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Anne-Louise Germaine de Staël-Holstein stand zur Zeit, da sie als Überwinderin in Constants Leben trat, noch nicht im Zenith ihres europäischen Rufes, aber sie war schon seit Jahren in den maßgebenden Kreisen Frankreichs in einem Grade beachtet, besprochen und gefeiert, der sie bereits zu einer der ersten Persönlichkeiten des Landes stempelte. Am 22. April 1766 in Paris als die einzige Tochter des aus Genf stammenden Bankiers Jakob Necker geboren, hatte sie eine sonnige Kindheit verlebt und sich teils durch den pädagogischen Ehrgeiz ihrer geistig hochstehenden Mutter, die am liebsten ein gelehrtes Wunderkind aus ihr gemacht hätte, teils durch ihre angeborene erstaunliche Fassungsgabe und Verstandesschärfe schon frühzeitig zu einem Phänomen an Intelligenz und Bildung entwickelt. Der Salon der Madame Necker, der in den letzten zwanzig Jahren des ancien régime lange als einer der tonangebenden galt, ward die Hochschule für ihren empfänglichen und wissensdurstigen Geist. Mit der Elfjährigen schon unterhielten sich die Besucher ihrer Mutter, zu denen Diderot, Grimm, Holbach, Buffon, Raynal, Guibert, Suard, Saint-Pierre, der Abbé Galiani, Beccaria und andere neben allerhand fremden Diplomaten gehörten, wie mit einer erwachsenen Dame. Mit zwölf Jahren verfaßte sie Verse, Liebesgeschichten, Aufsätze, ganze Theaterstücke, alles ohne Anstrengung, denn das schriftstellerische Talent hatte sie gleich von beiden Eltern erblich überkommen. Necker selbst, der sich schon als Vierzigjähriger 1772 mit dem für die damalige Zeit enormen Vermögen von achteinhalb Millionen ins Privatleben zurückgezogen hatte, konnte sich in den folgenden Jahren, bis er als Turgots Nachfolger an die Spitze der Finanzverwaltung berufen wurde, ziemlich viel seiner kleinen »Minette« widmen, die sich von ihm besser verstanden fühlte, als von der kühler und strenger gearteten Mutter; und aus dieser Zeit schreibt sich das fast schwärmerisch-innige Verhältnis der späteren Frau von Staël zu ihrem Vater her, das in ihrem Charakterbilde ein bezeichnender Zug war.
Sie zählte fünfzehn Jahre, als Neckers erstes Ministerium ein Ende fand, und achtzehn, als er ihrer leidenden Mutter zuliebe Schloß und Herrschaft Coppet bei Genf um eine halbe Million Limes erstand. Dieser uralte, dem dreizehnten Jahrhundert entstammende Herrensitz hatte unter andern im siebzehnten Jahrhundert einem sächsischen Grafen zu Dohna gehört und schon damals als Erzieher von dessen Sohn Alexander – der seinerseits nachher der Erzieher des nachmaligen Soldatenkönigs Friedrich Wilhelms I. wurde – eine spätere europäische Berühmtheit beherbergt: Pierre Bayle, den geistigen Stammvater der Aufklärungsepoche. Es kam der jungen Germaine, einer ausgesprochenen Großstadtnatur, der die Stille des Landlebens und der Aufenthalt in kleinen Städten zeitlebens nie lange erträglich dünkte, hart genug an, sich fern von Madrid im Wipfelschatten der Kastanien von Coppet zu vergraben; Sie fühlte sich zu jung, wie sie meinte, um schon ausschließlich von ihren Erinnerungen zehren zu können. Und noch ein anderer hatte ein großes Interesse daran, sie dort nicht im verborgenen blühen zu lassen: Baron Erik Magnus von Staël-Holstein, der altadlige, aber vermögenslose und verschuldete Sekretär der schwedischen Gesandtschaft in Paris, der schon seit mehreren Jahren ein Auge auf die künftige Erbin eines der größten Vermögen in Frankreich geworfen und sich indirekt um die Gunst ihrer Eltern bemüht hatte. Er setzte jetzt, nachdem ihm auf sein Drängen vom König Gustav III. die Aussicht auf den demnächst freiwerdenden Pariser Gesandtschaftsposten gewissermaßen als Preis für die geplante glänzende Partie ausgesetzt worden war, alles in Bewegung, dieses Ziel zu erreichen, und die Vermittlung einflußreicher Gönner half ihm.
