Kurt Faber
Tausend und ein Abenteuer
Kurt Faber

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Von Schwarzen, Ganz »Schwarzen« und anderen Dingen

Ankunft in Livingstone / Im Spital / Das verkannte Wildschwein / So sieht eine Eisenbahn aus! / Nacht über Rhodesien / Intermezzo in Buluwayo / Sonderbare Geschichten / Johannesburg / Sport in der Eisenbahn / Die »Ganz Schwarzen« / Endlich in Kapstadt / Das »Wirtshaus der See« / Eine finstere Gegend / Die neue Flagge wird geheißt / »Oranje Boven!« / Eine Galerie von Burengeneralen / Revolte auf dem Paradeplatz / Auf nach Australien!

Livingstone heißt zu Ehren des großen Forschers die Stadt, die unweit der Sambesifälle das Ausfalltor bildet, von dem aus die europäische Zivilisation oder auch das, was heutzutage unter dieser Marke geht, ihre Fangarme nach der Wildnis am oberen Sambesi ausstreckt. Sie ist bereits eine berühmte Stadt, deren Namen einen Klang hat in der Welt, in der man sich langweilt. Ganze Menagerien von reisenden Amerikanern ergießen sich alljährlich in ihre Gassen und auteln hinauf zu den Fällen, die sie very nicesehr hübsch, schrecklich interessant und awfully interesting finden; und dann rasen sie gleich wieder weiter nach anderen Zonen und anderen Wundern, die man geschaut haben muß um der allgemeinen Bildung willen. An der Stadt Livingstone selbst und ihren 4000 Einwohnern ist freilich nur wenig hängen geblieben von dem Segen. Die typische englisch koloniale Wellblechstadt mit vielen Wirtshäusern, vielen Automobilgaragen, mit großen Firmenschildern, kleinen Kaufläden und einem unglaublich frechen Niggerpack, das in billiger europäischer Konfektion so aufgeblasen wie nur möglich in den breiten, ungepflasterten Straßen herumlungert.

Aber so armselig der Ort auch ist, so wirkte er immer noch zu elegant und ordnungsliebend als Umrahmung zu dem Bilde des wilden Waldläufers, der da hungrig und abgerissen, mit bleichem Gesicht und fieberglänzenden Augen durch die Gassen schlich. Diesem polizeiwidrigen Individuum, das natürlich niemand anders war als ich selbst, war so unerfreulich zumute, wie das bei einem menschlichen Wesen nur immer der Fall sein kann. Bisher war es die Erwartung gewesen, die die gesunkenen Lebensgeister immer wieder beflügelte, aber nun, da man am Ziele war –

Ja, was nun? Livingstone war schließlich ein Ort wie alle anderen. – Wie lang hier die Wege waren! Mitten auf der Straße stand ich still. Das Blut hämmerte unerträglich im Kopfe. Livingstone drehte sich im Kreise. Ich mußte mich irgendwo festhalten, wenn ich nicht hinfallen und einen Auflauf verursachen wollte wie eine ohnmächtige alte Mamsell. Auf der Polizeistation empfing mich der Beamte nicht unfreundlich.

Was ich wolle?

Wer das gleich sagen könnte! Also, der Polizeioffizier in Mungo – »In Mungo?« –

»Ja, in Mungo. Der General, der Gouverneur in Mungo –« Weiter kam ich nicht in meiner Rede, denn plötzlich drehte sich die Polizeistube im Kreise wie vorher die Stadt Livingstone. Der Polizeichef selber kam herein und betrachtete mich von oben herunter.

»Sieht ein bißchen verboten aus«, meinte er. »Das tun wir alle, wenn wir aus dem Busch kommen.«

Er telephonierte nach dem Spital.

– Und nun soll ich die Geschichte noch einmal erzählen, die ich schon so oft erzählt habe, die wilde, verworrene Geschichte von schlimmen Krankheiten und noch schlimmeren Spitälern? Wenn man in bürgerlichen, gesitteten Verhältnissen in Tropenländern lebt, so steht einem bei allem Komfort und allen hygienischen Vorsichtsmaßregeln doch immer die Krankheit hinter dem Stuhle wie ein Gespenst. Bei dem, der dort als wandernder Abenteurer Glück und Schicksal herausfordert, ist sie etwas, das sich am Rande versteht, eine Selbstverständlichkeit, die dazu gehört wie ein Sumpf, ein Tropengewitter, die Moskitos selbst; ein Ding, vor dem man sich duckt, solange es dauert, und es nachher abschüttelt. Und doch – und doch –

»Da hinauf?« hatte mir einer gesagt, als er hörte, wohin man mich brachte. »Nicht für tausend Dollars!« Später konnte ich ihm das nachfühlen, denn mit einer einzigen Ausnahme – und die war danach – war dieses Spital das schlimmste, in dem ich je gelegen habe. Es war ein großer Raum mit vielen Kranken und wenigen Krankenschwestern, die sich um alles kümmerten, nur nicht um ihre Patienten. Das Schicksal wollte es, daß neben mir einer lag, der aus dem Schiffbruch des Lebens nichts herüber gerettet hatte ins Spital als einen rostigen Phonographen mit einer einzigen Platte, die von morgens bis abends »Valencia« krächzte. Hätte ich Geld gehabt, ich hätte ihm das Ding abgekauft, rationalisiert und stillgelegt. Aber da lag ich ohne einen Penny, ärmer als der Aermste in Rhodesien. Drei Pfund waren mir noch übriggeblieben bei meiner Abreise von Mungo, aber aus irgendeinem Gedankengange, dem nur Bürokraten zu folgen vermögen, hatte mir die dortige Polizei diesen notwendigen Reisepfennig beschlagnahmt mit der Maßgabe, daß ich ihn in Livingstone wiederbekommen sollte. Aber wann? Es war wohl am besten, wenn ich nicht darüber nachdachte. Nur liegen und nichts denken und auf das Summen und Hämmern des Fiebers lauschen und auf den Lärm der Tropengewitter, wenn draußen der Regen auf den fleischigen Blättern trommelte. Der Mann mit dem Phonographen war übrigens ein unterhaltsamer Bursche, wenn er – was selten genug vorkam – einmal eine lichte Stunde hatte. Dann pflegte er mir zu erzählen, wie er zu Schaden und ins Spital gekommen war, und dann entspann sich eine Unterhaltung, die sich folgendermaßen abwickelte:

Er: »Haben Sie schon einmal ein Wildschwein gesehen?«

Ich: »Ja.«

»Aber so ein richtiges afrikanisches?«

»Das noch nicht.«

»Dann können Sie von Glück reden. Ich bin einem begegnet, und das genügt mir.«

»Das muß Ihnen wohl sehr zugesetzt haben?«

»Ein wenig schon, denn es war ein merkwürdiger Fall, ein ganz verdammt merkwürdiger Fall, wenn man's richtig betrachtet. Ich fahre mit meinem Fahrrad von der Kupfermine zum Kamp, wie ich das schon tausendmal getan hatte. Diesmal aber war's dunkle Nacht, und meine Laterne hatte ich auch zu Hause gelassen. Da höre ich etwas rascheln im Busch, dann schnaubt es hinter mir her wie ein fünfzigpferdiger Motor. Ich fahre so schnell wie ich kann, aber das Schnauben kommt näher. – Well, ich bin nicht gerade ein ängstlicher Mann, ein schlechter Radfahrer bin ich auch nicht, aber aufs Sechstagerennen bin ich nicht trainiert, und gerade vor dem Kamp holte es mich ein und reißt mich vom Rad – rede einer von Gestank!«

Hier pflegte er eine Pause zu machen.

»Wie es dann weiterging? Woher soll ich das wissen? Das nächste, was ich sah, war der Doktor in Livingstone. Und Jim, der Vormann, sagte, es sei gar kein Wildschwein, sondern Mister Collins Kuh gewesen.«

Dann wendete er sich zur anderen Seite und drehte an dem Apparat, der es wieder hinausschmetterte, als müßte er etwas nachholen: »Valencia!«

Das waren so Geschichten. Sie erinnerten mich daran, daß ich schon lange keine mehr geschrieben hatte, daß ich meinem Gewerbe untreu geworden war und die schöne Zeit versäumte im Spital. Denn wer konnte wissen, wann ich wieder einmal solange an einem Platze weilen und soviel Zeit im Überfluß haben würde wie hier? Aber Feder, Tinte und Papier waren teure Artikel, und woher nehmen und nicht stehlen, da ich doch keinen Penny in der Tasche hatte? Aber das Bedürfnis findet stets Wege und Umwege. Einen Bleistift borgte ich von der Krankenschwester, und das Papier stiftete ein sympathisierender Mitpatient. So schrieb ich mit kritzelnden, unsicheren Händen stundenlang von alledem, was mir in den letzten Wochen über den Weg gelaufen war in Busch und Urwald. Ich schrieb und schrieb, bis auf einmal sich alles wieder im Kopfe drehte, und dann hatte das Papier wieder Ruhe für einen oder zwei Tage. Aber fortgeschickt wurde vorerst keiner von den Briefen, denn das kostete bares Geld, und da hört die Wohltätigkeit gewöhnlich auf.

Zugvögel der Zeitung, Landsknechte der Feder – wie viele, die solche Artikel mit all ihren Flüchtigkeiten zu Hause am Frühstückstisch lesen – ja, wie viele von diesen wissen, in welcher Hast, unter welchen unmöglichen Umständen so etwas oft zusammengekritzelt wird, zusammengekritzelt werden muß in den verlorensten Weltwinkeln!

Aber nicht ein weiteres Wort will ich erzählen von Livingstone und seinem Krankenhaus.

Eines Tages erschien ein Polizeibeamter und brachte das konfiszierte Geld aus Mungo und noch etwas mehr dazu. Es war ein Lösegeld aus dem Spital. Aber draußen war die goldene Freiheit nicht annähernd so schön, wie ich sie mir ausgemalt hatte in den langen, langen Tagen und Nächten im Dämmerdunkel des Krankenhauses. Das grelle Sonnenlicht auf der Straße überfiel mich wie ein wildes Tier. Ein wenig schwindelte mir im Kopfe. Ein wenig unsicher war ich auf den Beinen, denn die Krankheit war mir zuletzt in die Knie geschossen. Nur ganz langsam hinkte ich weiter bis zum Bahnhof, den ich lange und andächtig betrachtete. – Also so sah eine Eisenbahn aus! Fast hatte ich das vergessen über der langen Reise in der Wildnis. Ich verstaute meine Sachen und richtete mich häuslich ein mit dem Gefühl der Befriedigung. – Das wäre also geschafft. Nun fängt ein anderes Leben an. –

Südafrikanische Eisenbahnen – ich hatte ja früher schon ihre nähere Bekanntschaft zu meinem Schaden gemacht – sind im allgemeinen nicht das letzte Wort an Komfort. Sie sind in der ein Meter breiten Spur angelegt, in der sogenannten »Kapsspuer«, die vor einem halben Jahrhundert, als man noch nicht an große Ueberlandlinien im dunklen Kontinente dachte, den Ingenieuren als das Richtige erschienen war, die aber heute zu einer Plage geworden ist. Immer schneller sollen die Züge laufen, immer breiter die Wagen werden, aber die Spurweite bleibt unverrückbar dieselbe. So geht aller Fortschritt auf Kosten des Magens der Passagiere, die schon sehr fest gebaut sein müssen, um nicht der Seekrankheit zum Opfer zu fallen. –

