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III. Fortpflanzung

 

ἥ κοίλης μύρμηκες ὀχῆς ἐξ ὠά πάντα θᾶσσον ἀνηνέγκαντο.

Aratos.

 

Hochzeit

Wenn Menschen Hochzeit machen, so wählen sie gern einen Tag, der ihnen recht glücklich scheint. Früher befragte man die Sterne, und harmlose Seelen tun das heute noch. Auch die Ameisen wählen den glücklichen Tag und die glückliche Stunde für ihre Hochzeit – nur sind sie gescheiter als wir: wo wir im Dunkeln tappen, wissen sie genau Bescheid.

Wie sie das machen, verstehn wir nicht; es scheint, daß sie für Wetter und Wind ein eigenes Empfinden haben und sich darnach richten.

Daß ein Ameisenvolk sich zur Hochzeit vorbereitet, mag man schon Tage vorher am Nest beobachten. Der Kreislauf des Lebens, der Arbeit scheint unterbrochen; eine sichtbare Unruhe hat von den Tieren Besitz ergriffen. Nicht nur die geflügelten Männchen und Weibchen laufen aufgeregt hin und her auf dem Neste, klettern auf Grashalme und Steinchen – auch die Arbeiterinnen vergessen ihre gewohnte Tätigkeit. Es macht den Eindruck, als ob sie von den Hochzeitern Abschied nehmen wollten; sie geben ihnen zärtliche Schläge mit Fühlern, betrillern sie schmeichelnd, füttern sie aus ihrem Kropfe. Das ist der Weihefrühling, der ›Ver-Sacrum‹ der Ameisen! Auch die Menschen kannten diesen heiligen Brauch einmal, vor ein paar tausend Jahren in den italischen Städten – bei den Sabinern, Latinern, Samnitern, noch vor der Gründung Roms. Die Stadt war zu eng geworden, war übervölkert – da mußte die Jungmannschaft hinaus, Jünglinge und Mädchen. Man weihte sie den Göttern, bekränzte sie, stattete sie reichlich aus: dann nahm man Abschied. Und die Jugend zog hinaus in die Berge, zur Hochzeit und zur Gründung einer Tochterstadt und eines neuen Volkes. Oder auch: zum Tod!

Gewöhnlich sind entweder viel mehr Männchen oder viel mehr Weibchen unter den Flügeltieren. Dies hat zweifellos seinen Grund darin, daß die Inzucht möglichst vermieden werden soll; denn bei der Hochzeit – und nur an diesem einen Tage – duldet der streng nationale Staatsgedanke der Ameisen einen Verkehr mit Bürgern eines anderen Volkes. Dies ist nun nicht so zu verstehn, als ob die weibliche Ameise sich den Männchen einer anderen Art hingeben würde; sie gibt sich nur einem ihrer eigenen oder nah verwandten Art, wenn auch eines anderen Volkes. Um es menschlich zu fassen: die Schwedin würde sich einen Norweger, Engländer, Deutschen, Holländer zum Gemahl nehmen, nicht aber einen Neger oder Papua; die Chinesin würde einen Japaner oder Koreaner erwählen, nicht aber einen Araber. Die ungeduldigen Geflügelten werden, mit Gewalt manchmal, von den Arbeiterinnen zurückgehalten, bis die glückliche Stunde gekommen ist – dann erhebt sich, was Flügel hat, hinauf in die Luft. Eines nach dem andern fliegt ab, meist die Männchen zuerst.

Nicht alles freilich fliegt zum Himmel hinauf; einige Weibchen werden von den Emsen festgehalten, verhaftet, möchte man sagen. Es sind dies die Ameisenfräulein, die den Hochzeitstag nicht abwarten konnten und ihr Jungfernkränzlein schon im Neste verloren haben. Sie müssen im Neste bleiben und dort für die Vermehrung des Volkes tätig sein. Freilich haben sie Inzest mit Brüdern oder Halbbrüdern getrieben und müssen deshalb auf den schönen Hochzeitsflug verzichten; aber sonst ist ihr Los besser, als das der tugendhaften Schwestern: all die Gefahren der echten Bräute, all die unsägliche Arbeit der jungen Mütter, ihr eigen Volk aufzuziehen, bleiben ihnen erspart. Auch einige unbefruchtete Weibchen müssen zuweilen im Neste zurückbleiben – vielleicht bewahrt sie die Staatsweisheit des Ameisenvolkes als Ersatzmütter für die Zukunft auf. Beide aber, junge Mütter und alte Jungfern, werden von nun an im Volke wie ›Königinnen‹ behandelt.

Hinauf in die Luft geht der Hochzeitsflug. Es ist erstaunlich, wie bei dieser Schilderung die Ameisenforscher poetisch werden. Alle Verachtung, mit der sie auf die anthropomorphe Einstellung des lieben, alten Brehm hinabsehen, ist vergessen: plötzlich fassen sie selbst alles so anthropomorph wie nur möglich. Sie denken an ihre eigene Hochzeit – an die liebe Frau, die damals noch, Jungfräulein war und der sie ihr Ameisenbuch widmen zur Erinnerung an diesen schönen Tag. Wenn sie aber nie Hochzeit feierten, wie der gelehrte Pater Wasmann, dann möchten sie doch für solch einen Tag einmal Ameisen sein – da oben im Himmelblau!

