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6. Kapitel

Worin alles anders kommt und Professor Kittguß ein heimlicher Flüchtling wird

 

Den ollen Pferden war nicht anzumerken, daß sie unzufrieden waren: sie trabten vergnügt ins Land hinein, und auch allen auf dem Wagen war angenehm zumute. Das heißt, von dem Jungen war das so bestimmt nicht zu sagen, weil er noch immer stumm war. Professor Kittguß, dem nun in vierundzwanzig Stunden zum drittenmal der Unsadeler Landweg beschert war, sah diesmal ohne Gewissensbisse in den herbstlichen Sonnentag: in Kürze würde alles geregelt und jeder bestens zufrieden sein, und er würde heimkehren können zu seiner Apokalypse. Solchen Mut machte ihm der Gendarm Gneis.

Der Kutscher neben dem Professor, ein behaglicher Kriwitzer Ackerbürger, beschränkte die Unterhaltung völlig darauf, daß er von Zeit zu Zeit mit der Peitsche zeigte: »Das ist Hübners Brache. – Köllers Seradella könnte auch besser sein. – Sieh da, hat der Neitzel wirklich schon den Weizen in der Erde.«

Der Professor nickte dann mit dem Kopfe und sagte: »Ja so, ja so«, oder »Jawohl, jawohl«, und friedlich fuhren sie weiter.

Es schien ihm schon die selbstverständlichste Sache, daß er da mit einem Wagen über Land fuhr, ein verdorbenes Schicksal hinter sich aufgehuckt und ein gefährdetes vor sich. Er fand alles so natürlich, daß er recht eigentlich auf ein bestimmtes Heckentor wartete und sehnlich wünschte, es säße ein Junge darauf, nämlich der Hütefritze, und sähe ihn zurückfahren, nämlich den Professor Kittguß.

Aber das Heckentor war leer, und nur die Peitsche wies in die Lücke: »Wilhelm Gau seine Weide. Auch mehr Kattensteert als Klee und Gras!«

»Ach ja, ach ja«, antwortete der Professor.

Dann fuhren sie wieder hinaus aus dem Heckenweg, und das Dorf Unsadel lag noch immer am Wasser, und immer noch stieg der Laubwald drüben flammend uferan.

Der Wagen rollte schneller und schneller, hinter der Windmühle kamen die ersten Häuser, und alles war wieder so still und verwunschen und ausgestorben, heute nachmittag wie gestern nachmittag.

»Nanu!« sagte der Gendarm Gneis und wunderte sich sehr.

Sie rollten am Krug von Otto Beier vorbei, und der Professor zog die Schultern hoch, denn die Schaben hatte er immer noch nicht vergessen. Aber vergeblich schaute er dann in den Hof vom lustigen Bauern Tamm, heute hing dort kein Bauer vom Baum, heute war dort kein Schinkenhüpfen. Alles war leer und still und verlassen.

»Verstehst du das, Karl, wo sind die Leute?« fragte der Gendarm den Ackerbürger.

»Es muß was los sein im Unterdorf. Vielleicht brennt es.«

»Dann hätten wir Rauch sehen müssen, vorhin, als wir über die Kuppe kamen!« Gesicht und Stimme des Gendarmen wurden schon ganz dienstlich. Denn es stimmte was nicht, und was nicht stimmte, das hätte bei einigem Nachdenken Professor Kittguß erzählen können.

Aber der dachte nicht nach, und so fuhren sie ahnungslos an das letzte Gehöft heran und: »Da haben wir ja den Salat«, sagte der Kriwitzer Ackerbürger und parierte die Gäule.

»Was wollen denn hier all die Menschen –?« wunderte sich der Professor.

»Natürlich Päule Schlieker« – brummte der Gendarm und kletterte, den Jungen fest am Kettchen, vom Wagen. »Das sage ich dir aber, Junge, wenn du jetzt in dem Gedränge ausritzen willst und blamierst mich vor all den Leuten –!«

»Ach Gott, jetzt auch noch wieder der Professor!« rief die kräftige Frau Lowising. »Nun kommen auch Sie Unglückslamm zu all dieser Wirrnis und Frechheit ...«

»Natürlich, Karl, wenn was los ist bei uns, da müßt ihr Kriwitzer dabeisein!« lachte der dicke Bauer Tamm.

