Max Eyth
Mönch und Landsknecht
Max Eyth

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IV.

Es war am Donnerstag vor Judika. Noch lagen hie und da auf den Bergen kleine Schneestreifen und glänzten hell durch die Dämmerung, die sich über das enge Kochertal herabsenkte. Statt der lauen Frühlingsluft, welche den Tag über wehte und am Waldessaum die Anemonen weckte, an deren Wurzeln das Schneewasser langsam durch das Gestein hinabsickerte, – statt dieses freundlichen Boten der Zukunft sauste jetzt ein eisigkalter Nord über die düsteren Berge und schüttelte in rauhen, heulenden Stößen die dürren Äste der Bäume.

Die steilen Staffeln am Berghang hinauf schritt Bernhard auf dem nächsten Wege von dem benachbarten Städtchen Forchtenberg nach Kloster Schöntal. Als er den Gipfel erreicht hatte, blieb er stehen und blickte noch einmal auf das Städtchen hinunter, in welchem er heute seinen schönen, schweren Beruf ausgeübt hatte. Bei seinen jungen Jahren kannte er noch nicht den wilden Jammerschrei der Schlacht; er hatte das Meer noch nicht gesehen, wie es mit einem Wogenschwall hunderte verschlingt, aber er hatte andere Bilder des Schmerzes schon gesehen, – Bilder, die den tapfersten Krieger, den mutigsten Seemann erschüttern könnten. Er hatte gesehen, wie der Tod, einem Wurme gleich, oft jahrelang an einem Herzen nagt, ohne es zu zerstören; er hatte gesehen, wie der Mensch mit Not und Hunger, mit Seelenangst und Herzenspein jahrzehntelang auf dem Krankenlager ringen kann, ohne zu vergehen. Da galt es denn zu trösten, zu erquicken und zu helfen; aber trotz aller Mühe wäre doch nichts ausgerichtet gewesen, wäre nicht noch ein Anderer, Höherer mit ihm am Siechbett gestanden und mitgegangen von Hütte zu Hütte, um zu lindern und zu segnen. Das wußte Bernhard und das machte ihn jetzt so fröhlich, daß er nicht darauf achtete, wie es ringsum finsterer und immer finsterer wurde und wie die dünnen Eisscheiben auf dem einsamen Pfad unter seinem Fuße knisterten. Noch einen Blick voll Freude und Dank warf er ins Tal hinab, aus welchem die Lichter flimmerten, und dann schritt er rasch auf der kahlen Hochebene weiter, dem Walde zu.

Aber gar bald merkte er, daß ihn die Dunkelheit irregeführt hatte. Unter seinen Füßen sanken die naßkalten, vom Pfluge frisch aufgeworfenen Schollen eines Ackerfelds quietschend zusammen und aus halbgefrorenen Pfützen spritzte ihm das Wasser entgegen. Sicherlich – er mußte den Weg verfehlt haben. Der junge Mönch blieb stehen und sah sich um. Er ging eine kleine Strecke rückwärts; er hielt wieder zweifelnd seine Schritte an und spähte in die Dunkelheit hinaus. Links zog sich düster und still der entlaubte Wald hin und dann in einem mächtigen Bogen vorn am Horizont herüber; rechts und hinter ihm verlor sich die flache Hochebene in der grauen Nacht, aus welcher hie und da gar wunderlich gestaltete Schneehaufen hervorglänzten. Ringsum war es todstille; Bernhard hörte den Nachtwind in den dürren Grashälmchen spielen, die am Raine standen.

»Dort an jener Waldesecke muß doch wohl ein Hof sein!« sagte er endlich und schritt wieder getrost vorwärts. Er hatte sich nicht getäuscht. Der nächste scheinbare Wald waren die Obstbäume, die den Muthof (so hieß er) umgaben. Schon wurde das Dach einer Scheune sichtbar, das spitzig und schwarz über dem Geäste hervorragte. Schon spürte er auch, unter sich die roh aneinandergelegten Steinplatten, die zwischen mächtigen Düngerhaufen hinführten und so den unergründlichen Weg zwischen den einzelnen Häusern gangbar machen sollten, und aus deren Spalten bei jedem Tritt, der sie tiefer hineindrückte, der schwarze Kot in die Höhe spritzte.

Jetzt schimmerte ein Licht durch die Zweige; er schritt darauf zu. Eine halbzerfallene Staffel führte zu der Haustüre, die, wie gewöhnlich bei solchen Häusern, wagrecht durchschnitten war und so gleichsam zwei Läden bildete. Der obere Teil, halb angelehnt, ließ in das undurchdringliche Schwarz des Öhres blicken; der untere Teil war geschlossen.

Bernhard klopfte an das halbverklebte Fenster, das er von der Staffel aus erreichen konnte und durch welches kaum das trübe Licht eines Kienspans zu dringen vermochte. Er klopfte wieder und wartete wieder, aber alles blieb still. Nur am nächsten Hause fuhr ein Kettenhund in die Höhe und fing wie rasend zu bellen an und, an der Kette zerrend, jammernde Töne in die Nacht hinauszuheulen; hier und dort, ferner oder näher antworteten ihm seine Kameraden mit demselben Wutgeheul, ohne daß die Bewohner des Hofes, die an solchen Lärm gewöhnt sein mußten, deshalb unruhig wurden. Erst als der Mönch zum dritten Male klopfte, öffnete sich zögernd das Fenster und der Kopf eines alten Weibes kam zum Vorschein.

»Habt Ihr niemand, der mich eine Strecke weit führen könnte? Ich bin verirrt«, sagte er.

»Woher seid Ihr denn?« fragte die Alte näselnd.

