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XI.

Wem Zeit wie Ewigkeit
Und Ewigkeit wie Zeit,
Der ist befreit
Von allem Streit.

Jacob Böhme.

 

Die späte Septembersonne kochte das Tal. Der See dampfte und die nackten Felswände warfen die Glut zurück. Das Gras verkohlte auf den Steinen und die Menschen krochen stumpf in dem siedenden Kessel.

Immer noch war Frank Braun in Val di Scodra. Er hatte seine Koffer und Kasten zur Stadt gesandt; sie lagerten an der Dampferstelle; so hatte er sie gleich zur Hand, wenn er dort ankam und abfahren wollte. Das gab ihm einige Sicherheit – – nun konnte er jeden Augenblick fort.

Aber er blieb von einem Tage zum andern. Er versuchte einige Male mit Teresa allein zu sein; sie wich ihm nicht gerade aus, aber sie kam ihm auch in keiner Weise entgegen. Und stets war sie umgeben von den Teufelsjägern. Der taubstumme Junge klebte an ihrem Rock; schon früh am Morgen kam Pietro Nosclere, meist in Gesellschaft einiger anderer. Ein junges Mädchen, Carmelina Gaspari, eine Base der Venier, blieb den ganzen Tag um sie; sie besorgte ihr Zimmer, das Teresa kaum mehr verliess. Am späten Nachmittag kam dann das ganze Dorf, und schliesslich zogen alle unter ihrer Führung in die Halle des Propheten.

Um Frank Braun schien sich niemand zu kümmern; instinktiv, ohne dass je einer zu dem andern darüber sprach, hielten sie sich abseits von ihm. Früher grüsste ihn jeder tief auf den Gassen, die Kinder liefen ihm nach, um einen Kreuzer zu bekommen, die Weiber und Mädchen schielten aus den Türen und Fenstern und die Männer baten um eine Zigarette. Es war eine Ehre, wenn er mit ihnen sprach. Nun sah man ihn kaum an. Man grüsste ihn wohl, wenn man gerade an ihm vorbei kam und nicht ausweichen konnte, aber man ging lieber zur Seite weg oder sprach einen andern laut an, um sich den Anschein zu geben, als bemerkte man ihn nicht. Raimondi kroch immer noch vor seinem Gelde, aber in seinem Blicke lag ein schlecht verborgener Hohn; der Amerikaner wich ihm scheu aus, wo er ihn sah. Und in den Leuten vom Dorfe schlummerte eine stille Feindseligkeit und ein versteckter Hass.

Nur Angelo, der Knecht, blieb der gleiche. Er lachte und grinste breit, wie ein scheues, oft geschlagenes Tier, das wohl wusste, dass er ihm nichts tat. Zutraulich genug – und doch ohne die letzte Scheu zu verlieren: vielleicht hebt er doch einmal die Hand. Er steckte den Kopf in den Sand – er tat seine Arbeit und schlief und frass und das alles ging ihn nichts an. Manchmal gab ihm Frank Braun des Abends eine Flasche Wein, dann ging er in den Stall, legte sich auf das Stroh neben die Ziege und trank.

Selbst die Kinder wichen ihm aus. Als er Fiametta Venier anrief, das Boot zu lösen, rannte sie fort. Ein vierjähriger Bube, des Schusters Ratti Junge, bettelte: »Kraizer, Kraizer!« und er gab ihm ein paar Kupferstücke. Aber seine Schwester schlug ihm das Geld aus der Hand, griff seinen Arm und lief mit ihm weg.

So keimte im Tal der Gedanke: ›Er ist ein Fremder!‹ Brach überall aus zu gleicher Zeit, wuchs schnell wie die Wasserpest und bedeckte die breite Fläche: ›Er gehört nicht zu uns, er ist ein Fremder.‹ – Und dann frass es weiter – – er war der Fremde und war der Feind.

Jedermann wusste von seinen Beziehungen zu Teresa. Man hatte sie hingenommen als selbstverständlich, und die jungen Dirnen beneideten sie. Nun aber war sie eine Heilige – und die Bauern fühlten: er hatte sie beschmutzt. Sie dachten nicht nach, aber der Hass wuchs in ihnen.

So waren nur zwei Geschöpfe, die ihm treu blieben, der schwarze Kater und die Ziege Marfa. Die waren froh, als er zurückkam. Jeden Tag kamen sie auf sein Zimmer, und wenn er ausging, liefen sie ihm nach.

Die Bauern dachten: ›Welcher Christ ist gut zu Tieren? – Er ist kein Christ.‹ Und es kam eine versteckte Wut in ihren Hass.

Des Abends, wenn alle zu Raimondis Haus kamen, pflegte er auszugehen und die Tiere liefen mit ihm. Dann schlugen die Leute nach den Tieren, traten sie mit den schweren Stiefeln, hinter seinem Rücken. Eines Nachmittags hatte er gerudert auf dem See; als er nach Hause kam, fand er den Kater vor seiner Türe liegen. Er war bedeckt mit Blut, die Nase klaffte herunter, abgetrennt mit mächtigem Messerhiebe. Ueberall hatte er tiefe Stiche, vier Rippen waren ihm gebrochen. Das Tier hatte sich hinaufgeschleppt vor seine Türe, es starb, wie er es ins Zimmer trug. Ein heller Zorn fasste ihn, er rannte die Treppe hinunter. Vor dem Hause standen die Leute; der Schneider ordnete sie, wie jeden Abend, in weitem Halbkreise.

Frank Braun schritt auf sie zu. »Wer von euch hat den Kater totgeschlagen?« Keiner antwortete, stumm und feige sahen die vorderen zu Boden. Aber aus den hintern Reihen klang ein dünnes, gehässiges Kichern. Und Girolamo Scuro, der zur Seite stand, lachte breit über das ganze Gesicht.

Der Deutsche ging auf ihn zu: »Warst du es?« zischte er ihn an.

Der riesige Knecht wich einen Schritt zurück. »Nein,« sagte er zögernd, »ich weiss nichts davon.« Aber sein Grinsen blieb und die rote Wampe blähte sich wie bei einem Truthahn.

Frank Braun hob den Arm. »Nimm das,« rief er, »und gib es dem Schuft, der den Kater tötete.« Er zielte gut und stiess ihm mit voller Kraft die Faust auf die Nase, im Augenblick brach das Blut heraus. Der Knecht heulte vor Schmerz und stürzte sich auf ihn, da gab er ihm einen furchtbaren Stoss vor den Magen; dann, als jener zusammenfuhr und sich krümmte, einen dritten Schlag von oben auf den Kopf, der ihn zu Boden streckte.

Einen anderen Burschen, der auf ihn zusprang, fasste er bei der rechten Hand, drehte ihm schnell den Arm um und warf ihn zu Boden.

Dann pfiff er der Ziege. Sie sprang aus dem Stalle hinaus und lief ihm nach. Rechts Und links stiess er rauh die Leute zur Seite; sie wichen und machten ihm eine Gasse, keiner wagte es ihn anzurühren. So schritt er mit dem Tier durch die Menge.

Er stieg in die Olivengärten; seine Brust ging hoch. »Das tat gut,« murmelte er, »das tat sehr gut.« Er setzte sich in das Gras und nahm Zucker aus der Tasche. »Da friss, Marfa.« sagte er. »Hab keine Angst, dir werden sie nichts tun. Du gibst ja Milch – – du bist ein Kapital. – Sie müssten dich dem Raimondi bezahlen, wenn sie dich töteten. – Aber Fritzi, weisst du, war kein Kapital. Er war nur ein Kater, er frass nur und gab nichts: so war er nichts wert. Darum wagten sie sich an ihn, die frommen Leute – darum!«

Er zitterte vor Zorn. Ah, er wollte es schon zahm machen, dieses Vieh vom Berge; sie sollten springen und seine Peitsche küssen. Sein Blut schrie und verlangte wild die Macht des Herrn über die niedere Rasse.

Aber dann kam wieder eine stille Traurigkeit. – Wozu nur, wozu? Welche Genugtuung war es denn, ihnen die Reitgerte durchs Gesicht zu schlagen? Und wie billig war dieser Stolz: du bist ein höheres Wesen.

