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Worin ein Angeklagter zum Ankläger wird und Päule Schlieker einen Fang tut
Wie Päule Schlieker diese Nacht in der Gefangenenzelle des Amtsgerichts Kriwitz geschlafen hatte, wird nicht berichtet. Der Justizwachtmeister Thode, genannt Thode Brummig, erkundigte sich auch nicht danach, sondern schnauzte bloß: »Mitkommen!«
Der Gefangene ging brav voran, der Wachtmeister ging brummig hintennach. Sie kamen durch eine Gittertür über einen staubigen Gang mit Aktenregalen, und dann klopfte Wachtmeister Thode gegen eine Tür, öffnete sie und meldete: »Polizeigefangener Paul Schlieker aus Unsadel, Herr Amtsgerichtsrat.«
»Großartig!« krähte Amtsgerichtsrat Schulz. »Sie bleiben hier, Wachtmeister!«
»Zu Befehl, Herr Amtsgerichtsrat«, sagte Thode Brummig und dachte noch brummiger an seinen ungegrabenen Garten.
Der Amtsgerichtsrat besah sich seinen Gefangenen, aber der Gefangene sah seinen Richter nicht an. Er wußte nämlich auch so, wie der aussah, denn Amtsgerichtsrat Schulz war im Landkreis Kriwitz ein sehr bekannter Mann. »Schreischulze« hieß er, und diesen Übernamen hatte er davon, daß er auch noch die verbissensten Parteien im schlimmsten Wortgefecht überschreien konnte. Was ihm an Länge fehlte – und es fehlte ihm viel daran –, das ersetzte die Stimme. Und kein Landstreicher, kein Wilddieb, kein Holzfrevler und Mausehaken, der diese Stimme einmal kennengelernt hatte, versuchte, zum zweitenmal gegen sie aufzukommen. Sondern sah zu, daß die Verhandlung schön sänftiglich ging. Im übrigen war der Amtsgerichtsrat Schulz man bloß ein Männchen, er war sogar so klein, daß er sich den kurulischen Sessel in der Amtsstube und seinen Stuhl hinter dem Stillfritzschen Stammtisch zwanzig Zentimeter höher als jeden andern Kriwitzer Stuhl hatte bauen lassen.
Aber daraus machte er kein Hehl, sondern sagte stolz von sich: »Klein, aber fein; klein, aber oho!« Und schaltete wie ein rechter Hausvater in seinem Landbezirk, mahnend, strafend, wehrend und belehrend.
Jetzt sah er mit seinen raschen schwarzen Augen hoch von der Meldung des Gendarmen Gneis und auf den Landmann Paul Schlieker, der da mit gesenktem Blick vor ihm stand, strich sich dabei nachdenklich den schwarzen, seidig glänzenden Vollbart, seinen Stolz, und sagte schließlich freundlich: »Guten Morgen, Herr Schlieker!«
»Guten Morgen, Herr Amtsgerichtsrat«, antwortete Schlieker gleichmütig und sah ihn nicht an.
»Setzen Sie sich ein bißchen, Herr Schlieker«, sprach der Amtsgerichtsrat noch freundlicher. »Thode, geben Sie dem Herrn Schlieker einen Stuhl.«
»Danke, Herr Amtsgerichtsrat«, sagte Schlieker und setzte sich.
»Wir kennen uns ja bereits«, meinte der Amtsgerichtsrat, unverändert freundlich. »Wir sind uns hier ja schon ein paarmal begegnet.«
»Jawohl, Herr Amtsgerichtsrat.«
»Und ich hoffe, Sie werden keine Fisematenten machen, Herr Schlieker!« sagte der Amtsgerichtsrat schon lauter.
»Gar nicht«, antwortete Schlieker.
»Sie werden doch nicht etwa halsstarrig und trotzig sein, Herr Schlieker?« mahnte der Richter laut.
»Nein, Herr Amtsgerichtsrat.«
»Sie werden doch nicht etwa lügen und faule Ausreden gebrauchen wollen, Schlieker!« schrie er immer lauter.