»Von Kloster Schöntal«, erwiderte Bernhard; »ich bin ein Mönch, wie Ihr sehet, und will ja nicht umsonst begleitet sein. Nur bis zur Hexenklinge gebt mir jemand mit!«

Bei dem Wort »Hexenklinge« fuhr der Kopf des Weibes in die Stube zurück. Bernhard hörte drinnen ein leises Gemurmel und erst nach einer Weile kam die Alte wieder ans Fenster und sagte: »Nehmt's nicht für ungut, Herr Pater! 's ist bei uns kein Mensch zu Haus als ich und meine Söhnerin; wir können Euch niemand mitgeben. Mein Bub' ist mit den andern auf der Sindringer Kirchweih'. Doch wenn ich Euch einen Rat geben darf, so geht wieder hinunter ins Kochertal und macht Euren Weg über Ernsbach. 's ist weiter, aber man findet's doch. Ja, ja, geht nicht über die Hexenkling'; dort verirrt jeder ordentliche Christenmensch. Gehabt Euch wohl!«

Das Fensterlein wurde zugeschlagen und Bernhard stand ratlos da. Er versuchte es noch an einigen Häusern, aber immer mit demselben Erfolg. Nur waren hier die männlichen Glieder angeblich bald in Sindringen, bald in dem Städtchen Niedernhall, bald in Ohrenberg, so daß er endlich beschloß, sein Heil allein zu versuchen, und den Hof, vom lauten Bellen der Hunde verfolgt, wieder verließ.

Bald hatte er den Fußpfad, der sich durch die Obstgärten schlängelte, hinter sich und stand abermals draußen auf dem öden Feld. Mutig schritt er dem Walde zu, der noch drohender und dunkler vor ihm lag als vorhin. Er hatte bereits alle Hoffnung aufgegeben, auf dem ordentlichen Wege sein Ziel zu erreichen; nur die Richtung suchte er wenigstens zu behalten.

Jetzt stand der Waldessaum vor ihm. Rauschend fuhr der kalte Wind durch die schwarzen Äste der Tannen und wirbelte in den feuchten, halbfaulen Blättern am Boden. Bernhard besann sich noch einen Augenblick. Dort bemerkte er einen Weg, der gegen das einsam stehende Wallfahrtskirchlein von Neusaß zu führen schien. Er ging darauf zu, warf noch einen prüfenden Blick in das freie Feld, über welches der Wind das ferne Geheul eines Wolfs dahertrug, und schritt nun wieder entschlossen vorwärts.

Es war in der Tat ein entsetzlicher Weg. Nasse, eiskalte Zweige schlugen ihm unaufhörlich ins Gesicht, während tiefe Radfurchen ihn zugleich am Gehen hinderten; das Dickicht und das Dunkel wurden immer undurchdringlicher. Blieb er stehen, so war es ringsum schauerlich still; nur die Zweige hinter ihm, die er im Gehen zurückgeborgen hatte, schnellten leise schwankend wieder aneinander. Doch der Mönch ließ sich durch nichts stören. Beharrlich schritt er weiter und blieb nur manchmal einen Augenblick zum Ausruhen stehen, als wollte er die Stille selbst belauschen.

Da – auf einmal – war's ihm, als zitterte in weiter Ferne vor ihm ein rötlicher Strahl durch die Äste. Er hielt an und sah scharf nach jener Richtung. Es mußte Täuschung gewesen sein; das Licht war verschwunden. Aber als er noch immer nachdenklich dastand, traf ein leises, dumpfes Murmeln sein Ohr. »War es der Wind? – Nein, das muß das Murmeln des angeschwollenen Baches sein; ich kann unmöglich mehr weit sein von der Hexenklinge.«

Plötzlich erschien auch das ferne Licht wieder. Es ging langsam von der Rechten zur Linken, bis es abermals spurlos verschwand. Bernhard hatte aufmerksam und halb erschrocken die Bewegung der Flamme verfolgt. »Es ist in die Hexenklinge hinab!« sagte er leise, und nicht ganz frei von dem Aberglauben seiner Zeit besann er sich, was zu tun sei.

»In Gottes Namen!« sprach er endlich und ging ruhig vorwärts. Das vermeintliche Murmeln des Baches wurde indessen immer stärker, immer wunderbarer, immer unnatürlicher, so daß er noch häufiger stille stand. Da, plötzlich – Bernhard wurde ganz verwirrt – schwieg das Gemurmel; nur die Zweige knisterten noch; sonst herrschte Todesstille im ganzen Walde. Aber horch! – abermals etwas, – erst leiser, dann immer lauter und klarer! Er konnte sich nimmer täuschen: es war die Stimme eines Menschen, der laut und deutlich sprach. Aus der Schlucht, deren Abhang er sich näherte, schimmerte ein roter Schein; nur noch ein paar Schritte und er stand am abschüssigen Rand.

Aber wie erstaunte, wie erschrak der Mönch! Zwanzig, – dreißig Fackeln brannten im tiefen Grunde der Schlucht; schwarzer Qualm stieg durch die Zweige der mächtigen Bäume empor, deren blätterloses Geäste, von dem Rauch eingehüllt, geisterhaft im grauen Nachtnebel zu schweben schien. Unten und an den Abhängen hinauf standen große, dichtgedrängte Haufen und lauschten stumm und ruhig den

Worten eines Einzelnen, der mittendrin auf einem hohen Felsen, von lodernden Flammen umgeben, zu ihnen sprach. Nur manchmal lief ein dumpfes Murmeln der Wut oder ein Getöse des Beifalls, der dem Redner galt, durch die schwarzen Reihen. Bernhard, der sich vergeblich die Augen rieb, womit er das wilde, geisterhafte Bild anstarrte, ahnte allmählich den Zusammenhang. Es waren Bauern.

Nach einigem raschen Besinnen stieg er leise und unbemerkt den steilen Abhang herunter. Er kam an etlichen Leuten vorüber und blickte in die grimmigen, oft von höhnischem Lächeln verzerrten Gesichter. Er nahte sich allmählich dem Sprecher und stellte, von einem Baume gedeckt, sich auf, um denselben näher ins Auge zu fassen. Niemand störte, niemand beachtete ihn; alle Blicke waren auf jenen gerichtet. Wieder rieb er sich die Augen, riß sie immer heftiger auf, wurde bleich und blickte starr nach dem Felsen. Denn der darauf stand und heftige, begeisterte Worte durch die Schlucht rief, war und blieb niemand anders – als Bruder Robert.

