Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Worin ein entlaufenes Kind heimkehrt, aber es bleibt nicht
Dieser Herbsttag, der für den Professor wie für sein Mündel so hell und glückverheißend begonnen hatte – wenn er dann auch nicht ganz hielt, was er zu versprechen schien –, ging für die beiden Schliekers recht grau und trübsinnig an. Das lag nicht nur am frühen Aufstehen (denn das Vieh mußte sein Recht haben), so daß sie noch in den grauen Oktoberfrühnebel vor dem Sieg der Sonne gerieten. Sondern es lag an der fast schlaflos verbrachten Nacht, mit ihren Schmerzen und Grübeleien; es lag an der Mutlosigkeit auf der einen, am Mißtrauen auf der anderen Seite – die beiden mochten ja nicht einmal mehr miteinander sprechen!
Und so kam es, daß, kaum als das Vieh versorgt und ein eiliges Frühstück in der Küche gegessen worden war, Päule Schlieker ohne weiteres seine Mütze nahm und aus dem Haus ging. Er antwortete weder auf Malis hastige Frage: »Wo läufst du schon wieder hin, Päule??« noch auf den scheltenden Nachruf: »Du wirst bloß wieder Dummheiten machen und uns noch tiefer hereinreißen!« Nein, er ging ohne Antwort, denn das wütend gemurmelte: »Gans, alberne!« konnte sie nicht mehr hören.
Er eilte, so gut es sein Leibeszustand eben zuließ, zum Oberdorf hinauf. Es war noch Halbdunkel, als er im Gesträuch am Backofen, gegenüber Gaus Hof, in Deckung ging – und das war gut, denn keiner sollte merken, daß er hier auf Wache stand! Er hatte weder vor dem Krug noch vor Gaus Haus ein Rad gesehen: Gendarm Gneis war also noch nicht da. Aber er mußte jeden Augenblick kommen, denn Schlieker hatte dem Amtsgerichtsrat gestern abend recht eindringlich dargestellt, wie vorteilhaft eine ganz frühe Haussuchung sein würde, bei der die Thürke warm aus dem Bett zu holen wäre! Und sollte sie es doch mit Ausreißen versuchen, so stand er hier – und ihm kam sie nicht weg, dafür stand er ihr auch! Sicher und wirklich! Ohne und mit gebrochenen Rippen!
Es wurde heller und hell, aber niemand kam. Nun zogen schon die Gespanne aufs Feld, dreispännig klapperte Tamms Drillmaschine vorüber, das Gausche Hoftor ging auf, und das erste Mistfuder knarrte auf die Dorfstraße, Strohmeier ritt seine Pferde leer zum Pflügen aufs Feld – und nun kam die Kuhherde!
Jawohl, da trieb Hütefritz aus, der unverschämte, nächtliche Rufer vom Hausgiebel, und vergnüglich pfiff er sich eins dabei. Nicht ganz so vergnüglich sah Schlieker zu, denn Fritz trieb nicht mit einem, sondern mit zwei Hunden aus. Und den zweiten, den Bello, hatte Schlieker diese Nacht also ganz richtig vernommen!
Er mochte auf geheimem Posten stehen oder nicht, dies war stärker als er: er steckte zwei Finger in den Mund und pfiff gellend.
Bello warf lauschend den Kopf, Hütefritz auch. Er sah sich nach dem alten Backofen um, zu dem der Hund hinschoß, er schien noch verständnisvoll zu nicken, der freche Bengel! Der Hund kroch winselnd durch die Büsche, Hütefritz trieb schon weiter, aufgeregt jaulend sprang der Hund an seinem versteckten Herrn hoch.
Jetzt kam wieder ein Pfiff von der Dorfstraße, das war Hütefritz. Der Hund ließ von Schlieker ab, stürzte in die Büsche ... Schlieker pfiff dagegen. Der Hund machte halt und winselte ratlos ... Hütefritz pfiff dringender, der Hund sprang auf die Dorfstraße ...
Wütend schrie Schlieker: »Bello!«, der Hund jaulte, sah, verlegen wedelnd, zum Ofen, zur Herde ... »Her kommst du, Bello!« schrie Schlieker.
Ins Gausche Hoftor trat, die Mistforke in der Hand, der Bauer Wilhelm Gau. Schlieker verstummte. Noch einmal pfiff Hütefritz, der Hund schaute ein letztes Mal zu den still gewordenen Büschen und schoß, freudig aufbellend, der Herde, dem freien, kettenlosen Tage zu!