Tatsächlich lag die Heiratsfrage für die Tochter Neckers keineswegs einfach, denn die Stellung und der Reichtum ihres Vaters wiesen sie auf hohe Regionen an, während sein Protestantismus ihr die Verbindung mit dem französischen Geburtsadel verschloß. Nachdem schon Jahre vorher eine von ihrer Mutter gewünschte und betriebene Verlobung mit dem zu Studienzwecken in Paris weilenden jungen Pitt, dem späteren Minister, nicht zustande gekommen war, weil Germaines Herz nicht sprach, hatte noch ein mecklenburgischer Prinz, Bruder des regierenden Herzogs, sich vergeblich um ihre Hand oder vielmehr ihr Vermögen beworben. So erschien der Vertreter einer damals mit Frankreich eng liierten Macht und Träger eines alten Namens, trotzdem ein Drittel der Mitgift zur Zahlung seiner Schulden verwendet werden mußte, um so weniger unebenbürtig, als ihm von seinem Souverän noch eine Standeserhöhung – der Grafentitel – in Aussicht gestellt und der Posten in Paris für zwölf Jahre garantiert worden war, und im Januar 1786 wurde die Ehe geschlossen, die schon wenige Jahre später tatsächlich, wenn auch noch nicht formell wieder gelöst werden sollte.
Die junge Frau von Staël, die nun mit zwanzig Jahren außerhalb des Elternhauses und im Besitze voller gesellschaftlicher Freiheit ihre selbständige Rolle zu spielen begann, war zwar keine Schönheit, aber mit ihrem ebenholzschwarzen Haar, dem dunkelfarbigen Teint, den unregelmäßigen, etwas großen Gesichtszügen und den ausdrucksvollen Augen eine frappant wirkende Erscheinung. Ihrem ungemeinen Geselligkeitsbedürfnis entsprach der große Verkehr, dessen Mittelpunkt das schwedische Gesandtschaftshotel alsbald ward, und der Aufwand, der dabei getrieben wurde, war zeitweise so groß, daß die Königin selbst gelegentlich der jungen Frau einige Einschränkung empfehlen ließ. Die Gesellschaft lebte um diese Zeit in jenem Taumel gesteigerten Lebensgefühls, von dem Talleyrand später meinte: wer Paris nicht in den letzten Jahren vor der Revolution gekannt habe, habe von dem höchsten Reiz des Daseins nichts verspürt. Niemand schien noch zu ahnen, wie nahe die blutigrote Götterdämmerung der Monarchie bevorstand, welche furchtbare Wendung die politischen Begebenheiten und Vorgänge zu nehmen bestimmt waren, die der Gesellschaft einstweilen nur angenehme Emotionen und immer neuen Diskussionsstoff gaben. Unter Ludwig XIV. hatte man in diesen Kreisen überhaupt nicht von Politik sprechen dürfen, unter Ludwig XV. sprach man schon leise davon, unter seinem Nachfolger laut und lauter, und Galiani konnte witzig, aber treffend konstatieren, Paris sei jetzt nicht mehr der Salon, sondern das Café von Europa.