Er streichelte die weisse Ziege. Er brockte ihr Minze ab, kleine grüne Blätter, und führte sie zu den Brombeersträuchern; er ass die Beeren und sie nahm die frischen Ranken. »Wenn ich ein Faun wäre,« sagte er, »wenn ich zwei Hörner hätte und haarige Bocksbeine, einen langen Bart wie du! Sieben Ziegenfrauen möchte ich haben und zwischen ihnen liegen und die Flöte blasen. Manchmal, zum Abende, würde ich zum See schleichen, wo die Dirnen waschen – – ach, du brauchst nicht zu meckern, alte Marfa! Was ist denn so ein Menschenmädchen?! Hat es kühle Zitzen, straff voll von süsser Milch? Kann es springen und klettern über steilste Felsen? Bah, man jagt es und fängt es – man nimmt es und lässt es wieder laufen.«

Von der Scheune her drangen die abgerissenen Laute. »Hörst du sie, Marfa? Sie singen und beten. Und sie wissen nicht einmal, was ein Lachen ist. – Aber wir wissen es gut, Faune und Ziegen und der grosse Pan in seinem Busch.«

Er ging zurück. Vor der Stalltüre stand Angelo, die Ziege lief auf ihn zu, sprang auf und legte die Hufe auf seine Schulter. Der Knecht grinste, fast verlegen; mit seiner plumpen Tatze kraulte er sie am Halse.

»Der Herr war wieder aus mit der Ziege?« fragte er. Es lag ein seltsames Zucken in seiner Frage, wie der Schimmer eines stillen Wissens und Einverständnisses. Frank Braun sah ihn erstaunt an.

»Was meinst du?« fragte er. Angelo stotterte, wurde rot wie Mohn und grinste breit und dumm. Dann nahm er die Ziege, ging in den Stall und verschwand im Dunkeln.

Frank Braun sah ihm nach – langsam verstand er. »Du bist also ein Faun!« lachte er. – – »Armer Kerl – und musst bei Christenmenschen dienen!«

– Er ging in sein Zimmer; er sah gleich, dass jemand dagewesen war. Der Tisch war in Unordnung, die Bücher waren verrückt, das Papier zur Seite geschoben, als ob man etwas gesucht hätte. Er öffnete die Schublade: sein Browning fehlte.

Davor also hatten sie Angst? Seine Nasenflügel blähten sich, die Oberlippe zog sich spöttisch hinauf. Als ob er der Pistole bedürfte für diese Tiere!

Er ging hinunter und speiste. Dann eilte er zu des Amerikaners Halle. Er trat leise ein und stellte sich hinter einen schrägen Balken, der die Wand abstützte. Wieder hatte Pietro Nosclere einige Veränderungen vorgenommen, an allen Wänden und Balken waren nun Pappschilder mit frommen Sprüchen angebracht. In die ganze Rückwand waren in Mannshöhe lange Nägel eingeschlagen, daran hingen die Geisseln, Peitschen, Ruten und Stäbe. Es waren viele Dutzende, man sah, dass der Prophet Schule gemacht hatte. Darunter war mit Brettern ein fusshohes Podium aufgeschlagen, von dem man nun ein wenig auf die Versammlung hinabsehen konnte. Dort, unter dem Christusbilde, stand Teresas Stuhl, sie ruhte darauf mit geschlossenen Augen, immer den kleinen Cruzifix in der Hand. Zu ihren Füssen hockte Gino, rechts sass der Prophet. Zu ihrer Linken stand der alte verwitterte Ulpo.

»Wie ein ausgeblasenes Licht sieht er aus.« dachte Frank Braun.

Nahe bei ihm war der Schneider Ronchi; er stand vor der Musik, die die ganze linke Seite des Podiums ausfüllte. Neben dem Amerikaner sass Girolamo Scuro. Die rechte Seite nahm ein gutes Dutzend junger Burschen ein, die alle eine grosse Kerze in der Hand hielten; vor ihnen stand der krumme Ratti, er schlug mit seinem Säbel den Takt zu ihrem Gesang.

Als man das Lied geendet, trat Matilda Venier auf das Podium und sagte ihre Seele. Ihr folgte Carmelina Gaspari, die sich weinend anklagte, früher Böses gesprochen zu haben von der Heiligen.

Er dachte: »Wenn nur nicht Teresa ihre Seele sagt!« Doch sie rührte sich nicht und öffnete nicht die festgeschlossenen Lider.

Aber die Frau des Venier stiess ihre Tochter nach vorne, Die kleine Fiametta zögerte nicht, hurtig sprang sie die Stufe hinauf, beugte den Kopf, schloss die Augen, faltete die Hände und betete laut. Dann begann sie, stotterte anfangs ein wenig, kam aber schnell in Fluss und sprudelte frech und hastig ihr eingelerntes Sprüchlein. Ihre Schuld sei gross, sagte sie, weil sie nicht ihres Vaters Kind sei, sondern in Sünden empfangen von ihrer Mutter. Durch den Gendarmen, Herrn Aloys Drenker, der ein Säufer und Sünder sei und ein Sohn des Satans. »Nun aber bin ich gerettet,« schloss sie, »und ich danke dem Lamme, dass meine Mutter und ich auf dem Wege zum Himmel sind. Und wir wollen kämpfen gegen den Teufel, bis wir sterben. Aber mein Vater ist noch nicht ganz gerettet und ich bitte euch, meine lieben Mitkämpfer, betet für ihn, dass er zu Jesus komme und um des Kreuzes willen gerettet werde. Amen.«

Frank Braun spie aus, ein bitterer Geschmack lag ihm auf der Zunge. »Die Wände sollten sich erbrechen vor Ekel.« murmelte er. Er sah scharf zu Teresa hin, aber keine Miene ihres Gesichtes rührte sich. Wusste sie nichts von dem, was um sie her vorging?

Ein junger Bursche sagte seine Seele, dann Ratti und Maria Grazia, Ulpos Tochter. Frank Braun dachte: »Will keiner aufstehen und erzählen, dass er den Kater totschlug?« Aber er besann sich – sie waren ja Christen und das war keine Sünde.

Teresa bewegte die Hand und sprach leise. Der Amerikaner und der alte Ulpo streckten die Köpfe vor, auch Scuro und Ronchi traten heran. Sie nickten, dann ging der Schneider nach vorne und sagte, dass man zum Beschlusse das Fastenlied singen würde.

So war man schon zu Ende heute abend? Frank Braun trat aus der Halle in den Abend hinaus. Aber er wartete; er wollte Teresa sehen und mit ihr sprechen – trotz allen Leuten.

Alle sieben Strophen sangen sie und fünfmal den Kehrreim jeder Strophe. Ungeduldig schritt er auf und nieder. Endlich wurden sie doch fertig, drängten hinaus aus der Türe. Zuletzt kam Teresa, sie ging barfuss, die linke Hand leicht gestützt auf des Knaben Schulter. Aber sie wandte sich nach rechts, schritt geradezu auf das Haus des Propheten. Um sie waren die Weiber, Celestina, die Frau Pietros, dann Carmelina, Matilda Venier und Maria Grazia; auch einige der Männer gingen ins Haus. Pietro Nosclere schritt langsam hinter ihnen, er sprach mit seinem Knechte.

Rasch trat Frank Braun auf sie zu, verstellte den beiden die Türe, ehe sie eintraten. Er schob den Knecht mit dem Ellenbogen zur Seite, dann fasste er den Amerikaner am Arm. »Ich will mit dir sprechen, Pietro.« sagte er ruhig. »Mach, dass du weg kommst, Scuro.« Der Knecht zögerte, da wandte sich Frank Braun zu ihm »Muss ich dich wieder schlagen? Weg!« Knurrend schlich der Riese in das Haus.

Der Prophet sah scheu zur Seite. »Was wollen Sie von mir?« fragte er. »Warum sind Sie zurückgekommen?«

Frank Braun antwortete: »Das geht dich nichts an. Ich werde dich fragen und du wirst antworten. Hörst du?«

»Ja.« sagte der Prophet. Seine Zähne knirschten.

»Also gib mir Bescheid: sagt Teresa ihre Seele?«

Der Amerikaner schüttelte den Kopf: »Nein.« antwortete er. »Warum sollte eine Heilige ihre Seele sagen?«

»Geisselt sie sich?« fragte Frank Braun weiter.

Mister Peter schwieg. »Gib Antwort!« herrschte er ihn an.

»Warum kommen Sie nicht in die Versammlungen?« sagte Pietro. »Sie sind frei, jeder mag hingehen und sehen, was sie tut.«

Frank Braun fasste ihn am Rock. »Mach keine Ausflüchte! Führt sie die Geissel?«

»Ja.« gab Pietro zu.