Ja, was möchten wir nicht alles! Denn an solchen Tagen gilt das Männchen etwas bei der Frau. Die Geschlechter steigen auf, von einem, von manchen, von vielen Völkern. Schwärme bilden sich; dichte Wolken werden aus den Schwärmen. Und alles liebt sich und alles umfängt sich. Oft findet die Begattung hoch in der Luft statt, oft auch fallen die Pärchen hernieder, um auf der Erde einander anzugehören. Drei, vier Männchen gibt sich das Weibchen nacheinander hin; aber es verstümmelt nicht, wie die Biene, den Bräutigam. Sehr zärtlich, menschlich fast, benehmen sich die Pärchen, belecken sich, streicheln sich vor und nach der Umarmung.

Diese Hochzeitschwärme haben zuweilen eine gewaltige Ausdehnung. Man hat Fälle beobachtet, wo sie die Luft verfinsterten, wo sie ganze Seen bedeckten, wo sie in solchen Massen hohe Kirchtürme umwogten, daß man sie für Rauchwolken hielt und die Feuerwehr heranrief, in dem Glauben, die Kirche brenne. Man hat von dicht bedeckten Straßen ganze Eimer zusammengekehrt und bei demselben Hochzeitschwarm bis zu dreißig verschiedene Arten feststellen können.

 

Andere Ameisen, andere Sitten! Wenn die geschilderte Weise des Hochzeitsfestes auch die regelmäßige ist, so weichen manche Arten doch ganz erheblich davon ab. Bei den Blutroten fliegen gewöhnlich die Männchen eines Volkes an einem früheren Tage auf als die Weibchen – sie treffen dann nur Weibchen eines fremden, zugleich mit ihnen schwärmenden Volkes, wodurch jede Inzucht vermieden wird. Umgekehrt scheinen die brasilianischen Blattschneiderinnen ebenso ungeduldiger Natur zu sein wie unsere Waldameisen: die Weibchen geben sich schon im Neste den Männchen hin. Andere Arten machen zwar ihren regelrechten Hochzeitsflug, bilden dabei aber, wie die Roßameisen, keine dichten Schwärme, sondern fliegen einzeln auf die Liebesjagd.

Auf den Hochzeitsflug verzichten müssen natürlich die Arten, bei denen das eine Geschlecht flügellos ist; merkwürdigerweise gibt es keine Art, bei der beide Geschlechter zugleich ohne Flügel wären. Manchmal findet bei solchen Arten die Vermischung im eigenen Neste statt, so stets bei den Arbeiterlosen, die also dauernd Inzucht treiben. Bei andern Arten mag das geflügelte Tier allein ausfliegen und sein Glück bei fremden Nestern versuchen.

 

Nach dem großen Festtage – oder auch der Hochzeitsnacht, denn einige Arten schwärmen nächtlich aus – beginnt für beide Geschlechter der Ernst des Lebens. Das Männchen, hirnlos, waffenlos, giftlos, unfähig, selbst sich zu ernähren, stirbt bald, wenn es nicht schon vorher aufgefressen wird. Den meisten Weibchen aber ergeht es nicht viel besser: nur wenige der großen Zahl der werdenden Mütter entgehn dem Tode und bringen es soweit, ein eigenes Volk aus eigenem Leibe zu schaffen.

Eine jede geht tapfer ihren schweren Weg, versäumt nicht eine Stunde nach der Hochzeit, sich für ihren künftigen Beruf vorzubereiten. Die Flügel, nur für den großen Tag bestimmt, sind ihr nun nicht mehr nütz – ihre erste Handlung ist also, sich ihrer zu entledigen. Es ist fesselnd genug, sie hierbei zu beobachten; sie zerren mit Füßen, reißen mit Kiefernzangen, reiben die Flügel gegen Steine oder Holz, bis sie abbrechen – das geht in sehr kurzer Zeit vor sich. Hat die junge Mutter die Flügel, das Zeichen des Mädchentums und der Brautzeit, verloren, so macht sie sich sofort an die Arbeit. Gut genährt wurde sie im warmen Heimatnest, gepflegt und gehegt. Nie hat sie die kleinste Arbeit getan – nun greift sie zu, schuftet und schafft, daß auch die beste Arbeiterin ihres Stammes sich nicht mit ihr vergleichen könnte. Vor allem muß sie für das Volk der Zukunft, das sie in ihrem Leibe trägt, einen Schutz schaffen: dazu bedarf sie eines engen, geschlossenen Raumes. Sie gräbt einen solchen in die Erde, unter einem Steine oder in Baumrinde und verstopft sofort jeden Zugang. Bei dieser Arbeit kennt sie keine Schonung; sie schleift Zähne und Kiefer ab, scheuert ihre Haare ab, trägt Verletzungen aller Art davon, ohne sich eine Sekunde Ruhe zu gönnen, bis ihr Werk vollendet ist. Wochen und Monate, manchmal fast ein Jahr bringt sie dann in diesem engen Loche zu, in das sie sich selbst lebendig eingrub.

Bald beginnt sie, Eier zu legen, die von dem Andenken der Männchen in den Hochzeitsminuten, dem Samen, den sie nun in der Samentasche trägt, befruchtet werden. Sie pflegt die Eier, genau wie es die Arbeiterinnen tun, leckt sie, reinigt sie. Sie hilft den Larven beim Kokonspinnen und den jungen Tieren beim Ausschlüpfen. Und sie füttert sie.