»Gottlob, daß du kommst, Peter Gneis«, sagte der Gemeindevorsteher Gottschalk schwitzend. »Er gibt sie nicht raus, und rein verrückt ist er ja wohl auch vor Wut. Er läßt keinen ins Haus.«

»Wer gibt wen nicht raus? Mach klar deine Meldung, Otto, dafür sind wir die Obrigkeit«, schnauzte der Gendarm, und ihm jedenfalls sah man die jetzt deutlich an.

Doch da brach es schon durch den ungeordneten Haufen Volks, der sich an Päule Schliekers Gartenzaun und in Päule Schliekers Einfahrt und auf Päule Schliekers Hof drängte – da brach es durch wie ein reisiger Heerbann, und eben jene fünf Diakonissen waren's, die der Professor heute am Vormittag gesehen und um die er seinen Zug versäumt hatte. Und genau wie am Vormittag hatten sie ihre Täschchen in der Hand und liefen eine hinter der andern im Gänsemarsch, und den Anfang machte der Mannskerl von Frau mit fliegenden Haaren am Kinn und den Beschluß die rotbackige Muntere wie frisch vom Lande.

Aber ganz anders als am Vormittag hingen ihnen jetzt die Haare verwirrt unter den Hauben hervor, und ihre Augen funkelten, und ihre Gesichter waren weiß oder rot von Zorn.

Der Mannskerl blieb vor dem Gendarmen stehen, und mit einem Ruck standen auch alle andern, und nur ihre Täschchen pendelten noch ein Weilchen.

»Gottlob, Herr Gneis, daß Sie kommen«, keuchte die Große. »Seit vier Stunden stehen wir hier vorm Haus und bitten und flehen und geben gute und böse Worte, daß er uns einläßt und die Pflegekinder übergibt, wie er laut Anordnung vom Landrat zu tun hat. Aber da rührt sich rein nichts, die Schliekers sind vielleicht absichtlich weggefahren und lassen uns hier stehen ...«

»Da«, sagte der Gendarm und zeigte auf den Schornstein, aus dem leichter Rauch hochstieg. »Da, Schwester Adelaide!« Und als die ihn verständnislos ansah: »Säuglinge können kein frisches Holz aufs Feuer legen. Die sind zu Haus, Schwester Adelaide, und lachen sich einen Ast, und nachher sagen sie, daß sie nichts gehört haben, weil sie geschlafen haben. – Aber ich an deiner Stelle hätte längst die Tür aufgebrochen, Gottschalk, und mit den Wippchen und der ganzen zivilen Unordnung hat es jetzt überhaupt ein Ende. – »Runter da alle vom Hof!« schrie der Gendarm. »Ihr habt hier gar nichts auf fremdem Eigentum zu suchen! – Soll ich dir Beine machen, Frieda? Junge, weg von der Hofmauer!«

Und mit Drängen und Schieben brachte er sie, immer seinen Gefangenen an der Kette, wirklich vom Hof und rief nun: »Jetzt! Mach das Hoftor zu, Gottschalk, und paß auf, daß keiner wieder reinkommt! Nur die Schwestern und du haben ein Recht hier – und höchstens noch der Professor – ja, wo ist der abgeblieben? – Na, egal, nun fange ich an!«

Damit schlug der Gendarm Peter Gneis kräftig gegen die Haustür und schrie: »Hier Gendarmerie! Öffnen Sie, im Namen des Gesetzes, Herr Schlieker – oder ich tret dir deine ollen Fichtenbretter in 'en Klump, daß nie wieder eine Tür daraus wird!«

Unterdes stand der Professor allein im Schliekerschen Garten. Die Menschenwoge hatte ihn vom Hof gespült, dann war er, ihr zu entgehen, ein paar Schritte um eine Hausecke gegangen und in den Garten geraten. Das war gut so, hier war er allein, schon war alles wieder zuviel gewesen, all die Menschen, ihr aufgeregtes Geschwätz, die Dinge, die geschehen waren und geschehen sollten, und an allem war er irgendwie beteiligt.

