Josef Ettlinger
Benjamin Constant - Der Roman eines Lebens
Josef Ettlinger

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XIX. Rückblick

Benjamin Constant
Nach einem Ölgemälde aus dem Jahre 1790
Original im Besitze von Herrn E. Page in Genf

Das Urteil der Welt über Benjamin Constant war von je so widerspruchsvoll, wie seine ganze Persönlichkeit. Aber je weiter die Zeit seines Lebens in die Vergangenheit rückte, desto mehr Verständnis, Anteil und Sympathie ward ihm zuteil. Nach dem halb verblümten, halb verbissenen »Gerichtet«, mit dem vor einem halben Jahrhundert Sainte-Veuve, sein politischer, moralischer und religiöser Widerpart, den Stab über ihn brach, darf die besser unterrichtete Nachwelt heute ihr erlösendes »Gerettet« sprechen. Selbstbekenntnisse, Briefe in Menge und andere biographische Dokumente mehr haben bei einer Generation, die ein Darwin, ein Taine, ein Ibsen schärfer und tiefer in menschlichen Dingen sehend gemacht haben, Zeugnis für ihn abgelegt und das Problematische seines Wesens besser erkennen und verstehen lassen, als es der Voreingenommenheit der eigenen Zeitgenossen möglich war.

Eines vor allem drängt sich dem unbefangenen Betrachter als Überzeugung auf: in diesem Leben war nichts von Kleinlichkeit. Manches war darin verfehlt, verzettelt, durch Unentschlossenheit versäumt, aber der große Zug ist immer zu spüren, der den Menschen höheren Schlags vom Philister scheidet. Von den zartesten Jahren an war sein Dasein von Einflüssen durchkreuzt, die ihn in Zwiespalt mit sich selber bringen mußten. Einer alten Familie entsprossen, in der der Esprit seit vielen Jahren erblich war, ohne Mutter, ohne Geschwister, ohne Vaterhaus herangewachsen, von gleichgültigen Erziehern früh sich selbst überlassen, sah er sich um den spielfrohen, gemütbildenden Lebensmorgen durch eine vorzeitige einseitige Entwicklung seiner Intelligenz betrogen. Und wenn je das Kind der Vater des Mannes war, so galt das von ihm, in dessen Wesen und Charakter die vier Lebensalter so gut wie keine Unterscheidungsmerkmale aufweisen.

Aus diesem Mangel eines Kinderlands einerseits und aus gewissen herrschenden Zeitstimmungen andrerseits erklärt sich die tiefe Unbefriedigung, die Unruhe dieser zerrissenen, einsamen Seele, der ewige Wechsel zwischen Sucht und Flucht, der Kampf mit dem eigenen Schatten, das Fragmentarische des Empfindens, der Hang zur Selbstbeobachtung, der Zwang zur Selbstkritik. Nichts kann falscher und bequemer sein, als Benjamin Constant einen Egoisten zu nennen, der landläufigste Vorwurf, den ihm Gegner und oberflächliche Beurteiler gemacht haben: er war es sicher nicht im niedrigen oder gewöhnlichen Sinne des Wortes. Hundert Züge aus seinem Leben, aus dem Verhältnis zu seinem schwer zu behandelnden Vater, aus seiner ersten Ehe, aus den Beziehungen zu Frau von Charrière, Frau von Staël, Julie Talma, aus seinem Verkehr mit den Verwandten m der Schweiz, mit Freunden wie Mauvillon, Huber, Fauriel, Hochet, Barante und anderen zeigen ihn immer aufs neue als eine im Grunde ihres Wesens vornehme, ritterliche, zu persönlichen Opfern fähige Natur. Politisches oder sonst berufliches Strebertum, die Kunst, sich persönliche Vorteile zu sichern, war niemals seine Sache, an materiellen Genüssen, an Luxus und Wohlleben lag ihm nichts, nur der gesellschaftliche, literarische, politische Erfolg reizte seinen Ehrgeiz, ohne daß er je darauf mit zweifelhaften Mitteln ausgegangen wäre. Was ihn in seelische Konflikte brachte, war vielmehr eine bis zur Grenze des Möglichen gesteigerte Unfähigkeit, andere um seinetwillen leiden zu machen, eine Eigenschaft, die allein sein scheinbar willensschwaches oder unaufrichtiges Verhalten zu Frau von Staël und damit einen großen Teil seiner innerlichen Lebenstragödie, seiner vermeintlichen Lebenslüge erklärt.

