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Eine Zeitlang wollten in unserm Vaterland nach dem großen Vorbild von Leipzig alle Städte bei uns ihre eigene Messe haben. Was dort an der Pleiße durch eine Jahrhunderte währende Gewohnheit und Übung entstanden war, das sollte nun plötzlich auch in anderen Plätzen, die man zu wichtigen Mittelpunkten irgendwelcher Kreise oder Belange erklärte, durchgeführt werden. So geschah es, daß auch Wesel sich als Hochsitz niederrheinischen Handels und Verkehrs für eine Weile als Messestadt bezeichnete. Indessen blieb zunächst der starke Zuzug aus Holland, den man erwartet hatte, aus. Die Väter der Stadt waren der Hoffnung gewesen, daß Wesel, das ehedem als Vorort der Reformation am Niederrhein gegolten hatte, wieder zum Mittelpunkt holländischen Treibens werden könnte, wie es als »Vesalia hospitalis«, als gastliches Wesel einst als Zufluchtsort vertriebener Holländer hochgeachtet worden war. Aber die heutigen niederländischen Nachbarn schienen nach dem Weltkrieg von Anfang an kein so starkes Zutrauen zu der Bedeutung des kleinstädtischen Wesels zum Sammelplatz einer neuzeitlichen, großen Messe zu haben. Und sie erschienen fürs erste nur recht schütter zu dieser weltumwälzenden Begebenheit. Unter den wenigen Gästen aus Holland, die sich nun in der niederrheinischen Stadt eingefunden hatten, war auch ein Herr van Dongen mit seiner jungen, aber bereits recht rundlichen Ehefrau. Sie stammten beide aus der frommen und sittenstrengen Gegend von Roermond an der Maas und waren schon eine geraume Zeit miteinander verheiratet, ohne freilich bisher Kinder erzielt zu haben.
Was sie hierhergebracht hatte, war eigentlich ein verlockender, schreiender Anschlag, den Mynheer van Dongen und Frau auf dem Bahnhof von Roermond gesehen hatten. Auf diesem Anschlagzettel war die Messe in Wesel angekündigt und in einigen vielversprechenden Anpreisungen dafür Stimmung gemacht. Das Ehepaar, das auf einen Zug warten mußte, hatte sich den bunten Zettel mehrfach betrachtet und schließlich Lust bekommen, die kleine Reise nach Wesel zu unternehmen. Der Mann konnte sich gut ein paar Tage vor dem Winter im Geschäft freimachen, zumal sich vielleicht bei der Gelegenheit neue gewinnbringende Verbindungen anknüpfen ließen. Und solch ein kurzer Rutsch im Herbst, der einen wieder einmal von allen Haussorgen losspannte, war auch für Frau van Dongen ein höchst erwünschter Zeitvertreib.
Sie fuhren also mit der Eisenbahn bis Düsseldorf und von dort mit dem Dampfer den Rhein hinunter nach Wesel. Auf dieser Schifffahrt biederte sich ein junger deutscher Kaufmann, namens Zurlinden, mit dem holländischen Ehepaar an. Er wollte gleichfalls die Messe in Wesel besuchen und leistete, da er von vielen Reisen die niederrheinische Gegend auswendig kannte, den beiden Holländern zunächst gute Führerdienste, indem er ihnen die Städte und Dörfer bezeichnete, an denen man mit dem Schiff vorüberfuhr. Besonders die gewaltigen Fabrikanlagen zu beiden Seiten des Stroms, aus deren Riesenschloten ein schwarzer Rauch ständig das Wort »Arbeit« in den Himmel schrieb, flößten dem fremden Ehepaar eine hohe Achtung ein. Und als man gar an etlichen Stahlöfen vorbeitrieb, deren Feuersäulen ihre roten Zungen in die Luft streckten, daß man auf dem Dampfer die Hitze von ihnen verspürte, artete die Ehrfurcht der holländischen Landbewohner vor diesen lodernden Zeugnissen des Menschenfleißes in helle Bewunderung aus. Die wenigen Landschaftsbilder, die sich mit fetten Wiesen und Pappeln und weidenden Kühen noch zwischen die Arbeitsstätten am flachen Niederrhein dehnten, vermochten kaum noch Eindruck auf die Fremden zu machen. Das hatten sie zu Hause genug, gelbsandige Flußböschung, grüne Weideplätze und Bäume und buntes Vieh. Ja, bei ihnen lag dies alles sogar meist viel klarer in der Seeluft da, als hier am untern Rhein, dessen Landschaft im Sommer leicht ein wenig dunstig und verschleiert erscheint.
Der junge deutsche Kaufmann war über der Fahrt immer betulicher geworden und unterhielt das junge Paar auf eine muntere Weise höchst vorzüglich. Er begann sich mehr und mehr in die üppige Holländerin zu vergucken, deren wohlbeleibte, aber gutgewachsene Gestalt ausgezeichnet zu ihrem offenen, runden Gesicht paßte, das zwei dicke Backen hatte, in die er gern einmal wie in einen leckern Apfel hätte hineinbeißen mögen. Um nicht die Eifersucht des etwas schläfrigen und bequemen Gatten zu reizen, bemühte sich Zurlinden, ihn mindestens ebensogut aufzuheitern wie seine rosige Ehefrau.
Es wurde über Mittag so warm und windstill, daß sie zu dritt oben auf dem Verdeck des Schiffes speisen konnten. Der zarte, hellrote Rheinsalm, gewürzt durch eine feingeschnittene grüne Gurke, die sie dazu bekamen, mundete ihnen allen so vorzüglich, daß sie den Fisch zum zweiten Male anrichten ließen und lieber auf das Fleisch verzichteten. Zwei Flaschen Rüdesheimer Berg, die sie mit dem Fisch, der ihnen im Gaumen mit dem Wein zerfloß, hinunterspülten, taten das ihrige, sie in vergnügte Laune zu bringen. Immer lebensfroher schauten sie alle drei in die gelbgrünlichen Wellen des Stroms, an dessen Ufern, dort, wo sie noch bergig sind, dieser goldklare Wein gewachsen war. Einige dicke Schnitten alten holländischen Käse, in dessen rote Kugel man dem fremden Ehepaar zu Gefallen eine kleine Papierfahne in den niederländischen Landesfarben gepickt hatte, stillten den letzten Hunger und trugen den Rest dazu bei, die drei Leutchen still glücklich zu machen.
Das gute, deftige Essen und noch dazu der ungewohnte, schwere Wein hatten den Mynheer van Dongen ein wenig ermüdet. Auch der Kaffee, den man ihnen jetzt darreichte, konnte ihn nicht dieser Mattigkeit entreißen, die bei ihm durch die laue Luft und die schaukelnde Bewegung des Flusses immer stärker wurde. Der junge Herr Zurlinden, der bemerkte, wie der feiste Holländer mit dem Schlafe rang, schlug ihm vor, sich doch eine Weile in einen der Liegestühle auszustrecken, die oben für die Mittagsruhe der Fahrgäste bereitstanden. Sie, die hier Verbleibenden, würden ihn, wie er lachend hinzufügte, schon wecken, wenn sie Wesel erreicht hätten. Schlimmstenfalls würde Mynheer in Holland als in seiner Heimat aufwachen, und das gäbe dann eine freudige Überraschung für ihn.
