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Die Perle

Der Predigtamtskandidat Franz Kasimir Bleibtreu schrieb die Adresse auf einen Brief. Sie lautete:

Herrn Dr. dent.
W. Hagen
prak:. Zahnarzt
Logirhaus Newa
Karlsbad, Parkstrasse.

Dann las er den Brief noch einmal durch:

Hannover, den 28. August 1901.

Lieber Hagen!

Gestern hörte ich durch M., dass Du in Karlsbad zur Kur seiest. Ich wünsche Dir recht gute Besserung, wolle Gott seine Huld, die er ja so oft den dort Heilung Suchenden gespendet hat, auch Dir in reichlichem Masse zuwenden. Seit über drei Jahren habe ich Dich nun nicht mehr gesehen und gestern erst durch M., der jetzt hier an dem Realgymnasium (Du weisst es wohl schon) sein Probejahr abmacht, wieder von Dir gehört. Ich freue mich sehr über Deine Erfolge. Möge der Herr auch fernerhin Dich leiten. Wenn auch manche der kühnen Hoffnungen, von denen wir vor nun mehr als sechs Semestern in unserem Bonner Wingolfshause träumten, noch nicht erfüllt sind, so sehe ich doch bei allen Kommilitonen die Grundsteine gelegt: ER wird weiter helfen.

Von mir ist nicht viel zu berichten. Ich habe auch mein letztes Examen bestanden und ich kann wohl sagen: ehrenhaft bestanden. Seit vierzehn Tagen bin ich hier, in der dritten Pfarrei; ich habe vergangenen Sonntag meine Probe-Predigt gehalten. Nachher hatte ich die grosse Freude, dass der Superintendent Engels auf mich zukam und mir beide Hände kräftig schüttelte. Ich hoffe, ja ich glaube es fast, dass ich die ausgeschriebene Hilfspredigerstelle, um die ich mich beworben habe, erhalte.

Nun aber, lieber Freund und alter Bundesbruder, komme ich zu Dir mit einer Bitte, die Dir vielleicht etwas seltsam erscheinen mag. Nur Geduld, ich werde Dir alles erklären. Vor zweieinhalb Jahren, Du warst damals bereits seit einem Semester in Jena, lernte ich in Bonn eine Jungfrau kennen, Cacilia Bergmann hiess sie. Ihr Vater ist Kommerzienrat in – Hannover! Sie, die Fünfzehnjährige, war damals in dem Pensionat an der Ecke der Koblenzerstrasse. Ich will Dich mit Einzelheiten nicht quälen, lieber Freund, nur so viel lass mich Dir sagen, dass der Höchste durch sie mich das ewige Mysterium der Liebe ahnen liess. Cäcilia ist eine Perle; in frommem, christlichem Hause aufgewachsen, hat sie sich zu einer herrlichen. Blüte der Tugend und der Unschuld entfaltet. Ich traf sie im Hause ihrer Pensionsmutter, die allwöchentlich einige Mitglieder unseres Bundes zu einem musikalischen Teeabend einlud. Oft habe ich sie leider nicht gesehen und nur einmal allein mit ihr gesprochen, als ich sie nämlich zufällig auf der Strasse traf. (Sie musste für eine der Lehrerinnen Migräninpulver holen.) Es war nur eine kurze Strecke, die ich sie begleiten konnte, aber auf diesem Wege entschied sich unser Schicksal: wir verlobten uns! Wir verabredeten, dass ich weiter meinen Studien obliegen sollte und erst nach bestandenem Examen ihr schreiben solle. Vorher wollten wir uns weder sehen noch schreiben: das sollten unsere Jahre der Prüfung sein.