»Nein, Herr Amtsgerichtsrat.«
»Seien Sie nicht so verstockt«, brüllte Schreischulze aus voller Kraft. »Stehen Sie auf, Schlieker, und sehen Sie mich an!«
Der Schlieker tat's, und es war wirklich ein recht freundlicher Blick, den er dem Richter zuwarf.
»Warum haben Sie die fünf Pflegekinder nicht ausgeliefert, Schlieker, wie's Ihnen das Amt dreimal aufgegeben hatte?!«
»Weil der Wagen kaputt war, Herr Amtsgerichtsrat.«
»Warum haben Sie sich keinen andern Wagen im Dorf geborgt?«
»Weil mir keiner einen geliehen hätte.«
»Weil Sie ein unverträglicher, streitsüchtiger, gehässiger Mensch sind, Schlieker, das wollen Sie doch sagen.«
»Nein, sondern weil ich aus Biestow bin. Was nicht aus Unsadel ist, gilt auch nichts in Unsadel«, sagte Schlieker mit unendlicher Sanftmut.
»Warum haben Sie denn da dem Amt keine Nachricht gegeben, Schlieker?«
»Weil ich die Kinder gestern sowieso abliefern wollte.«
»Gestern war der Wagen also wieder heil?«
»Jawohl, Herr Amtsgerichtsrat.«
»Was war denn am Wagen kaputt?«
»Das linke Vorderrad.«
»Felgen oder Speichen?«
»Beides, Herr Amtsgerichtsrat.«
»Dann haben Stellmacher und Schmied daran arbeiten müssen, nicht wahr?«
»Jawohl.«
»Welche?«
»Schmiedemeister Gleiß und Stellmacher Stark in Biestow.«
»Das werden wir untersuchen«, sagte der Amtsgerichtsrat ganz sänftiglich. »Das werden wir Punkt für Punkt untersuchen. – Und warum haben Sie nun nicht aufgemacht, Schlieker, wie die Schwestern geklopft haben?«
»Weil ich im Keller war, Rattenlöcher verschmieren. Da hört man nichts.«
»Und wo war Ihre Frau unterdessen?«
»Auch im Keller.«
»Auch Rattenlöcher verschmieren?«
»Nein, sie hat Äpfel sortiert.«
»Haben Sie viele Ratten im Haus, Schlieker?«
»Es geht an, Herr Amtsgerichtsrat.«
»Sie müssen doch ziemlich viele haben, wenn Sie drei Stunden lang Rattenlöcher verschmieren, denn so lange haben die oben geklopft«, meinte der Amtsgerichtsrat.
»Na ja, ziemlich viele«, gab Schlieker zögernd zu. Er roch die Falle, aber er sah sie nicht.
»Und da bewahren Sie Äpfel im Keller auf?!!!« schrie der Amtsgerichtsrat. »Sie haben gelogen, Schlieker! Die Ratten würden Ihnen ja nicht einen Apfel lassen!«
»Ratten fressen doch keine Äpfel«, versuchte Schlieker sich schnell zu retten.
»Und das wollen Sie einem Richter auf dem Lande einreden, Sie Schafskopf!« schrie Schulz. »Thode, fressen Ratten Äpfel?«
»Meine massenhaft, Herr Amtsgerichtsrat«, brummte Thode. »Soviel sie kriegen können.«
»Sehen Sie!« triumphierte der Amtsgerichtsrat. »Bei dem Schwindel haben wir Sie schon erwischt, Schlieker, Ihre Frau hat keine Äpfel sortiert, und also haben Sie auch das Klopfen gehört!«
»Jawohl, Herr Amtsgerichtsrat!« sagte Schlieker friedlich.