Van Dongen stimmte etwas schwerfällig in die Heiterkeit Zurlindens ein, warf noch einen schläfrigen Blick auf seine durch das Gespräch belustigte Gattin, die von dem Genuß des Weins wie eine vollerblühte Rose glühte, und beschloß dann, dem Rat des jungen Deutschen zu folgen. Binnen kurzem hörten die beiden Zurückgebliebenen den Holländer in seinem Liegestuhl ein sanft schnarchendes Geräusch erheben, das nur durch den stärkeren Lärm der Schiffsmaschine im weiteren Umkreis übertönt wurde. In der Verlegenheitspause, die durch den Aufbruch van Dongens entstanden war, schlug Zurlinden der jungen, wohlgenährten Holländerin vor, einen kleinen Wandelgang um das Deck des Schiffes zu unternehmen. Erstens sei dies der Gesundheit zuträglich, zweitens mache es einen wieder frisch, und drittens trage es dazu bei, wie er mit einem wohlgefälligen Blick über die Rundungen der Holländerin bemerkte, einen schlank zu erhalten.
Es entspann sich nun im Umherwandern zwischen den beiden ein Gespräch über die Nachteile und Vorzüge der Körperfülligkeit. Im Verlauf solcher stets pricklichen Unterhaltung zwischen den beiden Geschlechtern gelang es dem jungen Deutschen, eine Reihe von Artigkeiten und Lobsprüchen über die Feistigkeit an die immer reizvoller auf ihn wirkende üppige Frau van Dongen loszuwerden. Schließlich, nachdem sie ein paarmal das Schiff umkreist hatten, wußte Zurlinden es so zu drehen, daß sie, scheinbar ganz zufällig und zwanglos, hinunterkletterten und sich, müde des Anblicks der gleichförmigen, flachen Flußlandschaft, die untern Räumlichkeiten des Schiffes betrachteten.
In dem großen, niedrigen, weißgelackten Speiseraum, in dem zwei Reihen gedeckter Tische standen, lagen ein paar Reisende auf den roten Polstern, die an der Längsseite entlangliefen, Sie schienen samt und sonders in der schweren öligen Luft der Kajüte ein Verdauungsschläfchen zu halten, bis auf drei Herren, die im Hintergrund ganz vertieft in ihr Kartenspielen dasaßen. Neben diesem Speiseraum befand sich noch eine kleinere Kammer, die für Raucher bestimmt war. In diese gelang es Zurlinden mit Leichtigkeit Frau van Dongen hineinzuführen; einmal, weil er selbst noch die brennende Zigarette in der Hand hielt, und dann, weil in dem großen Raum ein süßlicher Geruch nach soeben abgetragenen Speisen herrschte.
In dem engen Rauchzimmer waren die beiden ganz allein; nur die Flußwiesen, die Bäume und die gelegentlichen Schiffe, an denen man vorbeikam und die sich in den Spiegeln rings um die Kajütenwände abmalten, schauten herein. Sonst niemand. Der junge Deutsche hatte seine hübsche Gefährtin auf das Sofa geschmeichelt; er selbst nahm neben ihr Platz, nahe der Türe, die er, damit sie beide nicht überrascht werden könnten, unten mit seinem Fuß fest zuhielt. Und plötzlich, ohne weitere Vorbereitungen, begann er das rote, saftige Gesicht und die weichen Lippen seiner Nachbarin mit Küssen zu bedecken. Er hatte dies aus den Filmstücken, die er gesehen, gelernt, daß man bei einem derartigen Vorhaben am besten möglichst wenig Worte gebraucht, sondern lieber gleich zu Taten übergeht.
Die Holländerin ließ sich merkwürdigerweise seine hastigen Liebkosungen ruhig gefallen. Aber das Allermerkwürdigste für den jungen Zurlinden war dies, daß sie wohl alle seine Küsse, die er ihr in kurzer Zeit zahllos aufbrannte, hinnahm, aber dieses ganze Heer von Zärtlichkeiten, das er da gegen sie losrücken ließ, ihrerseits nicht mit einem einzigen Kuß erwiderte. Diese sonderbare Ablehnung und Kühle war es auch, die den Deutschen nach und nach von einer weiteren Ausdehnung seiner Beteuerungen und Berührungen abhielt. Denn schließlich ermüdet sich eine einseitig bleibende und unbeantwortete Liebe bei einem gesunden jungen Menschen, sofern er kein bloßer Anschmachter ist, in der Regel ziemlich schnell. Was ihm nebenbei noch auffiel, war dies, daß die junge, blühende Holländerin, der er jetzt doch mehrfach so nahekam, daß er die ihr reizend stehenden Sommersprossen um ihre hellen Fischaugen abzählen konnte, wie eine duftlose Zierblume ohne jeden Geruch in seinen Armen lag. Der Geruch der Frauen war ihm aber stets das Anziehendste an diesem andern Geschlecht, und er vermißte ihn schmerzlich bei dieser neuen, halben Eroberung, die er da gemacht hatte, ohne sich recht an ihr erfreuen zu können.
»Warum küßt du mich nicht wieder?« fragte er schließlich, der einseitigen Zärtlichkeiten überdrüssig, mit denen er diese offenbar empfindungslose, kühle Schöne beschoß. Da seufzte Frau van Dongen tief auf und setzte ihm nach einigem Stocken auseinander, daß sie ihren Mann niemals betrügen könne und werde. Es sei ihr – sie unterdrückte dabei ein »leider!« – unmöglich, jemanden zu hintergehen und sich einem andern Mann auf flüchtige Zeit hinzugeben. Auf die Dauer einer Ehe aber würde er, so meinte sie lächelnd zu ihrem jungen, deutschen Freund mit Bezug auf seine kurze Zuneigung zu ihr, es doch nicht gleich abgezielt haben. Zudem sei sie auch glücklich mit Herrn van Dongen verheiratet, im großen und ganzen wenigstens, bis auf eine allerdings nicht ganz unwichtige Kleinigkeit, daß nämlich ihr etwas bequemer Gatte bei der Liebe nur an sein eigenes Wohlbefinden und nicht an das ihrige denke. Sie trug diese kleine Ehegeschichte mit so viel Anmut und Zartheit und Rücksicht für ihren dicht über ihnen auf dem Verdeck schlafenden Gemahl vor, daß Zurlinden einen rechten Neid auf diesen Büffel bekam und beinahe Lust verspürte, förmlich und auf Lebenszeit um die Hand einer solchen feinfühligen und gefälligen Frau anzuhalten.