Nun, lieber Bundesbruder, die Jahre der Prüfung sind vorüber und Du kannst Dir denken, wie mir das Herz höher schlug, als ich am Tage nach dem Examen hörte, dass in Hannover eine neue Hilfspredigerstelle ausgeschrieben sei. Ich beschloss, Cäcilien noch nicht zu schreiben, bewarb mich aber gleich um die Stelle, mit welchem Erfolge, sagte ich Dir schon oben. Ich wartete meine Probepredigt ab. Am nächsten Tage betrat ich zum ersten Male mit klopfender Brust die Strasse, in der Cäciliens Eltern wohnen, doch denke Dir meine Enttäuschung, als ich an dem Hause – es ist Nr. 23 – alle Fenster mit Rolläden verschlossen sah – augenscheinlich war niemand dort! Ich befrug einen Briefträger, der gerade ins Nachbarhaus ging. Er sagte mir, dass die Briefe für Kommerzienrat Bergmann und Familie nach Karlsbad, Logirhaus Newa, nachgesandt würden. Dort also ist Cäcilie, und Du Glücklicher weilst mit ihr unter einem Dach! Ich hätte ihr ja mit der Post einen Brief schicken können, aber ist es nicht ungleich poesievoller und sinniger, wenn sie plötzlich in ihrem Zimmer, in einem Strausse duftender Vergissmeinnicht versteckt, meinen Brief findet? – Darum also, lieber Bundesbruder, bitte ich, nimm beiliegenden Brief für meine Braut, kaufe einen grossen Strauss Vergissmeinnicht und lasse beides durch das Stubenmädchen heimlich auf ihr Zimmer bringen. Schreibe mir gleich über das Gelingen. Ich vergehe vor Liebe und Ungeduld.

Ich danke Dir für Deinen Freundschaftsdienst, Gott möge Dich beschützen.

In Treue

Dein Freund Kasimir Bleibtreu.

Zwei Tage darauf empfing der Kandidat die Antwort. Er riss den Brief mit zitternder Hand auf und lass:

K., den 30. August 1901.

»Geliebter Kasimir!

Mit Vergnügen hätte ich Deinen Wunsch erfüllt, wenn es möglich gewesen wäre. Aber es ging nicht, die Angebetete Deines Herzens ist leider nicht hier. Der alte Kommerzienrat Bergmann und seine dicke Frau Kommerzienrätin wohnen gerade unter mir, doch ihr holdselig Töchterlein ist nicht dabei! Ich schicke Dir also den Brief zurück. In den nächsten Tagen werde ich Dir länger antworten für heute mache ich Schluss, damit ich die Nachricht, die du gewiss sehnlichst erwartest, noch gleich heute abend zur Post geben kann.

Dein treuer Bundesbruder

Wilhelm Hagen.«

Der Predigtamtskandidat liess den Brief sinken. Zum ersten Male in seinem Schnürchenleben kam etwas nicht so, wie er sich gedacht hatte. Was nun? Wo war Cäcilie? in welchem fernen Weltmeer sollte er seine Perle suchen? Endlich überlegte er sich, dass er in ihrem Hause einmal nachfragen könne, gewiss hatte der Kommerzienrat die Dienstboten zurückgelassen! Er machte sich also auf den Weg.

Zaghaft schellte er an Nr. 23, aber niemand erschien, da drückte er herzhafter auf den Knopf, gleich ein paarmal hintereinander. Nach einer Weile hörte er Schritte, die Türe wurde ein wenig geöffnet und vor ihm stand eine ältere, runzelige Person.

»Sie wünschen?«

Franz Kasimir wurde rot bis zu den Ohrläppchen.

»Ich – ich möchte gerne – –«

»Nun, was?«

»Die Adresse von – von –« er nahm sich zusammen, – »von Fräulein Cäcilie Bergmann.«

»Weiss ich nicht,« brummte die Alte unwirsch und klapperte mit den Schlüsseln.

Aber Franz Kasimir gab das Spiel noch nicht verloren. Er erinnerte sich, irgendwo in einer Geschichte gelesen zu haben, wie ein Graf erst nach Ueberweisung eines Geldgeschenkes die schweigsame Dienerin zum Verraten eines Geheimnisses veranlasst habe. Rasch entschlossen griff er in die Tasche und entnahm seinem Portemonnaie eine Münze. Er erschrak – es war ein Zwanzigmarkstück! Aber er genierte sich, es wieder zurückzustecken und drückte es herzklopfend der Alten in die Hand.