Wie er persönlich über die Pflicht der Aufrichtigkeit andern gegenüber dachte, zeigte seine früher erwähnte Polemik mit Kant. Als Skeptiker von Geblüt und Erziehung war er wohl zu den ihm Fernerstehenden bisweilen nur so weit aufrichtig, als sie ein Recht auf diese Aufrichtigkeit besaßen oder durch das Gegenteil geschädigt worden wären. Unbedingt und schonungslos offen aber war er allezeit gegen sich selbst, seine Aufzeichnungen und intimen Briefe lehren es, und daß er es auch vor andern liebte, sich und seine Schwächen zu ironisieren, hat nicht am wenigsten dazu beigetragen, seinen Charakter im allgemeinen Urteil herabzuwürdigen und zu bewirken, daß man ihn allezeit viel zu sehr nach seinen Worten und zu wenig nach seinem Tun und Lassen beurteilte. Seine ausgesprochen ironische Veranlagung, die ihm in späteren Jahren die Bezeichnung eines prince des moqueurs eintrug, gab ihm der Welt gegenüber seine Physiognomie und ließ ihn oft frivol und kalt erscheinen, obwohl sein äußerlicher Zynismus meist nur der Alibibeweis seines Herzens und der Revers eines oft übertriebenen Zartgefühls gegen andere war.

Seine Willensschwäche, die man gern Charakterlosigkeit genannt hat, war ohne Zweifel vorhanden, aber sie erstreckte sich nur auf die Dinge seines Privatlebens, und sie entsprang nicht indolenter Bequemlichkeit, Herzensfeigheit oder egoistischer Nachgiebigkeit gegen sich selbst, sondern dem Widerstreit kollidierender Bedürfnisse oder Pflichten, zwischen denen er sich nicht zu entscheiden vermochte. So stritt lange sein Einsamkeitsbedürfnis mit dem andern, eine Rolle in der Gesellschaft zu spielen, sein Bedürfnis nach Unabhängigkeit mit dem, verheiratet und von der liebevollen Sorge einer Frau umgeben zu sein, seine Dank- und Herzensschuld Frau von Staël gegenüber mit der neu übernommenen Pflicht gegen Charlotte, und so reguliert sich sein Leben nur zu oft nach einem Parallelogramm von Kräften, die ihn gleichzeitig hierhin und dahin zogen. Für bare Willensschwäche spricht es nicht, daß er einer großen und mühseligen wissenschaftlichen Aufgabe, gegen deren Vollendung sich oft genug alles verschworen zu haben schien, vierzig Jahre hindurch allen Schwierigkeiten zum Trotze treu blieb, bis sie abgeschlossen war. Für Charakterlosigkeit spricht es nicht, daß er sein politisches Glaubensbekenntnis trotz aller äußeren Wechselfälle in fünfunddreißig Jahren nicht geändert, es nie auch nur teilweise den herrschenden Richtungen oder Möglichkeiten geopfert hat.