»Wie –?!« fragte der Amtsgerichtsrat verblüfft. »Warum haben Sie denn da nicht aufgemacht?«
»Weil wir uns geschämt haben.«
»Ach nee! Sie haben sich geschämt? Warum denn?«
»Weil das ganze Dorf Unsadel zusah und wir doch aus Biestow sind.«
»So ist das!« meinte der Richter. »Da fällt mir was ein, Schlieker. Welches Hinterrad an Ihrem Wagen war doch entzwei?«
»Das linke Vorderrad, Herr Amtsgerichtsrat. Aber es war nicht entzwei, der Wagen war heil.«
»War heil?! Das war also auch gelogen?«
»Jawohl, Herr Amtsgerichtsrat. Ich will aber jetzt auch nicht mehr lügen, Herr Amtsgerichtsrat. Ich sehe doch, Sie sind zu schlau für mich.«
»Habe ich Ihnen nicht gesagt, Sie sollen keine Fisematenten machen, Schlieker?!« schrie der Amtsgerichtsrat. »Das ist eine Unverschämtheit zu sagen, ich bin zu schlau für Sie. Jetzt, grade jetzt wollen Sie mich einseifen bis über die Ohren.«
»Nein, Herr Amtsgerichtsrat, ich will die reine Wahrheit sagen.«
»Also Sie gestehen zu, daß Sie die Kinder nicht ausliefern wollten?«
»Doch, Herr Amtsgerichtsrat«, sagte Päule mit dem blauesten Blick seiner Augen. »Die Kinder wollte ich gestern wirklich und wahrhaftig abliefern, und nur die Giftkröte, die kleine Thürke, hat mir einen Streich gespielt.«
»Schlieker«, sagte der kleine Mann sehr befriedigt, »so gefallen Sie mir viel besser. Leugnen, das paßt zu Ihnen, aber gestehen, ach nee, Schlieker. – Also, wie haben Sie denn das nun gemacht mit der sogenannten Ablieferung?«
»Klock fünfen am Morgen habe ich die Thürke mit den Kindern ins Boot gesetzt ...«
»Das Boot war also nicht bei Ihrem Vetter in Biestow?«
»Nein doch, Herr Amtsgerichtsrat, das habe ich bloß dem Herrn Gneis so erzählt.«
»Erzählt? Erstunken! – Also weiter! Warum ins Boot?«
»Weil sie doch über den See fahren sollte für die Ablieferung ...«
»Aber Sie lügen ja schon wieder, Schlieker«, schrie Schreischulze wütend. »Thode, kann man von Unsadel in einem Boot zum Amt fahren?«
»Erst wenn Sintflut gewesen ist, Herr Amtsgerichtsrat.«
»Sehen Sie, Schlieker!«
»Und es ist doch so, wie ich sage. Ich habe genau mit der Giftkröte die Stelle verabredet, wo wir uns am Kriwitzer Weg treffen wollten, da, wo am See die drei Silberpappeln stehen.«
»Sie hatten's doch einfacher durchs Dorf?«
»Aber wo wir uns doch so geschämt haben, Herr Amtsgerichtsrat, meine Frau und ich. Die im Dorf sollten's doch gar nicht erfahren, daß ich die Kinder abliefern mußte. Darum habe ich die Rosemarie mit den Kindern über den See ans andere Ende vom Dorf geschickt, und ich wollte mit dem leeren Wagen hin und erst drüben aufladen.«
»Na, geschämt haben Sie sich wohl nicht so sehr, Schlieker, aber die Schadenfreude haben Sie den andern nicht gönnen wollen, was?«
»Das ist doch dasselbe, Herr Amtsgerichtsrat. Aber wie ich nun mit Wagen und Pferden zu den Pappeln hinkomme, ist keine Rosemarie mit den Kindern zu sehen, nein, gar nicht. Diese Giftkröte! Und kommt auch nicht, solange ich warte! Schließlich fahre ich nach Haus, und meine Frau und ich, wir suchen stundenlang im Schilf, aber da rührt sich nichts, und kein Kind plärrt. Und darum, Herr Amtsgerichtsrat, habe ich auch nicht aufgemacht, als die klopften. Ich wußte doch rein gar nicht, was ich sagen sollte. Geglaubt hätte mir ja keiner meine Geschichte, und vorweisen konnte ich die Kinder auch nicht.«
Der Amtsgerichtsrat hatte sehr aufmerksam und sehr ruhig zugehört. Nun nahm er die Meldung des Gendarmen Peter Gneis noch einmal, warf einen flüchtigen Blick auf sie und legte sie entschlossen fort.