Undeutlich hörte er das Trampeln gegen die Haustür, die hallenden, kräftigen Rufe des Gendarmen – er setzte sich langsam auf eine Bank, die im Windschutz von Jasmin, Flieder und Pfaffenhütchen stand, und legte seinen großen, schwarzen, weichen Pastorenhut neben sich. Gedankenlos starrte er auf die paar verunkrauteten Herbstblumen zu seinen Füßen, ebenso gedankenlos lauschte er auf den Lärm vom Hof, der sich immer noch steigerte.

Da ließ ihn ein nahes Geräusch zusammenfahren. Eine Hintertür aus dem Haus zum Garten hatte sich geöffnet, ein Gesicht spähte vorsichtig hinaus. Professor Kittguß kannte dies Gesicht, ihm wurde angst.

Aber den Professor hinter seinen Büschen sah es nicht.

»Los, Marie!« rief Frau Schlieker, »es ist keiner hier. Ich will doch sehen, ob die ihren Willen kriegen!«

»Bitte nicht«, bat eine Stimme, die den Professor aufhorchen ließ. »Die Kinder können sich auf dem Wasser erkälten!«

»I wo, in der halben Stunde! Marie!« bat die Frau, »tu mir einmal im Leben einen Gefallen. Ich will auch so nett zu dir sein, wie ich kann. Wir haben doch recht, wenn sie so kommen, fünf Schwestern, das ganze Dorf, der Schulze und nun auch noch der eingebildete Narr, der Gendarm – da sollen sie gerade ihren Willen nicht kriegen! Rosemarie!« bat die Frau. »Ich verspreche dir, morgen wollen wir die Kinder auf dem Amt abliefern. Nur heute nicht, wo die wollen!« Das Mädchen schien zu zögern, sich zu besinnen.

»Tu es doch, Marie!« drängte die Frau. »Bitte!«

»Und wir bringen sie morgen bestimmt zum Amt? Du versprichst es, Mali?«

»Mein heiliges Ehrenwort, Rosemarie!«

»Dann soll es so sein. Mir hilft auch keiner, nicht der Gendarm, der mich immer nur auslacht, nicht ...«

Der Professor stand auf.

Da huschte es schon eilig hinter seinen Sträuchern vorüber, durch den Garten, zum See. Er hörte unterdrückt sprechen, eine Kette klirrte, dann weinte ein Kind.

Er stand entschlußlos, die Frau lief wieder an seinem Versteck vorbei, verschwand im Haus. »Was tue ich, rufe ich den Gendarmen?« überlegte er.

Die Frau kam zurück, noch ein Kind auf dem Arm. Blind und taub lief sie an ihm vorbei. Er folgte ihr durch den Garten, ans Wasser. In einem Boot saß wartend Rosemarie, sein Patenkind, die Kinder hockten oder lagen auf dem Bootsboden.

»Hier, Marie!« sagte Frau Schlieker. »Also bis Dunkelheit bleibst du im Schilf versteckt. Und daß du keines von den Kindern schreien läßt! Ich habe den Nuckel von Erna mit eingebunden.«

»Rosemarie!« rief der Professor voll Schmerz.

Sie sah auf zu ihm, eine Röte stieg in ihre Wangen, wurde stärker ... »Bist du doch da, Pate?« flüsterte sie.

»Was machen Sie hier auf meinem Grundstück?!« fauchte die Frau böse. »Immer der alte Krauter, der zu nichts mehr gut ist. – Los, Marie!«

Und sie gab dem Boot einen Tritt, daß es in den See schaukelte.

»Ich mit!« rief der Professor überlaut und wagte auf seine alten Tage den Sprung.

Er flog, die Tasche in der Hand, dahin über die Wasser ..., sie erschienen ihm unendlich weit und gefährlich ...

Er landete irgendwo, stürzte, fiel. Mit dem Leib schlug er gegen etwas Hartes, ein atemraubender Schmerz durchfuhr ihn ...

»Zurück! Raus mit dem Alten!« rief die Frau am Ufer und faßte nach dem Bootshaken.

»Fahr los!« befahl der Professor. Er saß gelblich, die Hand gegen den Leib gepreßt, auf dem Bootsboden und rang um Atem.

Das Mädchen sah den Bootshaken näher kommen und legte sich in die Ruder. Das Boot schoß auf den See hinaus.