Frank Braun atmete schnell, das Herz schlug ihm bis hinauf zur Zunge. »Sie führt die Geissel.« wiederholte er langsam. – »Wen schlägt sie?«

Der Amerikaner versuchte sich loszumachen. »Herr,« rief er ungeduldig, »sie führt des Herrn Rute gegen alle ihre Brüder und Schwestern. Sie schlägt das sündige Fleisch und vergiesst das Blut für den, der am Kreuze starb.«

Ein roter Nebel legte sich vor seinen Augen. Aber er gab den Amerikaner nicht frei, hielt ihn fest, wie er sich auch wand.

»Und ihr,« forschte er, »ihr schlagt sie auch?«

Mister Peter schüttelte heftig den Kopf. »Wir! Wir sollten die Heilige schlagen?«

Er liess ihn los; er hätte ihn umarmen mögen für diese Worte. Aber nur auf einen Augenblick schwand sein Misstrauen, kehrte sogleich wieder in doppelter Stärke. Rasch fragte er:

»Was macht sie jetzt in deinem Hause?«

»Ich weiss es nicht.« stammelte Pietro.

Da hielt er ihm die Faust unter die Augen.

»Sprich, du Hund!« zischte er. »Wenn du nicht willst, dass ich dir den Schädel einschlage.«

Der Prophet zitterte in jämmerlicher Angst. »Herr, ich weiss es nicht, ich weiss es wirklich nicht. Es ist das erste Mal, dass sie zu mir kommt. Sie sagte uns plötzlich, der Herr Gott wäre in ihr und sie müsste gleich fort von all den Menschen. Da fragte ich sie, ob sie vielleicht in mein Haus kommen wollte. Und sie nickte. – So war es.«

Er sah wohl, dass Pietro die Wahrheit sprach; so liess er ihn los. »Ich werde mit dir hinein gehen.« sagte er. Der Amerikaner sah ihn bitterböse an, wagte aber kein Wort der Einrede. Zusammen schritten sie durch die Türe.

Am hinteren Ende der Diele sah er Teresa auf der Ofenbank sitzen; nur der Knabe war dicht bei ihr. Alle andern hielten sich möglichst zurück; es schien, als ob die Heilige das so gewünscht habe. Ungefähr zehn Leute mochten im Zimmer sein; sie blickten ihn neugierig und misstrauisch an, als er eintrat, aber niemand sagte ein Wort. Seine Absicht war, gleich zu ihr zu treten, um mit ihr zu sprechen, aber er sah, dass ihre Augen starr ins Leere blickten, dass ihr Geist fern ab war von allem, was rings um sie vorging. So setzte er sich auf einen Stuhl, dicht ans Fenster, stützte die Ellenbogen auf die Knie und den Kopf in die Hände und blickte hinüber zu ihr.

Niemand sprach ein Wort, alle warteten auf irgend etwas, das vorgehen sollte.

Teresa hielt den Cruzifix fest in den Händen, aber ihre Augen sahen weit darüber hinweg.

Dann umspielte ein seliges Lächeln ihren Mund; langsam erhob sie sich, das Kreuz glitt aus ihren Fingern. Es war, als ob sie den Herrn sähe. Sie kniete nieder, stand wieder auf, ihre Hände falteten sich, erhoben sich dann, nahmen endlich die Stellung des Priesters beim Dominus Vobiscum an. Endlich sank sie wieder in die Knie und blieb so lange Zeit.

Frank Braun liess kein Auge von ihr, verfolgte jede kleinste Bewegung. Es war kein Zweifel, Teresa war in einem heissen visionären Zustande. Er riss seine Gedanken zusammen, wie ein gutes Pferd, fasste fest die Trense und ritt in das Land ihrer Erscheinungen.

Und er verstand sie wohl.

Sie lag im Oelgarten und betete mit dem Heilande. Ihr Gesicht spiegelte alle Versuchungen, die den Gottessohn als Menschen bedrängten, allen Widerwillen gegen das Leiden und den Tod. Und sie betete inbrünstig und rang sich heraus aus den menschlichen Aengsten durch die Kraft des Gebetes. Kniend sah sie und erlebte sie alle die Foltern und Martern von der Gefangennahme bei Gethsemane bis zur Kreuzigung.

Sie erhob sich von den Knien, langsam fiel ihr Leib nach hinten. Sie lag nun auf dem Rücken, breitete die Arme weit aus und streckte die nackten Füsse vor. Legte einen Fuss auf den andern, als wäre sie selbst das Lamm auf der Schlachtbank des Kreuzes. Aber dann richtete sie sich wieder auf, schaute knieend mit tränenden Augen nach oben – so wie die Mutter Gottes in qualvollem Aufblicke auf den Sohn sieht.

Und sie fühlte tief in der Brust die Leiden dessen, der am Kreuze hing. Eine grässliche Todesangst ergriff sie, die Kraft ihrer Glieder schien völlig gebrochen. Bleicher und bleicher verblasste ihr Antlitz, eine Farbe des Lebens um die andere erstarb. Aber die heiligen Male an Händen und Füssen glühten immer lebendiger. Blau unterliefen die Nägel, schlaff und trocken hingen die Lippen um den offenen Mund. Ihre Haare lösten sich, kalter Schweiss troff von der Stirn und den eingefallenen Wangen und netzte die Locken. Bittere Tränen brachen aus den starren Augen und fielen herab in grossen Tropfen.

Nun aber leuchteten andere rote Tropfen auf ihrer Stirne auf und mischten sich mit den Tränen, ein blutiges Diadem umfing das Haupt: Stigmata der Dornenkrone des Erlösers.

Zuckungen sprangen aus den Winkeln des klaffenden Mundes, fuhren hinab wie Blitze eines nahen Gewitters und warfen den Leib in Todesschauern. Ein schwerer Atem stiess sich laut aus der keuchenden Brust, dazwischen jagte ein ächzendes Seufzen und Stöhnen. Alle Wundmale öffneten weit ihre Quellen, ihr Gesicht bedeckte sich mit Blut, rot färbte sich, von der Wunde an der Seite, ihr weisses Gewand, und lange Streifen Blutes brachen aus den Händen und Füssen.

Das Schluchzen des nahen Todes ergriff sie, immer heftiger schüttelten die Konvulsionen ihren Körper, der immer weniger Widerstand leistete. Das Stöhnen und Seufzen wandelte sich in ein Röcheln des Todes, die Augen schienen zu brechen und der arme Leib rang, verzweifelnd und ermattend, mit dem überall angreifenden Tode. Das Uebermass aller Schmerzen strömte von innen heraus in steigender Kraft und verzerrte ihr Gesicht zur Unkenntlichkeit.

Dann brach sie zusammen. Die Arme fielen schlaff herab, die Kinnladen klafften weit auseinander. Dunkelblau quoll aus den bleichen Lippen die im Krämpfe unförmig aufgeschwollene Zunge, die Lider senkten sich, aus den Augen entfloh der letzte Schimmer in schweren Tränen. Heftig schluchzte sie in kurzen Pausen nach innen auf, dann endlich sank sie nieder, von den Qualen völlig erschöpft Aus dem Gesicht und den Gliedern wichen die Zeichen des Krampfes; starr lag sie da wie eine Leiche.

Alle blickten stumm auf die Leblose, keiner rührte sich von seinem Platze. Der taubstumme Junge hockte eng zusammengekauert unter ihrem Stuhle, starr vor Angst, kaum fähig Atem zu holen.

Ueber des Propheten Gesicht flog ein epileptisches Zucken und ein dünnflüssiger Geifer säberte aus seinen Mundwinkeln. Kurze Stösse gingen durch seinen Leib, hart und eckig flogen seine Arme.

»Sie ist tot.« flüsterte er. »Die Heilige ist tot.« Er machte Miene zu ihr zu stürzen.

Aber mit einem Satze war Frank Braun bei ihm, umspannte fest sein Handgelenk und riss ihn mit gewaltsamem Ruck auf die Bank nieder. »Rühr dich nicht!« fuhr er ihn an. »Rühr dich nicht!«

Pietro Nosclere erschrak heftig, seine Zähne klapperten und sein Leib zitterte. Aber der drohende Anfall war erstickt; ruhig blieb er auf seiner Bank sitzen.

Nach wenigen Minuten richtete Teresa den Kopf wieder auf, kniete nieder in neuer Kontemplation. Ihr Gesicht schien ruhig, jeder Ausdruck der Marter war verschwunden; die Augen öffneten sich. Sie wandte sich halb im Kreise, verfolgte mit den Blicken irgend etwas, das sie umschritt. Dann erhob sie sich, stand aufrecht, unbeweglich, ihre Blicke richteten sich nach oben. Die Augäpfel hoben sich immer mehr, verschwanden schliesslich ganz unter den Lidern. Langsam hob sie zu gleicher Zeit die flachausgestreckten Hände.