Inmitten dieses Treibens, fortreißend und fortgerissen, anregend und angeregt, lebte Frau von Staël deren stets geschäftiger Geist an allen Vorgängen und Stimmungen des Tages den regsten Anteil nahm. Sie wurde die Korrespondentin des schwedischen Königs, den ihre Berichte über die Pariser Neuigkeiten auf dem Laufenden hielten, sie wurde Mitarbeiterin der Grimmschen Korrespondenz, die jetzt der Züricher Heinrich Meister herausgab, sie beteiligte sich an den großen schwebenden Problemen des Tages, um die in Hunderten von Broschüren gestritten wurde, an der Suche nach einer Konstitution, an dem riesigen Rebus der Finanzkrisis und beschäftigte sich eifrig mit sozial- und gesellschaftskritischen Fragen, die sie auch öffentlich in ihren »Briefen über Rousseau« erörterte. Minder radikal als die jetzt schon für den Königsmord begeisterte Madame Roland und ohne deren urteilsloses Hingegebensein an die Ideen des großen Genfers (dessen Schale jetzt bei der Allgemeinheit in dem Grade stieg, als die Voltaires sank), erkannte sie, die in den Kreisen der Regierenden groß geworden war, das Chimärische des contrat social aber auch das Erfüllbare seiner reformatorischen Ideale. Sie erlebte den Sturz Calonnes, das Fiasko Lomsénie de Briennes, begleitete ihren Vater in die Verbannung, als eine königliche lettre de cachet ihn aus Paris verwies, und genoß den Triumph, ihn im August 1788 von neuem an die Spitze der Regierung gestellt zu sehen, ohne daß er freilich den dumpf heraufgrollenden Sturm noch zu beschwören vermochte.
Die beiden ersten Schreckensjahre bis zu Neckers endgültigem Abtreten von der politischen Bühne spielten sich Szene um Szene unmittelbar vor ihren Augen ab; den stürmischen Verhandlungen der Constituante wohnte sie in der Diplomatenloge mit pochenden Schläfen bei, versuchte selbst durch geschriebene Billetts, die sie befreundeten Abgeordneten in den Saal schickte, mit einzuwirken und warf durch Zeitungsartikel ihre Ansichten mit in die Diskussion, indes sich an mindestens zwei Abenden einer Woche in ihren Salons die vornehmen und intellektuellen Kreise aller Parteistellungen drängten. Auch als Necker seine Rolle als Retter des Vaterlandes unter dem furchtbaren Gegendruck der Verhältnisse ausgespielt hatte, konnte sie sich nicht entschließen, seine Einsamkeit in Coppet längere Zeit zu teilen, und beschränkte sich darauf, ihn dort so oft als möglich zu besuchen. Ihr rasches Blut, ihr Tätigkeits- und Mitteilungsdrang, ihre leidenschaftliche Anteilnahme an der unaufhaltsamen Umwälzung, die im Gange war, ihr geistiges Expansionsbedürfnis überhaupt, alles das ließ sie die Gefahren und Aufregungen des politischen Getümmels in der Hauptstadt dem müßigen Stillsitzen in der Geborgenheit vorziehen. Zu jung, um ohne Wunsch zu sein, gab sie sich zugleich auch den geselligen Freuden jener in seltsamen Extremen schwelgenden Zeit mit offenen Sinnen hin (was ihr bei der Gehässigkeit ihrer Gegner den Beinamen einer »Bacchantin der Revolution« eintrug), berauschte sich an den ihr erwiesenen persönlichen Huldigungen und genoß die Festlichkeiten mit Tanz, Musik, Theater, an denen einstweilen noch kein dräuendes Blutgerüst der Gesellschaft die Lust benahm.
Daß eine derart vielseitige und gesteigerter Impulse fähige weibliche Natur im hohen Wellengang dieser aufregungs- und gefahrenreichen Zeit auch ihr Herz sprechen ließ, das durch eine trockene Vernunftehe unberührt geblieben war, ist die Verständlichkeit selbst: der erste Sieger war Graf Louis Narbonne, der glänzende Kavalier und illegitime Vetter des Königs, dessen hohe Lovelace-Erscheinung schon auf die sechzehnjährige Germaine Necker einen tiefen Eindruck gemacht hatte. Seine dem König aufgenötigte Ernennung zum Kriegsminister Ende 1791 führte die Königin, die inzwischen mehr und mehr gegen Frau von Staël eingenommen worden war, allein auf deren vermeintliche Kabalen zurück, wie überhaupt die schwedische Gesandtschaft, in deren Hotel so mancherlei Fäden zusammenliefen, dem Hofe allmählich als eine Art Mittelpunkt der revolutionären Propaganda verdächtig wurde. In Wahrheit war und blieb Frau von Staël trotz aller Freiheitsliebe der schwergeprüften königlichen Familie aufrichtig ergeben, und sie war es, die von Abscheu, Ekel und Trauer über die immer zügelloser hereinbrechende Roheit des Jakobinertums erfaßt, dem Königspaar durch einen sehr räsonnablen Fluchtplan noch im Sommer 1792 die – in kurzsichtiger Verblendung abgelehnte – Rettung anbieten ließ. Dafür gelang es ihr, mehrere ihrer nächsten Freunde aus den Reihen der konstitutionellen Rechten, in erster Linie den Grafen Narbonne selbst und Mathieu von Montmorency, durch ihre Geistesgegenwart und Tapferkeit vor den Häschern der Schreckensleute zu retten und ihnen zur Flucht nach England zu verhelfen. Sie selbst vermochte nur noch mit genauer Not inmitten des Gemetzels der Septembermorde aus dem Aufruhr der Hauptstadt zu entkommen, wo sie so lange als möglich ausgehalten hatte – im letzten Jahre ohne ihren Gatten, den die politischen Geschäfte nach Schweden gerufen und dort nach Gustavs III. Ermordung festgehalten hatten.