Schlieker stand still in den Büschen und sah durch die lückigen Fliederzweige, wie sein großer, schwerer Feind, die Mistgabel in der Hand, langsam die Dorfstraße überquerte, auf den Backofen zuging ...
Noch hätte ein rascher Entschluß geholfen, um die Gärten herum wäre noch mit leidlicher Deckung fortzukommen gewesen, aber es war vorbei, aus welchen Gründen immer, mit den raschen Entschlüssen Schliekers ... Er stand gebannt und starrte ... Er hatte einen flüchtigen, gar nicht Schliekerschen Gedanken: »Der Backofen ist Gemeindeeigentum. Hier darf ich stehen, das darf er mir nicht verbieten ...«
Als wäre Gau ein Schläger, ein Streithammel, der ohne Not Prügeleien anfing, der traurige, langsame Klotz der!
Der Bauer Wilhelm Gau trat durch die Büsche und sah Päule Schlieker, den Spion, düster an. Der blinzelte etwas unter diesem Blick, versuchte sein altbewährtes höhnisches Lächeln, das ihm sonst über jedes Ertapptwerden forthalf – aber diesmal gelang es ihm nicht nach Wunsch.
Eine Weile waren sie beide stumm, der Bauer schien etwas zu überlegen, als habe ihn das Gesicht des andern in seinem Entschluß wieder wankend gemacht.
»Der Schiet lohnt mir nicht«, sagte er dann doch. »Ich mag weder mit dir noch mit der Thürke was zu tun haben ...«
Schlieker sah ihn höhnisch an – ahnte dem schon was von der Haussuchung? Er leckte sich die trocken gewordenen Lippen.
»Sie wird in meinem alten Kuhstall stecken«, sagte der Bauer und sah Schlieker an, aber so, als sähe er ihn nicht, sondern spräche nur mit sich ...
Schlieker fluchte, stumm, aber flammend: daß er daran nicht gedacht hatte, die nächstliegende Sache von der Welt! Natürlich, sich da hinten im Walde verstecken, mit dem alten Knacker ...
»Der Professor ...?« stotterte er fast vor Aufregung. »Ist der Professor auch dabei –?«
»Also, du weißt Bescheid«, sagte der andere. »Und deine Dresche hast du ja!«
Jetzt glomm doch wieder ein Funken in des Bauern Auge auf. Aber Schlieker war endlich über alle Verlegenheit weg: »Und ein schönes Stück Geld wird dich die kosten, Willem!« höhnte er. »Mir täte mein Geld leid.«
»Mir nicht«, antwortete Wilhelm Gau, schulterte die Forke, als sei es nun Feierabend mit Mistladen, und ging.
Schlieker wartete nur, bis die massige Gestalt drüben in der Torfahrt verschwunden war, dann ging auch er. Dies war nun schon die dritte These über den Verbleib der Marie, aber er glaubte so fest an sie, wie er an die beiden ersten geglaubt hatte.
Fragte sich nur, wie er schnell zum alten Kuhstall kam, kümmerlich, wie es ihm körperlich ging. Fahren ließ sich der Waldweg nicht, und das Boot war noch immer fort. Man konnte sich irgendein anderes nehmen, es lagen ihrer genug im Schilf, aber würde er rudern können? Er versuchte die Arme zu strecken, als hätte er Ruder in der Hand, aber sofort stach und brannte es in der Brust, als spießten die gebrochenen Rippen in die Lunge.
Mali konnte auch rudern, aber Mali durfte nicht rudern, denn er wollte Mali nicht dabei haben. Es war kein Verlaß mehr auf sie, es war etwas Heimliches, Feindliches in ihr, seit sie wieder diese Krankheit hatte. Seit gestern abend, seit diesem verdammten Anfall, war alles anders geworden. Er hatte es gespürt, den ganzen Abend, die Nacht durch; der junge Arzt mit seiner Medizin hatte es nur schlimmer gemacht; jetzt dachte sie bei allem zuerst an ihre Krankheit. Sie hatte Angst vor den Anfällen, sie wollte plötzlich, daß er nur tat, was ihrem Gesundwerden förderlich war – als ob es danach ginge!