Wir kennen die Fabel vom Pelikan: die Mutter hackt sich die eigene Brust auf, um die Jungen mit ihrem Blute zu nähren. Beim Pelikan freilich kommt diese schöne Geschichte nur auf Wappenbildern vor, wie dem der Stadt Magdeburg – bei den Ameisen aber füttert die Mutter ihre Jungen wirklich aus ihrem eigenen Leibe. Gut gefüttert, ordentlich fett hat sie ihren Weg ins Leben angetreten; dazu haben sich die Muskeln der abgestoßenen Flügel auch wieder in Fettsubstanz verwandelt: dieses Fett nun läßt die junge Mutter ihren Kindlein in Gestalt von Speichel zukommen. Abgeschlossen von der Außenwelt, nimmt sie selbst kaum Nahrung zu sich. Freilich frißt sie einen Teil ihrer Eier, aber kaum für sich, mehr, um sie aus dem Kropfe ihren jungen Larven in Gestalt von Futtersaft wieder zu füttern – zu welchem Zwecke sie auch gelegentlich gleich einige Eier selbst ihnen reicht. Auch die ausgeschlüpften jungen Tiere nährt, reinigt und pflegt die unermüdliche Mutter, bis deren Chitinpanzer erhärtet ist – bis sie erwachsen sind.

Klein und unscheinbar ist dies erste Geschlecht der jungen Emsen – denn Emsen, Arbeiterinnen, sind sie alle. Aber der Geist des nationalen Arbeitsvolkes lebt in ihnen: sie schicken sich sogleich an, der Mutter, ihrer Königin, zu helfen, die, nun völlig abgemagert, ausgemergelt und entkräftet, nur noch ein Schatten ihrer selbst ist. Deren schlimmste Zeit ist vorüber, die erste Grundlage zum neuen Staate ist geschaffen. Sie hat Übermenschliches geleistet! Wenn die Bienenkönigin, hoch in die Luft steigend, nur dem kühnsten und stärksten Liebhaber angehört und so die Zuchtwahl durch Erhörung des Besten fördert, so ist bei den Ameisen dieser Wettstreit, die Lebenstüchtigste zu sein, allein den Weibchen zugefallen: einer nur gelingt der große Wurf, wo viele Hunderte und Tausende vom Leben verschlungen werden.

Die erste Sorge der jungen Emsen ist es, einen Ausgang aus dem Loche zu schaffen – denn nur da draußen ist Nahrung für die Mutter und sie selbst. Das Nest wird vergrößert, Gänge werden gebaut; wie die Mutter ihre Brut fütterte, so füttert nun die Brut die Mutter. Auch die Pflege der Eier, Larven und Puppen wird sofort von den jungen Emsen übernommen, die nun ein größeres, stärkeres Geschlecht großziehen.

Die Königin aber verwandelt sich ein zweites Mal. Die Merkzeichen ihrer Jugend bekommt sie zwar nicht wieder, sie bleibt flügellos, zahnlos, haarlos und bedeckt mit Narben. Aber, gut genährt, erholt sie sich bald wieder und setzt ordentlich Fett an. Ihre Eierstöcke, von jetzt an der wichtigste Teil ihres Leibes, entwickeln sich erstaunlich; sie kann nun Eier über Eier legen, um ein immer größeres, immer mächtigeres Volk um sich wachsen zu sehen.

 

Ist diese Art der Staatengründung die gewöhnliche bei der Ameisenheit, so ist sie doch nicht die einzige. Je stärker, je lebenstüchtiger die junge Mutter ist, um so größer ist die Möglichkeit für sie, sich durchzuhungern und dazu noch ihre Brut aufzuziehen. Bei einigen Arten aber ist das befruchtete Weibchen kaum allein dazu imstande; so muß es sich nach fremder Hilfe umsehen – wie es das macht, will ich später erzählen.

Sehr verschieden sind die Angaben über die Zahl der Bürger in einem Ameisenstaate. Einige Arten, wie die Schmalbrüster, deren Weibchen sehr spärlich Eier legen, zählen nur wenige Dutzend Staatsbürger, während bei andern Arten man Schätzungen gemacht hat, die in die Hunderttausende, ja mit den abgezweigten Kolonien in die Millionen gehn. Wie groß aber auch ein Volk ist – es muß in gewisser Zeit zugrunde gehn. Häufig steht dieser Volkestod im engsten Zusammenhange mit dem Tode der Königin. Erreicht diese auch das für Insekten unerhört hohe Alter von über drei Lustren, einmal muß sie doch sterben. Nun haben zwar manche Staaten Nebenköniginnen, bei einigen sehr volkreichen bis zu fünfzig, meist Töchter der Stammutter, die ihr helfen, das Volk zu vergrößern. Grundsätzlich wäre nicht einzusehen, warum ein solches Volk mit dem Tode der Stammutter allmählich auch aussterben sollte. Es ist durchaus möglich, daß die Emsen solcher Staaten sich, wenn die alten sterben, in den Besitz junger, befruchteter Weibchen setzen, genau so wie sie das früher getan – um auf diese Weise ihrem Volke eine unbegrenzte Lebensdauer zu geben. Tatsächlich ist es aber kaum der Fall. Auf irgendeine unerklärte, uns Menschen nicht faßliche, geheimnisvolle Weise scheint das Leben der ursprünglichen Gründerin des Staates in Verbindung zu stehn mit dem ihres Volkes: stirbt die Königin, so werden alle Bürgerinnen von einer seltsamen Unlust befallen. Trauer, die bis zum Lebensüberdruß geht, möchten wir Menschen es nennen. Wir haben ja auch hierzu in der Menschheit Parallelen. Es gibt Stämme auf Neu-Guinea und manchen Südseeinseln, die beim Tode eines beliebten Häuptlings Selbstmord beschließen. Nicht, daß die einzelnen Stammesmitglieder sich selbst oder einander töten würden – sie verhindern nur neue Geburten ihrer Weiber: so stirbt der Stamm aus. Ich lernte selbst einen solch freiwillig sterbenden Stamm auf Buka kennen – und ich beobachtete dasselbe lebensunlustige Weiterleben und langsame Absterben in künstlichen Ameisennestern, denen die Seele genommen war: die Königin!