Gerade auf politischem Gebiete, wo man ihn am heftigsten verunglimpft hat, war er von Wankelmut oder Inkonsequenz am weitesten entfernt. Seinem Verhalten während des Konsulats, seinem Ankämpfen gegen den siegreich vordringenden Absolutismus entsprach seine Haltung während des Kaiserreichs, sein Verzicht auf jede aktive Mitwirkung am öffentlichen Leben, die mit seinen Überzeugungen nicht vereinbar gewesen wäre. In dem Augenblick, da Frankreich mit der ersten Wiederkehr der Bourbonen ein Verfassungsstaat ward oder doch zu werden versprach, trat auch er wieder in die Front ein und setzte seine beste Kraft daran, in der durch ein Jahrzehnt der absoluten Militärmonarchie des politischen Denkens entwöhnten Nation das konstitutionelle Empfinden zu wecken und zu schärfen. In diesem Bestreben konnte er guten Gewissens dem aus Elba nochmals heimgekehrten Kaiser bei der Einführung einer liberalen Verfassung Beistand leisten und durfte mit Recht den deshalb gegen ihn erhobenen Angriffen mit dem Hinweis begegnen, daß er den Kaiser stets bekämpft und gemieden habe, so lange die halbe Welt vor seiner Autokratie im Staub lag, ihm aber zur Seite getreten sei, als alle Mächte Europas ihn in die Acht erklärten und er sich von Feinden ringsum bedroht sah. Und in derselben Richtlinie bewegte sich seine politische und publizistische Tätigkeit bis an ihr und sein Ende: immer war sein Leitstern das eine und oberste Prinzip der Freiheit in allen Dingen, in Religion, Philosophie, Literatur, Handel, Gewerbe, Politik. Er verteidigte das Recht der Persönlichkeit so scharf gegen den Mißbrauch der Autorität wie gegen den der Majorität. Unbedingteste Gleichheit aller vor dem Gesetz, freies Spiel der Kräfte auf allen Gebieten, vollkommene Gewissensfreiheit betrachtete er als die Voraussetzungen des menschlichen Fortschritts. Und auf dem Fortschritt, der selbsttätigen Vor- und Aufwärtsentwicklung der Menschheit beruhte sein ethisches Glaubensbekenntnis, jenem Gesetz der perfectibilité das Frau von Staël schon in ihren ersten Schriften zu einem System entwickelt hatte und dem eine seiner eigenen kleineren Abhandlungen gewidmet ist.

In solchem Sinne war er ganz Kosmopolit und hat sich selbst schon früh diese Bezeichnung beigelegt. Die Nationalität war nicht seine Haut, sie war nur sein Kleid. Als Politiker fühlte er sich englischen Anschauungen – an den älteren Pitt besonders erinnert er in seiner späteren parlamentarischen Tätigkeit –, als Denker den deutschen Ideen näher verwandt, als denen seines eigenen Landes. Mitten in die Übergangszeit aus der Aufklärungsphilosophie des achtzehnten zu den romantischen und sozialen Tendenzen des neunzehnten Jahrhunderts gestellt, litt er frierend unter der Leere eines aller jugendlichen Illusionen verlustigen Daseins, fühlte sich geistig und seelisch heimatlos, und da ihm der heilige Rausch großer Gefühlserlebnisse versagt blieb, machte er in zahllosen kritischen Augenblicken seine Einbildungskraft zum Refraktor seiner Empfindungen, um sich Erregungen und Leidenschaften vorzutäuschen.

Vornehmlich seine Stellung zu den Frauen war durch diese Veranlagung bestimmt. Es charakterisiert ihn, daß er sich als Sechzehnjähriger in Erlangen eine Mätresse aushielt, die es doch bloß für die Welt und dem Namen nach war, nur weil das »épater le bourgeois« ihn stärker reizte als der wirkliche Besitz einer Geliebten. Als junger Libertin in Paris huldigte er nur den Sitten oder Unsitten seines Standes und Alters; wo er wirklich sein Herz sprechen zu hören meinte, war es immer nur aufreizender Widerstand oder eine äußere Schwierigkeit, die seine eingebildete Leidenschaft erweckte. Selbst seine erste Ehe beruhte nur auf Einbildung und Selbstsuggestion, verstärkt durch eine Art optischer Täuschung, zu der ihn die ganze damalige Umgebung verleitete. Bei den Beziehungen zu Frau von Staël war es zunächst das magnetische Fluidum ihrer seltenen geistigen Persönlichkeit, das ihn in ihren Bann zog und dann in eine stärkere Gefühlsströmung hineinriß, als sie seinem eigenen Temperament entsprach. Daß er sich ihren Besitz zuerst ertrotzen mußte, war ihm vielleicht ursprünglich die einzige Ursache, ihn sich zu wünschen. Hier aber sah er sich, als der Rückschlag bei ihm eintrat, so stark mit allen Fasern einer ungewöhnlichen Intelligenzgemeinschaft festgehalten, daß das erstrebte Losreißen ein langwieriger und für ihn selbst und sein Gewissen unendlich peinvoller Prozeß werden sollte. Seine späteren Beziehungen zu anderen Frauen erhielten dadurch alle mehr oder weniger den Charakter einer Revolte gegen die beständigen Schuldforderungen, die von jener einen Seite an sein Herz gestellt wurden, und Charlotte hatte es hauptsächlich diesem ewigen Reaktionsbedürfnis zu danken, daß sie seiner zerfallenen Stimmung wie ein ersehnter Engel der Verheißung erschien. Was ihn vollends noch an der Grenze höherer Lebensalter dem Zauber Juliette Récamiers verfallen ließ, war nichts als der späte Exzeß einer Gehirnsinnlichkeit, bei der die Unfähigkeit wirklichen Aufflammens durch ein heftiges Phosphoreszieren ersetzt wurde; ein schmerzhaftes Seelenrheuma, das mit einer wirklichen Liebesleidenschaft nur die äußeren Symptome gemeinsam hatte.