Erst mußte einmal die Sache mit der Marie wieder zurechtkommen. Wenn sie wieder festsaßen im Sattel, mochte sie sich seinetwegen schonen! Schonte er sich jetzt etwa? Nicht die Spur! Seit früh fünf lief er nun mit seinen gebrochenen Rippen und dem brennenden Gesicht herum – und jetzt würde er zwei, ach, er würde sogar drei Stunden gehen müssen bis zum alten Kuhstall –! Aber er tat es, tat es doch!
Am liebsten wäre er gleich am eigenen Hof vorbeigelaufen, um erst gar nicht ihr Gesicht zu sehen, aber er brauchte einen Handstock, einmal, um sich zu stützen, dann ...
Mali saß bewegungslos, mit einem seltsam leeren Gesicht, in der Küche, sie sah nicht auf, als er hineinkam. Er holte sich den Stock aus der Stube, und im Fortgehen fragte er nun doch unwillkürlich: »Ist dir was?«
Sie hob langsam den Kopf, als würde ihr schon das schwer, und fragte wie aus weiter Ferne: »Was soll mir denn sein –?«
»Ja, was soll dir wohl sein!« schrie er, wütend über die unbrauchbare Gefährtin. »Als wenn wir jetzt Zeit hätten, krank zu sein! Tu was und denk nicht immer an dich!«
Er besann sich, dann sagte er mit Nachdruck: »Ich hole jetzt die Marie, daß du's weißt. Um zwei sind wir wieder hier!«
Aber es wirkte nicht, nicht einmal dies wirkte! Sie hatte schon wieder den Kopf gesenkt und sah mit dem gleichen teilnahmslosen Ausdruck wie vorher in den Schoß.
Mit einem Fluch schlug er die Tür hinter sich zu und machte sich auf die lange, mühselige Wanderung zum Waldhaus.
»Steigen Sie ein, Fräulein Thürke!« sagte Doktor Kimmknirsch, und das Mädchen gehorchte eilig. Nicht nur Frau Postdirektor Bimm, nein, aus zehn, zwölf Fenstern sah man auf sie hinab, auf sie, auf ihn und auf das Auto des Bierverlegers Tengelmann, Modell 1908.
Der Doktor mühte sich vorn mit der Kurbel, lief wieder zum Volant, stellte an den Hebeln und warf von neuem an.
Rosemarie war sich sehr deutlich all der Gesichter dort oben, hinter Scheiben und Gardinen, bewußt, und sie flehte inbrünstig, daß der Motor gleich, gleich anspringen möge, damit diese Gesichter nicht gar zu höhnisch wurden.
Doch Doktor Kimmknirsch mußte erst einige Male die Zündung anders einstellen und im Gesicht vor Anstrengung dunkelrot werden, ehe der Motor ansprang.
»Na also!« sagte er und hatte sich kein bißchen geärgert. »Tücken haben diese Dinger –!«
Er löste die Bremse, drückte auf den Gummiball, und mit einem hohen Aufschrei setzte sich, klirrend und klappernd, der Wagen in Bewegung. Gleichmäßig lief er die Straße zum Bahnhof hinauf, was an Menschen unterwegs war, stand und starrte. Dann holperte er sachte (»Hoppla«, rief der Doktor) über die Kleinbahnschienen, und nun lag das offene Land vor ihnen.
»Fahren Sie zum erstenmal in einem Automobil?« fragte der junge Arzt.
Rosemarie hätte aus irgendeinem, ihr zur Zeit unklaren Grunde gar zu gern »Ja« gesagt, aber um der Wahrheit die Ehre zu geben, mußte sie doch gestehen, daß dies ihre zweite Fahrt sei ... »Aber damals war es nichts.«
»Warum denn nicht?«
»... Es regnete.«
»So!« sagte Doktor Kimmknirsch, und es klang, als ob auch er nicht ganz zufrieden sei. Darauf schwiegen beide.
Schon waren die Felder der Kriwitzer Ackerbürger vorüber, schon fuhren sie zwischen Hecken – und Rosemarie wurde es schrecklich klar, daß sie schon in zehn Minuten bei Schliekers sein würden und daß es dann wieder vorbei sein würde mit Freiheit, Freunden, Autos! Daß es dann wieder nur Arbeit, böse Worte, traurige, graue Stimmung geben würde ...