Unmittelbar nach ihrer Ankunft in Coppet gab sie ihrem zweiten Sohne Albert das Leben (der somit durch die Vaterschaft Narbonnes ein direkter Urenkel Ludwigs XV. war), aber sobald es irgend ihre Gesundheit gestattete, verließ sie anfangs 1793, zum großen Kummer Neckers, mitten im Winter das elterliche Heim am Genfersee aufs neue, um die gefahrvolle Reise quer durch Frankreich nach England zu unternehmen, wo sie Narbonne und andere nähere Freunde – darunter Talleyrand – finden wollte. Im liberalen Großbritannien hatte sich die Sympathie mit der französischen Revolutionsbewegung durch die Greuel der Terroristen in offene Entrüstung gewandelt, und die dorthin geflüchteten Opfer des Schreckens fanden deshalb gute Aufnahme. Aber Frau von Staël, die aus ihren freien Grundsätzen kein Hehl zu machen verstand, sollte bald erfahren, daß es keine prüdere Gesellschaft gab und gibt, als die englische, und als sie sich mit Narbonne für einige Monate aufs Land zurückzog, blieben ihr allerhand persönliche Kränkungen und üble Nachreden nicht erspart, die übrigens ihrer Bewunderung für England keinen Eintrag tun konnten. Was sie hier schon an Werken der Nächstenliebe für manchen ihrer bedrängten und vertriebenen Landsleute verrichtet hatte, setzte sie nach ihrer Rückkehr in die Schweiz – Juni 1793 – mit wachsendem Eifer fort. Coppet wurde ein Zufluchtsort für Flüchtlinge aller Art, und eine förmliche Entsatz-Aktion für solche, die dem Belagerungszustand in Paris noch nicht hatten entrinnen können, wurde durch Anwerbung ähnlich aussehender Ersatzpersonen, untergeschobene Pässe und dergleichen organisiert. Die trotz der großen erlittenen Verluste noch beträchtlichen Geldmittel des Hauses Necker sollten auf diese Weise zahlreichen bedrohten Existenzen zur Rettung werden, und Frau von Staël bewies in diesem Liebeswerk großen Stils dieselbe Unermüdlichkeit, wie vorher und später in ihrem politischen Wirken. Im übrigen sah sie sich durch die Entwicklung der Dinge zur Untätigkeit verurteilt, die sie um so schmerzlicher empfand, als sie durch den Tod ihrer Mutter im Frühjahr 1794 ein schweres Leid und an Graf Narbonnes Abtrünnigkeit die Unbeständigkeit des Menschenherzens verletzend genug erfahren mußte.
Diese Wunde war erst frisch vernarbt, als die Bekanntschaft mit Benjamin Constant ihrem Leben eine neue Wendung gab. Sie hatte vorgehabt, sich in Zürich anzukaufen und dorthin überzusiedeln, denn Coppet war wegen der unmittelbaren Nähe der französischen Grenze und der jakobinischen Unruhen in Savoyen ein heißer Boden geworden, so daß sie schon den Sommer meist in Mézerey, einer bei Lausanne gelegenen Besitzung Neckers, verbracht hatte. Noch am 13. September nennt sie sich in einem Briefe an Heinrich Meister – den damaligen Herausgeber der von Baron Grimm begründeten literarischen Korrespondenz – »toujours devorée d'incision«, kaum vierzehn Tage später, am 26. September, teilt sie ihm mit: »Ich habe mich nun doch für Lausanne entschieden.« Zwischen eben diesen beiden Tagen lag, wie man schon weiß, die erste Begegnung mit Benjamin Constant.