Und nun erst einer mit soundso viel Grad Fieber. –

Aber Fieber oder nicht. – Es gibt Dinge, an denen man nicht vorübergehen darf. War es nicht eine Schande gewesen, daß ich hier schon drei Wochen lang dicht bei den großen Fällen wohnte, ohne je einen Gedanken für sie, geschweige denn ein Verlangen nach ihrem Anblick zu haben? Nun kam der Berg einmal wirklich zu Mohammed. Nun bekam man sie zu sehen, ob man wollte oder nicht. Und man bekam sie zu hören, lange ehe man sie zu Gesicht bekam. Weithin war die Luft erfüllt mit dumpfem Brausen. Weiße Dampfwolken stiegen in den dunkelblauen Himmel. Und endlich kam das Auge auf seine Kosten. Ganz unvermittelt hielt der Zug auf einer Brücke, die so hoch wie der Wasserfall und in der Tat die höchste der Erde ist. Tief, tief unten schäumt der Sambesi. Ringsum ist alles brüllender Donner und Aufruhr der Elemente. Gerade voraus sieht man zwischen Palmen, zwischen schwarzen Felsen, die starr wie Festungen stehen – was sieht man da eigentlich? Mosivatunja, den donnernden Rauch, nennt der Eingeborene diese Fälle. Man könnte in der Tat keinen besseren Namen finden, denn viel mehr ist wahrlich nicht zu bemerken: nur Donner, nur Rauch, nur Höllenspuk und wilder Hexensabbat der entfesselten Natur. Langsam setzte sich der Zug wieder in Bewegung, und während er nun weiterfuhr, da konnte ich nicht umhin, zu denken, wie schön es trotz allem ist – – das Wandern!

Ein Amerikaner, der mir gegenüber saß, stopfte mit saurer Miene seine Pfeife.

»Well«, meinte er, »da muß ich dann doch schon sagen: So ein Geschrei zu machen wegen diesem mühsam herausgequetschten Tropfen! Bei uns der Ni–a–gara –.«

Nach dem Ueberschreiten des Sambesi durchzieht die Bahn das Gebiet der nunmehrigen autonomen Kolonie Rhodesia, die, nachdem hinten im Kapland und Transvaal die Buren am Regimente sind, zum letzten Zufluchtsort des englischen Jingoein die Vaterlandsliebe übertreibender Heißsporn, Hurrapatriot in Südafrika geworden ist. Allenthalben im Mutterland und in anderen Teilen des weiten britischen Weltreiches wird zur Zeit gewaltig die Werbetrommel gerührt für dieses neue Wunderland, das in seiner wilden Unberührtheit einen tiefen Eindruck selbst auf den macht, der es flüchtig vom Eisenbahnwagen aus beschaut. Man kommt durch weite Ebenen, auf denen wunderliche Affenbrotbäume stehen, vorbei an Sümpfen, aus denen groteske Termitenbauten herausragen, und wiederum keucht die Lokomotive durch romantische Bergländer mit unübersehbaren Wäldern, die heimatlich anmuten in ihrem rotbraunen Herbstkleide. Und wieder kommt die Nacht, die weiße, helle, sternklare afrikanische Nacht, die man erlebt haben muß, um ihren Zauber zu spüren.

Bei Tagesanbruch erreichten wir die Hauptstadt Buluwayo. Buluwayo – der Name klingt exotisch, wie der Inbegriff alles Afrikanischen. Vor dreißig Jahren stand hier noch Labengulas Kral, die ersten wilden Abenteurer fristeten ihr Leben mit dem, was ihre Büchse einbrachte, und wenn einer nach dem Matabeleland ging, wie es damals hieß, so brachte er vorher seine weltlichen Güter in Ordnung und machte sich auf den Weg, mit der ganzen Gloriole eines Afrikaforschers. Heute ist Buluwayo ein Klein-Paris, eine Filiale von Johannesburg mit allem Zubehör. Vor dem Bahnhofsgebäude, das etwas abseits von der Stadt liegt, stehen schwarze Kulis mit ihren Rikschas,zweirädriger, von Menschen gezogener Personenwagen in Ostasien ganz wie irgendwo im Orient, und da der Zug zehn Stunden Aufenthalt hat, ist dafür gesorgt, daß man nicht unbesehen an Buluwayo vorbeikommt.

Wenn ich heute an Buluwayo zurückdenke, so scheint es mir einer der kältesten Plätze, die ich je gesehen habe. So lang waren die Straßen! So eiskalt der Wind! Eben konnte ich mich noch in eine Teestube retten, wo plötzlich ein Herr vor mir stand, der mir ein Glas Cognac unter die Nase hielt. Um ihn standen mehrere andere und machten ihre Bemerkungen.

»Der hat das Fieber,« meinte einer.

»Er kommt aus dem Busch,« orakelte ein anderer.

»Das wird er wohl,« antwortete der Mensch mit dem Glas. »Einen aus Regentstreet könnte man hier wohl kaum vermuten.«

Nach einer Weile fragten sie mich nach dem Woher und Wohin, aber da die Auskunft ziemlich kraus ausfiel, gaben sie die Bemühungen auf, und einer der Herren brachte mich mit dem Auto wieder nach dem Bahnhof. –

Wenn es je einem Menschen gegraust hatte vor einer Eisenbahnfahrt, so mir vor der nach Johannesburg. Aber es ging, wie es meistens geht bei Dingen, deren Schrecken man gewissermaßen schon vordiskontiert hat. Trotz allem Elend war es eine unterhaltsame Reise.

