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Bibelbilli

Stundenlang durch die Bowery.

Durch Chinatown und hinüber ins Ghetto; durch die Maccaronistrassen und wieder zur Ostseite. Ziellos durch die langen Gassen. Man fühlt: so ein kleines Partikelchen treibt der Wind durch dieses ungeheure Getriebe, durch diese tönende, rasende Welt aus Eisen, Stein und Fleisch.

Ein Träumer in der Riesenmaschine Manhattan.

Wenn die Augen müde werden von den flutenden, immer wechselnden Bildern, wenn die Ohren den bunten Lärm von tausend Geräuschen nicht mehr ertragen mögen, flüchte ich eine Weile. Gehe in ein Kinematographentheater – an jeder Strassenecke eins. Und die grauen Bilder tun mir wohl; ich träume und lache über die köstlichen Szenen, die gallischer Witz erfand. Die Aufnahmen sind aus Paris oder aus den Staaten, und immer sind die französischen lustig und erfrischend, und immer sind die amerikanischen witzlos, roh oder banausisch-sentimental.

Auf der Strasse steht eine Musikbande: sechs blonde Pfälzer in roten Husarenröcken. Sie blasen unglaublich falsch, aber das ist der Menge, die sie umdrängt, völlig gleichgültig. Nigger, Chinesen, Slowaken, Italiener, russische Juden und Armenier stehen herum und lauschen mit offenem Munde den Klängen. Und ein paar deutsche Matrosen mit der Hapagmütze brüllen stolz die Worte mit: »Zu je–ee–ner Zeit warst du mein ganzes Leben, ich hätt ge–küüüsst die Spur von deinem Tritt – –«

Einer von den Pfälzer Husaren hat seine Trompete auf den Rücken gehängt und verteilt Zettel, rote, gelbe, grüne. Er liest sie vor, laut schreiend, in greulichem Yankeeslang, mischt auch italienische und tschechische Brocken hinein. Den Matrosen hält er eine deutsche Rede:

»Hereinspaziert! Die grösste Aeträkschen der Welt. Da vorne hinein! Nur zehn Cents Entrens! Die beste Beioskop der Welt. Nummer eins: Ueberfall des Eisenbahnzuges bei Galveston. Nummer zwei: Abenteuer des Mussiö Fanfardou von Paris! Dann: Der Traum der Blumenkönigin. Zehn Nummern in jedem Programm! Eine Vorstellung nach der anderen, den ganzen Tag und die ganze Nacht geöffnet! Der Bibelbilli am Schlusse jeder Vorstellung, der berühmte Bibelbilli! Die grösste Aeträkschen des Jahrhunderts!«

Ich bezahlte zehn Cents und fünf Cents dazu. um rauchen zu dürfen. Ich sah noch die letzte Nummer, eine köstliche Pariser Szene, in der zehn Mädchen einen Mann verfolgen. Mit Zylinder und Gehrock, Monokel, Rohrstock und Knopflochblume entflieht er atemlos den süssen Mädchen, die ihn durch Strassen und Wiesen, durch Wald und Feld verfolgen. Durch einen Bach geht die Jagd – die Mädel sind entzückend an dieser Stelle – über Mauern und Hecken und über einen riesigen Heuschober. Ein dicker Pausback ist dabei, der immer hinterher trottet. Sie ist stets die letzte; fällt hin, steht wieder auf, zerreisst ihr Kleid an den Dornen, verliert ihren Hut – aber sie läuft mit, atemlos, aufgelöst, hinter dem Mann.

Es wird hell gemacht im Saal; auf dem Klavier am Podium spielt jemand einen Psalm. Ein glatzköpfiger Mensch, als Küster angezogen, drängt sich durch die Reihen und verteilt Bibeln, dicke, verschmutzte, schwarze Bibeln. Der Kerl schnupft unaufhörlich, vielleicht meint er, dass das zu seiner Rolle gehöre; alle Bibeln tragen Spuren davon.

Ein Mann stolpert aufs Podium, rasiert, aber mit Stoppeln und Finnen in dem aufgedunsenen Gesicht. Lange, graue Haarsträhnen fallen ihm über die Ohren; er trägt die unkleidsame schwarze Tracht eines Nonconformisten-Predigers. Nur die Patinanase wirkt, die schmutzigen Fleischtöne rings weit überschattend, als ein leuchtender Fleck in diesem farblosen Grau und Schwarz.

»Biblebilli! Hallo Biblebilli! Three cheers for Biblebilli!« rufen ein paar Freunde des Hauses.

Bibelbilli dankt gemessen, dann hält er eine kleine Rede. Er erzählt, wo, wann und wie er von gottesfürchtigen Eltern in die Welt gesetzt wurde, behauptet, in der Sonntagsschule immer der frommste und tüchtigste gewesen zu sein und niemals eine Gelegenheit, zur Kirche zu gehen, versäumt zu haben. Darum habe ihn auch der Herr Herr – gelobt sei sein Name! – begnadet und ihm Kraft, Ausdauer und Geduld verliehen, Sein Heiliges Buch auswendig zu lernen, wovon er gleich Proben abzulegen bereit sei. Wenn seine, Gott Vater, dem Sohne und dem Heiligen Geiste höchst wohlgefällige Kunst der versammelten Christenheit Gefallen erregen solle, so bäte er nachher um ein kleines Douceur oder Trinkgeld. Er schloss seine Rede mit einem inbrünstigen Gebet.