Beim haitianischen Vaudouxkult führt die Priesterin den Namen ›Mamaloi‹. In dem verdorbenen Französisch der Haitineger ist das ›R‹ zu einem ›L‹ abgeschliffen worden – das Wort bedeutet also: Mama – Roi, das heißt Mutter und Königin. Es ist gewiß ein großes und schönes Wort, das leider auf die schwarze Schlangenpriesterin auch nicht einmal im übertragenen Sinne zutrifft. Wir müssen eifrig suchen in der Geschichte des Menschengeschlechtes, um eine wirkliche Mamaloi zu finden: eine Mutter und Königin. Doch finden wir sie in jedem Ameisenhaufen: hier ist in recht eigentlichem Sinne das Weibchen Mutter und Königin ihres Volkes. Und wer mag leugnen, daß sie zugleich auch die Priesterin ist? Denn in ihr verkörpert sich all das, wofür die Ameisen leben und sterben: das Urbild des streng nationalen Arbeitstaates.

Die Bienenkönigin ist eine geborene Königin – das ist das Ameisenweibchen nicht: es muß sich die Würde der Königin in schwerem Lebenskampfe erkämpfen, um dann allerdings viel mehr Herrscherin zu sein, als die Königin im Immenreiche. Sehr viele Ameisenweibchen versuchen das große Spiel; nur ganz wenigen gelingt es – die meisten gehn elend zugrunde. Jedes Weibchen läßt sich nicht nur von einem, sondern gleich hintereinander von drei bis vier Männchen befruchten. Wenn wir, menschlich gesehen, bei der Immenkönigin, die nur den besten und stärksten Liebhaber erhört, von einer Wahl der Liebe sprechen können, so verzichtet das Ameisenweibchen auf diese Liebeswahl. Aber – sehr zum Vorteil ihres Volkes. Die Männchen, denen sie sich hingibt, sind nur in seltenen Fällen ihre Brüder, meistens aber Männchen eines andern Volkes – derselben Art freilich. Ihre Kinder sind also die Kinder einer Mutter, aber zugleich die von verschiedenen Vätern – so wird die Inzucht vermieden. Nach der Hochzeit handelt sie ganz anders als die Bienenkönigin. Sie wird nicht zur ›reinen Eierlegmaschine‹; sie zieht vielmehr ihr Volk sich selbst heran. Sie legt Eier und pflegt sie, wie die Larven und Puppen und tut das ganz allein und hungernd dazu. Erst wenn sie ein Geschlecht von Arbeiterinnen sich zur Hilfe aufgezogen hat, dann erst überläßt sie ihren jungen Emsen alle andere Arbeit, um sich selbst nur dem Eierlegegeschäft zu widmen. Aber man störe nur einen Ameisenbau, da wird man sehen, daß, wenn es nottut, auch die Königin mit zugreift, Larven und Eier rettet und sich beim Wiederaufbau beteiligt. Die Ameisenkönigin also, in viel höherem Sinne als die Bienenkönigin, ist wahrhaft: Mutter und Königin ihrem Volke.

Junge Brut

Die große Verschiedenheit, die alles, was die Ameisen tun und treiben, auszeichnet, zeigt sich schon im ersten Augenblicke der Geburt. Junge Königinnen, die allein sind und erst im Begriff stehn, ein neues Volk zu gründen, müssen selbst Hebamme spielen und mit dem Munde das eben gelegte Ei greifen. Später aber helfen beim Eierlegegeschäft die Arbeiterinnen ihrer Königin, streicheln sie, belecken sie, nehmen das frisch ausgetretene Ei sofort in Empfang, ja ziehen es ihr aus dem Leibe heraus.

Die Mutter, einmal befruchtet für ihr ganzes Leben, bewahrt in einem Täschchen den männlichen Samen auf; wird das Ei nun durch den Eileiter herausgeleitet, so mag es im Vorbeigleiten an der Samentasche befruchtet werden oder nicht. In der Regel entstehn aus unbefruchteten Eiern Männchen, aus befruchteten aber Weibchen oder Arbeiterinnen.

Vom ersten Augenblick an wird die Brut gepflegt. Am wenigsten freilich das erstgeborene Dutzend einer jungen Königin; diese Erstlinge sind infolgedessen auch stets kleine und verhältnismäßig schwächliche Geschöpfe.