Huber, der ein paar Wochen später, im Dezember 1794 auf Benjamins dringende Einladung vierzehn Tage lang als dessen Gast in Lausanne weilte, schrieb von dort an Therese – die mittlerweile nach Georg Forsters Tode seine Gattin geworden war – nach Bôle: »Constant ist nun ganz hin, das sehe ich, lebt nur um sie und bei ihr ... glücklich fühlt er sich nicht dabei, das merkt man wohl, aber daß er hingerissen ist, verzeiht man ihm gerne. Soll ich das zu ändern suchen? Anlegen will ich es nicht, denn wozu eine Täuschung zerstören, die für einen guten Menschen, von allen Anlagen des Herzens, wie er ist, der aber in der Gesellschaft gewissermaßen, was Bestimmung und wahren Lebensgenuß betrifft, verpfuscht wurde, doch im Grunde das höchste Glück ist, was er erreichen kann« ... Von seinem Gastfreund überall eingeführt, lernte er Frau von Staël und ihren engeren Kreis, zu dem damals, wie später noch oft, an erster Stelle Mathieu de Montmorency gehörte, näher kennen, auch Benjamins schon ziemlich grillig gewordenen Onkel Samuel Constant, der auf den Neffen schlecht zu sprechen war, und dessen Tochter Rosalie, deren Witz und Menschenkenntnis ihre körperliche Mißgestalt vergessen ließ. Und ganz gerührt von der gastfreundlichen Aufmerksamkeit, die Benjamin dem ihm von Anfang an sehr sympathischen »Hüberchen« zuteil weiden ließ, berichtet dieser etwas später an Therese: »Constant ist unendlich lieb und gut! Wir hatten ein paar sehr ernste, herzliche Unterredungen. Er fühlt sich wenig glücklich und hat keine Hoffnung mehr, je ordentlich glücklich zu seyn; doch kommt er mit mir überein, daß er es nie und auf keine Weise weniger seyn kann, als in dem gegenwärtigen Terrain. Er will manches besser einrichten, hat auch schon manchen Anfang gemacht, aber die Umstände binden ihm die Hände. Er ist ein liebes, sonderbares Wesen, so kindlich zu seyn, und dabei so wenig Reines genossen und gefühlt zu haben, wiewohl er mit Herz und Geist, mit Wehmut, mit schwer verhaltenen Tränen alles Reine auffaßt und dafür fühlt. Viel Geistestätigkeit durch einsames Studieren, das, meint er, wäre ihm durchaus das Beste, und ich bin seiner Meinung, insoferne das gewiß die Lage wäre, in welcher er am besten und mit der wenigsten Gefahr erwarten könnte, ob ihm nicht noch etwas Gutes dazu kommen möchte.«
Dieser Brief läßt auf die unschlüssige Übergangs- und Scheidewegsstimmung einen Schluß zu, in die sich Constant durch sein großes neues seelisches Erlebnis versetzt fand. Er war in Lausanne, im Kreuzfeuer der Verwandten, die von der Ergebnislosigkeit seines bisherigen Lebens, von seinen vielbeklatschten Beziehungen zu Frau von Charrière, seiner skandalreichen Scheidung, seinem Verzicht auf die eingeschlagene Laufbahn wenig erbaut waren, dazu beunruhigt durch die eigenen Familienverhältnisse und die ziellose Ungewißheit seiner äußeren Existenz, die ihn zwischen der Absicht, irgendwo in Deutschland still den Büchern und der Arbeit zu leben oder in Frau von Staëls Nähe zu bleiben, noch immer schwanken ließ. Es kam hinzu, daß ihm die ganze aufgeregte und unzufriedene gesellschaftliche Atmosphäre seiner Vaterstadt, die von Emigrierten überschwemmt war, Mißbehagen verursachte, was ebenfalls aus einem Briefe Hubers hervorgeht. »Im Ganzen des gesellschaftlichen Tones dieser Menschen,« schreibt er, »ist Böses und Gutes untereinander gemischt. Bös ist die