Die Holländerin aber wehrte diese letzte, doch wohl auf seiner Seite nicht ganz ernstgemeinte Huldigung ab, indem sie ihn fragte, ob er sich nicht einmal mit ihrem Gatten über diesen Punkt unterhalten könne. Ihr selbst sei es zu peinlich, weil ihr fromm erzogener Mann sonst gar noch Schlechtes von ihr denken könne. Aber Männer sprächen doch untereinander offen über alles mögliche und brauchten sich nicht voreinander zu schämen. Falls es ihm gelingen sollte, ihren Gatten schonungslos auf diesen einzigen Mangel in seiner Liebe aufmerksam zu machen, so verspräche sie ihm einen Kuß, den ersten, den sie einem Mann, außer ihrem Ehegemahl, bisher gegeben habe. Wenn ihm also so viel an einer solchen Liebkosung gelegen sei, wie er ihr beteure, so möge er sie sich verdienen. Sie gelobe ihm – und damit erhob die junge Holländerin ihr dickes, weißes Händchen schelmisch, aber doch ernsthaft zum Schwur vor dem Deutschen in die Höhe – diesen Kuß als höchste Auszeichnung, die sie an ihn zu verleihen habe. Worauf Zurlinden, auf ihren Ton eingehend, ihr ebenso feierlich versprach, diese Kommission, um die sie ihn gebeten hatte, auszuführen.
Hiernach nestelte sie sich sanft von weiteren Liebesbezeigungen des jungen Herrn los, die wie einzelne Regentropfen nach einem großen Guß noch auf ihre Wangen und Lippen fielen, und bat ihn, sie auf das Verdeck und zu ihrem schlummernden Gatten zurückzugeleiten. Dieser erwachte über ihrem Herankommen, weil die Schiffsglocke laut die baldige Landung in Wesel ankündigte. Jedesmal vor einer Haltestelle begann man nämlich auf dem Dampfer dies eintönige Geläute zu erheben. Und schon stach aus dem Nachmittagsnebel der hohe, spitze, neue Turm der Kirche des heiligen Willibrord, des Schutzherrn von Wesel, hervor.
Schnell wuchs die Stadt mit ihrem wirren, steinernen Gesicht, das sie dem Rhein zuwandte, dem auf sie zutreibenden Schiff entgegen, so schnell, daß man kaum noch eine längere Unterhaltung anspinnen konnte, geschweige denn eine von so heikler Art, wie sie dem jungen Deutschen von der fülligen Holländerin zugemutet worden war.
Jetzt stieß der Dampfer mit einem kräftigen Ruck, von dem alle ins Wackeln gerieten, an die Landungsbrücke. Und jeder beschäftigte sich, den nahen Aufbruch vor Augen, mit seinem Gepäck, auf das eine Schar von Dienstmännern, oder wie man hier sagt »Rheinrollern«, die sich über den Steg auf das Schiff stürzten, bereits erpicht auf Trinkgelder, lauerte. Zurlinden hatte dem jungen Paar den »Hof von Holland« zur Unterkunft empfohlen. Die beiden Holländer waren schon aus Rücksicht auf diesen ihnen angenehmen Namen gern bereit, diese Herberge zu wählen, in der Zurlinden seit Jahren einzukehren pflegte.
Man trennte sich jetzt voneinander mit der Verabredung, das Abendessen wieder gemeinsam einzunehmen. Beim Abschied sandte Zurlinden der üppigen Holländerin einen Blick zu, der halb nochmaliges Einverständnis, halb Entschuldigung besagte. Entschuldigung dafür, daß er im Gewirr, das um die Ankunft in Wesel entstanden war, nicht gleich die rechte Zeit noch Stimmung dafür gefunden hatte, den Ehegatten van Dongen sich einmal vorzunehmen und über das aufzuklären, woran er es bei seiner allerliebsten Gemahlin hapern ließ. Das war überhaupt nicht so leicht, wie der junge Deutsche beim Abendschmaus aufs neue merkte, wo sie sich mehrere Speckpfannekuchen mit dickem, süßem Beiguß nach der Sitte des Landes schmecken ließen. Denn wie sollte ein solcher Aufklärungsversuch eingefädelt werden, ohne daß Zurlinden die Schicklichkeit gefährdete, auf die der unter der Zucht geistlicher Herren aufgewachsene Holländer großen Wert legte. Auch ging es ja schon aus Ritterlichkeit unter keinen Umständen an, daß Zurlinden etwa als im Auftrage der Frau van Dongen ihre Beschwerde vorbrachte. Sie wären ja beide in des Teufels Küche gekommen, wenn der Deutsche also vorgegangen wäre.
Ein verflucht schwieriger Auftrag, dachte Zurlinden, und jedenfalls die verzwickteste Kommission, die er unter allen seinen Geschäften für Wesel übernommen hatte. Anderseits war er schon als Kaufmann, dank einer sehr strengen Lehrzeit, derart gewissenhaft, daß er Aufträge, die ihm zuteil geworden waren, höchst ungern nicht »perfekt machte«, wie es in seiner Kaufmannssprache hieß. Er versuchte also ein paarmal, das Gespräch auf Ehe- und Liebesdinge zu steuern. Aber Mynheer van Dongen lenkte ebenso häufig die Unterhaltung von solchen verfänglichen Sachen wieder ab. So verging das Nachtessen und verging auch das Stündchen, das sie zu dritt hinterher noch in einem Lichtspielhaus verbrachten – denn die große Ziele verfolgende Messestadt Wesel hatte keine andere höhere Zerstreuung als diese zu bieten –, ohne daß der junge Deutsche die Aufgabe, die ihm zugeschoben war, erfüllt und sich dem zum Lohn versprochenen Kuß seiner Holländerin nur einen Zoll mehr genähert hatte. Ärgerlich darüber, daß ihm etwas Derartiges wie solch ein Auftrag von einer Frau erteilt worden war, haute sich der von der Fahrt noch müde Zurlinden früh in sein einsames Bett. Er schlief unmittelbar neben dem holländischen Ehepaar und konnte durch die nicht sehr dicke Wand vernehmen, wie der Mynheer sich schlafmützig unter lautem Gähnen, das seine noch muntere Gattin vergebens wegzuplaudern suchte, zur Ruhe begab. Bald denn hörte er auch aufs neue jenes gleichförmige Sägen des Holländers, das ihm schon vom Dampfer her bekannt war, das aber hier, wo kein Schiffslärm es milderte, viel lauter als über dem Rhein ertönte.
Zurlinden versuchte durch ein gewaltsam hervorgebrachtes Husten und Räuspern den nächtlichen Verkehr mit Frau van Dongen aufzunehmen. Doch die Holländerin gab ihm nur einen sehr vorwurfsvoll klingenden, kurzen Räusper zurück, der ungefähr besagte: »Hören Sie! Wenn dies das ganze Ergebnis Ihrer Bemühungen für mich ist, so können Sie mir gestohlen bleiben!« Dann schwieg sie und folgte dem Beispiel ihres bereits tief schlafenden Gatten, ohne freilich sein Schnarchen nachzuahmen, das den noch immer wachen Zurlinden mehr und mehr zur Verzweiflung brachte.