Frank Braun betrachtete sie gespannt. »Die Vision ist fort.« flüsterte er. »Sie gerät in Ekstase.«

Helle Freude lachte aus dem Gesicht des Mädchens. Als wollte sie jubelnd die ganze Schöpfung an ihr Herz drücken, und ihre Wonne hinausküssen in die Welt, so streckte sie Arme und Hände weit aus und schloss sie, wie zum Umfangen, eng und stark, als ob sie das, was sie hielt, nie wieder loslassen wolle. Ihr Antlitz strahlte in einer heissen Wonne und einer Fülle des Entzückens, ihre Brust ging hoch in einem seligen Schauer der Umarmung.

Und sie hob sich auf den Füssen, stand hoch auf den Zehenspitzen, die kaum den Boden berührten. Sie schien zu schweben, alles in ihr jagte nach oben, trug sie in die Luft empor. Und ganz leise sangen ihre Lippen: »Lasset uns wegfliegen, lasset uns wegfliegen zur ewigen Freude!«

Das war nichts Menschliches mehr. Frank Brauns Augen öffneten sich weit, er verschlang diese süsse Gestalt, sog sie in sich ein mit allen Poren. Wie Granatblüten leuchteten die Blutstropfen auf der weissen Stirne, die schwarzen Locken fielen weit über die nackten Schultern, ihr weisses Gewand, hier und da mit Blut bespritzt, floss wie eine weisse Wolke, auf die die scheidende Sonne die letzten Grüsse ihres Herzblutes wirft.

»Wenn ich ein Maler wäre!« murmelte er.

Plötzlich, ohne Uebergang, schlug sie zu Boden. Lang ausgestreckt lag sie auf dem Rücken, die Augen schlossen sich im Augenblick. Es war, als wäre sie hinabgestürzt aus unendlicher Höhe. Immer noch streckte sie die Arme hoch, fasste mit den Händen in die Luft, als suche sie etwas, um sich zu halten. Dann hob sich ihr Leib, krümmte sich in heftigem Krämpfe wie ein Bogen, ruhte nur auf den Füssen und dem Hinterkopfe. In der nächsten Sekunde warf sie sich herum; nun rissen klonische Krämpfe ihre armen Glieder. Sie flog auf, dass sie den Boden nicht mehr berührte, schlug wild mit Armen und Beinen um sich und schrie in fürchterlichem Paroxismus. Endlich sprang sie in die Knie, stiess einen entsetzlichen Schrei aus und raufte sich grosse Hände voll Haare aus dem Kopf. Alle grässliche Furcht, alle wilde Verzweiflung schrie aus ihren Zügen und sie rief: »O der Abgrund! Der Abgrund!« – Sie kauerte sich zusammen, kroch auf allen vieren in die Ecke, wie ein zu Tode gehetztes Beutetier.

Dort lag sie, unbeweglich durch lange Minuten. Ihr Atem wurde ruhig, ihre Züge still.

Behutsam kroch der taubstumme Junge zu ihr heran. Er kniete vor ihr, griff mit beiden kleinen Händen einen Zipfel ihres Gewandes. Und nun kam wieder Leben in ihren Körper. Die Augen öffneten sich nicht, aber sie streckte den Kopf vor, es schien, als ob sie durch die geschlossenen Lider auf den Knaben blickte. Ihre Wangen färbten sich rot, der Mund öffnete sich halb und ein verlangendes Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Sie hob die Arme ein wenig zu dem Knaben hin, es war, als sähe sie vor sich eines schönen Engels süssen Leib. Die Brüste dehnten sich, ein leichtes Zittern lief durch ihren Körper. Nun lehnte sie sich zurück, lag auf dem Rücken, den Kopf leicht angestützt an die Wand. Und leise, unmerklich fast, hob sich ihr Leib, schoben sich unter dem hüllenden Linnen die Beine zur Seite. Wie zum Kusse öffnete und schloss sich ihr Mund, ein tiefer Seufzer heissen Glückes löste sich aus den weissen Zähnen.

Frank Braun sah sie an, sah diese Glieder, die aufgelöst zitterten in höchster Wonne, diese Lippen, die alle wollüstige Seligkeit tranken.

»Incubus, incubus!« flüsterte er.

In solchen Augenblicken hatte er ja oft ihr Gesicht gesehen. Und doch – jetzt war es ein anderes, war ein Bild unerhörtester Wollust, wie sie keine irdische Umarmung je geben mochte. Und er dachte an Berninis Marmor in S. M. della Vittoria in Rom, an den weissen Stein, der der Heiligen Teresa Transverberation gab. Ja, so, so sah das Mädchen aus, wie die fromme Frau von Avila in dem Genusse der englischen Umarmung. Freilich, der Engel der spanischen Heiligen war ein schöner Page, ein reizender Cherubin von vierzehn jungen Jahren, recht geschaffen zum wonnig heissen Liebestroste für grosse Damen. Das Mädchen von Scodra hatte nur einen armen, magern, taubstummen Knaben, aber in ihren Augen wuchs er zum schönsten Jüngling. Ihre Arme hingen zu beiden Seiten herab, ihre Kniee hoben sich leicht nach oben. Und von den Wundmalen der Füsse bis hinauf zu denen der Stirne war ihr Leib nur ein Gefäss, das voll sich füllte mit den süssen Schmerzen himmlischer Umarmung.

»Incubus, incubus!« wiederholte er.

Sie lag still da, vollgesogen in allen Poren, ein köstliches Bild der Empfängnis. Und langsam nur, in stillen Minuten wich diese grosse Wonne aus ihren Zügen.

Frank Braun trat dicht zu ihr hin. Schwer öffnete sie die Augen, die nun wieder nach oben strebten, sich an die Decke hefteten, nur das Weisse noch sehen liessen. Es war wieder ein Schweben, ein Streben nach oben, aber diesmal nur innerlich und aussen kaum zu bemerken. Kaum zollhoch hoben sich die Hände.

So sass sie unbeweglich, starr und steif. Aber Frank Braun sah wohl, dass kein tonischer Krampf sie hielt und dass ihr Zustand nichts Kataleptisches hatte. »Nun ist sie bei Gott.« flüsterte er. Er stützte den Kopf in die Hände und seine Blicke streichelten liebkosend die Ekstatische.

Er dachte: »Nun bist du ein Steinbild am Strome der Zeit und siehst mit ewigen Augen der Schöpfung Geheimnis. Nun bist du kein Mensch mehr, bist nicht Teresa und bist kein ›Ich‹, bist ein Namenloses und Unpersönliches. Dein Auge ist tot, aber dein Geist ist allumfassend, wie das Nichts und das All – nun schwebst du im Leeren und haust bei den Müttern. Du bist zurückgekehrt in die Ewigkeit und dein Bewusstsein begreift sich selbst in seinem Wesen, das keine Form mehr kennt, und in sich selbst Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart enthält. Dies Wesen ist ein Nichts, das alles umschliesst, es ist die Bewegung der Welt, die sich löst aus sich selbst, um ihr ureigenstes Sein in ewiger Reinheit zu erfassen. Wenn deine Seele eine volle Rose war, so ist sie nun zur Knospe geworden. Alles zerfliesst, alles zergeht und kehrt zurück zum Urbeginn. Nun quälen dich nicht mehr grause Visionen gekreuzigter Götter, nun bist du weit ab von ihnen und von allem was Leben hat Und du erkennst, du Glückliche, die Empfindung des Unendlichen!«

Er seufzte schwer. »Wie ich dich beneide, armes Mädchen! Deine Seele steht vor ihrem Ursprung, steht nackt und namenlos, ohne alles Wesen. Du hobst dich hinaus über die Zeit und weisst nichts mehr von gestern und morgen, sondern nur vom ewig Gegenwärtigen. Denn auch der kleinste Teil aller Zeit, das Jetzt, hat ja noch etwas von der Zeit – du aber bist über der Zeit und dem Jetzt. Und du bist über dem Raum und erkennst alles zugleich in allen fernsten Welten. Wir Menschen denken in der Zeit, du aber schaust alles in ewigem Augenblick. Zeit und Raum sind die Grenzen, die uns von Gott trennen, du aber hast sie überschritten, deine Seele erkennt über Raum und Zeit.