Wie die meisten Phasen seines Liebeslebens entsprang auch seine oft beklagte Leidenschaft für das Hasardspiel nur einem emotionellen Trieb, nicht niedriger Gewinnsucht. Es war sein Verhängnis, daß man ihn die nähere Bekanntschaft dieser gefährlichen Nervenreizung schon im unreifen Alter hatte machen und damit für sein ganzes Leben zum unüberwindlichen Hang hatte werden lassen. Zwar ließ er diesen Trieb weder jemals bis zu finanziellen Katastrophen ausarten, noch vergaß er sein Standesbewußtsein je so weit, um sich in die Gemeinschaft zweifelhafter Elemente zu begeben, aber der demoralisierende Hauch, den das gewohnheitsmäßige Glücksspiel keinem erläßt, blieb auch ihm nicht ganz erspart. Einige Jahre vor seinem Tode duldete er es, daß ihm das Ministerium Martignac eine größere Summe »zur Herstellung seiner geschwächten Gesundheit« anwies, und noch unmittelbar nach der Julirevolution nahm er, den damals große Schulden drückten, von Louis-Philippes Regierung eine Dotation von zweihunderttausend Francs an, nachdem sie vom Ministerium aus eigenem Antrieb beschlossen worden war. »Sie haben,« sagte ihm der König selbst, »für die Sache der Freiheit Opfer gebracht, die über Ihre Kräfte gingen. Das war unsere gemeinsame Angelegenheit, und ich mache mir ein Vergnügen daraus, Ihnen zu Hilfe zu kommen.« Worauf Constant offen erwiderte: »Ich nehme es an, Sire, aber die Freiheit steht über der Dankbarkeit. Ich will unabhängig bleiben, und wenn Ihre Regierung Fehler begeht, werde ich der erste sein, der ihr Opposition macht.« »So habe ich es natürlich gemeint,« war die artige Antwort. In der Tat haben die letzten Monate bis zu Constants Tode gezeigt, daß er mit der Annahme der Dotation keine seiner politischen Überzeugungen geopfert hatte, und die scharfe Kritik, die manche seiner politischen Gegner, wie Guizot in seinen Memoiren und Royer-Collard an dem Vorgang übten, war nach dieser Seite hin sicher nicht berechtigt. Gleichwohl darf man sich sagen, daß er als unabhängiger Charakter wohl gar nicht erst in die Lage gekommen wäre, eine solche – für unser Empfinden zum mindesten nicht einwandfreie – Zuwendung anzunehmen, wenn der Hang zum Glückspiel nicht zeitlebens diese Macht über ihn besessen hätte.

Daß er bei alledem gerade in Geldsachen gewissenhaft u nd frei von kleinlichem Eigennutz war, geht aus zahlreichen Einzelheiten seines Briefwechsels hervor. Es steht fest, daß er seiner ersten Frau bei der Trennung ein weitgehendes Entgegenkommen bewies; vor allem aber, daß er seinem Vater, dessen Verhältnisse im Alter durch Verluste und Prozesse zeitweise bedrängt waren, mit unerschütterlicher Geduld und Opferwilligkeit selbst die unberechtigtsten Ansprüche erfüllte und nach seinem Tode der Witwe wie den beiden Stiefgeschwistern verhältnismäßig erhebliche Jahreszuschüsse gewährte, wie er denn diese beiden auch zu seinen Leibeserben einsetzte. Mit Charlotte lebte er in Gütertrennung, und wenn auch der gemeinsame Hausstand in so manchem späteren Jahr von ihr fast allein bestritten worden sein dürfte, so war er doch stets darauf bedacht, daß von ihrem Vermögen nichts um seinetwillen angetastet wurde.