Den ganzen andern Tag bekam der junge Deutsche seine Holländer kaum zu sehen. Er hörte nur noch, wie der fromme van Dongen ziemlich laut sein Morgengebet sprach, das ihm in der Schulandacht eingedrillt worden war. Und während Zurlinden noch bei sich dachte, wie verkehrt es wäre, daß man die Menschen zu dem unsichern Aufenthalt im Himmel gründlichst vorbereite, aber zu dem Himmel auf Erden, wie es die Ehe sein soll, kaum recht erzöge, duselte er selber wieder ein. Da er in der Nacht wenig Ruhe neben dem schnarchenden Holländer gefunden hatte, wurde sein Schlummer immer fester und länger, also daß er ein Loch in den Tag hineinschlief.
Mynheer van Dongen, in dem der nüchterne, weltkluge Niederländer erwacht war, wandelte indessen mit seiner Frau von einer der kleinen Ausstellungsbuden in die andere. Überall lagen Waren und Muster aus Deutschland feil, die nicht das geringste dagegen hatten, auch gegen holländische Gulden angekauft zu werden. Van Dongen, der nach dem Grundsatz handelte: »Prüfet alles und erwerbet das beste auf die billigste Weise!« verbrachte den ganzen Morgen und noch den halben Nachmittag mit der Besichtigung der Messe zu Wesel, ohne sich fest für irgend etwas entschlossen zu haben. Erst gegen Abend entdeckte der junge Zurlinden seine Holländer wieder, und zwar auf dem Jahrmarktsrummel, der sich mit der Zeit breiter als die Messe selber machte. Das heißt, zunächst sah er nur die üppige Frau van Dongen. Sie saß, etwas abgespannt von der Messe, aber doch in ihrer eindrucksvollen, schönen Gestalt hingegossen auf einem Karussellpferd, in einem blauen Kleid, das lässig über dem hölzernen Schimmel hing und ihre für sie merkwürdig kleinen, hübschen Füße sehen ließ. Ihre roten Backen lachten voll Freude über das kindliche Spiel, dem sie in ihrem Alter sich da hingab, und wetteiferten an Glanz mit den vor kurzem frisch gestrichenen Drehschaukelpferden, wenngleich ihr Gesichtsausdruck wie jene gemalten Pferdeköpfe etwas Unbelebtes hatte. Ein dicker Duft nach Lebkuchen und schmalzgebackenen Waffeln lag über dem Kirmesplatz, der von beständigem Georgel und Gedudel widerhallte. Ab und zu klang das helle Geräusch der bunten Gummibläschen, die man aufblies und dann einschrumpfen ließ, wie Hähnekrähen dazwischen.
Zurlinden trat, angelockt von der Fröhlichkeit, an die Roßmühle heran, auf der sich Frau van Dongen so kindlich vergnügte. Die ländliche Drehschaukel wurde noch in ganz alter, einfacher Weise betrieben. Ein müdes, braunes Pferd, dem man einen Pappendeckel vor die Augen gebunden hatte, damit es nicht blind oder schwindlig wurde, zog zum Klang einer mit der Hand gedrehten Orgel die Drehschaukel im Kreis herum. Und alles, das braune Pferd, die bunten, hölzernen Gäule und die vor Vergnügen gerötete, muntere Holländerin, spiegelte sich zahllose Male in den vielen, kleinen Spiegelchen wider, die, mit weißen Glasperlen umsäumt, nebst anderem Flitter, die eisernen Säulen des Karussells schmückten. Zurlinden war an das hölzerne Gerüst zur Seite der Drehschaukel herangegangen. An diesem Gerüst hing an einem Haken ein eiserner Ring, der von den Vorüberfahrenden losgelöst werden sollte. Wem dies gelang, der hatte die nächste Fahrt frei. Augenblicklich ruhte dies Nebenspiel. Einmal, weil es dem Besitzer der Schaukel nichts einbrachte, sondern ihn eigentlich nur etwas kostete. Und zweitens, weil er zur Zeit keinen Mann für seine Bedienung übrig hatte. Denn der Besitzer mußte selbst das Geld einstreichen und zudem noch seiner Frau beim Orgeldrehen helfen.
Nun machte sich Zurlinden den Spaß, das eingeschlafene Ringspiel wieder in Betrieb zu bringen, indem er sich an den Pfahl stellte, wo der Ring war, und diesen den vorüberjagenden Reitern und Reiterinnen zum Abstreifen hinhielt. Es bereitete ihm ein besonderes Vergnügen, den eisernen Reifen der vorüberfahrenden Holländerin so nahezubringen, daß sie ihn stets beinahe gefaßt hätte. Aber bei der dritten Umdrehung schien sie dies »Beinahe«, mit dem sie da gefoppt wurde, zu verstimmen. Wenigstens zog sie eine höchst abfällige Miene auf, als ihr die Freude, auf die sie gehofft hatte, den Ring zu erhaschen, immer kurz vor dem glücklichen Endziel von ihm abgeschnitten wurde. Nun erst, als er ihren Ärger merkte, mühte sich Zurlinden nach Leibeskräften, seinen schlechten Scherz wieder auszubessern und den Ring mit List und Gewalt in die kleinen, rosigen Finger der Holländerin zu stopfen, was ihm gerade, als sie das letztemal auf ihrem Holzschimmel an ihm vorbeisprengte, glücklich gelang. Jetzt konnte sie den nächsten Umschwung umsonst mitmachen. Schon wollte er der strahlenden Frau ein zweitesmal den eisernen Ring in die Hand pfuschen, da kam der Ehemann van Dongen, der sich inzwischen reichlich am Dortmunder Bier erlabt hatte, herzu und meinte mit einem Blick auf den Drehbudenbesitzer, der junge Herr Zurlinden dürfe es seiner Frau nicht zu leicht machen, sondern müsse als Kaufmann auch an den Nutzen des Unternehmers denken.
»Nein!« wehrte sich Zurlinden. »Zunächst kommt der Vorteil Ihrer Frau in Frage. Das ist ritterlich und erste Pflicht des Mannes.« Aus den ihm zustimmenden Augen der Holländerin, die ihn freudig anblitzten, merkte der junge Deutsche jetzt, daß er gerade im Begriff war, jene knifflige Frage zu berühren, um deren Behandlung die betuliche Holländerin ihn so dringend gebeten hatte. Infolgedessen gab er sich einen Ruck und fuhr fort: »Überhaupt, Herr van Dongen, sollten wir Männer mehr auf das Wohlbefinden unserer Frauen bedacht sein.«
Doch der schwerfällige Holländer schien nicht die mindeste Lust zu haben, sich diese Predigt über die nötige größere Artigkeit der Herrenwelt anzuhören oder sie gar zu beherzigen. Blöd und blind wie der braune Gaul, der hinter seinem Schutzschirm aus Pappendeckel, hinter dem er nichts mehr sah außer sich, die Drehschaukel herumzog, kreiste auch dieses zweibeinige Pferd da nur ständig um sich selber und um seinen Mittelpunkt. »Ja! Ja!« erwiderte er nur flüchtig auf den Anlauf Zurlindens und rief zu seiner Gattin herüber: »Ich bin die Dreherei hier leid. Komm' mit! Ich hab' Hunger bekommen.«
Ärgerlich half der junge Zurlinden der armen Ehehälfte dieses nur an sich und sein Wohlbehagen denkenden Holländers von der Kreiselschaukel herunter, die dicht vor ihm anhielt. Er fühlte dabei ihre volle, weiche Brust, da sie sich zu dem kleinen Sprung, den sie machen mußte, fest und dicht an ihn lehnte. Wie ein gutgefülltes Daunenkissen lag sie so eine Weile auf ihm. Doch, kaum auf die Erde gekommen, hakte sie sich gehorsam und getreu wieder bei ihrem eigennützigen Gatten ein, der nach einer kurzen und wohl nur der Form wegen abgegebenen Aufforderung an Zurlinden, einander später noch zu treffen, sein aufgeblühtes, holdes Weibchen mit sich zur Mahlzeit riß. Der einsam zurückbleibende Deutsche sah ihr noch lange nach, der üppigen, anmutigen Holländerin, die so unverführbar zu diesem frommen Koloß hielt, dem nur an seinem persönlichen Glück gelegen war. Die wenn auch nur vorübergehende Berührung mit dieser zarten, lieblichen Weiblichkeit hatte seine männliche Abenteuerlust geweckt.