Wenn einer von Buluwayo südwärts fährt, so bringt er meist einen gerüttelt vollen Sack von Erfahrungen mit, und wo wäre er mehr geneigt, sie an den Mann zu bringen, als in der Enge eines Eisenbahnwagens, wo man ohnehin nichts zu tun hat, als seinen Mitmenschen anzusehen durch lange Tage und Nächte, während draußen das Grau der Steppe in ewigem Einerlei vorüberzieht. Da war zunächst ein enttäuschtes Grünhorn von einigen zwanzig Lenzen, das vor wenig mehr als sechs Monaten auf derselben Bahnlinie, vielleicht im selben Wagen mit tausend Segeln hinaufgezogen war ins gelobte Land und nun mit saurer Miene wieder zurückkehrte, »a sorrier, but a wiser manein etwas enttäuschter, aber dafür klügerer Mann wie die Engländer sagen.

– Ja, Rhodesien! Die Pest hole das Affenland! Drüben in England, da habe man ihm die Zunge lang gemacht mit dem großen Land und der vielen Sonne und was sonst so in den schönen Prospekten stand. – Kann man etwa von der Sonne leben? Oder vom Land, wenn nichts darauf ist?

»Und haben Sie es nicht mit Farmen probiert?« fragte einer. Aber da maulten die anderen noch mehr.

»Von wegen Farm!« fuhr der Sprecher zornig fort. »Tausend Meilen von nirgendwo, sechs Tagereisen mit dem Ochsenwagen ein Stück Wüste oder bestenfalls ein Busch, an dem sich die Leoparden die Zähne putzen, in dem die Termiten selbst das Wellblech fressen und man Skorpione als Bettgenossen hat. – Heißen Sie das etwa auch eine Farm, Herr?«

Seine lauten und zornigen Worte hatten die Leute aus den anderen Abteilen herbeigelockt, die beifällig murmelten zu der Rede. Ganz so sei es, maulte ein anderer. Ein jeder müsse hier seine Erfahrungen machen und er mache sie auch. Glücklich der, der mit sechs Monaten dabei wegkomme. Er selbst habe zwei Jahre in diesem gottverfluchten Affenlande verloren. Im ersten haben ihm die Heuschrecken den Tabak auf der Farm gefressen, im zweiten die Kaufleute, und die seien schlimmer als die Heuschrecken. So sei er neulich nach Buluwayo zurückgekommen, mit nichts als einem leeren Sack auf dem Buckel. Noch morgen, wenn er nach Johannesburg komme, wolle er einen Brief schreiben, aber einen gesalzenen, an den Prinz von Wales ganz persönlich, denn so könne das nicht weitergehen. Hunderte lägen so wie er auf der Straße, ein Objekt für die Heilsarmee in Buluwayo.

»Als ob sie anderswo nicht auf der Straße lägen!« fuhr ihm einer ins Wort, ein dürrer, starkknochiger Mann mit einer Haut wie Leder und einem unheimlich mageren Gesicht, aus dem ein Paar ganz große, blaue Augen seltsam herausleuchteten, ein Buschmann, wie er im Buche stand. – Er solle einmal sehr vorsichtig sein mit dem, was er sage über das Affenland! Das Land sei schon gut genug, der Fehler liege bei denen, die nicht einmal gut genug wären, um mit Affen umzugehen, und das sei wohl bei den meisten der Fall, die heute übers Wasser kämen. Zu seiner Zeit, vor zwanzig Jahren, da habe es zwar auch schon Grünhörner gegeben. Aber auch Elefanten und richtige Wilde. Die Löwen seien auf den Straßen von Buluwayo spazierengegangen, um dunkle Ecken flogen Kaffernspeere, und die hätten Männer aus den Grünhörnern gemacht, ob sie wollten oder nicht.

Aber heute –

Heute fange das schon an zu heulen, wenn nicht hinter jedem Busch ein Federbett und in jeder Wüste ein Tennisplatz stehe. Das alles komme von der Zivilisation und den vielen Weißen, die jedes Land verderben, auch das beste. Nordrhodesien fange nun auch schon an zu verphilistern, und da möchte man wohl wissen, wohin ein anständiger Abenteurer heute noch flüchten solle.

Ja, wohin? Einer im Wagen war für Uganda, ein anderer für Deutsch-Ostafrika. Ein dritter kam eben aus Njassaland, wo er eine Weile nach Gold und Kupfer prospektiert hatte, und meinte, das wäre der richtige Platz für einen smarten jungen Mann. Ich selbst gab meine Stimme für Angola ab. Da horchten sie auf. Afrikabereist wie sie waren, war dennoch keiner in Angola gewesen. Denn was sollte einer dort wollen? Dort gab es nur Niggers und Portugiesen. Angola, das war der große, schwarze Fleck, um den man herum ging wie um etwas Unreines. Nun aber, da einer vor ihnen saß, der wirklich dort gewesen war, konnten sie nicht genug davon hören. Von Löwen, Leoparden, Einbaumkanus, von Sümpfen, Salzprozessionen und Negerpotentaten. Krank wie ich war, vergaß ich doch alle Krankheiten über solchen Erinnerungen, denen die anderen lauschten wie große Kinder, die sie auch waren, als echte Abenteurer.