Das Ende der Fahrt, deren Anfang sie noch vor fünf Minuten so sehnlich erwünscht hatte, war so nahe, daß sie die Augen schloß und leise aufseufzte.
Für diesmal merkte der Menschenarzt nichts. »Verfluchte Töle!« schrie er und zog die Bremse.
Wildes Gekläff und Gebell!
»Bello!« rief Rosemarie. »Herr Doktor! Herr Doktor! Es ist mein Bello! Bitte tun Sie ihm nichts ...«
»Uns möchte er was tun!« schrie der Doktor, fuhr direkt auf die Hecke zu, um dem wutblinden Köter auszuweichen, und ließ dabei die Hupe heulen wie das Nebelhorn eines Dampfers. Die Ruten der Hecke peitschten in den Wagen, dann gab es einen Ruck, und das Automobil stand.
»Bello! Bello!« rief Rosemarie und mühte sich mit der Wagentür. »Wir haben dir doch nichts getan?!«
Die Hunde von 1912 haßten Automobile noch inniger als den Briefträger; Bello konnte es nicht begreifen, daß seine geliebte Herrin in diesem Scheusal war. Mit weit offenem Maul, gesträubtem Haar und funkelnden Augen heulte er Wagen und Insassen wütend an.
Dann aber war Rosemarie mit ihrer Tür ins klare gekommen, sie sprang direkt vor den Hund, und der Übergang von besinnungsloser Wut zu ebenso besinnungsloser Freude war rührend und komisch zugleich.
»Bello, mein Hund!« beruhigte Rosemarie. »Ja doch, es ist ja gut. Sieh, es tut mir nichts, das Automobil.« Sie streichelte abwechselnd Hund und Wagen. »Ein gutes Automobil. Ein guter Hund. Siehst du?«
»So sehr gut nicht«, sagte der Doktor trocken. »Beinahe wäre es schiefgegangen. Er sprang mir immer wieder grade vor die Räder, und die Hecke wollte nicht ausweichen. – Wieso kommt Ihr Hund hierher?«
»Er wird wohl dem Hütefritz helfen.«
»Wer ist Hütefritz?« fragte der Doktor, und etwas wie kollegiales Interesse klang in seiner Stimme mit. »Hütet er Schafe?«
»Nein, Kühe. Er ist Kuhknecht von Tamms. Er ist fast so alt wie ich und mein bester Freund.«
»So.« Des Doktors Interesse war fort. »Jedenfalls sollte er besser auf Ihren Hund aufpassen. Fast wäre er hinüber gewesen.«
»Zuerst kommen die Kühe«, klang eine Stimme aus der Hecke. Der Doktor und Rosemarie sahen auf. Ja, da war ein Gesicht mit blondem Strohdach im Gezweig, und: »Fritze, dem Philipp geht es wieder gut!« rief Rosemarie.
»Gut ist übertrieben«, sagte der Doktor. »Aber jedenfalls wird er wieder gut.«
»Rosemarie ...«, sagte der Junge und zwinkerte mit den hellen Augen unverschämt auf den Doktor. »Rosemarie ...«
»Du kannst alles sagen«, antwortete sie rasch. »Der Doktor weiß alles.«
Diesmal protestierte der Doktor nicht gegen solche Übertreibungen. Hütefritz sah von seinem gesicherten Standpunkt hinter der Hecke den jungen Arzt kritisch an. »Hoffentlich ist er nicht wie dein Professor ...«, meinte er dann.
»Hütefritz!« rief Rosemarie zornig.
»Na ja«, brummte der. »Man kann nie wissen. Gekannt ist besser als verwandt. – Also, Rosemarie«, sagte er und gab sich einen Stoß. »Otsche war hier. Sein Vater hat Päule erzählt, wo ihr wohnt, du und dein Professor, und nun ist Päule hin ...«
»Oh!« sagte Rosemarie.
»Ich kann nicht wieder fort von den Kühen, gestern waren sie alle in Gottschalks Seradella, und Lehrer Schlitz haben sie es gesteckt, wegen Schuleschwänzen – ich habe auch niemanden schicken können ...«
»Wie lange ist es her?« fragte Rosemarie.