Ein angenehmer Zufall trieb ihm ein Zweitmädchen aus dem »Hof von Holland« zu, ein weibliches Wesen, dessen er sich schon bei einem früheren Besuch in Wesel hatte erfreuen dürfen. Die Kleine war zwar jetzt verlobt. Aber da der Bräutigam zur Zeit verreist war, durfte sie sich nach ihrer leichtfertigen rheinischen Auffassung noch eine winzige Ausnahme erlauben. Man hatte ihr für diesen Abend zwei Stunden Urlaub gegeben, damit sie auch ein wenig von dem Jahrmarktstrubel hätte, dieser Kirmes, die sich mit der hoffentlich bald noch weltberühmt werdenden Messe in Wesel verband, ja die diese Messe vorläufig an Bedeutung überragte. Zurlinden speiste mit dem Mädchen zusammen in einem nach Rauch und Bier duftenden Zelt, das auf den Wällen aufgeschlagen war, die rings um die Festungstadt liefen. Die prachtvollen alten Bäume, die hier gewurzelt hatten, waren zu Beginn des Krieges erbarmungslos niedergehauen worden. Die Heeresbestimmungen hatten es verlangt. Und sie waren blind und unterwürfig durchgeführt worden, diese preußischen Bestimmungen, trotzdem die älteren Bürger der Stadt sich bereiterklärt hatten, für den Fall, daß Wesel als Festung in den Kriegsbereich gezogen werden sollte, binnen drei Tagen diese herrlichen Bäume sämtlich umzulegen. Nein! Sie mußten von vornherein daran glauben, die ehrwürdigen, greisen Baumstämme, wiewohl die Stadt Wesel als Festung im Kriege gar nicht in Frage gekommen war. Aber es galt, preußische Dienstvorschrift zu befolgen, auch wenn sie noch so widersinnig und zerstörerisch war. Unbewußt froh darüber, daß der enge Festungsgürtel, der sich jahrzehntelang wie ein Panzer und Brustmieder um die Stadt geschnürt hatte, gelockert war, feierte nun die niederrheinische Bürgerschaft Wesels nach kleiner Herren Weise so ausgelassen wie möglich ihre Messe und zugleich ihre Kirmes.
Zurlinden bemerkte in dem Festlärm und Qualm des langen Zeltes in einer Ecke das Ehepaar van Dongen. Der Holländer saß ihm mit dem Rücken zu. Und der junge Deutsche sah nur, wie Mynheers dicker Kopf und Hals arbeiteten, das bereits auserwählte langspännige Essen herunterzubefördern, während seine reizvolle Gattin noch in den Speisezettel vertieft war und anscheinend nicht das Richtige finden konnte, Da ihm nichts daran lag, von den beiden mit seiner Begleiterin beobachtet zu werden, flüchtete Zurlinden in einen Seitenraum des Zeltes, wo er mit seiner Holden fast allein saß und sich ab und zu mit ihr schnäbeln konnte. Diesmal freilich war dies Vergnügen anders wie in der Schiffskajüte, zweiseitig. Denn das niedliche Kammermädchen vergalt trotz ihrer Brautschaft seine Küsse durch mindestens ebenso stürmische, was Zurlinden wieder peinlich an die Zurückhaltung der behäbigen Holländerin erinnerte, die das nordpolige Gegenteil seiner jetzigen Eroberung gewesen war.
Es wurde ihm im Ablauf ihrer Unterhaltung nicht schwer, das sinnliche Kind zu überreden, heute nacht zu ihm zu kommen. Sein Zimmer kannte sie noch gut von dem letzten Besuch, den sie ihm, der in jedem Gasthof stets die Nummer Sieben als seine Glückszahl bevorzugte, abgestattet hatte. »Ich laß' dir die Türe offen. Fall nur nicht wieder über meine Schuhe!« schärfte er ihr noch ein. Und dann trennten sie sich voneinander, da der Urlaub der Kleinen früher ablief und sie schleunigst und möglichst allein heimkehren wollte. Er begleitete sie noch ein Stück über den alten Wall, »Also Punkt eins!« flüsterte er ihr mit einem letzten verschwiegenen Küßchen zu. Sie sagte nach Frauenart nicht »ja«, sondern drückte ihm nur heiß die Hand und jagte dann durch die engen Gassen der Stadt dem Gasthof und ihrem Nachtdienst zu, den sie noch besorgen mußte.
Der junge Kaufmann vergnügte sich noch ein wenig auf eigene Faust. Er schlenderte in dem laulichen Nachtwind, der vom Rhein blies, den Wall entlang. Eh' er sich's versah, war er wieder auf dem Jahrmarkt zwischen den kleinen Buden mit Moppen und anderen Herrlichkeiten, und stand er aufs neue vor dem Karussell, auf dem er soeben seine kühle, dicke Holländerin gesehen hatte. Der Lärm war etwas abgeflaut. Einige Zelte hatten schon ihre bunten Augen geschlossen und starrten einen mit überhängtem sackgrauen Segeltuch wie verhüllte Tote an. Hin und wieder hörte man noch einige angetrunkene Männer ihre Kraft und ihre Bierlaune an dem »Lukas« austoben, einem eisernen Schlagbolzen, den man an einer Standsäule hinaufhauen mußte. Was jedesmal, wenn er oben angelangt war, wie beim Aufschlagen einen Heidenkrach verursachte.