»Hat Sie wohl jemand mit dem Wagen durchs Dorf fahren sehen, Schlieker?« fragte er.
»Es mag sein, es mag aber auch nicht sein, Herr Amtsgerichtsrat. Denn fortwärts war es noch ganz dunkel und heimwärts habe ich keine Gedanken für anderes gehabt, als daß die Kinder weg waren und die Thürke dazu.«
»So«, sagte der Amtsgerichtsrat. »So.« Er strich nachdenklich seinen Bart und ließ den Päule keinen Augenblick aus den Augen. Der aber stand so brav und bieder da wie nur einer und hatte Warten gelernt.
»Haben Sie denn«, fing der Amtsgerichtsrat achtsam wieder an, »in der letzten Zeit mit Rosemarie Thürke solchen Streit gehabt, daß Sie ihr einen so hinterlistigen Streich zutrauen? Ich dachte, es ginge jetzt besser, bei mir hat sie sich lange nicht sehen lassen.«
»Das will ich glauben«, sagte der Schlieker, legte den Giftpfeil auf den Bogen, spannte und schoß. »Denn jetzt hat sie es nicht mehr mit den Vormündern und mit Ihnen, sondern mit dem alten Lustgreis.«
»Mit wem?!« schrie der Amtsgerichtsrat und sprang so plötzlich vom hohen Stuhl, als hätte der Pfeil ihn körperlich getroffen. »Was ist denn das nun wieder?!«
»Das ist es, Herr Amtsgerichtsrat«, sprach Schlieker unerschütterlich, »daß vorgestern abend ein alter Knacker bei mir angekommen ist, mit heuchlerischem Augenverdrehen und Redensarten vom Seelenheil. An die Siebzig muß er auf dem Buckel haben, nannte sich Freund vom Pastor Thürke selig, und um die Rosemarie wollte er sich kümmern. Ja, kümmern.«
Schlieker hüstelte höhnisch.
»Und wie er nicht nachließ, und immer wieder wollte er die Rosemarie sehen und sprechen – und geküßt hat er sie dann auch, und sie ist doch kaum sechzehn –, da habe ich ihn in meinen Kohlenstall gesperrt, weil ich mit dem Schulzen Gottschalk seinetwegen sprechen wollte. Aber am Morgen war er weg, und wer ihn rausgelassen hat, das weiß ich auch, denn gleich hinterher verschwand die Marie mit den Kindern. Den Streich hat der ausgebrütet, da fresse ich ein Pfund Arsen, Herr Amtsgerichtsrat ...«
Aber der Amtsgerichtsrat lag fassungslos im Stuhl und stöhnte: »Entweder sind Sie verrückt geworden, Schlieker, mir solchen Kohl vorzusetzen, oder aber ... Aber nein, soweit kenne ich nun doch die Rosemarie Thürke, alter Kerl und die –! Es ist ausgeschlossen!«
»Muß das Kind es denn wissen?« fragte Schlieker sanft und eindringlich. »Wenn er es man weiß. Er tut ja so mild und väterlich. Aber ein ganz Gerissener ist er, meinen entsprungenen Knecht, den blöden Philipp Münzer, hat er auch mit sich fortgenommen ...«
»Jetzt machen Sie Schluß, Schlieker!« rief der Amtsgerichtsrat wütend. »Was hat Ihr blöder Knecht damit zu tun –?!«
»Das hat er damit zu tun, daß er doch der einzige ist, der die Berliner Wohnung von dem alten Kerl kennt. In Berlin bei ihm ist er gewesen, da fragen Sie mal den Herrn Gneis.«
»Es muß etwas dran sein«, murmelte der Amtsgerichtsrat. »Dies denkt sich keiner aus. Thode, Gendarm Gneis soll sofort zu mir kommen. Und Sie gehen dann zu Kaufmann Mühlenfeldt und fragen nach, ob sich sein Mündel Thürke hat sehen lassen. Eventuell mit einem alten Mann. Und dann radeln Sie zu Frau von Wanzka und fragen dasselbe. Natürlich – wenn Sie die Thürke sehen oder den alten Kerl, sofort mitbringen!«
»Zu Befehl, Herr Amtsgerichtsrat!«
Die Tür klappte, und Justizwachtmeister Thode Brummig war weg.