Sonst ist die Pflege der Nachkommen bei keinem anderen Tiere so entwickelt, wie bei den Ameisen. Sie füttern nicht nur ihre Jungen, sie halten sie auch sauber und bringen sie von einem Platz zu einem andern, der bezüglich der Wärme oder Feuchtigkeit gerade besonders ersprießlich für sie ist. Manche nehmen gar ihre Kinder aus der Wohnung heraus und tragen sie in warmen Nächten draußen herum, genau wie unsere Ammen und Kindermädchen ihre Schutzbefohlenen in den öffentlichen Parks herumtragen. Innerhalb des Nestes werden die Eier, Larven und Puppen getrennt gehalten und stets in solchen Räumen aufbewahrt, die ihrer jeweiligen Entwicklung am meisten zuträglich sind. Mittlere und größere Larven in sehr feuchtem Raume, Eier in trocknerem, Puppen in sehr trockenem Raume. Da nun aber die Wärme so wenig wie der Feuchtigkeitsgehalt der Luft gleichbleibend sind, so tragen die Ameisenammen andauernd ihre Jungen herum, bringen sie mehr an die Oberfläche in warmen Tagesstunden und wieder hinunter in die Tiefe in kalten Nachtstunden. Auch findet manchmal ein regelrechtes Bebrüten der Eier statt.

Die Ameisen halten's also, in großen Zügen, mit ihren Kindlein nicht viel anders, als die Menschen auch. Es fehlt, um die Ähnlichkeit völlig zu machen, eigentlich nichts, als daß sie ihren Babies auch die dicke Ammenbrust reichten.

Nun, auch das findet sich in der Ameisenheit.

Ammenameisen

Sie sind Bewohnerinnen der Sundainseln und der Philippinen. Sie haben einen mächtig gewölbten Busen, der jeder Menschenmutter und Menschenamme alle Ehre machen würde. Sie sind Insekten, nicht Säugetiere – aber sie säugen doch.

Ja sie haben, wie die Weibchen der Menschen, am Busen zwei Öffnungen, so daß man füglich von zwei Brüsten sprechen kann.

Da sie große Freundinnen von allem Süßen und besonders von Honigtau sind, den sie ihrem Vieh, den Blattläusen und Schildläusen, entmelken, so ist die Milch ihrer Brüste eine süße Honigtaumilch. Man kann durch die gespannte, durchsichtige Haut des Busens recht gut den goldgelben Inhalt bei den sonst dunkelbraunen oder schwarzen Tieren durchschimmern sehen.

Ungleich den nährenden Frauen der Menschen aber – und den Weibchen aller Säugetiere – sind die nährenden Arbeiterinnen dieser Ameisen alle jungfräulich. Auch reichen sie die Brust nicht nur der jungen Brut, sondern auch den erwachsenen Mitschwestern und natürlich der Königin – ihre süße Milch gehört dem ganzen Volke.

Die Ammenameisen führen den schönen Namen: ›Cremastogaster inflata‹, das heißt aufgeblasener Hängebauch – bei dem stolzen Geschlechte der Hängebauchameisen sitzt nämlich das Leib und Brust verbindende Stielchen nicht, wie gewöhnlich, mit dem untern, sondern mit dem obern Ende am Hinterleibe, so daß sich dieser nach unten senkt. Für die Ammenameise würde vielleicht der Name Hängebusen besser passen – ganz richtig wäre er auch nicht, denn ihre Brust ist so striff und straff, daß jede Spreewälder Amme höchst neidisch werden kann.

 

Freilich weiß jede Ameise, daß die Kindlein auch recht gut – schmecken. Alle Ameisen sind große Freundinnen solcher Leckerbissen; die erbeutete Brut fremder Völker wird mit Wonne verzehrt. Aber auch die eigene, Brut muß gelegentlich herhalten; häufig genug wird ein eben gelegtes Ei sofort wieder verzehrt, auch werden die Larven mit Eiern gefüttert. Das ist gewiß recht kannibalisch; doch finden wir diese Erscheinung überall in der Tierwelt. Vögel, die gelegentlich ihre Eier verzehren, hochstehende Säugetiere, die ihre eben geborenen Jungen auffressen – und zumal in der Gefangenschaft – gibt's überall. Auch dem Menschen ist der Gedanke durchaus nicht fremd: wie er in grauer Vorzeit den Göttern jahraus, jahrein Kinder schlachtete, so fraß er sie gelegentlich auch selbst auf. Besteht doch die ganze Sippschaft der griechischen Stammgötter aus aufgefressenen Kindern! Hera, Demeter, Hestia, Pluton, Poseidon waren von ihrem freundlichen Vater Kronos verspeist worden und verdankten nur dem Umstande ihre göttliche Unsterblichkeit, daß Väterchen, dem der jüngste Sproß Zeus ein gutes Brechmittel eingab, sie alle miteinander wieder ausspie. Eine Sage – gewiß! Aber kein Sang und keine Sage ward je ersonnen, die nicht irgendwie auf dem fußte, was Menschen taten.

Beleckt werden die Eier stets. Es ist möglich, daß der Speichel von den Eiern aufgesogen wird – das würde das Wachsen der Eier erklären, das in einzelnen Fällen beobachtet wurde. Gewiß ist, daß der Speichel fäulnishindernd wirkt und die Eier vor Verschimmelung schützt, ferner daß dadurch die sehr kleinen Eier aneinander kleben und so leichter in größeren Packen hin und her getragen werden können.

Die Larve schlüpft aus dem Ei ohne Augen und ohne Beine, aber mit einem gutentwickelten Munde. Sie zeigt eine ausgezeichnete Eßlust – je besser sie gefüttert wird, um so stattlicher entwickelt sie sich. Manche Ameisen geben ihren Larven nur flüssige Nahrung, während andere ihnen all das geben, was sie selber essen. Fleischfressende Ameisen verabfolgen unbedenklich Fleischnahrung, geben kleine Insekten oder Teile größerer, während die strengen Vegetarianerinnen unter ihnen ihren Larven nur Pflanzennahrung reichen und die Gemischte-Nahrung-Vorziehenden ihnen alles vorsetzen.