Oberflächlichkeit, das Springen von einem Gegenstand zum andern, das Reduzieren aller Ideen und Gefühle auf den seichten Unterhaltungsstoff. Gut ist die Artigkeit und Leichtigkeit, die Toleranz, die Kultur, das Beschäftigtsein mit so mannigfaltigen Gegenständen. Kurz, er ist zehntausendmal besser als die meisten Arten von Gesellschaftston in Deutschland, aber es gehörte ein eigenes Geheimnis dazu, daß ein guter Kopf in diesem Elemente nicht von Grund aus verderben würde. Constant fühlt das selbst recht gut und sucht sich mit dem besten Willen zu erhalten.«
Mit einiger Naturnotwendigkeit wurde dieser in seiner neuen Umgebung mehr und mehr in den Bannkreis der großen Politik gezogen, und als Frau von Staël sich entschloß, im Frühjahr 1795 nach Paris zurückzukehren, ergab es sich wie von selbst, daß er ihr Begleiter wurde. Daß er dafür noch einen anderen Rechtstitel besaß, geht aus Tagebuchaufzeichnungen des Jahres 1795 hervor, in denen es heißt: »Es war zwischen Frau von Staël und mir vereinbart worden, daß ich, um sie nicht zu kompromittieren, niemals länger als bis Mitternacht bei ihr verweilen sollte. So groß auch der Reiz war, den mir die Unterhaltung mit ihr gewährte, und so heftig mein Wunsch, unseren Verkehr nicht auf die Konversation beschränkt zu sehen, ich mußte mich der Bestimmtheit dieser Bedingung fügen. Heute abend war mir jedoch die Zeit noch um so viel rascher als gewöhnlich vergangen, daß ich meine Uhr zog, um zu beweisen, daß meine Abschiedsstunde noch nicht gekommen sei. Da aber der unerbittliche Zeiger mir unrecht gab, übermannte mich ein so kindischer Zorn, daß ich den grausamen Chronometer mit aller Gewalt auf die Erde schleuderte. »Mein Gott, welch ein Unsinn!« rief Frau von Staël aus. »Was für ein Kind sind Sie doch!« Aber durch den vorwurfsvollen Ton klang es wie ein verhaltenes Lachen. Diese zerbrochene Uhr wird mir entschieden noch von großem Nutzen sein.« Daß er sich darin nicht täuschte, beweist die Eintragung des nächsten Tages: »Ich habe mir keine neue Uhr gekauft; ich gebrauche sie jetzt nicht mehr.«
Am 10. Mai traten sie gemeinsam die Reise nach der Hauptstadt an. Frau von Staël hatte erst kurz vorher ihre Schrift »Reflexionen über den Frieden« veröffentlicht, in der die Konsequenzen des 9. Thermidor gezogen und mit großer Entschiedenheit die republikanischen Regierungsformen als die jetzt einzig noch möglichen befürwortet wurden. Dieses offene Bekenntnis zur Republik, das keine Verleugnung ihrer Vergangenheit, sondern nur einen realpolitischen Fortschritt angesichts unwiderruflicher Vorgänge bedeutete, war auch Constants politisches Credo, der gleich ihr selbst das Jakobinertum verwarf und jetzt in Tallien den Mann seines Herzens sah.
Ende Mai traf er in der Hauptstadt ein, die er seit acht Jahren, seit dem Antritt seiner abenteuerlichen und eigenmächtigen Ferienreise nach England, nicht wieder gesehen hatte. Das größte Elementarereignis der neueren Geschichte hatte sich in dieser kurzen Spanne Zeit hier abgespielt, und an den unmittelbaren Eindrücken gemessen, die jetzt auf ihn einstürmten, mochte er den Kontrast seiner verlorenen Braunschweiger Kammerjunker- und Ehescheidungsjahre doppelt kleinlich und peinlich empfinden. Um so eifriger warf er sich nun in das politische Getriebe, in dem sein neu erweckter Ehrgeiz die bisher entbehrte Befriedigung zu finden hoffte.