Jetzt in der Nacht brannten die Lampen hell über den bunten Holzpferden, die sich wie verlarvte Gespenster durch das Dunkel der Nacht drehten. Und der Flitter und die Glasperlen glitzerten noch einmal so blendend als im Tageslicht. Nur das hölzerne Gerüst, an dem der eiserne Ring zum Greifen für die Vorbeifahrenden hing, ragte, jetzt ganz außer Verwendung, düster wie ein Galgen hoch. Es war dem lebenslustigen Zurlinden, den das bunte Treiben hier aufgeheitert hatte, nun gar nicht unangenehm, daß sich erneut noch eines der Mädchen, die sich auf solch einer Kirmes herumzutreiben pflegen, an ihn hängte und ihn bat, mit ihr Karussell zu fahren. Und zwar schon aus dem Grunde war es ihm jetzt recht, weil das holländische Ehepaar auf seinem Heimweg gerade an der Drehschaukel vorbeikam, als er mit seiner neuen Dame genau den feurigen hölzernen Schimmel mit blutrot gemalten Augen bestieg, auf dem sich zuvor seine Holländerin geschaukelt hatte. Diese buntgescheckten Schimmel galten als Prachtstücke der ganzen Drehbude. Infolge dieses Anblicks, den er ihnen mit seiner weiblichen Begleitung bot, so bedachte er schlau bei sich, würde wohl späterhin auch nicht gleich das Kammerkätzchen in den Verdacht, ihn zu beglücken, kommen, falls die beiden van Dongens die Kleine bei ihm hören sollten. Er schlang sogar, um den eigennützigen und besitzstolzen Holländer noch etwas zu ärgern, selbstbewußt seinen Arm um das Kind an seiner Seite und spielte so den glücklichen Schwerenöter.
Mynheer van Dongen beachtete indessen ihn und die Ringelbude, die ihm anscheinend ein dummes Greuel war, gar nicht weiter. Nur seine hübsche Frau sandte Zurlinden aus großen, unbefriedigten Augen ein paar vorwurfsvolle Blicke zu. Ja, sie drehte sich sogar von der Seite ihres müde zur Ruhe und ins Bett strebenden Gatten noch einmal nach ihm um, als sie schon aus dem Lichtbereich des Karussells waren, und schaute ihren ungetreuen, vergeßlichen Anbeter ganz ernst an. Als hätte sie dem sich zerstreuenden Zurlinden sagen wollen: »Du läßt mich ja schön im Stich, mein Anschmachter! Statt dir meinen trägen Gatten vorzunehmen und dir den dir zugelobten Kuß zu verdienen, strolchst du mit herumlungernden Frauenzimmern herum!« Zugleich lag aber auch in dem letzten Blick, den die in ihrem Verlangen sich zusammenhaltende Frau den herumkreisenden Lampen und dem Flitterglanz zuwarf, ein solch sehnsuchtsvoller Ausdruck, daß er ihr hübsches, aber leicht ein wenig leeres Gesicht ungemein verschönerte und geradezu bedeutend machte. Sie wirkte fast wie ein Bildwerk, das mit seinen schweren, steinernen Formen die Entsagung und Überwindung verkörpert darstellen soll.
Zurlinden, der sie im Umschwung der Drehschaukel jedesmal für einen kurzen Augenblick von ihrem und seinem Schimmel sah, verliebte sich infolgedessen aufs neue in dies üppige Weibchen, das für ihn infolge ihrer eigenen weichen Art, Deutsch zu sprechen, noch mit dem besonderen Reiz des Ausländischen und Fremden umhüllt war. Mißmutig darüber, daß ihm solch ein reizendes, molliges Geschöpf nicht beschieden war, leerte er mit seiner zufälligen, ihm ganz gleichgültigen Augenblicksgefährtin noch zwei Flaschen Niersteiner und trennte sich dann von ihr, nachdem er ihr, die ihn mehrfach anbettelte, noch etwas Geld auf ihre weiteren Liebespfade mitgegeben hatte.
Kurz nach Mitternacht langte er im »Hof von Holland« an, wo seine fast schon vergessene Verabredung seiner wartete. Es verdroß ihn, daß er, verschmäht von derjenigen, die er gern besessen hätte, nun wiederum bereit war, sich auf solch dummen weiblichen Ersatz einzulassen. Er hätte gern auf das nächtliche Abenteuer, das ihm noch winkte, verzichtet. Aber das kam ihm als Mann anderseits jetzt zu schlapp vor. Er begab sich also in sein Zimmer Sieben, nachdem er sich vorher noch die »Weseler Zeitung« erstanden hatte, um sich mit ihr wachzuhalten. Lesend wartete er dann ausgezogen in seinem Bett auf das Kammermädchen, das ihn besuchen wollte, wobei er ab und zu einen Blick auf die in weißem Stuck quellend ausgearbeitete Zimmerdecke warf. Sie stammte noch aus früheren Zeiten, da man sich hier am untern Rhein meisterhaft auf die Kunst, in Gips zu gestalten, verstanden hatte. Hirsche, Büchsen, Taschen und andere Jagdzeichen hingen dort oben schwelgerisch zu einem Kranz zusammengeschlungen und versetzten den jungen nachgeborenen Rheinländer in eine rechte, fröhliche Draufgängerstimmung. Sonderbarerweise schlummerte das holländische Ehepaar neben ihm noch nicht. Sie schienen eine kleine Auseinandersetzung gehabt zu haben. Jedenfalls hörte Zurlinden die üppige Holländerin sich seufzend und weinend mehrfach auf ihrem Lager herumwälzen, was jedesmal ein leichtes Krachen der Bettstelle hervorrief, während der gottesfürchtige Mynheer van Dongen offenbar noch ein Gebet herunterleierte. Denn man vernahm ein gedämpftes Plappern aus seinem Munde durch die dünne Zimmerwand.
Draußen zog jetzt über den Marktplatz eine Rotte, die jedenfalls für sich die Weseler Messe stark genug gefeiert und begossen hatte. Ihr schwerfällig schleppender Gang hallte an dem alten gotischen Rathaus der Stadt wider, das noch aus dem vierzehnten Jahrhundert stammte, da Wesel Mitglied der Hansa gewesen war. Es mochten wohl Rheinschiffer sein oder bummelnde Messebesucher; jedenfalls Leute vom Niederrhein. Denn sie grölten und knödelten, weniger rein als gefühlvoll, ein Lied, das hier oft vom Volke gesungen wird:
»Ein armer Fischer bin ich zwar,
Verdien' mein Brot stets mit Gefahr;
Doch wenn mein Liebchen am Ufer ruht,
Dann geht das Fischen noch einmal so gut.