Eine zweifellose Verleumdung ist die auch von Sainte-Beuve verbreitete Behauptung, Benjamin Constant habe sich nach Frau von Staëls Tode deren Briefe an ihn von Albertine von Broglie um hunderttausend Francs abkaufen lassen. Diese Lüge wird schon dadurch widerlegt, daß sich Albertine erst nach Benjamins Tode Anfang 1831 an seinen Vetter Charles de Constant in Lausanne brieflich mit der Bitte wandte, ihr eine in seinem Besitz deponierte Kassette zu überlassen, die vermutlich die Briefe Benjamins an ihre Mutter enthielte, und daß Charles de Constant dieser Bitte entsprochen hat. Die Herzogin von Broglie, die schon nach ihrer Mutter Tode alle Briefe Benjamins an diese schleunigst dem Feuertode überlieferte, ließ alsbald dem andern Teil der ihr offenbar sehr unbequemen Korrespondenz dasselbe Schicksal widerfahren. Constant hatte diesen wichtigsten Teil der Korrespondenz im Jahre 1811 seinen Verwandten anvertraut – es waren jene früher erwähnten versiegelten Briefpakete mit der Bezeichnung Σ – als er auf unbestimmte Zeit mit seiner Frau nach Deutschland übersiedelte. Nur einer der letzten Briefe Benjamins an Madame Récamier, der bald nach dem frühen Tode Augustes von Staël Anfang 1828 geschrieben wurde, deutet darauf hin, daß zwischen ihm und den Herzogspaar von Broglie noch eine Auseinandersetzung stattgefunden hat oder stattfinden sollte. Er forscht darin nach dem Verbleib eines Konvoluts, das er der Freundin gelegentlich zwölf Jahre früher zur Aufbewahrung anvertraut hatte: es hätten sich darin unter anderm Briefe ihrer gemeinsamen Freundin befunden, die niemand sonst sehen dürfte und die er jetzt nach Augustes Tode gebrauchte, um der Herzogin und ihrem Gatten einige Stellen zu zeigen. Allem Anscheine nach handelt es sich dabei um die nach 1811 noch gewechselten Briefe, von denen eine Anzahl sich auf die bei Albertinens Vermählung entstandene finanzielle Differenz bezog: dieser letzte und jedenfalls kleinste Teil der Korrespondenz hat sich dann im Nachlaß Charlottens von Constant erhalten und ist erst vor kurzem durch deren Urgroßnichte Baronin von Nolde, geborene von Marenholtz, an die Öffentlichkeit gegeben worden, er kann also ebensowenig Gegenstand eines Schachergeschäfts gewesen sein, wie der eigentliche intime Briefwechsel aus den ganzen früheren Jahren, den Albertine von Broglie sich 1831 von Benjamins Vetter ausliefern ließ. Hätte dieser selbst ihr auch nur ein Anrecht darauf bei Lebzeiten gegen eine Abfindungssumme übertragen, so hätte der – im Wortlaut bekannte – Brief der Herzogin an Charles de Constant sich auf einen so wichtigen Rechtstitel ohne Zweifel berufen. Im übrigen scheinen sich die Beziehungen zwischen den beiden durch so nahe Bande des Blutes verknüpften Menschen nach Frau von Staëls Hinscheiden rasch gelockert zu haben: Constant kam wohl dann und wann noch in den Talon der Broglies, fühlte sich aber dort nach dem Zeugnis Barantes wenig heimisch, und die mit den Jahren stark zur Frömmelei neigende Albertine dürfte zu dieser Entfremdung selbst das Ihrige beigetragen haben.

