zwölf Mark! Und uns geben sie fünf und sechs! Verbrecher sind das, Räuber, Ausbeuter ...«
Aber nun öffnet sich die Tür, und Mergenthal kommt wieder. »Beerboom, Sie müssen schreiben. Sie dürfen nicht sprechen! Sie wissen, wenn Frau Seidenzopf das hört oder Fräulein Minna ...«
»Fräulein Minna!« höhnt Beerboom. »Wenn ich das schon höre: Fräulein Minna! Die Fürsorgegöre! Kriechen müssen wir, Papier bekritzeln, damit die Weiber sich dicke tun können! Zwölf Mark kriegen sie und uns geben sie sechs – wenn das Gerechtigkeit ist –!«
»Herr Beerboom, seien Sie jetzt still. Ich darf das nicht hören, ich müßte es Herrn Seidenzopf melden ...«
Nun, schließlich beruhigt sich Beerboom wieder und Mergenthal meldet es nicht. Aber Minna hat mal wieder gelauscht und von Minna erfährt es Seidenzopf.
»Ich übergebe Sie der Polizei, Beerboom. Ihre Bewährungsfrist verfällt. Entweder – oder. Es ist mein letztes Wort!«
Und am nächsten Tag folgt dann das Strafgericht beim Pastor. Beerboom wird zermalmt, zerquetscht, seine jammernden Proteste werden niedergedonnert. Beerboom wird zu straffer Arbeit angehalten.
An diesem Tage liefert er als Tagesleistung achtundsechzig Adressen ab.
Aber auch Kufalt wird wieder einmal zu Pastor Marcetus gerufen. »Wie ich höre, sind Sie noch immer hier.«
»Herr Pastor Zumpe hat doch sicher wegen des Geldes geschrieben?«
»Pastor Zumpe?« Ablehnende Handbewegung. »Ich bin der Sache nicht nachgegangen. – Sie haben an Ihren Schwager geschrieben?«
»Ihr Schwager will wissen, wie wir mit Ihnen zufrieden sind.«
»Und wie sind Sie mit mir zufrieden?«
»Sie kommen oft zu spät nach Haus.«
»Immer unter der Obhut von Herrn Petersen.«
Der Pastor überlegt. »Ihr Schwager ist begütert?«
»Er hat eine Fabrik.«
»So. Eine Fabrik. – Sie haben gebeten, daß Ihre sämtlichen Sachen hierher geschickt werden. Das geht natürlich nicht, wir wären verantwortlich, wenn etwas abhanden kommt.«
»Werden Sie darum nicht mit mir zufrieden sein?«
Der Pastor sieht wirklich nicht zufrieden aus. Er äußert sich aber mehr allgemein: »Einen Ton haben die jungen Leute heutzutage. Wir sind Ihnen doch behilflich.«
»Sie werden also mit mir zufrieden sein?«
»Ihre Arbeitsleistung ist ganz ungenügend.«
»Lassen Sie mich rausziehen, Herr Pastor, aus dem Heim und täglich auf die Schreibstube kommen wie die andern.«
Der Pastor schüttelt mißbilligend den Kopf: »Zu früh. Viel zu früh. Der Übergang soll sachte sein.«
»In der Hausordnung steht, der Aufenthalt im Heim soll vier Wochen nicht übersteigen.«
»Im allgemeinen, heißt es dort, im allgemeinen.«
»Bin ich ein besonderer Fall?«
»Wovon wollen Sie denn draußen leben?«
»Von meinem Arbeitslohn hier.«
»Sie verdienen ja keine vier Mark den Tag. – Nein, nein, Sie haben andere Dinge im Kopf.«
»Was für andere Dinge?«
Aber der Pastor will nicht mehr. Er ist müde oder verärgert oder er langweilt sich auch. »Hier habe ich zu fragen, Herr Kufalt. Nein, ich werde Ihrem Schwager schreiben, daß Sie für die nächste Zeit noch bei uns bleiben. Vielleicht im Juli. Nein, gehen Sie jetzt. Guten Morgen übrigens.«
An einem Freitag erklärt Seidenzopf beim Abendessen mit sanfter Stimme: »Ich möchte gerne, daß meine jungen Freunde am Sonntag einmal die schöne Gottesnatur um Hamburgs Mauern kennenlernen, Herr Petersen. Ich habe vor, Sie für einen ganzen Tag zu beurlauben. Sie dürfen morgens zeitig aufbrechen und Sie brauchen ausnahmsweise erst um elf oder gar um zwölf Uhr nachts zurück zu sein. Was meinen Sie dazu, meine Herren?«
Und wie aus der Pistole geschossen, antwortet Petersen: »Ich würde einen Ausflug nach Blankenese vorschlagen, Herr Seidenzopf. Vielleicht kann man schon baden. Und am Abend vielleicht ein gutes Theater.«
»Sehr hübsch. Sehr gut«, lächelt Seidenzopf. »Und ich würde jedem unserer jungen Freunde aus der Heimkasse fünf Mark bewilligen, ein Geschenk also, das nicht auf Arbeitslohn oder Rücklage angerechnet wird.«
»Au fein!« sagt Beerboom.