»Und nun hören Sie, Schlieker«, sagte der Amtsgerichtsrat Schulz in ganz anderm Tone zu seinem Gefangenen. »Daß Sie ein schlechter Kerl sind, das wissen wir beide, davon wollen wir jetzt nicht reden ...«
»Herr Amtsgerichtsrat ...«, sagte Schlieker wütend.
»Ruhe!« schrie der Amtsgerichtsrat mit einem letzten Anfall von Schreierei. »Und ob Sie aus der Sache mit den nicht abgelieferten Pflegekindern sauber fortkommen, das weiß ich noch nicht. Was Sie mir da erzählt haben, kann sein und kann nicht sein – das werden wir bald heraus haben. Wenn aber was Wahres dran ist an der andern Geschichte von dem alten Kerl, dann müssen Sie jetzt ohne Hintergedanken und ohne Lüge aussagen, sonst lernen Sie mich kennen, Schlieker, wie Sie mich noch nie kennengelernt haben!«
»Ja doch, Herr Amtsgerichtsrat!« beteuerte Schlieker.
»Denn ich kann alles vertragen in meinem Bezirk, und meinethalben auch eine Messerstecherei beim Tanzvergnügen, aber so was mit altem Kerl und halbem Kind, das will ich nicht haben bei mir, Schlieker, verstanden?!«
»Gewiß doch, Herr Amtsgerichtsrat! Wenn sie ihn bloß nicht wieder aus meinem Kohlenstall herausgelassen hätte! Vielleicht ist sie doch kein bloßes Kind mehr –?«
»Wie hat der Mann ausgesehen, Schlieker? Beschreiben Sie ihn mir mal ganz genau ...«
Drei Stunden später, grade um die Mittagszeit, da sie um ihre Suppentöpfe saßen, kehrte Päule Schlieker, der Fremdling aus Biestow, zurück zu den Ureinwohnern von Unsadel. Er war in allerbester Stimmung, denn dem eingebildeten Zwerg, dem Schulz, hatte er mit seiner Anzeige schön eingeheizt.
Entführung einer Minderjährigen schien zweifelsfrei vorzuliegen – und das war es, was dem Amtsgerichtsrat Schulz den Kopf so heiß gemacht hatte. Denn Herr Schulz war ein völlig gesunder, ein säuberlicher Mann und hatte darum einen sehr kräftigen Ekel vor allem Unsauberen und Unreinen.
Jetzt schon, ohne ihn gesehen zu haben, hatte er einen richtigen Haß auf den alten Kerl, und wenn Gendarm Gneis zehnmal sagte: »Das trau ich dem nicht zu« – der Amtsgerichtsrat traute es ihm zu. Es gab genug Verdächtiges, von der geheimnisvollen Verbindung mit dem entlaufenen Knecht an bis zum spurlosen Verschwinden des Kindes.
Päule Schlieker war eine wichtige, ja, verdienstliche Person geworden, denn er war aufmerksamer gewesen als der Gendarm Peter Gneis, und irgendein Grund, ihn noch gefangenzuhalten, bestand nicht.
Daher kam es, daß Päule Schlieker so zufrieden und vergnügt in Unsadel einzog. Aber daß er sich da etwa heimlich einschleichen sollte wie ein entlassener Verbrecher – den Spaß wollte er den Unsadelern nun doch nicht machen! Sie alle hatten seinen Abmarsch mit dem Gendarmen so aufmerksam betrachtet, daß sie auch an seiner Rückkunft ihr helles Vergnügen haben sollten!
Da war es gut, daß er auf dem Wege von Kriwitz nach Unsadel den alten Fellhändler Lau getroffen hatte. Dem hatte er mit ein bißchen Zureden und gegen das Versprechen einer kostenlosen Kalbshaut (es waren aber die Würmer drin, was er dem Lau nicht erzählt hatte) die Trillerpfeife, mit der er die Leute vor die Tür lockte, abgeborgt.