»Ja«, sagte einer, den sie Bill nannten, »das ist noch richtiges Afrika – Angola! Das ist noch ein Land. Das lasse ich mir gefallen! Ein bißchen zuviel war's schon. Das kann man Ihnen ja auf den ersten Blick ansehen. Sie sehen aus wie ein Buschgespenst. Aber eine schöne Reise muß es doch gewesen sein; eine ganz verdammt schöne Reise, wie ich kalkuliere. Und in diesem Winter werde ich auch nach Angola machen.«

Ueber diesen Gesprächen kam wieder die Nacht, eine schwere, dumpfe, drückende Nacht. Das Heer der Sterne marschierte auf über der Steppe. Sanddünen wechselten ab mit weiten Flächen von großen, knorrigen Dornbuschbäumen, unter denen das hohe, gelbe Gras wie reifes Getreide wogte. Ab und zu sah man irgendwo ein rotes Feuer. Ab und zu hielt der Zug an einer kleinen Station, wo die Windpumpen eintönig in die Nacht hineinklankten und zerlumpte Kaffernkinder mit Melonen und Schakalfellen handelten. Von überall her drang der Sand durch die Ritzen und legte sich wie ein Teppich über alle Bänke und alle Menschen und in die Lungen der Menschen. Es war, als ob man wieder durch Südwestafrika fahre.

Aber es war Betschuanaland. Und später Transvaal und Afrika überall, das ewig gleiche Land von Busch und Sonne. Im Morgengrauen aber vermischte sich das Licht des hereinbrechenden Tages mit dem der elektrischen Bogenlampen. Ungeheure Schutthalden standen grau und gespensterhaft in der Ebene, und überall machten Schornsteine und Wellblechbaracken die ganze Gegend zu einer einzigen großen Fabrik. Namen tauchten auf und verschwanden, Namen, die man irgendwo schon gelesen hatte in einem Kurszettel oder in einem Börsenbericht:

»Ferreira Deep. – Cinderella Deep. –«

Das stand da so nüchtern und farblos auf dem weißen Stationsschild vor einer Blechbude von einem Bahnhofsgebäude, als ob nicht Gold in diesen Namen wäre, und Glück und Unglück und Selbstmord und Selbstbetrug und Rausch des Besitzes. Als ob nicht immer wieder Tausende über ihnen fieberten, wenn sie mit zitternden Fingern im Kurszettel suchten.

Und auf einmal fuhren wir zwischen hohen Häusern.

Da waren wir in Johannesburg, der Großstadt von vierzig Jahren. – –

Als ich dort ankam, hatte ich noch zehn Schilling in der Tasche. Und das ist sehr wenig, zumal in Johannesburg. Dafür hatte ich aber das Fieber. Und ein böses Bein und einen Kopf voll düsterer Gedanken, mit denen ich in dem Straßenlärm noch einsamer umherging als in der wildesten Wildnis des Barotselandes.

Und nun soll ich die Geschichte noch einmal erzählen, die alte Geschichte von der großen Stadt und dem kleinen Schicksal, das lustlos durch die Gassen schleicht, vom Fieber in Johannesburg und einem Spital in Pretoria. – Wen interessierte es?

So mache ich einen großen Strich durch diese Geschichten und nehme den Faden der Erzählung wieder auf in der Eisenbahn zehn Meilen von Kapstadt. –

Achtundvierzig Stunden waren wir schon unterwegs gewesen von Pretoria, und da war keine unter diesen, die nicht Fahrgäste und Zugpersonal gleichermaßen in heller Aufregung gesehen hätte. Denn große Ereignisse warfen ihre Schatten voraus: die »All Blacks«, die »Ganz Schwarzen«, hatten sich zum Feldzug nach Südafrika gerüstet.

Das Vaterland war in Gefahr. Es galt, sich zum Kampf zu rüsten. Seit Wochen schrieben die Zeitungen von nichts anderem. Seit Tagen schrie es der Rundfunk in alle Welt.

»Die ›Ganz Schwarzen‹ kommen!«

Zwischen Pretoria und Johannesburg stieg die Begeisterung wie das Thermometer dortzulande. Wenn Südafrikaner begeistert sind, so wetten sie, und demgemäß hatte sich jeder schon nach allen Richtungen engagiert, als in Johannesburg ein Herr zustieg, der vermöge seiner Sachkenntnis sogleich das Gespräch an sich riß.

– Ja, das könne man heute schon mathematisch voraussagen, wie das kommen würde! Er habe die letzten sechs Wochen nur zu diesem Studium verwendet und eine eingehende Analyse gemacht. Jim McGregor von den »Ganz Schwarzen« sei heute in großer Form. Tom Bowers dürfte wohl ein Tormann sein, dem Bill von den »Springböcken« nicht gewachsen wäre. »Wieso?« riefen die anderen entrüstet.

»Wieso? Weil er es eben nicht ist! Und Ben kann sich nicht sehen lassen in der Fußarbeit neben Nat –«

»Aber im Kopfschuß kann ihn doch kein Mensch in der Welt überbieten,« sagten mehrere wie aus einem Munde.

»Das wird sich erst noch herausstellen«, fuhr der alte Herr zornig fort, »und Charley ist auch ein schwarzes Pferd und überhaupt will mir scheinen, daß man sich unsererseits doch nicht ganz des furchtbaren Ernstes der Lage bewußt ist.«

Da waren nun wieder die anderen ganz anderer Ansicht, und so wurden in heftiger Gegenrede die Chancen abgewogen und in runden Summen gegeneinandergesetzt, während der Zug immer weiter raste über das sonnige Veldt von Transvaal, durch die Buschsteppen des Griqualandes und durch Nacht und Sterne über der Karu. Während draußen Namen aufleuchteten, die wie Diamanten funkelten.

Kimberley, Lichtenburg . . .