 

»Was ist denn das für ein Skandal?« fragte Schlieker maßlos verwundert und öffnete die Tür, an der sie jetzt schon mit Kuhfuß und Brechstange wuchteten. »Herr Wachtmeister, das gibt eine Anzeige wegen Sachbeschädigung.«

Er stand in der Tür, daß er sie versperrte, und sah überlegen grinsend auf die Wütenden. »Und du, Gottschalk, du alter Dussel, bildest dir auch ein, weil du Schulze bist, mußt du deine Nase in alles stecken. Meine Haustür bezahlst du!«

»Keine Beleidigungen, Herr Schlieker«, sagte der Gendarm Peter Gneis wütend. »Wir haben lange genug geklopft und geschrien. Wenn es eine Anzeige gibt, so gibt es eine wegen Widerstand – und mit Geld ist es diesmal nicht abgemacht.«

»Geklopft?« fragte der Schlieker lachend und wich nicht einen Tritt aus der Tür. »Geschrien? Ja, Herr Gneis, davon habe ich nun wirklich nichts gehört. Ich war im Keller und habe die alten Rattenlöcher mit Glas und Zement verschmiert. Im Keller hört man nichts, und deswegen darf einem die Tür noch lange nicht kaputt geschlagen werden. So viel verstehe ich auch von Recht und Gesetz.«

»Seht ihr«, sagte der Gendarm und sah Schwestern und Schulzen vorwurfsvoll an. »Genau, wie ich es mir gedacht habe! Genau so! – Aber, Schlieker, Schlieker, das kann ich Ihnen heute schon sagen und nehme es auf meinen Diensteid: Diesmal geht es schlimm für Sie aus!«

»Immer ›Herr‹ Schlieker für Sie, Herr Wachtmeister Gneis«, griente Schlieker. »Ich versteh es ja, Sie sind bloß den Umgang mit solchen Verbrechern, wie Sie da einen an der Kette haben, gewöhnt, aber darum bleibe ich doch für Sie immer der ›Herr‹ Schlieker. – Ach, Philipp, mein Junge«, sagte er plötzlich ganz leise und zärtlich: »Freust du dich auch so, daß wir uns wiedersehen? Wirst dich heute noch immer weiter freuen, das verspreche ich dir, hoch und heilig.«

»Lassen Sie die Faxen, Herr Schlieker«, antwortete der Gendarm böse. »Alles andere und der Junge dazu – das findet sich nachher. Jetzt geben Sie erst einmal die fünf Pflegekinder heraus. Es ist eine Sünde und Schande, daß Sie die Schwestern den weiten Weg hierher haben machen lassen, wo Sie schon dreimal vom Amt aufgefordert sind, sie freiwillig abzuliefern.«

»Und habe ich sie denn nicht abgeliefert?« rief Schlieker maßlos erstaunt. »Heute in aller Frühe schon ist meine Pflegetochter mit den Kindern losgefahren, und jetzt müssen sie längst auf dem Amt sein!«

»Das lügen Sie!« rief die rotbackige Schwester empört. »Ich habe doch ein Kind im Haus weinen hören!«

»Herr Schlieker«, sagte der Gendarm überredend. »Was sollen solche Witze? Ich muß bloß Haussuchung machen, und Sie laden sich da Geschichten auf den Hals ... Seien Sie doch ein einziges Mal sinnig und vernünftig und nicht immer mit dem Kopf durch die Wand!«

»Aber ich bin sinnig und vernünftig! Ich sage Ihnen ja, die Kinder sind Klock fünfe auf das Amt gefahren. Wenn Sie nachsehen wollen, bitte schön, Herr Wachtmeister!«

Und damit trat er aus der Tür und gab sie frei.

Die andern flüsterten noch einen Augenblick miteinander, und er sah ihnen zu und grinste. Dann machten sie ihre Haussuchung, und daß die erfolglos bleiben mußte, das wissen wir ja schon. Aber die wußten es nicht und gingen von Raum zu Raum, und die dicke, bärtige Schwester ließ nichts aus, sondern fiel in eigener Person vor jedem Bett auf die Knie, um darunter zu sehen, und wühlte in jeder Kiste und in jedem Korb, als könne ein Kind unter altem Papier und Holzwolle liegen.