Mit Charlotten hatte sich Benjamin Constant in den vorgerückten Jahren der Seßhaftigkeit allmählich eingelebt und in ihren mancherlei guten Herzens- und Charaktereigenschaften den Ersatz für das gefunden, was ihre etwas romantisch-schwärmerische und leicht ins Unpraktische fallende Natur ihn nach der geistigen Seite hin anfangs vermissen ließ. Er lernte es ertragen, daß sein Hausstand kein Muster an Ordnung war, daß er die geladenen Gäste abends oft allein empfangen mußte, weil seine Frau gewöhnlich erst mit ihrer Toilette halb fertig war, daß sie dann inmitten der Gesellschaft ein paar Stunden in eine Schachpartie vertieft sitzen konnte, ohne sich ihrer Hausfrauenpflichten zu erinnern. Sein philosophischer Humor zeigte sich solchen Situationen stets gewachsen. »Ich habe die Kerzen noch nicht anzünden lassen, damit man nicht sieht, daß meine Frau noch nicht da ist,« entschuldigte er sich einmal schnell gefaßt, als die ersten Gäste bei ihrem Erscheinen den Salon noch im Dunkel fanden: und ein anderes Mal, als Frau Charlotte noch länger als gewöhnlich ausblieb, meinte er: »Meine Frau besitzt eine wunderbare Geduld darin, andere auf sich warten zu lassen.« Coulmann, der nächste Freund des Hauses in den letzten Jahren, erzählt von einem Morgen in Karlsruhe, wo man auf dem Wege von Baden-Baden nach Mainz übernacht geblieben war: auf acht Uhr war die Post bestellt, weil man bei späterer Abfahrt nicht mehr abends vor Torschluß in Mainz eintreffen konnte, um neun Uhr war Charlotte noch immer nicht sichtbar, und als Coulmann endlich selbst in ihr Zimmer drang, um zu höchster Eile zu mahnen, saß sie noch gemütsruhig im Frisiermantel am Putztisch, ganz in einen halb aufgeschnittenen Roman vertieft, den sie »zu interessant« fand, um sich loszureißen. Inzwischen saß ihr Gatte bereits seit einer Stunde im Reisemantel geduldig wartend im zugigen Flur des Hotels »zum Erbprinzen«. Als Coulmann diese Ruhe unbegreiflich fand und ihn überdies darauf aufmerksam machte, daß er da an einem schlechten Platze sitze, meinte er lächelnd, ohne eine Spur von Verstimmung: »Nicht schlechter als anderswo, lieber Freund. ... Le tout est de s'y faire«.

In solchen Einzelzügen aus späterer Zeit offenbart sich eine sokratische Gelassenheit, die heitere, überlegene Grazie des geborenen Ironikers, die Constant in gewissem Grade schon in jungen Jahren besessen hatte. Ihm fehlte, es darf noch einmal gesagt sein, jede Spur von Kleinlichkeit, und so war er weder jemals nachtragend gegen andere, noch empfindlich für die mannigfachen Tücken des Objekts. Wie er für seine Person stets bedürfnislos und unverzärtelt blieb, ertrug er häufige Krankheitsanfälle, die Last ständiger Augenbeschwerden, sein langjähriges schmerzhaftes Beinleiden mit stoischer Geduld und ohne andere je mit übler Laune zu tyrannisieren. Wenige Menschen haben ein ähnlich unruhiges Wanderdasein geführt, wie er in seinen ersten fünfzig Jahren, von denen er einen guten Teil mit Einpacken und Auspacken, Aus- und Umzügen verbracht hat: er stöhnte wohl gelegentlich darüber, aber kaum jemals ließ er sich seine Bequemlichkeit oder die Unbilden der Jahreszeit zum Vorwand dienen, wenn die Rücksicht auf andere, auf seinen Vater etwa, auf Frau von Staël, auf Charlotte, auf die Verwandten oder Freunde ihn zwang, von neuem den Reisewagen zu besteigen. Er war freilich kein empfindsamer Reisender und hatte dies mit Frau von Staël gemein, daß ihm die Natur schlechterdings nichts zu sagen hatte. Nirgendwo in seinen Aufzeichnungen oder Briefen findet sich auch nur der flüchtigste Natureindruck fixiert: selbst in »Adolphe« spielt – von einer kurzen Stelle am Schlusse abgesehen, wo eine mit sparsamen Worten skizzierte kahle Winterlandschaft als wirkungsvolles Stimmungsmoment benutzt wird – die Natur so wenig eine Rolle, als hätte Rousseau nie gelebt. Wenn Constant im Gegensatz zu seiner am ewigen Großstadt-Heimweh krankenden Freundin gleichwohl den Aufenthalt auf dem Lande liebte und zuzeiten sogar ersehnte, so war nicht Naturschwärmerei dabei im Spiele, nur das Bedürfnis nach Ruhe und Einsamkeit für seine Studien.