Namen von Flüssen und Kopjes, die die halbverwischten Erinnerungen an die romantischen Zeiten des Burenkriegs weckten. Aber Nacht und Tag und Sonne und Sterne unterbrachen nicht das langatmige Argument, bis sie alles ausgeschöpft hatten bis zu den entferntesten Imponderabilien: die Anstrengungen einer langen Reise, der Einfluß einer fremden Umgebung auf die Stoßkraft eines jungen Mannes und inwiefern die eventuellen Nachwirkungen der Seekrankheit als Bundesgenossen für Südafrika in Rechnung zu stellen seien. Der dicke Herr meinte, es sei ein Ereignis, von dem man Kindern und Kindeskindern erzählen könnte, von dem man Epochen datiere in Südafrika, so eines wie Anno 1905, wo er auch schon dabei gewesen sei. – Ja, und er habe durch Protektion sogar eine Empfehlungskarte bekommen vom Kapitän in Pretoria. Sein Auto sei schon voraus gefahren nach Kapstadt, damit werde er dann den »Ganz Schwarzen« nachreisen auf ihrer Tournee bis nach Buluwayo und endlich, nach dem er das gesehen, beruhigt in die Grube fahren.

So redete er weiter, und die anderen starrten ihn an mit unverhohlenem Neid. Er war ein Mann, der schon stark an der schattigen Seite der Fünfzig lebte, er war dick und unbeholfen, ein schwitzendes Ungetüm mit einer Glatze, die wie eine polierte Stahlplatte funkelte. Ich staunte ihn an, ihn und sein ebenso infantiles Publikum, und ich sagte mir: »Herr, führe mich zurück ins Barotseland!«

Während sie noch so redeten, fuhren wir durch ein enges Tal, in dem Weinberge und herbstlich entblätterte Obstgärten standen. In der Ferne stand ein Berg mit einer Nebelkappe. Blau schimmerte irgendwo das Meer. Nun zogen die Bremsen an.

Da waren wir in Kapstadt. –

Kapstadt ist ein Ort, vor dem man den Hut sehr tief abnehmen muß. Von allen Städten, die ich kenne, ist Kapstadt vielleicht nicht die schönste, aber die eigenartigste in ihrer seltsamen Lage, die einem den Eindruck vermittelt, als ob sie vom Berge heruntergerutscht und halbwegs hängengeblieben wäre in einer Umrahmung von leuchtenden Gärten, umrauscht von süßen Winden, die frisch wie das Leben aus dem Meere aufsteigen, das von überall die weiße Brandung gegen die Felsenküsten wirft. Das »Wirtshaus der See« hat man schon vor Jahrhunderten diese Stadt genannt, und das ist ein sehr gut gewählter Name. Jahrhundertelang war »das Kap« dem Seemann niemals Selbstzweck, sondern immer nur Mittel zum Zweck gewesen, eine Etappe, eine Atempause, ein Markstein am Wege für die Ostindienfahrer, eine Hafenkneipe auf der Reise nach Batavia, in der lärmende Matrosen ihre schwer erworbenen Gulden vertaten. Deutsche, Holländer, Engländer, Franzosen, Malaien, Neger aus Sankt Helena haben sich hier fröhlich und gefährlich gemischt und ihre Sünden erbten sich fort und sind gewachsen wie die Wüste bis zum heutigen Tage. Das alles haust in der Vorstadt, die unter dem Namen »Distrikt Sechs« einen wenig beneidenswerten Weltruf erlangt hat. Es ist das Kapstadt, das nicht in den Fremdenführern steht, die Unterwelt, in der alles erlaubt ist, der Ort eines unheimlichen Kinderreichtums, die grauen Gassen, durch die die Armut mit zerrissenen Schuhen über schlechtes Pflaster geht und das Elend eng zusammengehuddelt in schmutzigen Häusern haust. Wir gehen durch die Vorstadtstraßen, in denen die Häuser groß und grau in den Nachtschatten stehen und zerlumpte Kinder auf den Haustreppen sitzen. Billig, billig! schreit es aus allen Schaufenstern. Billig und schlecht ist die Aufmachung des Menschengewimmels, das da so dicht wie nirgendwo sonst in der Stadt im unsicheren Lichte der Laternen flutet. Ein paar mehr oder weniger verkommene Gestalten europäischer Abkunft – weiße Kaffern nennt man sie hierzulande – lungern vor billigen Speisehäusern. Aber im übrigen ist alles schwarz und braun und gelb, und was es sonst noch so an Farbennuancen auf menschlichen Gesichtern geben kann. Weiter geht man durch die Straße, zwischen Hausschildern, die sich lesen wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht oder doch wie Reklamebilder einer Zigarettenfabrik.

»Ali Mohammed, Arabisches Kaffeehaus« steht über einer Haustür, vor der sich eine Schar Gassenbuben balgt, von der Sorte, die nachts um zwölf noch den »Star« in den Gassen ausschreit und in den kalten, nebligen Morgenstunden ihre Bleibe in den Türnischen, den Bänken und auf den Treppen der Kathedrale findet.

Was ist es nur um diese gottverlassene Gegend?

Auf dem großen, kahlen Paradeplatz, zu Füßen des altertümlichen Forts macht sich das Menschenungeziefer am breitesten, dort wo man zwanzig Bananen für einen Sixpence und eine Tüte Erdnüsse für einen Penny bekommen kann, in den Läden der Straßenhändler, vor denen im wilden Fackellicht über den schwarzen Gesichtern die roten Feze aufleuchten. Schwer ist es zu sagen, wo das Schwarz aufhört und das Weiß anfängt in dieser Masse, in der die Sünden der Väter sich heimsuchen seit Vasco da Gamas Zeiten. Kaffeebraune Gesichter gibt es hier, mit wunderschönen, mandelförmigen Augen, die einen vorwurfsvoll anschauen, wandelnde Vogelscheuchen neben farbigen Gentlemen mit fabelhaften Charlestonhosenweit geschnittenes Beinkleid und Krawatten von buntester Schönheit.