»Vielleicht unterm Sofa, Schwester Adelaide?« fragte Schlieker freundlich und versetzte dem Jungen Philipp wieder mal heimlich einen Knuff in die Rippen. Das tat er, sooft er nur konnte. Der arme Kerl ließ sein armes Narrengesicht immer tiefer hängen, und die nun kommende Schliekerherrschaft schien ihm wohl so unerträglich – zumal seine Freundin Rosemarie nicht zu sehen war –, daß er all seine Verstandeskräfte zusammennahm und dem Gendarmen ins Ohr flüsterte: »De Koahn!«

»Wie?!« fragte von der einen Seite der Gendarm, und von der andern bekam Philipp solch einen Puff, daß ihm fürs erste einmal die Luft ausging.

»Vielleicht im Wrukenkeller, Schwester Adelaide?« fragte der Päule freundlich und lüftete einladend die Klappe. Überzeugt waren sie ja nun, daß wirklich nichts im Haus war und der Schlieker ihnen wieder einmal einen Streich gespielt hatte, aber die rotbackige Schwester stieg doch noch hinab und fand wiederum nichts.

»De Koahn!« sagte der Junge dringlicher. Die ganze Hölle wartete auf ihn, das wußte er, aber was so einer, der ihre Qualen schon kennt, für einen Mut haben kann, das geht manchem Gesicherten über alles Begreifen.

»Der Kahn –?« fragte der Gendarm nachdenklich gedehnt. »Wat seggst du?« rief Schlieker jähzornig. »Was hest du to seggen! Hol din Mul o'er ...« Und der Junge bekam das erste »oder« schon, einen Stoß nämlich, daß er gegen die Wand taumelte.

»Lassen Sie das, Herr Schlieker!« verbot der Gendarm. »Natürlich der Kahn. Der dämliche Bengel ist schlauer als wir alle. Schnell nach dem Kahn!«

Und schon liefen sie alle, als brennte der See, zum Bootssteg hinunter; vorauf der Gendarm Peter Gneis mit dem Jungen am Kettchen. Dahinter der dürre Gemeindevorsteher, schimpfend und brummend. Dahinter die fünf Schwestern, die alte Bärbeißige voran, die Rotbackige hintennach, und die Taschen flogen, so liefen sie. Und zu seiten des Zuges Päule Schlieker und seine Frau Mali – ja, auch die war plötzlich aufgetaucht und tuschelte mit ihrem Mann, tuschelte ...

Da aber lag der See vor ihnen, eine weite mattgrüne Fläche, unter einem blaßblauen Oktoberhimmel, und das Rohr stand still weithin an seinen Ufern.

Plötzlich stand diese ganze aufgeregte Schar Menschen stumm da und starrte auf den See und Steg, als sei da etwas zu sehen. Aber es war nichts zu sehen als eben Steg und See. Weiß der Himmel, was sie eigentlich erwartet hatten! Als könnten die Kindlein vom Himmel gefallen hier aufgereiht liegen – aber nichts, nichts, nichts!

»Und wo haben Sie Ihren Kahn, Herr Schlieker?« fragte der Gendarm mutlos.

»Meinen Kahn? Den habe ich meinem Vetter in Biestow geliehen. Der holt Holz mit ihm vom Biestower Warder.«

»Na schön«, sagte der Gendarm ergebungsvoll. »Sie müssen's ja wissen. Aber daß ich mir heute abend noch Ihren Kahn in Biestow zeigen lasse, darauf können Sie ... Halt, Junge, was hast du da?«

Denn während er sprach, hatte Philipp, soweit es ihm das Kettchen erlaubte, sich zur Wasserkante gedrängt, und nun hatte er sich gebückt, und nun hob er's auf, und siehe, es war ein kleiner Kinderschuh, blauer Samt mit weißen Pünktchen.

»Herr Schlieker, ich frage Sie, wie kommt der Kinderschuh an Ihre Bootsstelle?« fragte der Gendarm feierlich, denn nun hatte er ein Indiz!

Aber der Schlieker antwortete nicht mit Worten, sondern mit Taten, für dieses Mal war ihm die Galle doch übergelaufen und die lange geübte Verstellungskunst verlorengegangen.

»Das werde ich dir weisen, verfluchter Spion!« Damit drang er auf den Jungen ein und mit ihm seine Frau, und die Schläge fielen hageldicht auf den Armen Philipp, der unter ihrer Wucht und dem Anprall wankte.

Und weil er doch mit dem Gendarmen verkettet war, kam auch der ins Wanken, und Schläge bekam der auch, mit Absicht oder ohne, es war nicht zu protokollieren.