Welches unerwartete Zusammentreffen! Nie hätte er geglaubt, daß ein Mönch aus seinem Kloster und dazu der stolzeste, finsterste Mönch mit den verachteten Bauern, die nur wenige bemitleideten und nur er wahrhaft liebte, gemeinschaftliche Sache machen könnte. Und jetzt sah er ihn mitten unter ihnen, ja, wie es schien, an ihrer Spitze! Er drängte sich trotz der offenbaren Gefahr, die nur durch das Dunkel und das Gewirre geschwächt wurde, näher an den Stein, – immer noch in der stillen, herzlich gemeinten Hoffnung, sich zu täuschen; aber vergeblich.

Robert hatte die Kutte weit zurückgeschlagen; seine kräftige, knochige Gestalt war hell beleuchtet und ragte stolz und sicher über die Menge hervor. Er hatte soeben eine Erzählung beendigt, die er mit ruhiger, fast eintöniger Stimme vortrug, der man aber den bitteren Spott nur allzugut anmerkte. Jetzt hielt er einen Augenblick an, um die Wirkung seiner Rede zu beobachten. Sein glühendes, schwarzes Auge flog über die Köpfe der Versammelten, deren größte Anzahl in der Nacht der hinteren Klinge nimmer sichtbar war. Bernhard hörte das Wutgemurmel; er sah wie sein Nachbar, ein halbverhungerter, derb knochiger Kerl, sich in die Lippen biß und seine Faust den Knittel preßte. Da erhob der Mönch seine Stimme abermals, heller und lauter; seine Gestalt richtete sich noch höher empor, sein Auge sprühte und er rief mit bitterer Wut:

»Nun – da habt ihr's, nackt und bloß, der Pfaffen Treiben, wie ich's Tag für Tag mit ansehe. Da habt ihr's, nackt und bloß, wie die Habsucht und Üppigkeit sie hinführt zu Lug und Trug, zu Raub und Meuchelei, – wie sie den Bauern zermalmen mit ihrer Macht und den Ritter, den trotzigen Ritter bestehlen mit ihrer List, – wie sie unter heiligem Gebet die Scheuern auffressen, die ihr mühevoll gefüllt, und die Keltern aussaufen, die eure Weine bergen. Ihr staunt? Nicht wahr, so glaubet ihr nicht betrogen zu sein um Erde und Himmel, bestohlen um Freiheit und Leben? Was soll ich euch noch aufdecken? Welche Greuel, die jene ewig stummen Klostermauern bedecken mußten? – Aber die Mauern haben reden gelernt. Sie schwatzen's aus in alle vier Winde. Der Tag der Rache ist gekommen! Oder habt ihr noch nicht genug, ihr stumpfen Klötze!? – – – Aber die Pfaffen sind's nicht allein, die euch all das Herzeleid angetan, darin ihr ersticken müßt. Dort drüben – ich will euch eine kleine Geschichte erzählen! – dort drüben, kaum etliche Stunden von uns, da steht eine Burg trutzig auf einem Berg und ein Freiherr wohnt in dem alten Nest, der lachend den Schweiß seiner Hörigen verpraßt, wie es so viele tun! Dabei war er stolz von jeher und herrschsüchtig, wie es so viele sind, und hatte, wie so viele andere, mit Trug und Gewalt alle freie Bauern seiner Nachbarschaft sich dienstbar gemacht und in sein eisernes Joch gespannt. Nur an einem scheiterten all seine Pläne. Es war der letzte in der ganzen Gegend; denn die dem Joch der Ritter entgehen wollten, die mußten insgesamt von dem Grund ihrer Väter fliehen und in den Städten Schutz suchen und andere Herren, wenn auch mildere Herren. Aber der allein trotzte noch. Und der war ein junger, kräftiger Bursche, der sich nicht alsbald heiß machen ließ. Um sein Gut, mitten im tiefsten Walde, hatte er ein hohes Gehege gezogen, daran die Wildschweine des Barons vergeblich wühlten. Dort lebte er mit seinem Weibe froh und glücklich und scherte sich wenig drum, daß ihm der edle Freiherr alle Wochen einen Boten schickte, um ihn mit Vorschlag oder Drohung zu bewegen, unter seine Herrschaft zu treten. Er fertigte den Abgesandten kurz ab, und so ging's immerfort eine lange Zeit. Aber dann? – Nun, ihr sollt's erfahren! Da sagt einmal der Bauer zu seinem Weib: er wolle seine Frucht zu Markte führen nach der Stadt und am Abend komm' er wieder heim! Und's wird Abend, 's wird Nacht: der Bauer kommt nicht. Der jungen Frau wird es immer bänger ums Herz. Sie geht zum Haus hinaus; sie verläßt den Hof; sie horcht in den finstern Wald hinein. Alles still. Da nähert sich Pferdegetrappel. Sie ruft: »er ist's!« aber er ist's nicht. Fremde Reiter brechen aus dem Dickicht hervor und umzingeln das arme Weib. Und einer von ihnen war der Ritter; sie erkannte ihn an der hämischen Stimme, wie er befahl, sie auf ein Roß zu binden und auf sein Schloß zu bringen. Und die Landsknechte lachen über ihren Hilferuf, über ihre verzweifelte Anstrengung. Sie wird gebunden und bald sprengen zwei Reiter mit ihr in den Wald, der Burg zu, während die übrigen nach dem Hofe reiten. Aber im Dunkel der Nacht gelang's ihr mit übermenschlicher Kraft die Stricke zu zerbeißen. Sie stürzte vom Pferd und hatte sich, bevor die Reiter es merken, im Dickicht versteckt. Wie der Morgen graut, kam sie halbtot in der nahen Reichsstadt an. Sie fragt und fragt, aber ihr Mann war, wie man ihr kundtat, schon am vorigen Abend mit dem leeren Wagen wieder abgefahren. Jetzt wußte sie alles. Vom dichten Herbstnebel bedeckt, schlich sie sich in der folgenden Nacht zur Burg, stieg in den vertrockneten Graben hinab und lauschte an jedem der feuchten Kellerlöcher, ob sie nicht sein Seufzen höre. Und sie hörte es. Durch das rostige Gitter warf sie ein halbverschimmeltes Brot hinab, das sie erbettelt hatte und das er, vom schrecklichsten Hunger gequält, gierig und unter Tränen verschlang. Jede Nacht machte sie jetzt den gefährlichen Gang und ward nie entdeckt. Ihr Weniges, was sie den Tag über erworben, warf sie dann in das Verließ hinab und der arme Gefangene harrte sehnsuchtsvoll aus diese Stunde, die ihm Erquickung und Trost brachte. Aber plötzlich blieb sie aus und der arme Bauer wälzte sich verzweifelnd auf seinem feuchten Stroh. Es mochten bald vierzehn Tage vergangen sein, er hielt sie längst für tot, da vernahm er wiederum um Mitternacht das Flüstern an seinem Gitter. Freudig erschrocken fuhr er auf; ein mächtiges Stück Brot fiel herab. »Warum kamst du solange nimmer?« frug er leise hinauf. »Du hast ein Büblein, lieber, armer Mann!« flüsterte sie. »Ach Gott, ich mußte es mit mir nehmen; niemand wollte es solange behalten, weil sie meinten, ich komme nimmer, es abzuholen!« In diesem Augenblick fing das Kind, das sie auf dem Rücken trug, laut zu weinen an; es strich ihm wohl die Luft zu kalt über das zarte, kleine Gesicht. Der Gefangene hörte es, – ein greller Schuß schlug an sein Ohr; – lautes, schneidendes Kreischen, – ein dumpfer Fall, – dann wirre Flüche von der Brücke her, – und es ward wieder todstill. Was es war, konnte man alles nur vermuten. Etliche Bauern im Tal hatten den Schuß gehört und man sah des andern Tags neben einem Luftloch im Graben der Burg eine Blutlache und sie blieb, bis der Schnee sie bedeckte. Von dem Bauern und seinem Weib hat man nie wieder vernommen. Aber auf dem Hof im Wald – da wohnt jetzt ein Pächter des Barons!« – –