»Bitte – die Adresse!«

Die alte Haushälterin drehte das Goldstück ein paarmal zwischen den krummen Fingern, dann betrachtete sie Franz Kasimir von oben bis unten und frug langsam:

»Sie sind wohl – – der Herr?«

»Ja, ja!« stotterte der Predigtamtskandidat und wiederholte: »Bitte geben Sie mir die Adresse!«

Die Alte sah ihn kopfschüttelnd an, dann sagte sie: »Nun meinetwegen: Lüttich, Rue de Campines 492 bei Frau Crotto.« Er wiederholte die Namen, um sie dem Gedächtnis besser einzuprägen und ohne ein weiteres Wort der Alten abzuwarten, lief er spornstreichs auf die Strasse. Er eilte so rasch wie möglich nach Hause, um gleich an Cäcilie zu schreiben, doch nach einer Weile ging er langsamer, sann nach und ehe er noch in seiner Wohnung angekommen war, hatte er einen kühnen Entschluss gefasst: er wollte nicht schreiben, sondern gleich selbst nach Lüttich fahren, um die Geliebte zu überraschen. Er zählte seine Barschaft: es reichte.

Dann stieg er in sein Zimmer hinauf, liess den kleinen Handkoffer packen und schlug derweil im Kursbuch nach.

Eine Stunde nachher sass er im Zuge, auf dem Wege zu ihr. Nur ein ziemlich dicker Herr mit stolz gewirbeltem Schnurrbarte und einer Reihe kleiner Köfferchen und Taschen war noch mit in dem III. Klasse-Abteil, augenscheinlich ein Geschäftsreisender. Dieser versuchte ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen, aber Franz Kasimir wich aus. Da zog sich der Reiseonkel brummend in seine Zeitungen zurück und rauchte eine Zigarre nach der anderen. Unterdessen malte sich der Predigtamtskandidat das Wiedersehen mit seiner Cäcilie aus, immer in neuen Bildern. Einmal war sie gerade am Bahnhof, um einen eiligen Brief an ihre Eltern in die Bahnpost zu werfen, da brauste sein Zug heran, er sprang heraus, sie erkannte ihn, ein leichter Schrei entfuhr den Lippen der Jungfrau – – Oder er liess sich bei der Dame, bei der Cäcilie zu Besuch war, melden, ohne seinen Namen zu nennen. Und nun trat sie ins Zimmer, schritt auf ihn zu – –

Der Geschäftsreisende, der sich langweilte, störte ihn wieder. Er begann über alles zu sprechen, was er gerade in der Zeitung gelesen hatte und liess sich diesmal nicht abweisen. Franz Kasimir versuchte so unhöflich zu sein, wie er es nur fertig bringen konnte, aber es half nichts. Schliesslich bat er seinen Mitreisenden um die Zeitungen und las selbst, um wenigstens nicht sprechen zu brauchen.

Währenddessen schlummerte der Reiseonkel ein. Kasimir hörte vergnügt sein leises Schnarchen, sofort legte er die Zeitungen in die Ecke und gab sich seinen süssen Träumen wieder hin. Sein Plan stand jetzt fest: in Lüttich angekommen würde er gleich eine Menge Blumen kaufen und sie ihr senden – – mit einem Gedicht! Das Gedicht wollte er jetzt machen.

Er sann nach – – –

»O Cäcilia, aller Frauen Blüte –
Holde Jungfrau – –«

Er skandierte die Verse, indem er die rechte Hand unter sein Vorhemdchen schob und mit den Fingern auf seinem Herzen trommelte. Das schien ihm seiner poetischen Arbeit erst die rechte Weihe zu geben; es wurde immer mehr, er hatte soviel auf dem Herzen! Da er kein Papier fand, so schrieb er auf seine Visitenkarten, auf jede eine Strophe zu 10 Zeilen. 17 Karten waren schon voll geschrieben, nun hatte er keine mehr. Den Reisenden um Papier bitten? Nein, er war ja froh, dass der schlief. Plötzlich kam ihm ein Gedanke: er konnte in der kleinen Tür verschwinden und dort aus dem Automaten – – – aber er erschrak selbst über eine solche Entweihung – – solches Papier für sie – – »Pfui, Kasimir!« sprach er zu sich selbst. Endlich nahm er ein Zeitungsblatt und schrieb die neue Strophe auf den Rand.