Er fluchte und hob die Hand, und Schulze Gottschalk sprang schlichtend dazwischen und machte es noch schlimmer. Nur die Schwestern schrien bloß aufgeregt, bis auf die Bärbeißige, die stumm Frau Schlieker von hinten festhielt.

Plötzlich aber fuhr aus all dem Geschrei und Gedräng und Geprügel eine zum Kratzen gekrümmte Hand auf des Gendarmen Gesicht zu, und als der die eigene zur Verteidigung hob, rutschte ihm der Knebel des Kettchens fort. Kaum aber merkte der Junge das, so schoß er wie eine Flintenkugel davon, einige zu Fall bringend, anderen zwischen den Beinen hindurch – und schon kletterte er über einen Zaun, lief durch einen Obstgarten, verschwand hinter Büschen, tauchte noch einmal auf, ferne schon am Waldrand.

»Da geht er hin!« sagte der Wachtmeister und ärgerte sich fast gar nicht.

»Haltet ihn! Haltet ihn!« rief der Dorfschulze und sperrte den Mund auf.

»Komm du bloß wieder!« drohte Päule Schlieker ingrimmig und rieb sich das Schienenbein, gegen das der verfluchte Bengel bei seiner Flucht mit aller Kraft getreten hatte, ob mit oder ohne Absicht, war wiederum nicht zu protokollieren.

»Sie werden mir mein Kleid bezahlen!« schrie Mali Schlieker Schwester Adelaide an.

Dann standen sie alle und starrten nur noch, der Junge war in dem herbstlich bunten Wald untergetaucht, und keiner hatte auch nur einen Schritt zu seiner Verfolgung getan.

»Den sehen wir so bald nicht wieder«, sagte der Gendarm ahnungsvoll. »Und den Kinderschuh, mein Indiz, hat der Bengel auch noch mitgenommen! Es hat ihn doch keiner –?«

Nein, keiner hatte ihn.

»Gehen wir also hinauf in Ihre Stube, Herr Schlieker, und nehmen ein Protokoll auf. Raus ist das aber lange noch nicht, daß ich nicht Sie statt des Jungen am Kettchen mitnehme.«

»Was Sie mir beweisen können, darauf bin ich wirklich gespannt«, sagte der unverbesserliche Päule. »Ich habe das Mädchen mit den fünf Bälgern zum Amt geschickt, und so können Sie mir gar nichts wollen. Warum soll nicht mal ein Schuh am Wasser liegen? Haben Sie 'ne Ahnung, wie bummlig die Marie Thürke ist?!« Und damit sah er im Weggehen noch einmal nachdenklich auf den See hinaus. Dort war aber wirklich nichts zu sehen als das Übliche: Wasser, Schilf und ein paar Enten.

»Wohin fahren wir, Pate?« hatte das junge Mädchen den alten Mann gefragt, als es mit zwanzig Ruderschlägen den Kahn um eine Schilfecke und damit aus Gesicht und Gehör der scheltenden Frau auf dem Steg gebracht hatte.

»Ja, wo fahren wir hin, mein Kind?« hatte der Professor dagegen gefragt und die Hand gegen den schmerzenden Leib gepreßt. »Sieh einmal, Rosemarie«, sagte er mühsam weiter. »Ich bin ein alter Mann, ein sehr alter Mann, und bedarf der Ruhe und eines gewissen Grades von Behaglichkeit. Vor einer halben Stunde habe ich noch gedacht, es käme alles in Ordnung, und nun ist es wieder so heillos verwirrt; ich weiß eigentlich gar nicht, warum und wieso ...«

Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn und seufzte. Dann warf er einen jämmerlichen Blick auf die Einlieger des Boots, von denen nun schon drei schrien.