Die dumpfe Stimme des Mönchs schwieg. Sein Blick, der bisher ruhig und fast glanzlos gewesen, glühte wieder und richtete sich stechend auf die Bauern. Ihr leises Fluchen schien ihm Freude zu machen. Er lehnte sich erschöpft an den Baumstamm, der sich hinter ihm erhob. Das Murmeln wurde immer lauter, immer drohender. Die dichte Menge, die erst so ruhig dagelegen, fing an, sich zu bewegen und ein wildes, unheimliches Tosen rauschte durch die Schlucht. »Wie hieß der Ritter? Wer war der Halunke?« rief's bald hier, bald dort lachend, höhnend, drohend, wie's gerade kam, und jeder Ton zeigte, wie bitter es gemeint war. Robert richtete sich jetzt wieder auf und sprach:

»Ihr fragt mich, wie er hieß und wer es war, – dieser Ritter, dieser Räuber und Mörder? Sucht ihn nicht weit! So sind sie alle hier im Lande. Und ihr staunt und wißt es nicht! Ja, im Umkreis von wenigen Meilen wälzen sich jetzt in dieser Stunde noch Dutzende solcher Buben auf den weichen Pfühlen, die sie euch gestohlen, oder liegen sie noch saufend über die Marmeltische und lachen trotz der Seufzer, die vom verlumpten Dorf herauf in ihre stolzen Hallen emporsteigen, – lachen trotz der Tränen, die bitter in ihre süßen Weine flossen, – lachen trotz der Flüche, die leis, wie Diebe, sich in stiller Mitternacht zu Gottes Thron hinaufschleichen! Sie dürfen wohl lachen; sie haben ja nur – wie sie euch nennen – dummes Bauernvieh, das sie an ihr Joch spannen, und fällt ein Stück erschöpft zu Boden, so denken die andern: ›'s tut ja mir nicht weh!‹ bis auch an sie die Reihe kommt. Habt ihr immer noch nicht genug, ihr stumpfen Klötze? – Ja, seid nur guter Dinge und lustig auf eurem faulen Stroh, das ihr mit Todesgefahr aus den üppigen Speichern jener Herrn, jener Buben gestohlen habt! Lustig, lustig, wenn euch die Eingeweide verdorren vor Hunger und wenn euch der Fieberfrost in kalter Winternacht auf euren Brettern schüttelt! Lustig, lustig, wenn euch das Messer des Junkers durch den Bauch fährt, weil ihr einen jungen Hasen in eurem Klee gefunden! Lustig, wenn sie euch binden lassen, um eure Weiber und Töchter zu schänden! 's ist immer noch besser, als die dürre Faust in den Sack machen oder im Wald herumheulen wie ein getretener Hund, – im Wald, wo's niemand hört« – – –

Plötzlich stockte der Strom der Rede; die aufgehobene Rechte Roberts sank herab; seine glühenden Wangen wurden todbleich; die ganze Gestalt bebte. Bernhard, welcher halbbetäubt von dem Unerwarteten, das er sah und hörte, zu Boden geblickt hatte, fuhr empor; er schaute erschrocken zu dem Redner auf; ihre Blicke begegneten sich.

»Ein Verräter! Ein Verräter!« stammelte endlich Robert, und deutete mit der zitternden Hand auf Bernhard.

Alles wandte sich nach der angegebenen Richtung. Die dem Mönch am nächsten standen, maßen bald sich, bald ihn mit mißtrauischen Augen und zogen sich dann mit grimmigen Mienen einige Schritte zurück, so daß er nun allein in einem dichtgedrängten Kreise stand. Eine gespannte Stille herrschte rings, nur von undeutlichem Murmeln unterbrochen, wenn hie und da einer seinen Zorn und seine Verachtung nicht mehr zurückzuhalten vermochte. Bernhard war es sonderbar zumute; doch hatte er bald die augenblickliche Furcht überwunden und stand nun ruhig, ja halb lächelnd in der Mitte der drohenden Massen.