Manche Ameisenarten haben nackte Larven; die meisten aber sind, in der verschiedensten Weise, behaart. Diese Behaarung erfüllt einen vielfachen Zweck. Sie schützt alle Larven davor, gleich auf dem zu feuchten Boden zu liegen, sie schützt jede einzelne davor, von der gefräßigen Nachbarin angeknabbert zu werden. Die Behaarung dient auch dazu, die Larven aneinander zu packen, wenn bei drohender Gefahr die Arbeiterinnen gleich mehrere auf einmal wegschleppen müssen.

Ist die Larve voll ausgewachsen, so beginnt sie sich zu verpuppen. Die Larven mancher Arten umspinnen sich mit einem Kokon, andere verzichten darauf; ja, bei derselben Art gibt es Spinnerinnen und Nichtspinnerinnen unter den Larven, sodaß wir manchmal in demselben Nest nackte und eingesponnene Puppen finden. Auch bei dem Einspinnen der Larven helfen die Arbeiterinnen. Sie betten sie in die Erde oder bedecken sie mit Sand oder Holzstückchen, die die Larve benutzen kann, um ihre Fädchen daran zu befestigen. Die Larve bewegt den Kopf hin und zurück und umgibt sich mit einem feinen Gespinst. Ist sie damit fertig, so wird sie sorgfältig ausgegraben; alle Körnchen werden aus dem Gespinste entfernt. Solche eingesponnenen Puppen nennt der Sprachgebrauch fälschlich »Ameiseneier«.

In diesem Gespinst entwickelt sich die Larve zur Ameise. Aber heraus kann sie – von wenigen Fällen abgesehen – wieder nur mit Hilfe der Arbeiterinnen. Diese öffnen die Hülle, sodaß das junge Tier herausschlüpfen kann; sie befreien sie auch von der eigentlichen Puppenhaut.

Die Ameise wird also nicht weniger als dreimal geboren – und jedesmal steht ihr eine Hebamme hilfreich zur Seite. Ohne die Pflege der Älteren würde jede junge Ameise elendiglich zugrunde gehn – auch die junge Ameise bedarf noch sehr der Pflege, bis ihr Chitinpanzer erhärtet ist.

 

Sehr verschieden ist die Zeit der Entwicklung. Das Wachsen im Ei dauert eine Woche bis zu fünf Wochen; das Larvenalter ist oft viel länger. Verpuppen sich die Larven noch im späten Sommer, so dauert das Larventum vier bis zehn Wochen; überwintern sie dagegen, so mag es viele Monate währen. Ähnlich ist es mit der Puppenzeit; sie beträgt drei bis vier Wochen, aber sehr viel länger, wenn die Puppe als solche überwintert. Auch die junge noch weiche Ameise benötigt, bis ihr Panzer erhärtet ist, bis sie also recht eigentlich als erwachsen angesprochen werden kann, noch einige Wochen.

Entsprechend dieser langen Jugendzeit, ist auch das gesamte Alter der Ameisen ein recht bedeutendes. Das Männchen freilich hat nur eine sehr beschränkte Lebensdauer; es stirbt fast immer, nachdem es seine Pflicht erfüllt hat, also nach der Hochzeit, die bei einigen Arten allerdings erst im nächsten Frühling stattfindet. Bleiben einige Männchen im Neste zurück, so werden sie schlecht behandelt und wenig gefüttert; hie und da sogar hinausgetrieben oder getötet. Viel länger leben die Arbeiterinnen; ich hielt eine über drei Jahre lang in einem künstlichen Neste – einige Forscher haben eine Lebensdauer von beinahe sieben Jahren festgestellt. Königinnen können noch viel älter werden: man hat ein Alter bis zu sechzehn Jahren feststellen können – eine ganz erstaunliche Lebensdauer in der Insektenwelt.

Jungfernzeugung

Hochzeit ist nötig, um Kinder zu kriegen – oder doch wenigstens, was man so Hochzeit nennt; man braucht ja nicht gerade erst den Herrn Pfarrer oder den Herrn Standesbeamten zu bemühen. Nein, die beiden hat wirklich kein Jungfräulein nötig – wohl aber eines: den Mann.

›Armes Mädchen!‹ denkt die Ameise.›Das Männchen brauchst du? Na, und wenn keins da ist?‹

›Dann kann ich eben keine Kinder kriegen!‹ gesteht das Menschenfräulein.

Da lacht die Ameise. Sowas Dummes kann sie sich garnicht vorstellen, daß jemand zum Kinderkriegen stets ein Männchen benötigt. Mit Männchen geht's gewiß – aber warum soll's ohne Männchen nicht gehn? Selbst ist das Weib, denkt sie, und jedes Weibchen kann ganz allein soviel Junge bekommen wie es nur haben will.

Das ist doch kinderleicht – nicht einmal ein richtiges Weibchen ist dazu nötig. Selbst eine Arbeiterin kann's, obwohl die gleich nur ein halbes Weibchen ist.