»Eine Stunde, vielleicht auch noch nicht soviel. Und Päule ist bloß wacklig auf den Beinen, unter drei Stunden kann er es nicht machen.«
»Pfeif dem Bello, Hütefritz, halte ihn fest«, befahl Rosemarie plötzlich, und mit Staunen sah Doktor Kimmknirsch ein ganz anderes Mädchen, nicht mehr das blasse, ängstliche Ding aus der Nacht. »Herr Doktor, bitte fahren Sie mich schnell zum Waldhaus. Ich weiß einen Weg, da kommen wir ganz in die Nähe ... Ich muß den Paten warnen, Päule geht zu ihm!«
»Aber Ihr Patonkel ist ein erwachsener Mann«, wandte der Doktor ein. »Er kann sicher mit Herrn Schlieker allein fertig werden, ohne Ihre Hilfe.«
»Nein!« rief sie. »Sie wissen nicht, wie Schlieker sein kann, keiner von Ihnen weiß das!«
»Doch, doch! Ich kann es mir recht gut denken ...«
»Und der Professor ist so sehr alt, er denkt, alle sind gut; Schlieker kann ihn ...«
»Nun – was kann er ihn?« lächelte der Doktor überlegen. »Totschlagen? Ach, Fräulein Thürke, ich glaube, Sie leben in einer ganz verdrehten Welt. Wir leben auf dieser Erde, in Mecklenburg, und noch dazu ganz ländlich und schändlich – das schlimmste ist, daß einer in einen Kohlenstall eingesperrt wird ...«
Er mußte lachen. Aber weder Mädchen noch Junge lachten mit.
»Sie wissen nichts«, sagte sie böse. »Schliekers haben kleine Kinder schlecht behandelt und gequält, Schliekers sind tausendmal schlimmer, als Sie denken ... Darum verlangen Sie ja auch, daß ich zu denen zurückgehe, weil Sie es sich nicht vorstellen können ... Kein Großer kann das. Und ich dachte, Sie würden ...«
Sie hielt inne und kämpfte nun doch mit aufsteigenden Tränen.
»Was dachten Sie, daß ich würde –?« fragte er.
Aber es war schon wieder vorbei.
»Also gut!« sagte Rosemarie. »Ich habe Ihnen versprochen, ich fahre mit zu Schliekers. Und ich tue es. – Fritz, halte Bello gut fest. Ich sehe, was ich machen kann. – Aber ich habe Ihnen nicht versprochen, daß ich bleibe, und ich weiß noch nicht, ob ich es tue ...«
»Schön«, sagte der Doktor beharrlich. »Also fahren wir jetzt nicht in das Waldhaus, sondern zu Schliekers ...«
»Ja!« sagte sie und setzte sich in den Wagen.
Und als wüßte der Motor, daß nun alles entschieden sei, sprang er schon beim ersten Kurbeldrehen an. Bello heulte jammervoll – aber nun machte der Heckenweg einen Knick, und sie hörten auch das Gebell nicht mehr.
Sie schwiegen beide, sie schwiegen den ganzen Weg, das ganze Dorf durch, bis vor das Schliekersche Haus. Und vielleicht war es nicht nur Rosemarie, die sich auf die Autofahrt gefreut hatte.
»Dies also ist Ihr Hof«, sagte Doktor Kimmknirsch und sah etwas zweifelhaft das Häuschen, den Stall an. Der Herbst, der den Blättern ihr Grün und den Zweigen die Blätter nahm, hatte auch die Blößen der Gebäude aufgedeckt. Der Bewurf fehlte an vielen Stellen, die Fenster hingen schief und blind, der Lattenzaun neigte sich zur Erde.
»Es ist schon nicht mehr mein Hof«, sagte Rosemarie traurig. »Die Leute sagen Schliekers Hof dazu, ich nenne ihn auch schon so – er gehört nicht mehr mir. Ein Zimmer ist noch drin, Vaters Zimmer, aber seit der Professor die zerrissenen Bücher in die Hand genommen hat, weiß ich, es ist auch nicht mehr Vaters Zimmer.«
»Mut!« sagte der junge Arzt und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Wenn es jetzt auch schwer aussieht, wir behalten Sie im Auge, wir alle!«
»Sie wissen«, sagte sie beharrlich, »ich habe Ihnen nicht versprochen, hier zu bleiben.«
Der Arzt sagte kurz: »Also kommen Sie«, und ging.