Da trat endlich ein stämmiger Bursche mit verwilderten Zügen aus dem Haufen. Wie ein Raubvogel auf die Taube, fuhr er auf Bernhard los und packte ihn mit Riesenkraft an der Brust. »Ein Verräter, sagt Ihr?« rief er zu Robert hinauf; »soll ich die Kutte kalt machen?«

»Ja, ja!« entgegnete Robert, der indessen mit rascher Besonnenheit seine Lage erkannt und seinen Plan gefaßt hatte. »Ja, schlagt ihn nur tot wie einen Hund; mehr ist er nicht wert! Bei seinem Blut schwören wir uns neue Treue.«

Die Augen des Kerls funkelten; die Muskeln seines nervigen, nackten Arms zuckten. Mit der Rechten hielt er Bernhard, mit der Linken fuhr er in die weiten, zerlumpten Hosen und zog ein rostiges Messer hervor. Jetzt fing auch der junge Mönch an, sich zu wehren. »Herr, hilf!« murmelte er leise, faßte mit aller Macht die Hand des Burschen und riß sich mit einem kräftigen Ruck von ihm los. Dann begann ein fürchterliches Ringen.

Bernhard war seinem Gegner an Körperkraft wohl gewachsen, aber die Kleidung gab jenem einen bedeutenden Vorteil. Beistehen wollte niemand weder dem einen noch dem anderen. So oft sich die Ringenden nach dieser oder jener Seite des engen Kreises bewegten, wich die Menge scheu zurück.

Drei Minuten mochte der Kampf gedauert haben; da fühlte plötzlich der Mönch einen Stich in die Schulter, der glücklicherweise nicht tiefer ging. Doch zeigte gleich darauf das dürre, zertretene Gras, vom hellen Fackelschein erleuchtet, hie und da Blutstropfen. Bernhard sank erschöpft ins Knie, während sein Gegner mit voller Körperwucht sich auf ihn warf. Er brach zusammen; der Kampf war entschieden.

Mit dem einen Fuße kniete jetzt der Kerl dem armen Mönche auf die Brust, um ihn niederzuhalten; sein Blick spähte nach dem Messer, das er im Ringen verloren hatte. Dort lag es; er hob es auf (denn soweit konnte seine Hand reichen) und schwang es lachend über seinem Opfer, während sein Auge triumphierend den Kreis durchlief, der sich jetzt, durch die Hintenstehenden gedrängt, immer näher zusammenschloß. Aber niemand wagte, ein Wort zu sagen, bange den zögernden Todesstoß erwartend. Manchmal nur flog ein schüchterner Blick zu Robert hinauf, aber alsbald senkte er sich wieder zu Boden und schämte sich seiner Weichheit. Denn Robert stand mit übergeschlagenen Armen starr und kalt auf dem Felsen; nur sein blitzendes Auge, auf die Gruppe gerichtet, konnte jene Freude nicht verhehlen, die einer glücklich vorübergegangenen Gefahr folgt, und welche die Vernichtung eines verhaßten Feindes begleitet.

Da entstand plötzlich eine Bewegung in dem stummen Haufen. Die Masse teilte sich und es stürzte ein Jüngling mit flatternden Haaren und glühendem Gesicht, von einem Zweiten gefolgt, in den Kreis. Beide waren, aus irgendwelchem Grunde verspätet, soeben erst in der Schlucht angekommen, und waren nach Art der Landsknechte gekleidet, doch ohne Waffen.

»Blitz, Hagel, er ist's!« rief der Ältere von ihnen und eilte auf Bernhard zu. Es war Jörg, Berlichingens Landesknecht. Der andere war Rudolf, Götzens neuer Reiter. Dieser hatte bereits mit Blitzesschnelle dem Mörder das Messer aus der Hand und ihn selbst zu Boden gerissen, wo er nun, wimmernd vor Schmerz, den Kopf zwischen die Hände preßte und ruhig liegen blieb; denn Rudolfs Faust hatte ihn mitten ins Gesicht so derb getroffen, daß ihm das Blut in Strömen aus Mund und Nase schoß.

Von den Bauern rührte sich abermals keiner. Sie sahen stumm verwundert, wie beim ersten Ringen, auch dieser Wendung der Dinge zu. Nur etliche der Verwegensten riefen halblaut: »Laßt ihr euch denn alles gefallen, ihr Esel? Schlagt ihn tot, den Buben samt dem Mönch!« Doch Rudolf bot Bernhard unerschrocken die Hand, um ihn aufzurichten. Dann erhob er sich und rief mit donnernder Stimme:

»Ist hier Metzgen euer Handwerk, ihr Bauern? Seid ihr hierher gekommen, nur um wehrlose, unschuldige Leute abzuschlachten? Ist das eure gerechte Sache? Schämt euch, schämt euch! Nein, heult und jammert! Wie wird's bei euch werden am Ende, wenn ihr so schon anfangt? Wißt ihr, wen ihr umbringen wollt? Ist euch das so ganz gleichgültig, wenn ihr nur Blut seht? Kennt denn keiner von euch den Bruder Bernhard?«

Ein allgemeines Murmeln des Erstaunens durchlief bei diesen Worten die Reihen. Alles drängte sich gegen den jungen Mönch, der noch bleich und erschöpft an einem Baume lehnte. Hie und da fielen sogar schon einzelne Äußerungen des Mitleids und Bedauerns. »Ja freilich«, fuhr Rudolf fort; »jetzt kommt ihr her und guckt und habt Mitleid mit einem, den ihr eben noch umgebracht hättet. O ihr blinden Narren! Überall rühmt man seine Liebe und Mildigkeit, womit er euch beisteht, wenn ihr in Not und Krankheit seid, – überall weiß man, daß er mit Leib und Seele zum armen Bauern steht, – überall hört man leise, von Haus zu Haus, wie fromm er sei, – und er sei gar ein Lutherischer, und halt's nimmer mit dem Kloster; ja er hab' schon das heilige Wort Gottes selber zu einem kranken, alten Weib gebracht. – – Und ihr, ihr wollt ihn erstechen! Fangt nur so an und macht so fort, aber ich sag's euch, das wird schlimm enden. Mich geht der Bruder Bernhard wenig an, ich hätt' jedem geholfen, aber daß ihr's gelitten, daß ihr so still zugesehen habt« – –

»Man hat nicht gesehen, wer's gewesen ist!« rief endlich hinten eine rauhe Stimme.