»Und Sie, mein lieber Kufalt, Sie sind ja so still?«
»Selbstverständlich würde das sehr schön sein. Aber wenn wir den ganzen Tag draußen sind, Fahrgeld und Theater, da reichen fünf Mark nicht.«
»Man kann sich einrichten. Sie bekommen Butterbrote mit, ausreichend Butterbrote.«
»Fünf Mark sind gar nichts«, fängt nun auch Beerboom an. »Sie müssen mindestens noch fünf Mark drauflegen, Herr Seidenzopf.«
Der übliche Streit setzt ein. Kufalt grübelt.
Am nächsten Tag warnt Maack: »Paß Achtung, Genosse. Es stinkt: Morgen feiert das Heim Jubiläum.«
Kufalt sagt: »Danke, Kumpel«, und grübelt tiefer.
Am Sonntagvormittag sitzen die drei dann auf der hohen Steilküste an der Elbe und betrachten Strom, Schiffe und Land. Es ist drückend heiß, die Autos wirbeln dicke Staubwolken auf, Scharen von Ausflüglern ziehen auf allen Wegen, schwitzend und über Hitze jammernd.
Kufalt sagt brummig: »Hier kann einem ja mies werden. Alles stinkt nach Schweiß und Benzin. Gehen wir weiter.«
Petersen protestiert: »Aber wohin? Heute ist es überall so.«
»Ach, wir werden schon was finden.«
Was sie schließlich finden, ist ein großer, verwilderter Garten.
»Halt, hier ist es richtig«, ruft Kufalt, »hier können wir durch den Draht kriechen. Drinnen ist es sicher kühl und ruhig.«
»Das ist sicher verboten«, sagt Petersen.
»Natürlich ist das verboten«, lacht Kufalt. »Wenn Sie nicht mitmachen wollen, warten Sie draußen, bis wir wiederkommen. Sie machen doch mit, Beerboom?«
Beerboom macht mit, und schon kriecht Kufalt zwischen den Drähten durch. Beerboom folgt, bleibt aber an den Stacheln hängen.
»Mach schon rasch, Mensch«, drängt Kufalt, »da kommen Leute.« Petersen, verlegen, verzweifelt, reißt den Draht los, es gibt einen Ruck, einen Riß, Beerboom jammert, Petersen kriecht nach – und schon drücken sie sich durch die Büsche.
»Sicher ist meine Hose entzwei«, klagt Beerboom, »so was passiert immer mir.«
»Das läßt sich stopfen«, tröstet Kufalt. »Außerdem ist es im Schritt, da sieht es keiner, und Sie haben bei der Hitze Luft.«
»Und wer bezahlt es? O Gott, o Gott, wenn die Minna einem noch was nähen würde! Immer habe ich im Zet gebeten, daß ich in die Schneiderei käme!«
»Wir hätten wirklich nicht durch den Zaun kriechen sollen, Kufalt. Wenn das Pastor Marcetus erfährt ...«
»Natürlich hätten wir nicht. Sehen Sie das ...«
Sie stehen hinter den letzen Büschen und sehen in einen großen Obstgarten. Dort geht ein alter Mann mit einem gelben Strohhut von Bienenkasten zu Kasten, er raucht aus einer urmächtigen Piep. Massen von Bauernblumen blühen.
»Ist das schön? Ist das still? Ist das hier kühl? Wartet, dort ist die richtige Stelle, da hauen wir uns hin und pennen eine Stunde. Gott, ist das hier schön still!«
Sie lagern sich, Petersen legt gleich den Kopf auf den Arm, Kufalt hockt wartend da und sieht Beerboom zu, der seine Hose ausgezogen hat und leise vor sich hin jammert. Dann aber macht Beerboom aus der Hose ein Kissen, legt den Kopf darauf und schläft ein.
Es ist ganz still, kein Windhauch bewegt die Äste der Bäume. Die Luft scheint vor Hitze zu singen und das Summe der Bienen aus dem Bienengarten schwillt auf und ab.
Kufalt setzt sich vorsichtig hoch und späht nach den Schläfern.