Ja, da können die Menschenfrauen noch manches lernen. Es ist doch so einfach: die Blattlaus hat's begriffen und die Ameise, da sollte man meinen –

 

In der Tat nehmen bei den Ameisen manchmal Arbeiterinnen die Obliegenheiten der Königin auf; wir sprechen dann von weibchenähnlichen Arbeiterinnen: diese zeichnen sich von den gewöhnlichen Arbeiterinnen nur durch den größeren Hinterleib aus. Es kommt dies bei einigen Arten vor, wenn einem Volke die Königin starb; Arbeiterinnen ziehen dann durch besonders reichliche Nahrungsgabe – eine ihrer Schwestern so heran, daß sie Eier zu legen vermag. Wohl verstanden: stets eine Erwachsene; die Annahme, daß die Art oder Menge der den Larven gereichten Nahrung, ähnlich wie bei den Bienen, einen Einfluß auf die zukünftige Form haben, ist durch nichts bewiesen – vielmehr ist anzunehmen, daß die spätere Geschlechtsform des einzelnen Tieres schon in der Keimanlage vorhanden ist. Eine solche Arbeiterin feiert nicht Hochzeit, wird also nicht befruchtet vom Männchen. Aus den Eiern, die sie legt, entwickeln sich im allgemeinen nur Männchen, doch ist es falsch, daß dies eine stets geltende Regel sei. Ich selbst habe in einem künstlichen Neste, in dem sich nur Arbeiterinnen befanden, Eier erhalten, aus denen sich nicht nur Männchen sondern auch Arbeiterinnen entwickelten, allerdings keine Weibchen.

Hier möchte ich die Ansicht nicht unwidersprochen lassen, daß bei einigen Arten die Form der Königin völlig verschwunden sei und an ihre Stelle dauernd weibchenähnliche Arbeiterinnen getreten seien. Eine solche Annahme kann nur auf einem Denkfehler beruhen. Entweder nehmen diese Arbeiterinnen in jeder Beziehung die Tätigkeit des echten Weibchens auf, das heißt: sie verzichten auf dauernde Jungfernzeugung, besitzen eine Samentasche und lassen sich von Männchen befruchten: dann ist nicht der geringste Grund vorhanden, sie nicht als wirkliche Weibchen, als Königinnen anzusprechen. Oder aber sie bleiben den Männchen fern, bleiben Arbeiterinnen, die in Jungferngeburt Eier legen, aus denen sich neben Männchen und den gewöhnlichen Arbeiterinnen wieder weibchenähnliche Arbeiterinnen entwickeln und die sich ihrerseits auch auf Jungferngeburt beschränken würden. Dann aber müßte nach einer Anzahl von Geschlechtern die Art aussterben, da wir im ganzen Tierreiche von der Amoeba angefangen keinen Fall kennen, in welchem eine unbegrenzte Jungfernzeugung – oder auch nur eine unbegrenzte Teilung – möglich wäre: die natürliche Paarung der Geschlechter muß immer zwischendurch wieder einsetzen.

Dauernd darf also das eigentliche Weib nicht fehlen; bei irgendeiner Generation müssen neben den Männchen auch echte Weibchen auftreten, die eine regelrechte Hochzeit machen.

Auch das echte Weibchen, die Königin, kann in Jungfernzeugung Eier legen, tut das sogar jeden Tag und bringt dabei das Kunststück fertig, Jungferneier zu legen, obwohl sie gar keine Jungfer mehr ist. Sie ist für ihr ganzes Leben befruchtet, trägt den männlichen Samen in ihrer Tasche mit sich herum und vermag die zu legenden Eier jeweils daraus zu befruchten oder nicht. Legt sie ein nicht befruchtetes Ei – so entsteht ein Männchen; diese Männchen sind also jungfräulich – von einer Nichtjungfrau – geborene Wesen!

Die Ameisen scheinen die ganze Frage der Jungfernzeugung noch nicht so recht gelöst zu haben. Das Volk der Blattläuse ist ihnen darin weit über. Wir finden nur Weibchen, die alle Eier legen – aus diesen unbefruchteten Eiern wachsen wieder nur Weibchen heran. Das geht so durch manche Geschlechter, bis zum Ende des Sommers plötzlich ein Geschlecht heranwächst, das Männchen und Weibchen zugleich hat, die sich ordentlich begatten und also die regelmäßige Einrichtung der Jungfernzeugung unterbrechen: ihre Nachkommen sind dann wiederum nur Weibchen. Das ist logisch und folgerichtig – was aber soll die Regel der Ameisenheit, daß aus Jungferneiern fast nur Männchen – und gar keine Weibchen – entstehn?? Die Männchen sind doch bei der Einrichtung der Jungfernzeugung vollkommen überflüssig; sind nur unnütze Fresser, die dem Volke zur Last fallen!

Kein Wunder also, wenn die eierlegende Arbeiterin ihre frisch gelegten Eier – aus denen ja meist doch nur ein unnützes Männchen sich entwickeln kann – in den meisten Fällen gleich wieder auffrißt, sodaß nur ganz wenige davon zur Entwicklung kommen.

Da sind noch manche Rätsel. Es ist schon so: allzuviel wissen wir nicht über die Jungfernzeugung, weder bei den Ameisen, noch – bei den Menschen.

Die Ameisen von Spangenberg

Der Wiener Professor der Phytopaläontologie – kein Mensch weiß, was das ist, und ich würde es auch nicht wissen, wenn er mir's nicht selbst gesagt hätte – also dieser gelehrte Herr kam zu mir mit einem dicken alten Sagenbuch. Da sei eine Geschichte drin, sagte er, die müßte ich unbedingt verwerten. Er hat mich bestochen mit drei Glas Whisky – leider bin ich bestechlich – und also hab' ich's ihm versprochen. Und darum muß ich die Geschichte jetzt hierhersetzen.