»Drum laßt ihn jetzt in Frieden ziehen!« antwortete Rudolf, »oder wollt ihr eure rostigen Messer nochmals probieren?«

Einen Augenblick war es still auf diese Worte. Dann geriet der ganze Haufe wieder in die lebhafteste Bewegung. Sie stritten hin und her; sie suchten Robert, doch Robert war verschwunden und niemand wußte, wann und wie. Es schien keine Entscheidung zustande zu kommen und Rudolf wartete neben Bernhard und fast ebenso bang als dieser, wohin sich endlich die tosende Menge neigen würde. Da rief eine Stimme lauter als die andern:

»Wir haben ihn umbringen wollen, weil wir Verrat gefürchtet. Er kann uns auch jetzt noch verraten; drum mag er gehen, wenn er geschworen hat!«

»Laßt ihn durch, Freunde, laßt ihn durch!« sagte Rudolf und suchte sich Platz zu machen.

»Schwören! Schwören soll er! dann kann er gehn!« schrien jetzt alle wild durcheinander und man sah wohl, daß kein anderes Mittel des Entkommens mehr übrigblieb.

»So schwört in Gottes Namen, Herr Pater!« flüsterte Rudolf, »ich kann Euch nimmer schützen vor diesen Bestien. Ihr müßt den Eid ja nur bis Sonntag halten; dann ist alles fertig und vorbei!«

»In Gottes Namen!« entgegnete Bernhard laut und schickte ein leises, heißes Gebet zum Himmel.

Nach kurzer Zeit trat einer aus der Mitte der Bauern, um ihm die Formel, die er in aller Eile selbst hatte aufsetzen müssen, vorzusagen. Der Mönch sprach sie mit sicherer, fester Stimme nach; denn er war entschlossen, sie zu halten. Sie lautete also:

»Im Namen des dreieinigen Gottes. Amen. Nie soll je über meine Lippen kommen, was ich in dieser Nacht gesehen oder gehört, bis die, so mir den Schwur auferlegt, mich dessen entbinden. Solches schwöre ich im Namen des dreieinigen Gottes. So ich's aber nicht halte, will ich verflucht sein von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen!«

Nachdem Bernhard diese Worte gesprochen, wollte man ihn ruhig ziehen lassen, allein er blieb, an seinen Baum gelehnt, in tiefe Gedanken versunken. Er fühlte jetzt erst den Stein, den er sich durch den Eid aufgelegt, und es wollte ihn fast niederdrücken, dieser schreckliche Kampf zwischen dem Heil seiner Seele und dem Wohl seiner Brüder, das, wie er erst jetzt deutlich bedachte, so schwer gefährdet schien und denen er vielleicht durch ein paar Worte das Leben retten konnte.

Indessen war wieder einer auf den Rednerstein getreten und hatte begonnen, zu den ruhiger gewordenen Bauern zu sprechen. Es war der Ochsenwirt Metzler von Ballenberg.

»Geht nun heim, liebe Brüder!« rief er; »das Werk ist jetzt bereit und wartet, daß man es ausführe. Geht heim und seid still! Tragt noch die wenigen Tage euer Joch, um es alsdann desto kräftiger zu zerbrechen! Ihr wißt jetzt alle: drüben im Schüpfergrund wollen wir uns sammeln; aus tiefem, verborgenem Grund soll die Flamme aufschlagen, die unsere Feinde verzehren muß. Haltet fest zusammen bis dahin und nochmals: sprecht nicht davon, damit es nicht verraten wird am letzten Tag. Unser Wahlspruch aber ist und bleibt: »Gott und die Bauern!« Und nun – Gutnacht!«

Metzler stieg von seinem Stein herab, die Bauern schüttelten sich die Hände und zischend verlöschten die Fackeln, die man in den Bach warf. Es war stockfinstere Nacht. Bernhard stand noch immer auf dem nämlichen Platze; er hörte einen Haufen um den andern die Schlucht verlassen. Immer leiser wurde um ihn her das Rascheln der Zweige und die rauschenden Tritte im Laub, und das Murmeln menschlicher Stimmen verlor sich immer ferner im Wald. Endlich schien er ganz allein. Mit einem »O Gott!« das sich aus der tiefsten Brust ihm entrang, richtete er sich auf und blickte um sich. Die nächsten Bäume breiteten ernst und schweigend ihre schwarzen Äste über ihm aus; die vielen Fälle des Bachs plätscherten jetzt hörbar durch die Stille, hier heller, dort tiefer, aber überall traurig und einförmig. Sonst hörte und sah man nichts mehr. Die Wunde Bernhards, an sich nicht bedeutend, hatte aufgehört zu bluten, und er versank wieder in dumpfes Brüten. Da fühlte er sich plötzlich auf die Schulter geklopft. Er fuhr erschrocken auf.

»Ihr seid noch hier?« fragte eine Stimme und er erkannte sogleich die seines Retters Rudolf.

»Ja!« war die kurze Antwort.

»Kommt, kommt, Herr Pater! Hier werdet Ihr doch nicht übernachten wollen?« sagte der Reiter freundlich.

Die beiden fühlten sich zueinander hingezogen, – sie wußten selbst nicht warum? Nach einer kleinen Pause sagte Bernhard:

»O wenn Ihr wüßtet, wie schwer Euer Eid mich drückt! Lieber tot als dieser schreckliche Kampf.«

»Haltet's aus, armer Bruder, – haltet's aus, nur bis Sonntag! Glaubt mir fest: Ihr durftet nicht anders. Aber kommt jetzt, kommt! Ich bin diesen Weg schon öfter gegangen in letzter Zeit; ich will Euch zum Kloster geleiten!«

Bernhard fuhr bei dem Worte: »Kloster« zusammen; dann raffte er sich auf und folgte Rudolf, der wie ein schwarzer Schatten vor ihm den Abhang hinaufkletterte.