So kam Freund Päule Schlieker nach Unsadel, und kaum war er an der Windmühle vorbei und die ersten Dorfhäuser lagen rechts wie links, da setzte er die Pfeife an den Mund und fing zu trillern an wie der alte Lau.
Und richtig! Die da um ihren Mittagstisch saßen und aßen, fuhren hoch, und Vadding rief zu Mudding: »Muß uns der alte Zickenbart doch richtig wieder in die Suppe fallen! Mudding, halt ihn draußen fest, bis ich die Kuhhaut vom Boden geholt habe, und es müssen auch noch drei Hasenfelle hinter dem Ofen von der Altenteilerstube stehen!«
Als sie aber vor ihre Häuser kamen, war's nicht der alte, demütige Lau, sondern ihr Mitbürger Päule Schlieker, und wie ein rechter Bosheitsteufel, der er ja auch war, verbeugte er sich nach rechts und nach links und zog seinen Hut und griente denen, die da mit ihren Häuten und Fellen standen, recht freundlich zu.
Und jeder Fluch, den sie über ihn sprachen, war ihm recht, und jede Verwünschung, die sie ihm nachriefen, freute ihn, und wenn sie ganz still waren und spuckten nur vor blasser Wut aus, da verbeugte er sich noch einmal extra.
So dienerte und trillerte und griente er sich durchs Dorf und ging ordentlich auf wie ein Hefekuchen vor quellender Bosheit. Beim Spritzenhaus gab er seine letzte Pracht- und Galavorstellung, und seine Mali hätte er gerne dabei gehabt, die hätte sich auch gefreut!
Als nun aber Schlieker um die letzte Hausecke bog – und jetzt waren es nur noch fünfzig Schritt am Gartendrahtzaun entlang bis zum eigenen Hoftor –, da blieb er mit einem Ruck stehen. Denn vor sich sah er einen Jungen, einen ziemlich großen Schuljungen, der, halb hinter einem Zaunpfosten, halb hinter einem Busch versteckt, eifrig in den Schliekerschen Garten und nach Frau Schlieker spähte, die da Land umgrub.
Schlieker sah sich das an. Der Junge kehrte ihm beharrlich den Rücken zu und spähte mit staunenswerter Geduld. So trat Schlieker vom Weg auf den Grasstreifen neben dem Weg und ging sanft und still auf dem Grasstreifen näher an den Jungen heran. Als er ihn aber erkennen konnte, blieb er wieder mit einem Ruck stehen. Denn dieser Junge war der Sohn vom Bauern Gau, und hatte Schlieker bisher gedacht, es sei bloß irgend so ein Bengel, der hier wegen der Marie lauerte (denn die hingen ja alle wie Pech und Schwefel an ihr), so war das jetzt ausgeschlossen. Denn daß Marie die Gaus mit allem, was ihnen anhing, seit der Pflegekinderzeit bei ihnen haßte, das wußte er wohl.
Wenn aber so ein Gaubengel mittags Klock zwölf zur Essenszeit am Schliekerschen Gartenzaun lauerte, so hatte es damit eine besondere Bewandtnis, und eine gute bestimmt nicht. Zwar war Schlieker mit allen Leuten im Dorf verfeindet, die Gaus waren aber doch so recht seine Ober- und Herzensfeinde. Das stammte noch aus der Zeit, da er ihnen ihr Pflegekind Marie abgejagt hatte und da dem Schlieker kurz drauf eine Kuh auf dem Kleetüder an der Trommelsucht verreckt war.
Schlieker war noch heute davon überzeugt, daß daran die Gaus schuld waren, die der Kuh boshaft nassen Klee vorgeworfen hätten – trotzdem er mit dieser Klage vom Gericht (Schreischulze!) abgewiesen worden war.
Schlieker trat schnell hinter einen Dornbusch, denn nun glitt der Junge leise den Zaun entlang auf das Hoftor zu, dabei fleißig nach der grabenden Frau spähend.