Sie gingen in das Haus, Rosemarie trat über die Schwelle, die sie nie wieder hatte überschreiten wollen, solange Schliekers noch hier wohnten. Der säuerlich-faulige Geruch des Vorraums legte sich wie eine Lähmung auf sie. Es war nutzlos, daß draußen die Sonne schien, daß man entlaufen war in die Freiheit, daß es Menschen gab wie den Professor und den Doktor – das trübe, faulige Grau drang wie ein erkältender Schauer in sie. Alle Blätter fielen auf einmal, ihr blieb nur der kalte, tote Winter.
»Hab ich es mir doch gedacht!« sagte der junge Arzt in der Küche.
Aus ihrer verzweifelten Erstarrung aufwachend, sah Rosemarie die Mali auf dem Küchenboden liegen, mit geschlossenen Augen, ohne Farbe, die Fäuste verkrampft, die Unterlippe blutig gebissen. Sie sah auf die Feindin, ihr Herz rührte sich nicht, nur düsterer und trostloser wurde hierdurch noch dies Haus und ihr Weilen in ihm.
»Sie ist bewußtlos«, sagte der junge Arzt. »Der Anfall ist schon eine ganze Weile vorüber. Er wird in Schlaf übergehen. – Wo ist ihr Bett? Gut, fassen Sie an, daß wir sie hinübertragen. Fassen Sie ordentlich an!« sagte er schärfer. »Da ist nichts, vor dem man sich graulen müßte. Wie sie auch sei, sie ist krank – und sie hat ihre Krankheit nicht verschuldet.«
Das Mädchen griff zu, es tat, wie er wollte, es half die Kranke entkleiden, den eisigen Körper ins Bett legen, die Kissen zurechtstopfen – aber der Doktor fühlte, mit welcher Abneigung das alles geschah. Etwas wie Zorn auf das unbelehrbare, trotzige Mädchen regte sich in ihm, er sagte kurz: »Sehen Sie nach, wo der Mann ist. Widerwillige Pflege ist schlechte Pflege.«
»Der Mann ist im Waldhaus, beim Professor Unheil zu stiften«, sagte das Mädchen leise.
»Ach ja. Sehen Sie nach, ob er wirklich fort ist. Er kann drüben im Stall sein, bei seinen Verletzungen ist solch Weg fast unmöglich.«
Das Mädchen ging wortlos aus der Stube. Der Doktor saß still wartend neben der Kranken, die Bewußtlosigkeit war in den Schlaf tiefster Erschöpfung übergegangen, der Atem war kaum spürbar.
Er sah sich um in dem Zimmer, er hatte von seinem Stuhl Sachen auf die Erde schieben müssen, um sich setzen zu können: so war der ganze Raum. Ein muffiger, unordentlicher Kramladen, mit blinden, verschmutzten Scheiben, etwas Graues, Trostloses. Vielleicht war es doch nicht richtig, solch jungen Menschen hierzulassen? Zehntausende wachsen schlimmer auf, sprach eine Stimme in ihm. – Aber wenn man es hindern kann, sollte man es tun. – Man kann die kranken Leute nicht ohne Pflege lassen. – Das ist ein ander Ding, Kimmknirsch. – Ich werde noch einmal mit Schulz sprechen, dies ist kein Haus, es ist eine Höhle. – Da du sie hergebracht, trägst auch du Verantwortung.
Der Doktor stand ungeduldig auf: Wo blieb sie?
Er ging durch Küche und Vorraum auf den Hof, in den Stall, sah in den Garten, er rief sie. Er ging eilig zurück ins Haus: die Kranke schlief unverändert. Sie hatte von ihres Vaters Zimmer gesprochen – hatte sie sich dorthin verkrochen –?
Das Häuschen war schnell durchsucht, aber auch des Vaters Zimmer war leer. Der Doktor rief noch einmal vor dem Haus, aber er wußte schon: es war umsonst. Sie war weggelaufen, vielleicht zu dem alten Professor, vielleicht überhaupt fort.
»Unbelehrbar. Trotzig. Widerspenstig«, dachte der Doktor böse. »Ich kümmere mich jedenfalls nicht mehr um sie. Angst, idiotische Angst. Lebensangst: die ist unreparierbar. – Aber die Kranke kann nicht allein bleiben, ich muß warten, bis der Mann zurückkommt. Von solcher Kranken fortzulaufen – es ist wahrhaftig eine Affenschande! Schäm dich was, Mädchen!!«