Dann setzte er sich bequem in einen knarrenden Lehnstuhl und bat die Zuhörer, in ihren Bibeln eine beliebige Stelle aufzusuchen und ihm zuzurufen.

Einer rief: »4. Mose, Kapitel 26, Vers 12.«

Bibelbilli schloss die Augen, lehnte sich zurück und begann nach einer Weile: »Die Kinder Simeons in ihren Geschlechtern waren: Memuel. daher kommt das Geschlecht der Memueliter; Jamin, daher kommt das Geschlecht der Jaminiter, Jachin, daher das Geschlecht der Jachiniter kommt; Saul, daher das Geschlecht der Sauliter kommt; das sind die Geschlechter von Simeon, zweiundzwanzigtausend und zweihundert.

Die Kinder Gads in ihren Geschlechtern waren: Zephon, daher das –«

Bibelbilli rührte sich nicht. Unter der Patinanase bewegten sich nur die grauen wülstigen Lippen, indes ein Bächlein dürrer Worte herausplätscherte.

»Jasub, daher das Geschlecht der Jasubiter kommt, Simron, daher das Geschlecht der Simroniter kommt.

Das sind die Geschlechter Isaschars, an der Zahl vierundsechzigtausend und – –«

Im Saal sassen Männer und Weiber wortlos, fast erdrückt von dieser Ueberfülle fruchtbarer Geschlechter.

»Die Kinder Manasses aber waren: Machir, daher kommt das Geschlecht der Machiriter; Machir zeugte Gilead, daher kommt das Geschlecht der Gileaditer.

Dies sind aber die Kinder Gileads: Jeser, daher kommt das Geschlecht der Jeseriter; Helek, daher kommt –«

Jedermann starrte in seine Bibel und folgte, den Finger auf den Zeilen. Aber es stimmte, Wort für Wort, alle Geschlechter und alle Zahlen. Nicht der kleinste fehlte unter den Namen Israels.

Begierig lauschten sie weiter. Bis einer der Matrosen, der lange eifrig in seiner Bibel gesucht hatte, rief:

»2. Samuelis, Kapitel II, Vers 2.«

Als ob er auf einen elektrischen Knopf gedrückt habe, liess er den Bibelbilli schweigen und sogleich wieder beginnen:

»– – Und es begab sich, dass David um den Abend aufstand von seinem Lager und ging auf dem Dach des Königshauses und sahe vom Dache ein Weib sich waschen; und das Weib war von sehr schöner Gestalt.«

Aha, das war die famose Geschichte vom Weibe des Uria! Ich war neugierig, ob ein Sohn des prüden Amerika auch diese kitzliche Stelle seinen Zuhörern vorsetzen würde. Aber es scheint, dass in diesem Lande die Unanständigkeiten der Bibel die einzigen sind, an denen man sich ergötzen darf. Grinsend erzählte der Bibelbilli die Geschichte von Davids Ehebruch, und grinsend und voller Verständnis lauschten ihm seine Zuhörer.

Nun aber ging es in immer rascherem Tempo.

»Jeremia, Kapitel 36, Vers 9!«

»Es begab sich aber im fünften Jahr Jojakims, des Sohnes Josias, des Königs Judas, im neunten Monat, dass man ein Fasten verkündigte –«

»I. Korinther, Kapitel 12, Vers 15!«

»– – So aber der Fuss spräche: ›Ich bin keine Hand, darum bin ich des Leibes Glied nicht,‹ sollte um deswillen – – –«

Nicht einen Vers liess man den Mann mehr aussprechen. Jeder rief ihm eine andere Stelle zu, wie ein Granatfeuer schwirrten ihm von allen Seiten die Bibelstellen um den Kopf. Und prompt, fast automatisch, schnappte das seltsame Gehirn dieses Menschen auf jeden Zuruf ein, ohne irgend welches Besinnen.

Plötzlich erhob er sich.

»Schwestern und Brüder in Christo!« sagte er. »Ich werde mir nun erlauben, an Eure milden Herzen zu pochen, als ein Mann, der eine Frau und zwölf christliche Kinder zu ernähren hat! Zwölf, die Stämme Israels! Und währenddessen werde ich Ihnen noch etwas Besonderes zeigen. Wählen Sie ein beliebiges Kapitel aus dem Evangelium Matthäi.«

Einer rief: »Das sechste Kapitel!«

»Gut!« sagte der Bibelbilli. »Ich werde es von rückwärts aufsagen! Und vergessen Sie nicht, derweil die Hand zu öffnen!«

Er räusperte sich und begann.

»– – habe Plage eigne seine Tag jeglicher ein dass, genug ist es, sorgen seine das für wird Tag morgende der denn – –«

Unterdessen ging der Küster mit dem Klingelbeutel herum. Und alle gaben. Zehn Cents kostete nur das Entree, aber ich sah Leute, die jetzt ganze und halbe Dollarstücke in den Beutel warfen. Und während der Küster sammelte und der Bibelbilli sein Kapitel rückwärts hersagte, machte ich eine Kalkulation, was dieser Mensch wohl verdienen möge. Die Einnahme des Küsters überstieg zwanzig Dollars, und alle Stunde trat Bibelbilli auf, wenigstens zwölfmal am Tage. Dazu kamen seine erheblichen Einnahmen als Direktor und Eigentümer des Theaters, denen nur sehr geringe Kosten gegenüberstanden: einen Reingewinn von zwölfhundert Mark hatte Billi gewiss an jedem Tag! – Ich kenne manchen Theaterdirektor, der ihn darum beneiden möchte: freilich kann er auch nicht die Bibel auswendig!


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