Daß seine oft bekundete Daseinsmüdigkeit und Lebensverachtung keine Pose war, konnte schon die Leichtigkeit erweisen, mit der er sein Leben jederzeit in die Schanze schlug, wenn er sich im Punkte der Ehre im geringsten verletzt glaubte. Vielleicht war es auch das ererbte Soldatenblut, dem die große Zahl seiner Duelle zuzuschreiben ist. Andrerseits konnte er auch, wenn es nottat und in seiner Macht stand, für das gefährdete Leben anderer mit Selbstlosigkeit und Hingebung eintreten und seinen Einfluß dafür aufbieten. Wie einst Voltaire für den unglücklichen Calas, trat er für die Sache des als Hochverräter verklagten Wilfried Regnault vor der Öffentlichkeit so nachdrücklich ein, daß er ihn damit vor dem sicheren Schafott bewahrte; ähnlich verwandte er sich für den in ein Komplott verwickelten jungen Roger, und als ein gewisser Caffé, dem er sich zu persönlichem Danke verpflichtet fühlte, durch einen politischen Prozeß mit dem Tode bedroht war, bot er freiwillig dem Ministerpräsidenten Villèle brieflich die Niederlegung seines Mandats und völlige Enthaltung von jeder ferneren politischen Tätigkeit an, wofern Caffè begnadigt würde.

Von solchen Beweisen vornehmer Denkart pflegten die Gegner, die so scheel über Constants Charakter urteilten, gewöhnlich nichts zu wissen oder wissen zu wollen. Was sie aber alle an ihm gelten ließen und lassen mußten, war seine ungewöhnliche publizistische Begabung, seine eminente Kunst, auch dem sprödesten Gegenstand durch den Facettenschliff seines Stils durchsichtige Klarheit zu geben. Alle seine Schriften, wie seine Reden, zeigen dieselbe Meisterschaft der Disposition und des logischen Aufbaus, dieselbe spielend leichte Beherrschung des Ausdrucks, dieselbe reiche Architektur des Satzbaus. »Rousseau, Frau von Staël und Benjamin Constant,« schrieb Ludwig Börne 1822 in einem Aufsatz über die französische Sprache, »werden von keinem Deutschen übertroffen: aber sie sind geborene Schweizer, also mehr Deutsche als Franzosen, und die beiden letzteren waren lange in Deutschland und haben aus deutschen Büchern und im Umgang mit Deutschen deutschen Geist geschöpft. Die politischen Werke Benjamin Constants zeichnen sich vor denen der andern französischen Schriftsteller vorteilhaft aus: man erkennt aber leicht, daß es der deutsche Geist in ihm ist, der ihm den höheren Rang verschafft. Es gibt viele liberale politische Schriftsteller in Paris, die mit Geist, mit Kraft sogar, mit Witz gewiß, schreiben. Sie treffen haarscharf, aber weil das Instrument, mit dem sie treffen, auch haarscharf ist, fehlen sie, sobald sie nur um eine Linie zu weit links oder zu weit rechts abreichen. ... Benjamin Constant aber, weil er breiter aufschlägt, braucht nicht so haarscharf zu zielen, er trifft doch den Nagel auf den Kopf. Seine Gründe sind nicht bloß für die Sache, die er eben verteidigt, sie sind für jeden Rechtsstreit zu gebrauchen, und sein Witz ist eine aushaltende Fackel.«