»Und nun noch dazu alle diese Kinder«, seufzte er weiter. »Und ich glaube, ich bin nie in einem Kahn über die Wasser gefahren ...«

Das Mädchen mußte lachen, das überkam sie ob all dieser Hilflosigkeit. Aber sie brach gleich wieder ab und bat um Entschuldigung: »Verzeih, Pate, es ist nur alles so anders, als ich gedacht habe. Wie ich dir den armen Philipp schickte, da dachte ich an männliche Hilfe und Beistand. Der liebe Papa hat mir oft erzählt, du hieltest ganze Klassen mit dreißig, vierzig Jungens in Ordnung – und das muß doch furchtbar schwer sein –?«

»Mit Milde nicht«, sagte der Pate sanft. »Jedes Geschöpf ist der Milde zugänglich.«

»Ja«, sagte Rosemarie und betrachtete ihn nachdenklich. »Und einen Nuckel hat sie mir auch bloß mitgegeben, und jetzt schreien schon alle fünf. Die brauchen uns gar nicht zu suchen, das Gebrüll führt sie. – Möchtest du, daß sie uns finden?«

»Nein, nein«, rief der Professor angstvoll. »Wenigstens nicht gleich. Ich möchte mich erst etwas erholen, sie reden alle so viel, und wir müssen doch auch einmal feststellen, wie ich dir eigentlich helfen kann.«

»Vielleicht könnten wir zu dir nach Berlin fahren, Pate?«

»Ja«, sagte der Professor. »Ja, wahrlich, ja!« Und wie eine freundliche Vision tauchte vor ihm sein Studierzimmer auf. Doch mit dem Zimmer zugleich der Junge, der Philipp. »Nein, nein, es geht doch nicht«, sagte er kummervoll. »Ich habe es versprochen, ich kann den Jungen, den Philipp, nicht in deren Händen lassen.«

»Den Philipp –? Ist er denn wieder da?«

»Ja. Der Mann von der Polizei bringt ihn an einem Kettchen zu Herrn Schlieker.«

»Dann müssen wir ihn befreien, Pate!« rief Rosemarie. »Dann können wir nicht nach Berlin. Und wir können überhaupt nicht hin«, überlegte sie weiter. »Denn ich muß auf den Hof aufpassen, und sie würden mich auch gar nicht bei dir lassen. Sie haben ja noch das Recht auf ihrer Seite ...«

»Jaja«, sagte der alte Mann betrübt, denn der Gedanke an das stille Berliner Heim war einen Augenblick wie helles Licht in sein jetziges Dunkel gefallen, um gleich wieder zu erlöschen.

»Lieber Pate«, fragte das Mädchen leise, »möchtest du nicht versuchen, mein Vormund zu werden? Die andern kümmern sich ja nicht um mich! Ich will auch sehen, daß du hier ganz ruhig und behaglich lebst. Und schon morgen gehen wir zu Frau von Wanzka und zu Kaufmann Mühlenfeldt, die sind jetzt meine Vormünder, und zum Amtsgerichtsrat Schulz und bringen das in Ordnung. Bitte, bitte, lieber Pate, es soll auch in aller Ruhe gehen.«

»Ich glaube, ich verstünde nichts davon«, sagte der alte Mann bedenklich. »Ich bin kein Weltkind, Rosemarie.«

»Ach, das macht nichts«, rief Rosemarie. »Ich will dir auch immer genau erklären, was sein muß. Tu es doch, bitte, bitte!«

Sie hatte ihm die Arme um den Hals gelegt und den Kopf an seine Brust. So sah sie von unten zu ihm auf, und ihre schönen, unwirklichen Augen schwammen in klaren Tränen. »Ich bin erst sechzehn, Pate«, klagte sie, »und fast fünf Jahre geht nun der Jammer, erst mit den Gaus und nun mit den Schliekers. Nie habe ich ein offen Wort zu jemandem sprechen dürfen. – Doch! Doch!« rief sie und machte sich frei und sah ihn an zwischen Weinen und Lachen. »Mit den Tieren habe ich sprechen können und mit den Kindern. Alle Kinder, Pate, halten zu mir, hier im Dorf und in der ganzen Gegend.«

»Siehst du, mein Kind«, sagte der alte Professor, »Gott lädt unsern Schultern nie mehr auf, als sie tragen können.«

Sie sah ihn nachdenklich an, die weißen Zähne auf der Unterlippe. »Wirst du es tun?« fragte sie vorsichtig.

»Ich werde es mir überlegen, mein liebes Kind«, sagte der Professor friedfertig. »Nun aber mußt du wohl einmal sehen, daß erst diese Kindlein versorgt werden. Oder werden wir sie mit uns nehmen?« Die Kindlein waren ruhig geworden, sie lauschten wohl auf das Gluckgluck des Wassers und das leise Reiben des Schilfs gegen die Bootwand.