 

Im Schlosse zu Spangenberg in Hessen kann man bis auf den heutigen Tag am Laurentiustage, dem 10. August, eine merkwürdige Erscheinung beobachten. Man sieht nämlich große Scharen geflügelter Ameisen durch den Schornstein, welcher auf der inneren Vorderpforte durch den Turm geht, herab ins Schloß fallen; sie kriechen dann auf dem Schloßplatz herum, sterben endlich und geben einen üblen Geruch von sich. Über die regelmäßige Wiederkehr dieser Ameisenschar erzählt man dem Besucher des Schlosses folgende sonderbare Geschichte:

Es wohnte vor langen, langen Jahren auf Schloß Spangenberg ein mächtiger Graf, dem alle Dörfer im Umkreise gehörten und der nebenbei ein eifriger Jäger war. Er hatte eine sehr schöne junge Frau und bei dieser zu ihrer Bedienung einen Edelknaben, der leider gegen die Reize derselben nicht gleichgültig blieb und seine Gefühle offenbar an den Tag legte. Sein Herr hatte mehrmals Gelegenheit gehabt, dies wahrzunehmen und ihm auch in Folge davon die ernstesten Warnungen zugehen lassen, allein sei es, daß er hoffte, seinen Zweck zu erreichen, oder daß er zuviel von der Nachsicht seines Gebieters erwartete, er schlug alle Vorsicht in den Wind und wagte es auch fernerhin, die Gräfin mit seinen frechen Anträgen zu verfolgen. Pflichtgetreu setzte sie ihren Mann davon in Kenntnis, dieser ließ ihn festnehmen und ins Burgverließ werfen. An einem der folgenden Tage ließ er seine Freunde und Nachbarn zu einer großen Jagd in seinen Wäldern am Bromsberge und dem gegenüberliegenden Junkerkopfe einladen; alle erschienen; man zog hinaus in den Wald, erlegte eine Masse Wild und versammelte sich abends zur festlichen Tafel in der Halle des Schlosses. Als alles beim Becher saß, fragte der Burgherr wie zum Spaße seine Gäste, was sie wohl mit dem machen würden, der, während sie hier schmausten, zu Haus ihre Gattinnen zu verführen trachtete. Die Angetrunkenen überboten sich im Ersinnen von Martern, welche sie einem solchen Frevler antun wollten; einer aber meinte: »Ich würde einen solchen Buben nackt ausziehen, seinen Körper mit Honig beschmieren, ihn dann an der obersten Turmspitze in einem Käfig heraushängen und so von den Insekten zu Tode stechen lassen!« Das billigten die andern, ohne eine Idee zu haben, daß es sich wirklich hier um etwas Ernstes handele. Dann suchte jeder sein Lager, und am andern Morgen zogen sie wieder von Spangenberg ab, ohne die Folgen ihres grausamen Urteils zu ahnen. Der Ritter ließ nun einen geschickten Schmied aus der Stadt kommen und von diesem einen festen Käfig von starkem Eisendraht fertigen. Als derselbe gebracht wurde, holte man den Edelknecht aus seinem Kerker, entkleidete ihn, beschmierte seinen ganzen Körper mit Honig, steckte ihn dann in schweren Ketten in den Käfig und brachte diesen hinauf an die Turmspitze, wo man ihn festband. Bald sah man von unten, daß sein ganzer Leib schwarz war; das waren die unzähligen Insekten, die sich an ihn, von der Süßigkeit des Honigs angelockt, festgesetzt hatten. Ihre Stiche, unlöschbarer Durst und die senkrecht auf seinen Scheitel herabfallenden Strahlen der Augustsonne machten ihn wahnsinnig und töteten ihn in wenigen Tagen. Da diese schauervolle Bestrafung gerade am Tage des heiligen Laurentius vorfiel, so hat man das Erscheinen der schwarzen Ameisen, welche seit jener Zeit gerade an diesem Tage regelmäßig erst in einer schwarzen Wolke über jener Turmspitze hängen, dann auf einen nebenan aus dem Dache hervorragenden hohen Schornstein fallen und durch diesen sich in solchen Massen in die Gemächer und Säle des Schlosses verbreiten, daß sie oft zollhoch den Fußboden bedecken und nach ihrem bald erfolgenden Absterben in große Haufen zusammengekehrt und auf den Mist geworfen werden, hiermit in Verbindung gebracht. Der Drahtkäfig soll übrigens bis zu Ende des vorigen Jahrhunderts noch im Schlosse vorhanden gewesen, dann aber von einem Kommandanten verkauft worden sein.

 

Dies ist eine sehr moralische Geschichte; man kann daraus lernen, daß man tugendhaften Ritterfrauen nicht zu nahe treten soll, wenn man sich nicht Unannehmlichkeiten übelster Art aussetzen will. Auch ist die Sage gar nicht unwahrscheinlich; die Todesstrafe durch Ameisen kam überall vor und war bei einigen Indianerstämmen jahrhundertelang sehr beliebt. Nur muß man dann schlauer sein als der Herr Ritter: seine geflügelten Ameisen waren alle Männchen – die tun niemandem etwas zuleide. Freilich, wenn man in glühender Sonnenhitze hoch oben am Turm hängt und so fest in dem Käfig angekettet ist, daß man nicht mal den Honig abschlecken kann, mit dem man beschmiert ist, dann geht man auch ohne ameisliche Hilfe bald zugrunde.


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