Da fiel sein Auge plötzlich auf einen Namen: »Frau Crotto, Rue de Campines 492 Lüttich« – – war das nicht ihre Adresse?? Aber gewiss! Er las weiter: »Damen finden gute Pflege und liebevolle Aufnahme – –« Liebevolle Aufnahme! Gute Pflege? So war sie der Pflege bedürftig, leidend, krank, vielleicht gefährlich krank!! Er schrie so laut auf in seinem Schmerz, dass der Reisende erwachte.

»Na, was haben Sie denn nur?« frug er und wischte sich den Schlaf aus den Augen. Franz Kasimir schüttete ihm sein übervolles Herz aus. Er erzählte ihm rasch seine Verlobungsgeschichte, seine Erlebnisse in Hannover – – –

»Und nun erfahre ich plötzlich, dass sie krank, schwer leidend ist! Ich weis nicht, was ihr fehlt, aber sie ist in einer Anstalt, einer Nervenheilanstalt, ohne Zweifel. Gewiss, ich bin die Ursache ihrer Krankheit. Sie siecht dahin, aus Gram, aus Kummer, dass sie so lange nichts von mir hörte! O, ich Elender, nie werde ich mir vergeben können. Die herrlichste Perle der Frauen,– – diese reine Blüte der Unschuld, Cäcilie – – –«

»Aber erlauben Sie mal,« unterbrach der Reisende den unglücklichen Predigtamtskandidaten, »wie in aller Welt haben Sie denn jetzt auf einmal diese Nachricht bekommen? Sie haben wohl, während ich schlief, auf irgendeiner Station ein Telegramm bekommen?«

»Nein, jetzt in diesem Augenblick habe ich's erst erfahren, da aus der Zeitung! Ich wusste ja nur ihre Adresse, und nun sehe ich, dass die Dame, bei der sie wohnt, kranke, junge Mädchen in Pflege nimmt!«

Er reichte dem Reisenden das Zeitungsblatt herüber. Dieser las die Annonce, dann sah er sein Gegenüber gross an.

»Sagen Sie mal, junger Mann, haben Sie schon mal so was von 'nem Tierchen gehört, das man Storch nennt? Na, wissen Sie, die guten Geschöpfe haben so einige Absteigequartiere bei Damen, wie die Madame Crotto eine is, da werden sie ›besonders liebevoll aufgenommen‹. – Na und bei der Gelegenheit bringen sie denn den pflegebedürftigen Fräulein so ein kleines Geschenk mit!! Na – sehrein Sie doch nich gleich so, regen Sie sich nich so auf! So was kommt in den besten Familien vor. – – – – – – Warten Sie mal, Sie braver Jüngling, gleich sind wir in Köln, da steigen Sie man mit mir aus. Ich hab doch nichts zu tun heute abend, also kommen Sie nur mit! Mein Name is Ruckdamel, ich reise in Knöppe. Da versteh ich mich druff; auch auf die Knöppe, die manche vor die Ogen haben. Un was das anbetrifft, junge Leute sone Knöppe weg zu amputieren, da kenn ich mich auch aus – – darin bin ich Kavalier!«

Der Zug hielt, Herr Ruckdamel zog den widerstrebenden Kasimir aus dem Coupé.

Sie gingen in ein Weinrestaurant, dann in ein Tingeltangel und endlich – – – – noch irgendwo hin.

Und als Kasimir Bleibtreu am anderen Morgen erwachte, da war er um eine Braut und um sein Geld ärmer, – – – – aber reicher um eine grosse Erkenntnis und um soviel tausend Knöpfe, dass er für sein ganzes Leben genug hatte!


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