Gestaltlos stürzt deine Seele in den gestaltlosen Gott. Denn Gott – das weisst du nun, dreimal Glückliche, – ist ja nichts anderes als dein Erlebnis. Du bist in Gott – und so bist du Gott.

Fühlst du nun, Geliebte, wie deiner Seele Flügel wachsen? Ein Licht umfängt dich und eine süsse Wärme, da schmilzt alles starre und harte und die grässliche Schwere, die uns kleben macht an der Kruste der schmutzigen Erde. Alles löst sich in grenzenlosem Lichte und senkt sich in dich – und du bist das Licht und das All.«

Er nahm sein Taschentuch und deckte es über ihr Gesicht. »Es ist nicht gut, dich anzusehen, du Glückliche.« flüsterte er. »Es ist, als ob man nach der Sonne schielte, und man weiss doch, dass man sie nimmer greifen kann. Darum soll man sie nicht begehren: man mag blind werden, wenn man Gott schaut.

Die Menschen, die an Gott glauben, wissen nichts von ihm. Dem einen ist er ein Begriff, irgendeine Ursache, ein bequemes Ding, das sie notwendig brauchen für ihre Weltanschauung, ein unsichtbarer Motor, der alle Räder laufen macht. Dem andern ist er ein grosser Name, ein Alexander oder Cäsar und Napoleon, ist ein Held wie diese – mit dem Unterschied, dass er heute noch lebt. Man muss mit ihm rechnen und mit seiner Gewalt, muss sich mit ihm abfinden, wie mit dem Steuerbeamten und der Polizei. – Die Heiligen allein aber sind es, die Gott kennen. Sie glauben nicht, was sie hören von andern Menschen, sie sehen mit ihren Augen und greifen mit ihren Händen: aus ihrer Erfahrung heraus kennen sie Gott, wie eine Blume, wie einen Becher Weines. Wie andere die Liebe erleben – so erlebt ihr Gott

* * *

Langsam stand er auf und schritt durch das Zimmer. Er ging auf Pietro zu und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich bin durstig,« sagte er, »gib mir einen Schluck Wasser.« Der Amerikaner stand auf und sprach mit seiner Frau; sie ging hinaus und blieb eine Weile fort. Frank Braun wurde ungeduldig: »So sieh doch, wo deine Frau bleibt! Ist es denn so schwer, einen Schluck Wasser zu bekommen in diesem Hause?«

Pietro ging selber, endlich brachte er das Wasser. Der Deutsche nahm das Glas und brachte es an die Lippen. Dann fasste ihn ein plötzlicher Verdacht, er setzte es wieder ab. »Trink du zuerst.« sagte er.

»Warum?« fragte der Prophet. »Ich bin nicht durstig.«

»Trink!« befahl er.

Er sah, wie Pietro einen tiefen Zug tat.

»Ich habe mich geirrt.« dachte er. »Wie kam ich nur darauf?« Er leerte hastig das Glas.

Teresa rührte sich noch immer nicht. Gino war dicht zu ihr hingekrochen und rieb ihr leicht die totkalten Füsse. Die Männer und Weiber, ruhiger geworden durch die Stille der Heiligen, standen und sassen in Gruppen und flüsterten leise. Celestina Nosclere ging herum und reichte ihnen Holzbecher voll Milch. »Willst du uns nicht das Blut des Lammes geben?« fragte der Knecht den Propheten. Aber Pietro schüttelte den Kopf.

Dann bewegte sich das Mädchen. Das Tuch fiel von ihrem Gesicht, erstaunt blickte sie in den Raum. »Bin ich hier?« fragte sie leise.

Alle drängten zu ihr hin. Die Venier sagte: »Ja, Schwester, du bist nun bei uns. – Und wo warst du?« Aber Teresa antwortete nicht Man hob sie auf und setzte sie auf die Bank. Carmelina Gaspari holte grosse Kissen und schob sie ihr in den Rücken. Sie schien schwach und müde, aber ihre Augen blickten klar und frei. Sie machte dem Buben ein paar Zeichen mit den Fingern, er sprang schnell auf und brachte ihr einen Becher Milch vom Tische. Sie nahm ihn und dankte, aber sie netzte kaum ihre Lippen.

Die Venier drang in sie. »Heilige Schwester, willst du nicht sagen, was du gesehen hast?« Teresa streichelte die wirren Strähne des Knaben. »Nein, nein,« murmelte sie, »man kann es nicht sagen. – Man kann es nicht sagen mit Menschenworten.«

Ihre Augen fielen auf Frank Braun. »Du bist hier?« sagte sie. »Komm her zu mir.« Sie sprach ruhig und sanft, aber es lag ein fester Klang in der weichen Stimme, der nicht befahl und doch ein Gehorchen als selbstverständlich nahm. Er empfand das wohl; so antwortete er nicht und rührte sich nicht vom Flecke.

Da sagte sie still: »Bringt ihn her zu mir.«

Die Leute drängten heran. Erstaunt sah er sie an – sie schienen verwandelt in einem Nu. Er sah ihre Gesichter, sie schauten entschlossen und fest aus, jede Scheu war verschwunden. Er drehte auf dem Fusse um, zur Türe hin. Aber Girolamo Scuro trat vor ihn hin mit ausgebreiteten Armen. »Sie sollen zu ihr kommen!« sagte er. Und Ratti sagte: »Ja, Herr, Sie sollen zu ihr gehen.«

Dieser kleine Schuster, der sonst zusammenkroch vor seinem Blick vor Respekt und Furcht! Nun stand er da und riss die Augen weit auf und krampfte die Finger, jeden Augenblick bereit sich auf ihn zu werfen, festzubeissen, wie ein Fox.

Frank Braun blieb stehen, verwirrt, unschlüssig –

Was war denn geschehen? Vor wenigen Stunden noch schritt er durch diese feigen Bauern, er allein durch hunderte. Er schlug sich seinen Weg mit der Faust und keiner war da, der nur wagte, die Lippen zu öffnen. Jetzt aber standen sie da, drohend, stark – und der Schwächste von ihnen würde sich auf ihn werfen ohne Bedenken.

Er wandte sich um, schaute auf Teresa. Ihre Augen sahen nieder, ihre Hände streichelten leicht den Kopf des Knaben. Sie blickte nicht einmal auf; alle Ruhe und alle weiche Sanftmut lagen über dem Mädchen.

Und doch war sie es, die den Widerstand gebar, das fühlte er wohl. Das Volk von Val di Scodra war ein grosses Tier ohne Hirn, scheu und feige kroch es daher und floh vor seinem Blick. Nun aber, hatte es einen Willen. Teresas Willen.

Nun fühlte es sich stark, riss das Maul auf und trat ihm in den Weg. Und wich nicht mehr. Des Herren Stimme zerflog im Wind, nun, da ein anderer Herr befahl.

Eng standen sie um ihn wie ein guter Wall. Er sah, wie Ronchi zur Seite lief und hörte wie der Schlüssel sich drehte mit heiserem Knirschen. Nun war er gefangen. Die Kraft seines Willens war fortgeblasen und er konnte ihn wegwerfen wie einen alten Handschuh. Nichts blieb mehr, das ihn überlegen machte den Bauern; nun war es ein wilder Kampf der Fäuste. Er zählte sie schnell. Ratti, Ronchi, der alte Ulpo und der Prophet – das war der Mühe nicht wert. Aber der riesige Girolamo Scuro, dem nun keine Hemmung verbot, die Sklavenfäuste zu heben. Und der kräftige junge Ulpo, und Venier und noch drei Bauern. Und die Weiber dazu – diese Weiber – – sie würden mit Nägeln und Zähnen an ihm hängen.

Es war kein Zweifel, er musste unterliegen Und wenn auch verletzter Stolz und zornige Verachtung seine Muskeln zu Stahl machen würden, und wenn Gewandtheit und Uebung ihn leicht Herr machten über jeden einzelnen – – sie würden ihn doch halten und würden doch triumphieren. Und endlich: auch sein bester Sieg war doch immer nur Flucht!

Er biss die Lippen, schweigend trat er zu Teresa.

Sie fragte ihn: »Warst du die ganze Zeit hier?«

Er nickte stumm. »Was ist geschehen?« fragte sie weiter.