Das Deutsche in Constant wäre wohl überhaupt einer besonderen Untersuchung wert, nicht nur das Deutsche in seinem Stil und in seinen philosophischen, ethischen und religiösen Ideen, auch die große Zahl seiner Urteile über das geistige Deutschland, die schon während des ersten Briefwechsels mit Frau von Charrière aus Braunschweig eine merkliche Erwärmung erfuhren und später bisweilen bis zur Schwärmerei gediehen. Daß er sich trotzdem jedesmal in Deutschland nach Frankreich und in Frankreich wieder nach Deutschland sehnte, entsprach der durchgehenden Spaltung seines Wesens, die Börne einmal nicht unzutreffend mit den Worten charakterisiert, wenn er sagt: »Er hatte einen deutschen Kopf und ein französisches Herz.« Diesen Einschlag von »Germanisme« haben ihm denn auch die chauvinistisch oder klerikal gesinnten Beurteiler unter seinen französischen Landsleuten – als jüngster noch kürzlich Pierre Lasserre in seinem vielumstrittenen Buche über (richtiger: gegen) die französische Romantik – am wenigsten verzeihen können; uns Deutschen wird er dadurch nur näher gerückt. Ein Stück – und nicht das schlechteste – seines Wesens, seines äußeren wie seines geistigen Lebens wurzelt in Deutschland, dem er viel verdankte, und die sicherlich nicht vollendetste, aber wärmstempfundene Trauerklage über seinen Tod war eine »Nachtphantasie beim Tode Benjamin Constants« in deutschen Strophen von Daniel Ehrenfried Stöber, dem elsässischen Dialektdichter und Sagenforscher und Vater der verdienstvollen Brüder Adolf und August, die das deutsche Elsaß zu seinen besten Söhnen zählt.

Ein edles und seltenes Material ward in Benjamin Constants Persönlichkeit von ungünstigen Schicksalsmächten an der harmonischen Entfaltung verhindert, und so blieb er letzten Endes eine am Leben leidende Halbnatur, ein legendarisches Beispiel für jenen Mann im Syrerland aus Rückerts Parabel, der »zwischen Tod und Leben am grünen Strauch der Welt muß schweben«, aber eben darum eine des Studierens werte und psychologisch ebenso differenzierte wie anziehende Persönlichkeit besonders für unsere Zeit, die sich der Heldenverehrung mehr und mehr entwöhnt hat und gerade dem irrenden, strauchelnden, mit sich selber kämpfenden Menschen das größte Maß von Anteilnahme zu schenken geneigt ist. Im französischen Geistesleben wird man ihn auf die Entwicklungslinie zu stellen haben, die von Larochefoucould zu Anatole France führt, und so braucht es nicht zu verwundern, wenn gerade dieser feinste Geist des modernen Frankreich sich gelegentlich zu einer persönlichen Zuneigung für den Verfasser des »Adolphe« bekennt. Er erzählt, daß dessen von Guérin gemaltes Porträt lange Jahre in seinem Arbeitszimmer gehangen habe. ... »Ich hatte eine Schwäche für dieses große, schmale, blasse Gesicht, auf dem sich so viel Trauer und so viel Ironie ausprägte und dessen Züge mehr Feinheit besaßen, als die der meisten Menschen. Sein Gesichtsausdruck war weder einfach noch sonderlich klar. Es lag etwas durchaus Seltsames darin, etwas unendlich Vornehmes und unendlich Unglückliches, just so, wie es sich in Benjamin Constants ganzem Leben und Fühlen widerspiegelt.« Und so hat auch dieser selbst noch kurz vor seinem Tode von sich geäußert: »Das eine ist gewiß, daß ich ohne ausgesprochen unglücklich gewesen zu sein, mehr Seelenqualen und mehr Todesangst in meinem Leben ausgestanden habe, als ein armer Sünder auf dem Rade: ebenso gewiß, daß ich diese Tortur verdient hatte, weil auch ich die Ursache großer Leiden gewesen war: daß ich mich vor Sehnsucht nach einem ruhigen und geregelten Leben hundertmal verzehrt und daß ich trotz alledem nie und nirgends den Frieden gefunden habe.«

Wer so von sich an seinem Lebensende spricht, hat Anspruch darauf, daß man ihm glaubt und den Gesamteindruck dieses vielfach zerrissenen Lebens in die versöhnenden Worte faßt: – siehe, ein Mensch!


 << zurück