»Ja, die Kinder«, sagte auch Rosemarie nachdenklich, »meine kleinen Putschenutscher. Ach, Pate, du weißt gar nicht, wie süß sie sein können!«

Der Patenonkel sah etwas hilflos auf die weiß und rosa Pakete.

»Zu Schliekers sollen sie bestimmt nicht wieder. Und ich weiß auch schon, wohin ich sie bringe. Kannst du steuern?«

»Nein«, schüttelte der Professor betrübt den Kopf. »Ich fürchte immer wieder, ich werde dir wenig nützen können.«

»Das macht nichts, Pate«, sagte sie tröstend. »Ich krieg den Schiet auch so klar. Ach Gott!« rief sie und schlug sich mit der Hand auf den Mund. »Schiet hätte ich sicher nicht zu dir sagen dürfen, aber ich habe es mir bei Schliekers so angewöhnt. Und, Pate«, meinte sie und stieß das Boot aus dem Schilf und ruderte in die Dämmerung hinaus, »manchmal ist es sehr gut, wenn man so ein Wort sagen kann, es erleichtert so.«

»Ein Gebet, ein wirkliches Gebet erleichtert mehr. Und anders«, sagte der Professor.

»Jaha«, meinte Rosemarie über dem Rudern. »Du bist auch viel älter als ich, Pate.«

Und damit fuhren sie schweigend dahin über den See, bis es aus der beginnenden Dämmerung schwärzlich auftauchte und Rosemarie befriedigt meinte: »Habe ich es mir doch gedacht: noch nirgends ein Licht! Alle sind sie noch bei Schlieker.«

Sie legten an, und die Häuser des Dorfes Unsadel standen still, dunkel und verlassen über ihnen.

»Wohin bringst du denn die Kinder?« fragte der Professor, aus seinem Grübeln erwachend, als Rosemarie mit zwei Kindern fortwollte.

»Den Tamms lege ich sie in die Stube«, flüsterte das Mädchen.

»Das ist gut«, nickte der Professor befriedigt. »Frau Louise Tamm ist eine gute Frau.«

Das Mädchen lief hin und her, hin und her, hin und her. »So«, sagte es, stieg wieder ins Boot und stieß ab. »Ich habe sie alle noch einmal geherzt und abgedrückt. Es ist doch schwer, solche Trennung, gut haben sie es bei uns nicht gehabt, sie werden es jetzt sicher besser bekommen – aber was wird wohl werden aus ihnen im Leben?«

Sie ruderten eine lange, lange Zeit über den jetzt schon nächtlichen See.

»Wohin fahren wir?« fragte der Professor einmal. »Es wird recht feucht und kalt.«

»Wir sind bald da ...«, antwortete sie, und ihre Stimme schien durch das Dunkel aus weiter Ferne zu kommen.

Wieder verging lange Zeit, und dann legten sie an.

»Komm, Pate, ich helfe dir«, flüsterte sie. »Bleib fein still stehen. Deine Tasche hole ich schon.«

Der Professor Kittguß stand mit steifen Gliedern und schmerzendem Leib, unendlich müde, in einem nächtlichen Wald. »Was machst du da eigentlich?« fragte er nach einer Weile zaghaft.

»Ich stoße das Boot in die Strömung, daß es hier nicht gefunden wird«, flüsterte sie. »Sonst würden die doch gleich wissen, wo wir geblieben sind.«

»Und wo bleiben wir? fragte er ängstlich. »Doch nicht hier im dunklen Wald?!«

»Du wirst gleich sehen«, sagte sie. »So«, und sie nahm ihn bei der Hand. »Jetzt treibt das Boot schon draußen. Geh ganz langsam und vorsichtig, Pate. Wir sind gleich da.«

Der Weg, wenn es ein Weg war, stieg uferan. Trockenes Laub raschelte unter ihren Füßen. Dann tat sich etwas wie eine Waldlichtung vor ihnen auf.

»Siehst du das Dunkle dort?« fragte Rosemarie und zeigte.

»Ja, vielleicht«, antwortete er zögernd.

»Das ist der alte Kuhstall«, rief Rosemarie triumphierend. »Und da werden wir ganz ungestört wohnen!«

»O Gott!« stöhnte der Professor.


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