Die Fragen beleidigten ihn; es kam ihm wie ein Verhör vor. Trotzdem antwortete er: »Du warst in Ekstase.«

Sie schwieg eine Weile. Langsam sagte sie: »Ja. – Ich habe Gott gesehen.«

Er wartete; dann, als sie zögerte, rief er brüsk: »Was willst du von mir? – Ich will gehen, hörst du? – Bleib du allein bei deinem Propheten.«

Da sprang sie auf, heftig, mit einem Rucke. Dicht stand sie vor ihm; ihr heisser Atem traf sein Gesicht, ihre Augen bohrten sich scharf in die seinen. »Vergisst du, wer mich zu ihm hin geführt hat?«

Aber er schwieg nicht, nahm den Kampf auf, den sie ihm bot. »Ich war es!« rief er laut. »Ich!« Er blickte zur Seite, griff den Amerikaner, der neben ihm stand, am Arme und riss ihn vor. »Ich war es!« wiederholte er scharf. »Ich habe Pietro Nosclere zum Propheten gemacht und dich zur Heiligen! Ich habe mit euch gespielt, wie mit Puppen, an meinen Drähten tanzt ihr herum! Meine Geschöpfe seid ihr: Lehmklösse, denen ich Atem einblies!«

Er warf den Kopf zurück, seine Fäuste ballten sich. Jetzt, fühlte er, hatte er die Kraft, jetzt würde ihn keiner zurückhalten können. Jetzt war er frei.

Teresa sah ihn an, es war, als verstünde sie seine Gedanken. »Du willst fort?« fragte sie ruhig.

Er antwortete: »Es geht dich nichts an, ob ich bleibe oder gehe. Aber da du fragst, magst du es wissen: ich werde wegfahren, übermorgen nachmittag um zwei Uhr mit der Post.«

Sie lächelte still. »Die Post wird fahren, übermorgen nachmittag um zwei Uhr. Aber du wirst nicht fahren!« – Sie wandte sich an die andern und hob die Stimme. »Hört ihrs? – Er soll nicht fahren! Und sagt es allen Leuten im Dorfe, dass er nicht fahren darf.«

Er griff ihre Hand und schüttelte sie. »Was?« schrie er. »Ich werde nicht fahren? Ich werde fahren, sage ich dir!«

Sie machte sich los. »Lass meine Hand,« sagte sie ruhig, »du tust mir weh.« – Dann aber wiederholte sie: »Du wirst nicht fahren. Du gehörst mir.«

Er lachte ihr ins Gesicht. »Wirklich? – Dir? – Sieh einmal, und ich habe immer das Gegenteil angenommen.«

Sie sah ihn an, ruhig und gewiss. »Schweige doch,« sagte sie. »Willst du sagen, dass ich deine Geliebte war? – Wem denn? – Mir? Ich weiss es. Und den andern? – Jeder weiss es im ganzen Dorfe. Ja, ich habe in deinen Armen gelegen und leugne es nicht. Noch auch das andere, das mehr ist: dass du es warst, der mir den Weg wies, der zu Gott führt. Glaubst du, Pietro würde leugnen – er so wenig wie ich.« Sie wandte sich zu ihm, sicher lächelnd. »Sags ihm doch selber, Bruder.«

Der Amerikaner zögerte einen Augenblick. Dann begann er laut: »Ja, er hat mich den Pfad geführt. Er hat mir gesagt, dass der Herr mich gesegnet habe mit seiner Gnade und dass des Propheten Elias Geist in mir lebe. Er hat mich gelehrt, welche Kraft Gott in die Schläge der Geissel legte und er hat mir gezeigt, wie in meiner Hand sich der Wein zum Blute des Lammes wandeln müsste.«

»Hörst du es?« sagte Teresa. »Und so will auch ich sagen, was du tatest. Du warst es, der mich mitnahm zu des Propheten Halle, du allein. Du weisst, dass ich nicht wollte und nur gehorchte aus Liebe zu dir. Und du warst es, der mir sprach von all den Dingen, von denen ich nichts wusste. Du erzähltest mir von dem Leben der Heiligen, die des Herrn Wunden trugen und sein Antlitz schauten – du nur allein. Und wenn das hohe Tor aller Gnaden sich auftat in Val di Scodra – du warst es, der uns den Schlüssel brachte.« Ihre Stimme hob sich, klang hell und klar, in grossen vollen Akkorden. »Wir wissen es wohl, dass der Herr es war, der dich sandte! – Aber wir wissen auch, dass du allein nicht glaubst an seine Kraft. Sein Werkzeug warst du und meintest, dass du der Meister wärest. Weil du das Tor aufschlossest zum Reiche der Herrlichkeiten, wähntest du, dass es dein Reich sei. – Nun aber ziehen alle ein durch die hohe Pforte – und du allein musst draussen stehn.«

Prophetisch tönten ihre Worte, sie hob die Arme hoch, unmerklich wiegte sich der Kopf hin und her. »Beschwerlich ist der Weg, der empor führt, voll von Stacheln und spitzen Steinen. Dornen zerreissen die nackten Füsse und Blut fliesst in hellem Quell. Ich aber gehe den Weg und oben erstrahlt ein helles Licht: da wird die Braut der himmlische Bräutigam umfangen. Dorthin fliegt mein Auge, dorthin und achtet nicht der Schlange, die zwischen den Steinen kriecht. Sie wird mich stechen, sie wird mich stechen, aber mein Fuss schreitet doch weiter hinauf – hinauf!« Ihre Augen glühten, ihre Hand legte sich auf seine Schläfe. »Du bist die Schlange!« rief sie. »Du wirst mich stechen! – Dann aber, wenn diese letzte Qual überwunden, wenn das Fleisch besiegt und die Seele selig jauchzt in dem Kusse des Bräutigams, dann stehst du unten und blickst empor und der Wurm des Leides wird dich fressen. Ewig wirst du kleben an dem Boden der schmutzigen Erde, unstet wandern durch alle Lande, ruhelos, freudenlos, ohne Ende.«

Sie atmete tief, liess sich schwer zurückfallen auf die Bank. Sie schloss die Augen, schwieg eine kurze Weile. Dann bewegten sich wieder ihre Lippen, leise, fast flüsternd. Er musste den Kopf hinabbeugen, um zu verstehen, was sie sagte.

»Da fliehst du, und der ewige Tod sitzt dir im Nacken. Ueber Berge und Seen, durch lange Täler und weite Ebenen. Ich sehe dich sitzen auf dem weiten Platze, und die Sonne strahlt von dem weissen Marmor. Rings erheben sich hohe Paläste, du aber starrst stumm auf den Boden. Und jemand ruft deinen Namen – du aber hörst meine Stimme. Und die Wolken decken die Sonne – –« Ihr Flüstern erstarb, tonlos bewegten sich ihre Lippen weiter.

Er nahm ihre Hände. »Weiter, Teresa, sage mir, was du weiter siehst.«

Sie zuckte zusammen und richtete sich auf, als ob sie aus einem Schlafe erwache. »Ich weiss nicht,« sagte sie leise, »ich weiss es nicht.« Dann erhob sie sich. »O, ich bin müde. Bringt mich nach Hause.«

Carmelina Gaspari huschte heran und stützte sie. Teresa legte den rechten Arm schwer auf ihre Schultern und schritt zu. »Gute Nacht, Schwestern!« sagte sie. »Gute Nacht, Brüder. Betet für mich.«

Gino ging voran, alle andern folgten und brachten sie nach Hause. Langsam schritt Frank Braun hinter ihnen. Er ging zum Ufer hinab, machte das Boot los und ruderte hinaus. Er legte sich mit aller Kraft in die Riemen, suchte in körperlicher Anstrengung ein Ventil für seine heisse Aufregung. Aber es gelang ihm nicht; nach einer Stunde kehrte er zurück und seine Pulse klopften nicht weniger.

Das Haus war umstellt von allen Seiten, unter seinem Fenster sah er den Knecht stehen. Der junge Ulpo und sein Freund Pasquale Pederzoli sassen vor der Türe auf den Treppenstufen. Frank Braun redete sie an: »Ihr bewacht mich? Wollt ihr nicht lieber schlafen gehen?«

Ulpo antwortete: »Die Heilige hat es befohlen. Wir können später schlafen, in drei Stunden werden wir abgelöst.« Er stand auf und machte ihm Platz zur Türe hin.

»Hineinlassen wollt ihr mich also?« fragte Frank Braun. »Aber nicht hinaus aus dem Hause?«

»Doch, Herr,« antwortete der Bursch, »auch hinaus. Sie können gehen, wohin Sie wollen, in das Dorf und in die Gärten. Auch auf den See dürfen Sie hinaus. Aber immer werden zwölf ihnen folgen und man wird Sie nicht weglassen. So hat es Ratti bestimmt.«

Frank Braun lachte. – Ratti, der Nachtwächter! Der also war Oberbefehlshaber und er war der Gefangene des kleinen, buckligen Schusters! »Ist Ratti da?« fragte er.