Er steht leise auf und späht wieder, den Atem anhaltend. Dann schleicht er sachte über den Grasboden davon, läuft einen Weg in der Richtung des Zauns, und als er durch die Einsteigelücke kriecht, taucht grade eine Horde von Ausflüglern auf.
Sie stutzen und sehen ihn mißtrauisch an. Er grölt ein übermütiges »Bäh«, rast in wilden Sprüngen den steilen Uferweg hinunter nach dem Dampferkai.
In einer Viertelstunde geht der nächste Dampfer nach Hamburg. Nun kommt es darauf an, daß die ihn bis dahin nicht vermissen. Er atmet tief auf, als der Dampfer von der Brücke ablegt.
Drei Stunden später taucht Kufalt erhitzt und atemlos in der Apfelstraße auf. Als er Friedensheim sieht, pfeift er leise und gedankenvoll vor sich hin. Von den Flaggenmasten wehen die Hamburgischen und die Reichsfahne. Über der Tür hängen Girlanden. Vor der Tür halten zwei große Autobusse.
»Die Äster«, murmelt er. »Diese schleimigen Äster. Haben uns nur weghaben wollen!«
Die Tür ist offen und über den Vorplatz hin, die von ihm so oft gebohnerte Treppe hinauf, liegt ein schöner roter Läufer. Rechts in der Schreibstube hört er das Gemurmel vieler Stimmen.
Er schleicht leise die Treppen hinauf, öffnet die Tür zum Schlafsaal. Nun sperrt er doch den Mund auf.
Über den sonst so öden Fensterhöhlen hängen helle, freundliche Mullgardinen. Ein roter Läufer auch hier auf dem Boden. Auf dem Tisch eine Decke, eine schöne, bunte, freundliche Decke. Auf der Fensterbank Blumentöpfe mit blühenden Pflanzen. An der Wand Bilder, große und kleine, hübsche Steindrucke. Und die Betten ...
›Gott, die Betten ...‹, flüstert Kufalt entzückt
Sie sind schneeweiß bezogen, eines wie das andere, nichts mehr von blaugewürfelter, baumwollener Gefängniswäsche. Schöne, weiße Leinentücher.
›Nein, so was!‹ sagt Kufalt.
Das Gemurmel zieht näher, schwillt treppan.
Kufalt geht durch die Tür in sein Zimmer. Er sieht sich um, nach einem Ausweg, aber es gibt keinen Ausweg, er liefe den Kommenden direkt in die Arme.
Jetzt sieht er: neben dem Tisch stehen zwei bequeme Stühle, scheinbar über Morgen aus dem Linoleum aufgewachsen. Aber er wagt es nicht, sich darauf zu setzen, er geht hilflos hin und her, in diesem allzu feinen Raum. Dann, als schon die Tür des anstoßenden Schlafraums (wo Beerboom sein Bett hat), sich öffnet, setzt er sich entschlossen auf sein Bett.
Drüben Gescharre, Gemurmel vieler.
Räuspern, eine helle weibliche Stimme: »Nein, wie entzückend!«
Und eine tiefe männliche: »Das grenzt ja an Verwöhnung.«
»Verwöhnung«, hört er die Stimme von Pastor Marcetus. »Nein, meine sehr verehrten Damen und Herren, nicht Verwöhnung ist das, sondern Eingewöhnung in ein geordnetes bürgerliches Leben. Der Strafentlassene soll das Leben bei uns schön finden, wir wollen ihm gewissermaßen noch nachträglich Grauen und Ekel vor dem Gefängnisdasein einimpfen. Wenn er wieder in Versuchung gerät, dann soll er an das freundliche Zimmer in Friedensheim denken – und die kahle, trostlose Zelle wird ihm doppelt furchtbar erscheinen.«
Der Strafentlassene auf seinem Bett, den Kopf in den Händen, denkt an den Raum, den er heute früh verließ: die Betten nackt mit den häßlichen, grauen Matratzen, keine Gardinen, keine Bilder, keine Teppiche, keine bequemen Stühle, keine Blumen ...
Drüben, der fünfundzwanzigjährige Jubilar, antwortet auf eine Frage: »Nein, nein, wir haben immer zu tun, daß wir die Entlassenen aus dem Heim loswerden. Sie, die Sie zu den Gönnern und Spendern des Heims gehören, wissen, wie sehr es ein Zuschußbetrieb ist. Wir müssen immer wieder an Ihre Mildtätigkeit appellieren. Und wir dürfen Ihre Gabe nicht einigen wenigen zukommen lassen. Zu viele klopfen an unsere Tür. Vier Wochen ist die höchste Zeit, die wir den einzelnen behalten können. Dann ist er akklimatisiert, und wir lassen ihm ein Zimmer durch unsern Fürsorger, Herrn Petersen, mieten. Wir behalten ihn natürlich im Auge, er arbeitet weiter bei uns ...«
»Das Heim ist voll besetzt?« fragte eine Stimme.