Ein jedes Fischchen groß und klein,
Das will, das will einmal gefangen sein.«
Da schlug es ein Uhr vom Willibrorddom. Und alsbald folgten wie Nachtreter einem Schöpfer die Glocken der Mathenakirche, des Dominikanerklosters und der Fraterherrenkirche dem begonnenen Beispiel und verkündeten durch die warme, weiche Luft, die vom Strom her über die Stadt wehte, das Ende der Geisterstunde. Und schon öffnete sich leise die Türe zu Zimmer Sieben und das Kammermädchen erschien auf Zehen pünktlich, wie er es ihr eingeschärft hatte, vor Zurlinden, der gerade im Begriff gewesen war, einzuschlummern. Er ermunterte sich jedoch alsbald, zumal ihm die Kleine leise zuflüsterte, daß sie nur kurz bei ihm bleiben könne, weil die beiden andern Kammermädchen, mit denen sie oben schlief, mißtrauisch und zugleich neidisch wären. Immerhin blieb sie so lange in dem Bett und in den Armen des schließlich über diese Zerstreuung doch höchst beglückten Zurlinden, daß beide Menschen miteinander über diesen Schlußpunkt, den sie unter die Messe in Wesel setzten, sehr zufrieden waren. Schlußpunkt darum, weil der junge Kaufmann morgen gegen Mittag die Heimreise antreten mußte, und weil das rheinische Kammermädchen in den nächsten Tagen ihren Bräutigam zurückerwartete und dann für immer ein Ende mit ihrem bisherigen Lebens- und Liebeswandel machen wollte. Sie habe sich, so erklärte sie dem lächelnden Zurlinden leise vor dem Abschied in ihrer muntern, leichtfertigen Weise, nur noch einmal mit ihm eingelassen, weil sie von früher her Beziehungen zueinander gehabt hätten. Ein neues fremdes Verhältnis würde sie unter keinen Umständen mehr eingehen.
Die arme, mit solch vortrefflichen Vorsätzen ausgerüstete Kleine hatte ihre Sache heute noch so gut wie möglich gemacht, und Zurlinden hatte am wenigsten Grund, mit ihr ungehalten zu sein. Da ritt ihn plötzlich der Teufel. Er hatte nämlich während ihrer schönen, fröhlichen, aber leise geführten Verhandlungen mehrfach die üppige Holländerin durch die Wand des Zimmers aufseufzen hören. Oder er hatte sich dies eingebildet. Jedenfalls merkte Zurlinden aus dem atemlosen Schweigen des Holländers, der drüben auf der andern Seite ruhte, daß er belauscht wurde. Denn sonst hätte dieser Kraftmeier wieder seine Sägerei begonnen. Zurlinden beschloß, diese Gelegenheit zu benutzen, die sich ihm da bot, dem muffigen Mynheer eins auszuwischen, und zugleich seiner reizend fülligen Gattin ihre Bitte, mit der sie ihn beauftragt hatte, zu erfüllen. Er räusperte sich, wie man es wohl vor wichtigen Enthüllungen tut, und begann dem höchst erstaunten Kammermädchen vor seinem Entweichen folgende klug überlegte Rede zuhalten: »Da gehst du nun, mein Kind! Und trennst dich einfach von mir, ohne zu fragen und zu bedenken, ob du auch mir ein Genüge getan hast. Weißt du denn nicht, daß zu der Liebe und ihrem Dienst stets zweie gehören? Das hat man dich, scheint es, in der frommen Beichte nicht gelehrt. Aber ich will es dir vor der Ehe sagen und mir damit eine Prämie erwerben. Du darfst nicht nur an deine eigene Lust denken, du mußt auch die deines mitliebenden Teiles und seine Befriedigung im Sinne haben. Es heißt, nicht einfach blind drauflos lieben und tapsig zu seinem Ziel zu gelangen. Man soll noch neben sich, wenn nicht gar vor sich, auch an den andern sich erinnern. Denn eine geteilte Freude ist nur eine halbe Freude. Und Gott hat nicht darum die beiden verschiedenen Geschlechter geschaffen, daß sie einander vernachlässigen, sondern daß sie sich gegenseitig ergänzen. Das heiß' ich wahrhaftig keine Heldentat in der Liebe, wenn einer sich möglichst sputet und hastet, an sein seliges Ende zu gelangen, ohne des zweiten zu achten. Da lob' ich mir im Gegenteil weit mehr die Langsamen und Behutsamen, die seligen Säumer, die den Becher nicht mit einem wüsten Ruck leeren, sondern Schlückchen auf Schlückchen und immer wieder süß verweilend zur herrlichsten Neige trinken. Denn, merk' es dir fein, die Schnelligkeit wird in der Liebe am allerwenigsten geschätzt! Solch ein gleichgültiges menschliches Geschöpf meint oft, es sei genug getan, wenn es nur seinen Spaß mit bekomme, und kümmert sich nicht um des andern Wohl und Wehe, statt sich recht zu plagen, auch seinen Teilhaber glücklich zu machen.
Das ist doch wohl wahrhaftig nicht zu viel verlangt. Und solche Plage um den andern lohnt sich wahrlich am eigenen Leibe, sollte man meinen. Aber eine nur das Seine suchende Brut ist zu faul und zu flau und dazu noch zu gedankenlos, um sich das vor Augen zu stellen, und pfeift auf das Behagen des andern oder stellt sich so dumm, als ob es nichts davon wüßte. Möchte doch der himmlische Vater, der uns alle erzeugt und uns auch eine Mutter gegeben hat, möchte er doch derartigen lässigen Bettbrüdern oder Bettschwestern überhaupt die Möglichkeit nehmen, sich fürder ihres Geschlechtes zu erfreuen, zur Strafe für ihre Eigennützigkeit und Stumpfheit, die sich nur sein eigenes, rohes, kurzes Vergnügen schafft und darüber ganz verabsäumt, den Genossen oder die Genossin in der Liebe zu bedienen.
Was sagst du da? Das soll unfromm und nicht christlich sein, meint der Herr Pfarrer. Pfui über ihn und über dich, wenn du dem hohlen Gerede eines solchen von den Wonnen des Lebens ausgesperrten, armen Schächers folgen solltest! Womöglich sollst du gar wie ein Stock herumliegen und während der ganzen Liebeshandlung nur über dein Seelenheil nachgrübeln? Wahrlich! Mit einem Stock müßte man euch untätigen, frömmelnden Naturen eure Gleichgültigkeit und Dickfelligkeit ausklopfen, wenn ihr also die Gebote der Liebe und Ehe mißachtet. Daß du es weißt, man dient Gott ebenso im Genuß der höchsten Freude, die er uns verliehen hat, wie im Empfang seiner heiligsten Sakramente. Glaubt ihr, der Himmel habe uns seiner ewigen Wonnen schon hier auf Erden nur darum teilhaftig gemacht, damit wir Stoffel sie nicht oder nur halb auskosten sollen? Geh' in dich, du Muckerseele und Nölsuse, damit du dich des edlen Ehestandes und seiner reinen Ergötzungen würdig machest! Sinne immerzu bei Tag und bei Nacht – hörst du! – nur darauf, wie du den andern erquicken kannst mit dir! Und, vertraue meinen Worten, seine köstlichste Glückseligkeit wird auch die deine sein! Ja, mach' es dir zur Richtschnur fortan, daß du in Zukunft kein Vergnügen der Liebe mehr genießen willst, ohne daß auch der, dem du es verdankest, seine Kurzweil zurückbekommt. Nur dann allein wirst du keine Sünde mit deiner Liebe begehen, weder vor Gott, noch vor den Menschen.«
Der junge Zurlinden hielt diese Predigt seinem Kammermädchen, das ihn ganz ängstlich und erstaunt anhörte und ab und zu auch mit leisen Einwürfen unterbrach, in möglichst ernstem Ton und so deutlich, daß man sie nebenan bei den Holländern, wo jetzt eine Totenstille herrschte, klar vernehmen mußte. Zurlinden verstand sich vortrefflich auf solche Tugendreden, weil er, wiewohl selber Katholik, aus einer Mischehe stammte, einer jener Ehen, wie sie am Niederrhein sehr häufig vorkommen. Seine protestantische Mutter hatte ihn zuweilen, um ihm auch ihren früheren Glauben vertraut zu machen, in ihre Kirche mitgenommen, wobei er den salbungsvollen Ton der evangelischen Pfarrer belauscht und mit dem seiner katholischen Geistlichen verglichen hatte. Infolgedessen wußte er gut ein solches pfäffisches Gesalbader, wie er es soeben gehalten hatte, aus dem Gebaren der Heilsdiener beider Bekenntnisse zu mischen.