Die sah nicht auf, nur manchmal klang der helle Ton des Spatens herüber, der einen Stein getroffen hatte.
Den Zaun entlang glitt der Junge, den Rain entlang glitt Schlieker – im Garten grub still die ahnungslose Frau. An der Einfahrt zum Hof blieb der Junge stehen und sah sich vorsichtig um. »Kiek du und der Teufel«, dachte Schlieker hinter einem Dornbusch. »Gleich wird der Bello anschlagen.«
Aber Bello schlug nicht an, und Otsche Gau glitt weiter, jetzt auf den Schliekerschen Hof. Eigentlich hatte er nur Posten stehen sollen, dann aber hatte er Botschaft vom alten Kuhstall bekommen, er möge bei ganz reiner Luft doch versuchen, ob nicht etwas von Rosemaries Wäsche, Schuhzeug und Kleidern zu erreichen sei.
Nun, seit einer Viertelstunde war die Frau aus dem Haus und schien sich auf längere Gartenarbeit eingerichtet zu haben. Auf dem Hof konnte sonst keiner sein, denn Päule Schlieker saß sicher in Nummer Sicher (dachte Otsche), und so wagte er es, um großen Ruhm zu erwerben.
Der Junge kam über den Hof, öffnete sachte die Tür zum Windfang und stand in der fliegendurchburrten Küche. Er kannte das Haus aus der Zeit, da Rosemarie noch seine Pflegeschwester gewesen war, und so wußte er, daß er durch die Tür neben dem Kochherd zu gehen hatte.
Er tat's und war nun in der Stube der ehemaligen Pflegekinder. Er sah durch das Fenster in den Garten, und da stand nun unten, keine sechs Schritte entfernt, die grabende Frau. Die Fensterscheibe war zwischen ihnen, und die Frau dachte gar nicht daran, herzusehen, und selbst dann hätte sie ihn aus dem Hellen ins Dunkle nicht sehen können, aber dem Jungen klopfte das Herz doch gewaltig. Da konnte er sich zehnmal sagen, daß er nichts Schlechtes tat, daß die Wäsche und die Kleider doch der Rosemarie gehörten – es half nichts; das Herz hüpfte doch, und am ganzen Körper wurde er naß von Schweiß.
So dauerte es eine ganze Weile, bis der Junge sich entschloß, die Tür aufzumachen. Da hatte er es aber auch geschafft, denn nun war er in Rosemaries Stübchen, und der Schrank gradezu, das war der Schrank, in dem sie ihre Sachen hatte. Der Schlüssel steckte, und je länger Otsche zögerte, um so schlimmer klopfte das Herz. Er huschte ins Haus, aber alles war totenstill. Er gab sich einen Ruck, und mit zwei Schritten war er am Schrank. Er schloß auf. Da lag nun all das Wäschezeug in kleinen Päckchen vor ihm – aber was sollte er nehmen? Otsche hatte auch Schwestern, doch darum noch lange keine Ahnung, was diese Mädels sich alles auf den Leib zogen. Strümpfe – na schön, Strümpfe waren bestimmt richtig, und er griff sich vier, fünf Paar. Eines fiel hin, er bückte sich danach und sah – auf einen halben Meter Entfernung! – in das hämisch grinsende Gesicht Päule Schliekers!
Das Herz stand ihm still ...
»Schön, daß du mich auch mal besuchst, Otsche Gau«, grinste Päule Schlieker, noch immer hinter der angelehnten Tür kauend.
Doch im gleichen Augenblick schlug Hohn in Zorn um. Mit beiden Händen faßte Schlieker den zitternden Jungen bei den Schultern, riß ihn zu sich, stieß ihn fort, riß ihn zurück und wieder fort und hin und her, hin und her ...
»Du verfluchtes Biest! Dieb und Sohn eines Diebes! Ich schlage dich tot!« keuchte er und dachte an die krepierte Kuh.
In dem haltlos hin und her fliegenden Kopf des Jungen war nur ein Gedanke: »Ich will nicht Angst haben ... Ich will nicht Angst haben vor Schlieker ... Ich will nicht ...«