»Im Moment? Ich kann es nicht genau sagen. Jedenfalls nahezu. Aber wir wollen nicht noch mehr Betten aufstellen. Es soll den Charakter eines Familienheims bewahren. – Dort durch jene Tür kommen wir in einen zweiten Schlafraum, genau wie diesen ...«
Kufalt behält den Kopf in den Händen. Er hört das Gescharre näherkommen. Er will sitzen bleiben, aber nun steht er doch auf. Fünfzehn, zwanzig Menschen drängen sich da durch die Türöffnung, alle sehen ihn an. Auch Pastor Marcetus, aber diesen Blick vermeidet er. Er macht ein ernstes, demütiges Gesicht, er kann das von den Zellenbesichtigungen her, und verbeugt sich.
Ein paar von den Herren verbeugen sich wirklich auch.
»Herr Kufalt«, sagt nach einem langen Schweigen Pastor Marcetus. Er räuspert sich, setzt von neuem an, leichter im Ton: »Mein lieber Kufalt, Sie sind nicht von der Partie?« Und zu den Hörern gewendet: »Unsere Gäste machen, wie ich schon erzählte, zur Feier des heutigen Tages einen Ausflug elbabwärts.«
»Mir wurde schlecht«, murmelt Kufalt. »Es muß die Sonne gewesen sein.«
»Herr Petersen hat Sie zurückgeschickt?«
»Nicht eigentlich.«
»So. Ach so. Ich verste–he ...« Wieder zu den Hörern: »Sie sehen, ein Schlafraum wie der eben. Hell ... friedlich ... also eben ein Schlafraum wie nebenan.« Wieder zu Kufalt: »Wir werden Sie leider noch drei- oder viermal stören müssen, mein lieber Herr Kufalt. Herr Seidenzopf und Herr Mergenthal haben noch zwei Führungen. Und ich weiß nicht, ob Fräulein Matzke schon durch ist. Also gute Besserung.«
Er wendet sich zum Gehen.
Die Geführten sehen noch alle auf Kufalt, vielleicht finden sie, daß der einzige Strafentlassene, der ihnen präsentiert ist, nicht ausgiebig genug behandelt wurde. Ein großer Herr, mit starker Mundpartie, mit einem glatten, fleischigen Pastorengesicht, sagt: »Sie fühlen sich wohl hier? Es gefällt Ihnen?«
»Es gefällt mir jetzt sehr gut«, sagt Kufalt artig. »Es ist jetzt sehr schön hier.«
»Und die Arbeit schmeckt?«
»Auch die, jawohl«, sagt Kufalt und lächelt freundlich und demütig.
»Arbeiten müssen wir alle«, sagt der große starke Pfaff und lacht. »Wir sind alle leider keine Lilien auf dem Felde, was? Nicht wahr?« Viele lachten beifällig. »Und wie lange weilen Sie schon bei unserm Bruder Marcetus?«
»Über drei Wochen.«
»Dann werden Sie ja bald das Heim verlassen?«
»Ja, leider werde ich wohl bald gehen müssen.«
Pastor Marcetus sieht Kufalt mit Bedeutung an: »Herr Kufalt wird uns schon Anfang der kommenden Woche verlassen. Er hat den Wunsch, nun in der Stadt zu wohnen. Wir erfüllen seinen Wunsch. Aber er wird weiter hier bei uns arbeiten, bis wir eine schöne dauernde Stellung für ihn gefunden haben.«
Kufalt verbeugt sich.
»Nun, dann ist ja alles schön«, sagt der große Pfaff. »Weiter Mut, mein junger Freund. – Wissen Sie auch schon, daß heute Ihr Beschützer, hier unser lieber Amtsbruder Marcetus, für seine Verdienste um Sie alle zum Ehrendoktor ernannt ist? Doctor honoris causa!«
»Ich gratuliere Herrn Pastor Marcetus von Herzen!« sagt Kufalt und verbeugt sich wieder.
Pastor Marcetus macht drei Schritte und reicht Kufalt seine Hand: »Ich danke Ihnen, mein lieber Kufalt. Und wie schon gesagt, wir hoffen, recht bald eine schöne Stellung für Sie zu finden, die Ihren großen Fähigkeiten angemessen ist.«
Kufalt verbeugt sich, die Besucher gehen. Kufalt stellt sich ans Fenster und sieht in den verbotenen Friedensgarten.
Er pfeift leise vor sich hin, er ist wieder einmal äußerst zufrieden mit sich.