Das alles gibt es auf dem Paradeplatz. Schwarz, Gelb und Braun. Neger, Malaien, polnische Juden, eng verbunden durch den dicken Saft ihres gärenden Bolschewistenblutes. Verlumpt und abgerissen hockt es um die Stufen eines stolzen Denkmals, auf dessen Sockel es weithin sichtbar geschrieben steht: »Never a king had more loyal subjects.« »Nie hatte ein König loyalere Untertanen!«

Denn der Stein ist geduldig.

Und es steckt Lüge auch in dem Geschwätz, das auf den Denkmälern steht.

Doch ich will nicht zum hunderttausendsten Male eine Schilderung von Kapstadt geben. –

Wenn ich bisher gedacht hatte, ich wäre der »Ganz Schwarzen« losgeworden mit dem Zuge, so wurde ich gleich eines andern belehrt. Schon in der Bahnhofshalle überfielen uns die Zeitungsjungen.

»All Blacks!«

Auf der Straße schrie es aus allen Schaufenstern. Die Menschen, die einem begegneten, sprachen von nichts anderem.

»All Blacks!«

Vor einem Gebäude stand die Menge in einer langen Reihe. Halb schlafend lehnten sie gegen die Wand. Andere hatten sich Stühle herbeigeschafft und dösten geduldig auf dem Sitze. – »Die warten hier schon zwei Tage lang, ohne die Nächte«, sagte einer.

»Auf was denn?« fragte ich verwundert.

»Auf Eintrittskarten zu den ›Ganz Schwarzen‹ natürlich.«

Am andern Tage standen alle Räder still. Was irgend gehen und stehen und das Eintrittsgeld bezahlen konnte, das hatte sich draußen auf dem Spielplatz versammelt und die übrigen standen atemlos auf den Straßen, wo mächtige Lautsprecher den Fortgang des Spieles verkündeten.

Unbeschränkte Infantilitiskindisches Betragen des zwanzigsten Jahrhunderts! Und doch – es war wirklich so, wie jener Herr im Zuge sagte: Es waren Tage, von denen aus man Weltgeschichte datieren würde in Südafrika. Wenn ich je ein Stück Geschichte miterlebt habe, so war es dort in Kapstadt. Noch mitten in dem Ganz-Schwarzen-Rummel warf er seine Schatten voraus, der große Tag, der nichts weniger als das Ende des Begriffes »Britisch-Südafrika« bedeuten sollte, der Tag, an dem die alte holländische Oranjeflagge, die einst Van Riebeek hier zuerst geheißt hatte, von neuem aufleben sollte als Wahrzeichen von Südafrika, während der britische Union Jack nach dem Willen der neuen Machthaber von der nationalistischen Burenpartei auf immer niedergeholt wurde von den öffentlichen Gebäuden.

Historische Tage haben wohl zumeist ursprünglich nicht den Schimmer der Romantik gehabt, den die Inbrunst so vieler nachfolgender Jahrestage darum zu weben vermochte. So wird man ganz gewiß auch in kommenden Jahrzehnten den 31. Mai 1928 als einen Tag der Begeisterung in Kapstadt nacherleben, obgleich man am Tage selbst nicht viel davon merkte.

Und doch war es ein schöner Tag von der Sorte, wie selbst in Kapstadt nicht ein Dutzend auf ein Jahr gehen, und das will viel heißen. Ganz klar, in Sonne gebadet, mit einem tiefblauen Rivierahimmel – nein, mehr als das: mit einem kapländischen Himmel, den man erlebt haben muß, um ihn zu würdigen. Aber die Stadt, die noch eben gebebt hatte über den »Ganz Schwarzen«, lag dumpf und gleichgültig da. Kaum irgendwo sah man eine Fahne an den Privatgebäuden. Nirgendwo regte sich so etwas, was man auch nur als offizielle Begeisterung hätte ansprechen können. Und doch fühlte man den entscheidungsvollen Tag unter der dumpfen Maske der Gleichgültigkeit. Auf dem weiten Platz vor dem Parlamentsgebäude hatte sich eine ungeheure Menschenmenge, angesammelt; eine verbissene, mürrische, maulende Menge, die alles andere als begeistert war. Auf der Rampe des Parlaments hatte sich ein Kongreß von Burengeneralen versammelt. Alle Augenblicke glaubte man den alten Oom Paul auftauchen zu sehen. Aber siehe, es war der britische Gouverneur, der angefahren kam in einer fabelhaften Uniform.

»Die hat er auch nicht für zehn Pfund auf Abzahlung gekauft«, maulte einer aus dem Publikum.

»Südafrika hat jedenfalls nichts dazu bezahlt«, wies ihn ein anderer zurecht, »das kommt direkt aus der Tasche Seiner Majestät, des Königs.«

»Und, warum, Herr, bleibt er dann nicht dort, wenn er so viel verdient?« unterbrach ihn hitzig der erste Sprecher.

Um ein Haar wäre es schon hier zu einem Handgemenge gekommen, wenn nicht ein rechtzeitig auftauchender Schutzmann mit einem Gummiknüppel diese vox populides Volkes Stimme zum Schweigen gebracht hätte. Indes lief droben die Vorstellung programmäßig ab. Der Premierminister General Hertzog, ein Typ wie ein deutscher Professor, hielt eine Rede auf Holländisch, dann kam die Reihe an General Smuts, den Deutschenfresser, eine spitzbärtige Mephistogestalt, die auch nicht nach einem General, geschweige denn einem Burengeneral ausschaute. – Kurzum, man sah viel Weltgeschichte auf einmal. Aber plötzlich donnerten in der Ferne die Kanonen. Die neue Oranjeflagge rauschte auf und flatterte in der Brise, die vom Tafelberg wehte.

Da pfiffen die Engländer.

Gleich darauf sah man über einem anderen Flügel des Gebäudes den Union Jack.

Nun pfiffen die Buren.