Am Saume des Waldes schritten die zwei Gestalten hin. Noch war es Nacht, und gerade die dunkelste; denn der Morgen nahte heran. Nach einiger Zeit hielt Rudolf an. »Dort«, sagte er, »liegt Neusaß; von hier aus werdet Ihr den Weg selbst finden; der meinige geht links über den Edelmannshof.«

»Nochmals meinen Dank für Eure Hilfe und Eure Begleitung!« sagte der Mönch mit Wärme.

»Nicht Ursach!« entgegnete der andere; »lebt wohl und bleibet fest, bleibet fest!«

Sie drückten sich die Hände und jeder schlug eine andere Richtung ein.

Der Mönch kam an dem grauen Kirchlein von Neusaß vorüber. Die Türe war halb angelehnt; er trat ein. In der stillen, weiten Halle flimmerte matt und unstät das ewige Licht und beleuchtete nur soviel die feuchten Wände, daß man die Arme und Beine, Augen und Ohren der wunderbar Genesenen, wie man glaubte, erkennen mochte, welche dort ein frommer Aberglaube, in Holz oder Wachs nachgebildet, aufgehängt hatte. Durch eine zerbrochene Scheibe fuhr manchmal ein Windstoß, daß das Licht hell aufflackerte, und führte das Rauschen des »Heiligenbronnens« herein. Doch alles dies beachtete der Mönch nicht. Auf dem uralten, zerbröckelten, ausgeknieten Stein am Altar sank er nieder und ein leises, heißes Flüstern des Gebets tönte halb hörbar durch die Kapelle.

Die ersten Strahlen der Dämmerung drangen allmählich durch die grünlichen Scheiben in den Kreuzgang des Klosters, als ein anderer Mönch mit leisem Schritt aus seiner Zelle hervortrat und eilig den Gang hinunterging. Dort waren die Zimmer des Abts. Eine schwere eichene Türe führte in den Vorsaal. Hastig suchte der Mönch nach der Klinke; die Pforte öffnete sich knirschend und krächzend. Er trat ein, durchschritt den Raum und pochte heftig an eine zweite Türe, die er verschlossen fand. Dann rief er halblaut: »Öffnet, ehrwürdiger Vater, öffnet!«

»Wer verlangt mich?« sagte eine klanglose, schlaftrunkene Stimme von innen.

»Bruder Robert. Bei allen Heiligen, ich muß Euch sprechen; öffnet!«

Es entstand eine Pause, nur vom Knistern und Schlürfen im inneren Gemach unterbrochen. Jetzt näherten sich der Türe langsame Tritte. Der Mönch, einige Augenblicke in tiefes Brüten versunken, fuhr auf. Der Schlüssel knarrte im Schloß; ein Lichtstrahl blitzte durch die Spalte und traf das bleiche, übernächtige Gesicht Roberts. Er stand ruhig und fest dem Abt gegenüber, der sein strenges, forschendes Auge auf ihn gerichtet hielt.

»Tretet ein und sprecht!« sagte endlich der Abt und ging in sein Schlafgemach zurück. Robert folgte. Der Abt stellte den vergoldeten Leuchter auf ein Tischchen und wartete auf die Worte des Mönchs, ohne daß seine hageren, straffen Züge die geringste Erregung oder Neugier verrieten.

»Mit schwerem Herzen sage ich Euch jetzt, ehrwürdiger Vater, was ich sagen muß«, begann Robert nach einigen Sekunden mit klagender Stimme. »Ich weiß, eine Nachricht wie diese wird Euch so sehr betrüben als mich selbst.«

»Keine weitere Einleitung! Erzählt!«

»Nun denn«, fuhr der Mönch fort; »wenn es Euer Wille ist, so hört: Ich hatte von unserem treuen Prior die Erlaubnis erhalten, gestern nachmittag nach Niedernhall zu gehen, um dort einem armen Kranken Trost und Labung zu bringen. Der Unglückliche starb in meinen Armen. Ich gab ihm den letzten kirchlichen Segen in diesem Erdental und konnte deshalb erst spät an meine Rückkehr denken. Die finstere Nacht ließ mich den Weg im Wald verfehlen. Ich irrte lange Zeit im Dickicht herum, bis ein Licht in der Ferne mir baldige Rettung versprach. Ich ging darauf zu; doch es wäre mir wahrlich besser gewesen, im Wald erfroren zu sein, als jetzt der Bote dessen, was ich dort gehört und gesehen habe. Ja, unser armer Bruder Bernhard! Wie müssen wir ihn beklagen, den so tief gefallenen Bruder! Immer schien es mir doch, als käme seine große Frömmigkeit nicht aus redlichem Herzen! Immer sagt' ich's doch zu unserem geliebten Bruder Elias, dem Bursarius: solche Selbstpeinigungen, solches zur Schau getragene Fasten kommt nicht aus dem Herrn! O wie wahr hatte ich gesprochen! Wie richtig hatte ich's geahnt!«