»Ja, Herr.« sagte Ulpo. »Er liegt in der Wirtsstube auf der Bank. Soll ich ihn rufen?«

Der Deutsche trat in das Haus und ging in das Gastzimmer; Ratti schlief nicht, er sass bei der Lampe, den Rosenkranz in der Hand.

Frank Braun ging auf ihn zu und nahm eine Banknote aus der Tasche. »Hier sind tausend Kronen!« sagte er. »Willst du sie? Lass mich gehen heute nacht und du bekommst das Geld.«

Der kleine Schuster drehte sich um. »Ihr seid der Versucher!« sagte er. »Ihr seid der Antichrist!«

»Schon gut.« sagte Frank Braun. »So hatte ich es erwartet. – Gute Nacht, Ratti!«

Pfeifend ging er in sein Zimmer. Sein Anerbieten war nicht ernsthaft, er hatte keinen Augenblick gedacht, dass jener es annehmen würde. Nur ein Wille herrschte in Val di Scodra – – und das war Teresas Wille.

Er entkleidete sich langsam. Wie sich doch alles gewandt hatte, das Innerste sich nach aussen gekehrt! Er war der Mittelpunkt gewesen, um den alles im Kreise lief, er stand still und war die Sonne, um die die Welten von Val di Scodra heiss sich drehten. Und Teresa war ein Stäubchen, das mitflog im wilden Wirbel rund um ihn herum. Nun aber hatte der tote Stern sein eigenes Leben und Licht, er aber war ein kalter Mond, längst gestorben, fest gehalten und gefangen in den engen Banden ihrer Sonnenmajestät.

War es nicht sein Feuer, von dem sie lebte? War es nicht sein gutes Licht, das sie stahl?

Er schüttelte den Kopf – o nein, es war ihr ureigenes Licht und Leben. Er hatte es nur angezündet und aufgeweckt. Er selbst war immer tot gewesen, kalt und starr, ein hässlicher Nebelfleck, der sich blähte und auflog zur Sonne. Sie aber war die echte und starke Sonne.

Freilich, er hatte gute Augen; sie blendete ihn nicht, wie alle andern. Er mochte hineinsehn bis in ihr tiefstes Herz, und ihre Strahlen sengten ihn nicht und brachen vor seinem Blick.

Was denn nur? – Ihr Stigma quälte ihn nicht; wohl war es ein nicht gewöhnliches Geschehn, aber kein Aussergewöhnliches. Und die Erklärung schuf ihm wenig Mühe. Dann war ihr Hellsehen. Sie hatte ihm seltsame Worte gesagt, die auf irgend etwas wiesen in naher oder ferner Zukunft. Aber er musste sie wegwerfen – jetzt! Dann erst, wenn wirklich ein Leben erwachen sollte aus ihrem Stammeln, dann erst dürfte er damit rechnen, dann erst konnte er suchen und schürfen nach Gründen und Zusammenhängen. So lange aber waren es Worte, wirre Worte einer Halluzinantin, wertlose Spreu.

Auch ihre fromme Vision war ein Geringes und erklärlich genug; er brauchte sich nicht aufzuhalten mit Dingen, die nur armen Narren ein Uebernatürliches erschienen.

Und die Transverberation? Der incubische Engel, der sie auf das Pfühl zog, auf dem Maria lag? Bah, es war nur ein Grosses für den Künstler, der in seinem Auge wohnte und ein recht Kleines für den Gelehrten in seinem Hirn!

So blieb nur eines: die Ekstase.

Das war kein Zweifel; Teresa Raimondi war in dieser Nacht in Ekstase. Sie liess damit weit die Louise Lateau hinter sich, die Marguerite Alacoque, die Maria von Morl und die Tiroler ekstatische Jungfrau. Alles, was diese erlebten und was gute Leute Ekstase nannten, war doch nichts anderes, als nur religiöse Vision. Sie sahen, was alle sehn auf frommen Bildern, was jedem Kinde der Pfarrer erzählt: nie aber sahen sie Gott. Die Ekstasen der Heiligen Teresa und der Katharina von Siena freilich waren reiner und echter, aber selbst da drängte sich häufig genug das störende Moment christlicher Vision hinein. Vielleicht blieb nur eine unter all den Frauen: Schwester Katrei –

Was aber war es nun? Wo fand er eine Bresche, einzudringen in diesen höchsten Tempel und die freche Fackel der Zerstörung zu werfen?

Er nahm ein anderes Bild. Die Ekstase war Ophir, das Goldland Salomonis, oder die geheimnisvolle Kupferstadt, von der die Senussi erzählen. Oder Atlantis, das das Meer verschlang, oder das Dorado, oder das Bimini, das die Konquistadoren suchten. Irgendwo lag das Land – und so musste es einen Weg geben, der dahin führte.

Er wog die Möglichkeiten. Das Psychische war von dem Physiologischen nicht zu trennen, und wenn die Deszendenzlehre richtig war für die Eigenschaften des Körpers, so musste sie auch stimmen für die der Seele. Wenn in der Entwicklung der Jahrbillionen das Protoplasma zum Menschen wuchs, wenn sich Knochen und Muskeln, Blut und Nerven bildeten, verwandelten und änderten, so musste auch die Form des Bewusstseins eine andere geworden sein. Nun aber war das gerade der Kern aller Ekstase: dass das Bewusstsein des ekstatischen Menschen ein verändertes war. War es also möglich dieses andere zu finden, irgendwo auf der langen Stufenleiter der Entwicklung?

Dann fiel ihm Faust ein, leise deklamierte er:

»Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust,
Die eine will sich von der andern trennen;
Die eine hält in derber Liebeslust
Sich an die Welt mit klammernden Organen,
Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust
Zu den Gefilden hoher Ahnen.«

Das war es doch! Nicht zwei Seelen freilich, die sich trennen: eine Seele nur, die zu einer andern wird. Eine Seele, die Heimweh hat nach dem Schmutz der Väter, die sich zurücksehnt aus der freien Luft in die dumpfen Höhlen niederer Ahnen. Mochte sie Goethe immerhin ›hohe Ahnen‹ nennen in seinem Bilde: es war doch derselbe kluge Instinkt, der ihn später zu den »Müttern« führtet

Die Seele des Menschen in diesem Sinne war das Bewusstsein des Gegensatzes vom Ich zur Aussenwelt. Daran wagte nun keiner mehr zu rütteln seit Descartes. Das niederste Tier aber hatte keine Nerven und kein Hirn, der Reiz der Oberfläche löste allein eine unmittelbare Wirkung aus: der Anfang eines Bewusstseins mochte da liegen, wo einzelne Teile des Körpers sich ausbildeten um den Reiz den andern Teilen zuzuführen, die seine Reaktion ausübten. Noch kein kleinstes Hirn war da, wohl aber erste Nerven, die ohne Sammelpunkt sofort den Reiz vermittelten. Das Tier sah und fühlte die im Wasser schwimmenden Nahrungsteilchen nicht, nur die rein äusserlichen chemischen oder auch Druckreize lösten ohne eine Wahrnehmung und ohne Willensentschluss die Wirkung aus. So aber war es unmöglich, dass ein solches Tier ein Bewusstsein hatte, das dem unsern ähnlich war und den Gegensatz des Ich's, und der Aussenwelt fasste: sein Bewusstsein konnte nur ein Gefühl der Einheit von Ich und Aussenwelt sein. Es gab für das Tier noch keine Grenzen zwischen beiden.

Das aber war ja der Inbegriff aller Ekstase! Sie riss die Grenzen ein und machte den Menschen zum All und das All zum Menschen.

Er verstand das gut und suchte nach einem physiologischen Moment, das ihm den Weg zeigen konnte zu diesem Schlusse. Was bot da die Ekstase, das abweichend war vom normalen Zustand und so irgendeine Handhabe bieten konnte? Wenig genug freilich – und doch mochte es genügen.

Einmal war es das Gefühl des Schwebens und Fliegens. Jeder Mensch kannte es aus seinen Träumen – waren Träume nicht verwandt der Ekstase? – Hundert Berichte erzählten von Menschen, die durch die Luft flogen. Gautama Buddha und Maha Sumata schwebten dahin, Platons Schüler Jamblichos hob sich zehn Ellen über den Boden, die Geschichte christlicher Ekstatiker war voll von Berichten von Frommen, deren Körper frei sich erhob, wie der Leib der Teresa von Jesu. Hier, wie immer, war es die christliche Mystik, die am tiefsten schürfte, die weit Grösseres und weit mehr Wunderbares hervorbrachte, als alle indischen und ägyptischen Heiligen. Die heilige Christina von St. Proud flog weit über Städte und Dörfer zum Himmel hinauf und die ›Acta‹ starren von Zeugnissen von Bürgern und Bauern, die die gebenedeite Fliegerin durch die Lüfte schweben sahen.