So verlief das große Ereignis inmitten kleiner Begeisterung. Aber es hatte ein kleines Nachspiel. In den Nachmittagsstunden sammelte sich eine von Minute zu Minute anwachsende Menschenmenge auf dem großen Platze vor der Festung, denn wenn es an diesem Tage etwas zu sehen geben sollte, so war es dort. Schon wochenlang hatten die großen englischen Zeitungen gedroht, gebeten und selbst das Gespenst der Revolution heraufbeschworen, falls es dort nicht nach ihren Wünschen gehen solle. – Hundertdreißig Jahre lang habe der Union Jack dort oben geweht als Herr über Südafrika. Man wage es, ihn niederzuholen, und man würde was erleben.

Engländer sind Menschen, die nicht das Innere ihrer Seele auf dem Markte auszubreiten pflegen. Es kann einer ein ganzes Leben lang unter ihnen gelebt haben, ohne solchen Vorgang zu erleben. Ich selbst habe das nur einmal beobachtet und das war an jenem letzten Maitag, als über den Wällen der Festung zum erstenmal die neue Flagge sichtbar wurde. – Das waren keine Engländer mehr. Das waren Italiener, Portugiesen, die hier tobten. Von Minute zu Minute wuchs die Erregung. Vornehme Ladies – und das will schon etwas heißen – vergaßen all ihre Würde und fielen jedem um den Hals, der eine britische Flagge im Knopfloch trug. Autos, die über und über bedeckt waren mit Union Jacks, vermochten sich kaum einen Weg zu bahnen durch den Aufruhr.

Immer wilder wurde die Szene, bis auf einmal etwas geschah, was eigentlich nicht auf dem Programm stand. Der »Sechste Distrikt«, die Unterwelt der Farbigen, meldete die Teilnahme an als ungebetener Gast. Erst kamen sie in einzelnen Trupps, dann in Scharen, dann wie eine schwarze Lawine, wie eine verderbenbringende Sturmflut, die aus den Außenbezirken hereinströmte. Neger, Mulatten, Malaien und sonstiges Mischvolk. Schreiend und johlend wälzte der Mob sich nach der inneren Stadt, überflutete die Kette der Schutzleute, die hilflos dastanden mit ihren Gummiknüppeln.

An einer Straßenecke staut sich die Menge. Rot leuchten die Feze im wilden Fackellicht, das neben einer primitiven Rednertribüne brennt. An die Hauswand gelehnt steht eine schwarz-rot-gelb-grüne Fahne und daneben ein riesengroßes, grünes Plakat, auf dem in mächtigen Lettern zu lesen steht:

»Afrika den Afrikanern!

Afrikanischer Kongreß.

Rache für den Mord der Bondelzwarts!«Hottentottenstamm in Südwestafrika

Ein Redner ist eben dabei, einer andächtigen Menge dies alles noch mehr zu verdeutlichen, und während er seine Weisheit ausstreut, drängen sich immer größere Mengen um das Rednerpult. Denn dieses ist ein Erlebnis, ein Ereignis in dieser Unterwelt.

Kadalie spricht . . .

Clements Kadalie, der Organisator der J. C. U., der farbigen Arbeiterunion. Er ist ein stattlicher Bursche, ganz der Typ eines farbigen Gentleman, mit roter Krawatte und schwarzem Gesicht, in dem die weißen Zähne funkeln. Er spricht schnell und hastig, in einem tadellosen Englisch, das der neben ihm stehende Dolmetscher anscheinend nur mühsam in eine guttural klingende Eingeborenensprache übersetzt. Und was er sagt, hat Hand und Fuß, wenn man es vom Standpunkt des Kaffern betrachtet.

»Die Erde, mit allen ihren Früchten, meine Freunde, gehört nicht dem König von England, nicht dem General Hertzog, nicht dem Prinzen von Wales und nicht dem Herrn Thielmann Roos, sondern Gott! Merkt euch das und schließt euch uns an, die wir schon dabei sind, es zu merken. Organisiert euch, bewaffnet euch, und wenn die Stunde kommt, will ich der Feldherr sein!«

Die Musik fällt ein bei dem Wort, und nun hören wir, nachdem wir oben die Fahne gesehen, nun auch die neue afrikanische Nationalhymne, deren Melodie uns bekannt vorkommt. Ah, es ist unser liebes, altes »O Tannenbaum!«

Andächtig fällt die Menge ein. Nun spricht der Redner wieder. Nun rauscht der Beifall auf aus der grauen Menge. Nun wieder eine wilde Musik. Das und die seltsame Umgebung und die Nacht im wilden Fackellicht geben wirklich ein faszinierendes Bild. Es ist gut gespieltes Theater, berechnet auf die Phantasie des Schwarzen und aufgeführt im wilden Jazzrhythmus der afrikanischen Natur.

Erwachendes Afrika? Rührt sich die schwarze Bestie?

Man weiß bei diesem Volke nie, wo die Wirklichkeit anfängt und das Theater aufhört.

Weiß man es auch bei den anderen, den Weißen? Sind sie nicht geneigt, alle schwarzen Gefahren zu vergessen über einer Tournee der »Ganz Schwarzen« aus Neuseeland?

Oder doch nicht?

Ich fing an darüber nachzudenken, während ich zum Kai hinüberging, wo der Dampfer bereitlag zur Fahrt nach einem andern Erdteil.

Ja, sagte ich mir, da hast du wieder einmal Glück gehabt! Hast Weltgeschichte miterlebt und eine Flaggenheißung und eine halbe Revolution. Aber auch ein Fußballspiel und einen Lautsprecher und die »Ganz Schwarzen«.

Und das ist tausendmal wichtiger in diesem Jahrhundert des Kindes. –

 


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