»Wie? Noch so jung und schon so voller Heuchelei?« fragte der Abt und sah dabei Robert schärfer an. Der Mönch wurde einen Augenblick blaß; doch faßte er sich sogleich wieder und fuhr fort: »Höret weiter, ehrwürdiger Vater, und urteilet selbst! Das Licht, das ich bemerkte, führte mich auf den nahen Schleierhof. Ich schritt über die Dämme, welche die dortigen Fischteiche des Klosters voneinander trennen, und kam dann an die einsame Schenke, die dort am Wege liegt. Noch brannte Licht daselbst und ein murmelndes Geräusch ließ mich vermuten, daß hier noch Leute wach seien. Ich trat ein, unbemerkt. Denn in dem Getümmel, das zu meiner Verwunderung in der Stube herrschte, gewahrte mich niemand. Halb erstarrt von dem Nachtfrost setzte ich mich bescheiden, wie es den Dienern der heiligen Kirche geziemt, in die dunkelste Ecke am Ofen und suchte dort auszuruhen. Aber wer schildert mein Erstaunen, als ich unter dem Haufen Bauern die weiße Kutte unseres ehrwürdigen Ordens durchschimmern sah? Zuerst vermutete ich, daß einer meiner Brüder durch ähnliches Mißgeschick, wie ich selbst, auf den Hof sei geführt worden. Deshalb drängte ich mich durch, um ihn zu grüßen, aber erschrocken prallte ich zurück, als ich Bernhard erkannte. Ja, er war's; aber so hatte ich ihn noch nie gesehen. Mit roter Glut übergossen, mit zornig bebenden Lippen, mit geballten Fäusten stand er da und warf sein funkelndes Auge herum. Ja, mein Vater, so schmerzlich auch das Wort klingen mag und so bitterschwer mir's wird, es auszusprechen: – es ist und bleibt dennoch wahr: ein Wolf in Schafskleidern hat sich in unser Kloster eingeschlichen; eine Schlange hat die Mutter aller, die Kirche, an ihrem milden Busen großgesäugt. Sie muß zertreten werden, diese Schlange, ehe sie uns alle umschlingt und zermalmt. – Ich hielt es nun für das Beste«, fuhr er fort, »mich noch mehr zurückzuziehen. Auf meiner Ofenbank hörte ich aber deutlich seine schwarzen Pläne, wodurch er unser Kloster vernichten will. »Was?« rief er, ihr wollt nicht? Sind euch die Schätze nicht genug, die hinter diesen niedern Mauern aufgehäuft sind? Ihr wollt Bettler bleiben, während eure Pfaffen schwelgen? Oder fürchtet ihr euch zu stehlen? Ihr Narren, bestiehlt man einen Dieb, wenn man ihm seinen Raub wieder abnimmt? Ja, wißt: alles ist gestohlen, schändlich gestohlen aus euren leeren Scheunen! Wie lange wollt ihr's noch dulden?««

Der Mönch, der auf diese Worte seine ganze Hoffnung gesetzt hatte, schwieg und blickte wieder zu Eberhard auf; kein Zug verriet seine geheime Angst. Noch immer stand der Abt ruhig und kalt; nur seine blassen Lippen hatten bei Roberts letzten Worten eine leichte Röte überflogen und seine Mundwinkel zuckten noch.

Im stillen frohlockend fuhr der Mönch fort: »So sprach der Heuchler noch lange, doch vergebens. Denn nur zu deutlich drückten die treuen Bauern ihren Unmut und ihren Zorn über solche Reden aus. Da raffte er seine letzte Kraft, seine ganze teuflische Beredsamkeit zusammen und schrie: »Ja, ich weiß es wohl, an was meine wohlgemeinten Vorschläge scheitern. Ihr glaubt, das Kloster heilige seine Bewohner! O ihr Narren, ist ein Dieb, der im Kloster wohnt, nicht viel strafbarer als einer, der im Dorf verhungern muß? Ja! Mir hat mein Vater, mein gräßlich betrogener Vater ein Buch geschickt, – das ist das einzig wahre, das vor Gott gilt, und darin steht klärlich geschrieben, daß Narrheit und Sünde ist ein Kloster, das einer Fuchshöhle ähnlicher ist, denn einem Gotteshaus, – Narrheit und Sünde der Papst, dieser Mörder und Räuber der Welt und der Freiheit, – Narrheit und Sünde alle Heiligen, die euch die Pfaffen aufgeschwatzt. Soll eine Kirche den vor der Strafe schützen, den sie nicht vor Sünden bewahren kann? Und wie wenig kann sie das! Seht nur hinab nach dem Kloster, das euch am nächsten liegt, – seht dort, wie«« – – –

»Still, Still!« rief der Abt plötzlich und preßte die Zähne auf die Unterlippe, als wollte er sie blutig beißen. »Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm!« setzte er nach einer langen Pause, gegen Robert gewendet, hinzu, der indessen seine teuflische Freude kaum bemeistert hatte.

»O wie wahr habt Ihr gesprochen, ehrwürdiger Vater!« antwortete Robert endlich; »was kann aus dem Sohn des Ketzers werden als ein Teufelskind? Ich will nicht die schrecklichen Verleumdungen und Drohungen wiederholen, die er gegen Euch und das ganze Kloster ausstieß; selbst die Bauern ertrugen es nicht länger. Mit wildem Geschrei stürzten sie sich auf ihn; ich sah ein Messer blitzen; es muß ihm in die Schulter gefahren sein; dann warfen sie ihn zur Türe hinaus. Ich aber eilte fort, um Euch, ehrwürdiger Vater, getreu zu berichten, was ich zum Heil des Klosters durch eine göttliche Fügung entdeckt habe. Tut nun Ihr, was Euch gut dünkt!«

»Dank dir, mein Sohn!« sagte der Abt und löschte das Licht aus, weil es indessen Tag geworden war; »der Bösewicht wird bestraft werden, ehe die Sonne zum zweitenmal aufgeht; dies ist mein fester Wille!«

»Er ahnt noch nicht, daß sein schwarzes Herz entlarvt ist«, sagte Robert; »er wird diesen Morgen ankommen und sich winden und drehen, wenn er sich gefangen sieht, aber es soll ihm nichts fruchten. Doch, damit Ihr von der Wahrheit aller meiner Angaben Euch überzeugt und mit ruhiger Sicherheit die gerechte Bestrafung ausüben könnt, so gebt mir den Schlüssel in Bernhards Zelle, der in Euren Händen ist. In weniger als einer Stunde hoffe ich das Buch zu finden, das ihn seiner Ketzerei überweist. Mag er dann leugnen, lügen und verleumden: – die Strafe muß ihn erreichen!«

Robert empfing die verlangten Schlüssel und ging eilig davon. Der Abt sah ihm lange und gedankenvoll nach. Es schien ihm, als habe er ein leises Wort von dem Davoneilenden gehört; hieß es: »Gewonnen!«? Er hatte es nur undeutlich vernommen und doch beschäftigte es jetzt seine Gedanken. Er stand endlich auf und schritt mit großen Schritten in der Schlafzelle auf und ab; nur seine Züge nahmen allmählich wieder jene strenge, eiserne Ruhe an, die gewöhnlich auf ihnen lag.


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