Die arme Kleine, die solchen Hokuspokus an ihm noch gar nicht kannte, war verdutzt seiner Sittenpauke gefolgt. Sie war sich gar keines Versehens bewußt und wunderte sich baß über seine umständliche und weitläufige Rede. Doch Zurlinden beschwichtigte sie beim Abschied an der Türe, zu der er sie unter dem Ausklang seines Geredes geleitet hatte, indem er ihr zur feierlichen Versöhnung einen mindestens zwei Minuten langen Kuß verabfolgte. Was freilich das verschmitzte Lächeln besagen sollte, das er ihr nachsandte, als sie fröstelnd auf den Flur hinaustrat, wußte sich die Kleine nicht zu erklären. Sie hatte aber auch nicht Muße, darüber längere Erwägungen anzustellen. Denn sie mußte sich möglichst still und unauffällig in ihre Dachkammer oben im »Hof von Holland« zurückbegeben, was ihr dadurch etwas schwer gemacht wurde, daß sie, die Treppe hinaufhuschend, über eine Katze fiel, die gleich ihr von einem Kosestündchen schlich. Aber der Schutzgeist der Katzen und der Kammermädchen meinte es doch so gnädig mit ihr, daß niemand den Lärm, den sie auf den Stufen angerichtet hatte, gewahr wurde, und daß selbst ihre beiden mißgünstigen Zimmergefährtinnen weiterschliefen wie die Murmeltiere im Winter, als sie die Türe aufklinkte und sich zur wohlverdienten Ruhe begab.
Auch der junge Kaufmann suchte gleich nach ihrem Verschwinden sein Bett wieder auf, das noch die Wärme und den Duft des Mädchens in sich trug. Er summte leise vor sich hin, hochbefriedigt zunächst, einmal mit seinem eignen hübschen Abenteuer, und zum andern, weil er sich, ohne es vorher beabsichtigt zu haben, damit wie von ungefähr seines Auftrags gegen die rundliche Frau van Dongen miterledigt hatte. Zu allen ihm in Wesel geglückten Geschäften war nun auch diese Kommission ganz nebenbei von ihm »perfektioniert« worden. Die weiblichen Seufzer nebenan waren völlig verstummt. Und es herrschte eine solche nachdenkliche Stille im Zimmer der Holländer, daß Zurlinden alsbald, ohne mehr von dem Schnarchen van Dongens gestört zu werden, einzudämmern begann. Immerhin glaubte er aus einigen liebevollen Geräuschen, die er zwischen seinem Schlummer in der Nacht durch die Wand zu hören vermeinte, schließen zu dürfen, daß seine Worte drüben bereits auf fruchtbaren Boden gefallen seien.
Diese unbestimmte im Schlaf aufgenommene Vermutung wurde ihm am andern Mittag zur Gewißheit, Er begegnete dem holländischen Ehepaar unten im Hausflur vor dem Speisesaal, aus dem sie kamen, nachdem sie das erste Frühstück oben für sich im Bett eingenommen hatten. Sie waren beide jetzt wie Zurlinden reisefertig. Mynheer van Dongen hatte sich entschlossen, seiner Frau zuliebe noch den Umweg über das von den Holländern gern besuchte Badestädtchen Cleve zu machen. Sie wechselten nun zu dritt die üblichen Abschiedsworte, als plötzlich die üppige Holländerin, nachdem sie ihrem Gatten mit einem Auge zugeblinzelt hatte, Zurlinden umschlang und ihm einen kurzen, aber herzhaften Kuß aufdrückte, um den jungen Deutschen hernach ebenso schleunigst mit ihrem lächelnden, fetten Mynheer van Dongen zu verlassen.
Was sie eigentlich ihrem Gatten zur Begründung dieser unverhohlenen Zärtlichkeit mit Zurlinden vorgeflunkert haben mochte, das entzog sich mit ihrem beschleunigten Aufbruch dem alsbald gleichfalls abreisenden jungen Deutschen. Jedenfalls hatte er als Kaufmann seine Vermittlung, um die er gebeten worden war, richtig und voll erfüllt. Das tat ihm, wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, eine Karte kund, die er ungefähr nach Jahresfrist aus dem gottesfürchtigen Roermond erhielt, auf der ihm Mynheer van Dongen und Frau die glückliche Geburt ihres ersten Kindes, eines prächtigen Jungen, anzeigten. Diese Nachricht wiederholte sich in ähnlicher Form während der nächsten Jahre noch fünfmal. Und jedesmal hatte Zurlinden seine stille Freude daran und an dem Erfolg, den seine Rede und der Besuch der Messe in Wesel jedenfalls bei diesen beiden Holländern gehabt hatte.
Ganz zufällig und flüchtig traf er später noch einmal mit dem Ehepaar und seinen ältesten Kindern in Köln zusammen, bei einem herrlichen Feuerwerk, das man zur Befreiung der Stadt am Rhein von der fremden Besatzung veranstaltete. Der Dom mit seinen beiden Türmen strahlte weithin in roter Beleuchtung wie ein Riese, über dem eine Fackel geschwungen wird. Und gegen diesen flammenden Hintergrund sausten unaufhörlich wie bunte Dichtungen in eine dunkle, ernste Zeit einfache und gefüllte Raketen, die hoch oben in der Luft bunte Kugeln verstreuten. Selbst Mynheer van Dongen wurde schließlich hingerissen über das verschwenderische Zischen und Funkeln zu seinen Häupten und erklärte, daß dies das schönste Fest sei, das er jemals erlebt habe. »Nein!« verbesserte ihn seine noch immer reizvolle, üppige Gattin mit einem schelmischen, verständnisinnigen Blick, den sie Zurlinden zuwarf. »Das schönste Fest war doch die Messe in Wesel.«
Und als ihr viel schlanker, frischer und jünger als früher aussehender Herr Gemahl eine Weile verschwunden war, gestand sie dem belustigten Zurlinden: »Ich bin ganz glücklich geworden. So glücklich, daß ich jeder Frau, die irgendwelchen Kummer in ihrer Ehe hat, immer raten möchte: ›Besuchen Sie doch mit Ihrem Mann zusammen die Messe in Wesel!‹«