Was tat es denn, ob die Berichte über die heilige Christina, deren Flug Diepenbeck malte, und über alle die andern christlichen und heidnischen Flieger objektiv wahr waren oder nicht? Subjektiv waren sie es gewiss. Wie jeder sagen konnte: ›Ich bin im Traume geflogen‹, so konnten die Heiligen gewiss mit aller Wahrheit sagen: ›Ich flog auf in der Ekstase.‹ Und es war über allen Zweifel, dass sich für dieser Frommen Bewusstsein das Gefühl der Schwere verlor.

Ein anderes Gefühl trat dafür ein, das der Gewichtslosigkeit: das Gleichgewichtbewusstsein. Kein Wesen konnte es haben, das in der Luft lebte, nur dort konnte es sein, wo ein Körper annähernd ein gleiches spezifisches Gewicht hatte wie das ihn umgebende Element. Die Fische hatten es – unsere niederen Ahnen. Und wie für den Schwimmer die Lunge wieder zur Schwimmblase wurde, aus der sie entstand, so mochten wohl in nervösen Zentralorganen uralte Reste rudimentär vorhanden sein, die in der Ekstase diese längst verlorene Empfindung des Gleichgewichts wieder wach riefen.

Das andere Moment war das Licht. Alle Ekstatiker sahen es, allen war es das grösste Glück und die höchste Wonne. Aber sie fassten es nicht mit den Augen – sie fühlten es auch mit geschlossenen Lidern und im Dunkeln: es war ein inneres Licht, das sie nicht sahen, sondern empfanden. War das nicht dasselbe, was vor Jahrbillionen unsere Ahnen taten? Jene Tiere, deren Augen nicht sahen, nicht Gegenstände unterschieden, sondern nur als lichtempfindliche Organe dienten, zentralen Teilen zugeordnet, die diese Lichterscheinung als Erregung aufnahmen?

Wie viel Dinge barg der menschliche Körper, die langsam erstarben, aber doch durch Jahrtausende nutzlos fortlebten, rudimentäre Erinnerungen aus uralter Zeit! Organe, die früher einen Zweck erfüllten, den sie längst verloren und die nun, scheinbar belanglos, nur da waren, um Grund zu geben zu irgendeiner Erkrankung. Aber wenn sie, wie der Blinddarm, pathologisch auf den Gesamtorganismus schädlich wirken konnten – war es nicht möglich, dass sie auch in anderer Beziehung unter gewissen Umständen Einfluss ausüben konnten? Vielleicht war die Zirbeldrüse der Ueberrest eines alten Sinnesorganes –

Nun schloss sich die Kette. Ein Glied noch fehlte ihm: die Möglichkeit zu ergründen, dass sich das menschliche Bewusstsein ändern konnte für Augenblicke, dass es zurückgreifen konnte auf frühere Stufen. Er brauchte nicht lange zu suchen, jeder Tag brachte ihm da viele Beispiele. – Wollust, Wut oder Schreck, boten sie nicht immer wieder das rudimentäre Auftreten von uralten tierischen Instinkthandlungen mit jenem Bewusstsein, das diese einst begleitete? So eng war hier die Verbindung zwischen körperlichem Vorgang und dem Bewusstseinszustand, dass beide nicht zu trennen waren: nur aus ihrer engsten Gemeinschaft wuchs der Affekt. Wenn man dem Schreck die körperlichen Symptome nahm, wenn man den Puls ruhig schlagen liess, den Blick fest sein, die Bewegung sicher und schnell, die Farbe gesund, kräftig die Sprache und klar die Gedanken – – ja, was blieb dann noch vom Schreck?

Und ebenso schwand beim Verdurstenden, beim Verhungernden die Form des Bewusstseins des heutigen Menschen: irgendeine Ahnenform trat an seine Stelle, die wir Instinkt nennen.

Alle diese Effekte aber waren der Ekstase verwandt. Plotinos sagte, dass selbst die Tiere im Zeugungsakte Ideen sähen und sich sehnten nach einem ewigen Schauen – Goethe würde ihr Gefühl das ›hoher Ahnen‹ genannt haben Aber es blieb doch immer das niederer Väter – ein Zurück und kein Empor! – Die Ekstase aber war bei allen Heiligen der höchsten Wollust letzter Schluss.

Hunger – Durst – Kasteien waren stets Mittel für den grossen Zweck. Panischer Schreck oder Berserkerwut – wie oft gingen sie Ekstasen voraus. Und Musik und Rausch und alle Mittel zum Affekte mussten auch hier ihre Dienste tun.

So war die Ekstase die Spitze – – oder vielmehr sie war der letzte Grund. Brachten die Affekte das Bewusstsein des Menschen zurück zum Tiere, so war es die Ekstase, die am tiefsten hinab führte: dorthin, wo das Bewusstsein der Einheit von Ich und Aussenwelt lag.

Frank Braun atmete tief, nun hielt er den Kern in spitzen Fingern. Die Ekstase war ein Rückfall in den Zustand des niedersten Tieres, bei dem die Reize nicht die Veranlassung zur Bildung von Vorstellungen gaben, sondern sofort die Reaktion auflösten. War ein atavistisches Ereignis, ein Kind mit einem Wolfsrachen, ein Pferd mit drei Hufen an jedem Fuss. Es war ein Zustand, in dem Wille und Vorstellung ungeschieden, bei dem alle Grenzen zur Aussenwelt verwischt waren. Es fehlten die Merkmale der Vorstellung von Raum und Zeit, es fehlte das Bewusstsein des individuellen Wollens. Es fehlte die Einwirkung des Nicht-Ich auf das Ich und die andere des Ich auf das Nicht-Ich: so fehlte Vorstellen und Wollen. Und so geschah es, dass das Ich das Nicht-Ich aufnahm und zum reinen Ich wurde.

Es wurde zu Gott: das war der letzte Atavismus, den es gab.

* * *

Frank Braun stand auf und ging zum Fenster, blickte lange in die ungeheure Ruhe der Nacht Wohl war er nun der Sieger, aber dieser Sieg freute ihn nicht, und er fühlte wohl, dass alle Möglichkeit eines Glückes – nur in der Niederlage war.

Reines Glück aber war am letzten Ende das einzige, das erstrebenswert war. Und war viel mehr wert als jeder schönste Sieg der Erkenntnis, Reines Glück – – und es lag immer hinter und niemals vor ihm.

Als im Kampf ums Dasein die ersten Tiere aus dem Wasser stiegen und sich an das Leben auf dem Lande gewöhnten, da war gewiss das nasse Element das Ideal ihres Daseins. Als die Nachttiere, um nicht verhungern zu müssen, die Scheu vor dem Licht überwanden, war ihnen sicher die Helle ein Schlimmes und das Dunkel ein Glück. Das war die ewige Lüge der ›alten guten Zeit‹: wo immer ein Mensch glücklich sein wollte, da stieg er hinab von der höheren Sprosse, auf der er stand. Er griff zum Rausch und zur Wollust und wurde zum Tier: aber er war glücklich in dieser Zeit.

Und so bot die Ekstase, die niederste Stufe, auf die des Menschen Bewusstsein zurückgelangen konnte, ihm zu gleicher Zeit auch das höchste Glück.

Eines aber gab es, das alles erschlug: die Erkenntnis. Und der freie Geist, der unheilbar an ihr litt, der konnte nichts mehr verbergen und verleugnen und sein Herz war zerbrochen für alle Zeit

* * *

Etwas trieb ihn zu Teresa hin. Er ging hinaus aus dem Zimmer und klopfte an ihrer Türe. Er hörte ein Flüstern, dann schob sich der Riegel zurück. Carmelina Gaspari stand vor ihm, ein Licht in der Hand. »Was wollen Sie, Herr?« flüsterte sie.

»Gib das Licht!« sagte er. Er nahm es und trat zu Teresas Bett. Gino schlummerte ihr zu Füssen auf dem Boden. Die Heilige lag da, tief schlafend.

Sie war schön, wie die Mutter Gottes, und von ihren Zügen strahlte ein grosser Friede und ein ewiges Glück.


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