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Isabelle von Charrière war erst durch ihre späte Verheiratung eine Bürgerin der Westschweiz geworden. Von Geburt war sie Holländerin und als älteste Tochter des Barons Dinderk-Jakob van Tuyll auf Schloß Zuylen bei Utrecht 1740 zur Welt gekommen. Französische Gouvernanten leiteten ihre Erziehung und Ausbildung, und die Nähe der Residenz im Haag brachte die heranwachsende junge Baronesse früh in Berührung mit der großen Welt. Bei einer Hoffestlichkeit machte sie mit zwanzig Jahren die Bekanntschaft des um jene Zeit noch als Oberst im Haag garnisonierenden David Louis Constant d'Hermenches und besaß die Unerschrockenheit, sich mit dem eleganten und geistreichen, als Roué bekannten Manne in einen rasch intim werdenden Briefwechsel hinter dem Rücken ihrer Eltern einzulassen, den sie volle fünfzehn Jahre hindurch fortsetzte. Ohne irgendwie schön zu sein, übte die kluge Belle wie auf diesen, so auch auf andere Männer von Bedeutung nur durch den belebenden Reiz ihrer Persönlichkeit und ihre ungewöhnliche Intelligenz eine unverkennbare Anziehungskraft aus. Auch ein Hohenzollernprinz sollte gelegentlich diesen Zauber an sich erfahren: Prinz Heinrich, des großen Friedrich jüngerer Bruder, der 1768 einige Tage als Gast ihres Vaters auf Schloß Zuylen weilte und ein unverhohlenes lebhaftes Interesse an der geistigen Grazie der jungen Baronesse nahm, es auch nach diesem Besuche noch mehrfach zu erkennen gab.
Mit zweiundzwanzig Jahren schon hatte sie (1762) anonym ihre erste Dichtung »Le Noble« veröffentlicht, eine wohlgezielte Satire auf die aristokratische Welt, in der sie lebte (zwanzig Jahre vor Beaumarchais!) und in der ihre unbekümmerten Urteile über Menschen und Sitten nicht geringen Anstoß erregten. Ähnlich wie nachmals der frühreife Benjamin in den seinen, galt sie in ihren Kreisen – zumal bei der Damenwelt – sehr bald für exzentrisch, sittenlos und gefährlich und mag ihrer aristokratischen Familie, von der einzig die Mutter für ihre Art Verständnis hatte, manche Unbequemlichkeit verursacht haben. Eine außerordentliche Belesenheit trug dazu bei, die Eigenrichtigkeit und Selbständigkeit ihrer Denkweise noch zu befestigen: »Gil Blas'«, »Manon Lescaut« und der früheste französische Eheroman, die "Prinzessin von Cleve" der Gräfin Lafayette, waren Lieblingsbücher ihrer Mädchenjahre.
Es ist klar, daß für eine junge Dame von so ausgeprägter, von ihrer Umgebung abstechender Individualität der passende Lebensgefährte nicht leicht zu finden war. An Bewerbern fehlte es der Tochter eines altangesehenen Hauses und ihrer Mitgift von hunderttausend Gulden natürlich nicht, aber sie wurden teils zu leicht befunden, teils fühlten sie selbst zu sehr die geistige Überlegenheit ihrer Erkorenen und zogen sich wieder zurück. Trotzdem hegte Belle den sehr entschiedenen Wunsch, sich zu verheiraten, um aus der Abhängigkeit des Elternhauses herauszukommen und sich ihr Leben nach eigenen Grundsätzen und Bedürfnissen einrichten zu können. Nach manchem Schwanken zwischen englischen und deutschen Anwärtern auf ihre Hand, fiel ihre Wahl endlich auf einen richtigen Außenseiter, auf den waadtländischen Edelmann Charles Emanuel von Charrière, der angeblich früher der Hauslehrer ihrer Brüder gewesen sein soll. In jedem Falle entstammte er einer zwar altadligen, aber verarmten Familie, und Belle van Tuyll hatte erst den Widerstand ihres Vaters zu überwinden, bevor sie ihrem Erwählten im Februar 1771 die Hand reichen konnte. Was sie zu ihm hinzog, war hauptsächlich seine große Ehrlichkeit, die Zuverlässigkeit und Festigkeit seines Charakters, sein rücksichtsvolles, bis zur Schüchternheit bescheidenes Wesen. Er selbst empfand recht deutlich, daß sie ihm wie an Vermögen und Herkunft, auch an geistigen Fähigkeiten weit überlegen war, aber seine Liebe stärkte in ihm das Vertrauen, ihrem Leben wenn nicht den nötigen Inhalt, so doch die nötige Stütze geben zu können. In der Gesellschaft, der die Tuylls angehörten, war man perplex über diese Heirat, die in aller Augen eine Mesalliance war, aber man fand darin zugleich einen neuen Beweis für die exzentrische Überspanntheit derjenigen, die sie geschlossen hatte.
Die Hochzeitsreise machte das junge Paar nach Paris, wo es zunächst ein halbes Jahr verweilte: die vortreffliche Büste Frau von Charrières, die Houdons Meisterhand modellierte und die sich jetzt im historischen Museum zu Neuchatel befindet, stammt aus jener Zeit. Dann ließen sich die beiden Gatten auf Herrn von Charrières ländlicher Besitzung Colombier bei Neuchatel nieder, die fortan ein Menschenalter lang ihr ständiger Wohnsitz bleiben sollte.
Die ersten zehn oder zwölf Jahre ihrer Ehe scheinen äußerlich sehr ruhig verlaufen zu sein, auch die in Holland begonnene Schriftstellerei ward zunächst nicht wieder aufgenommen, wenigstens nicht für die Öffentlichkeit. Nur Constants autobiographische Aufzeichnungen geben darüber Aufschluß, daß der scheinbar so friedlichen Ehe schwere Trübungen nicht erspart blieben. Er nennt Herrn von Charrière die »kühlste und phlegmatischste Natur, die sich denken läßt,« und bemerkt von seiner Gattin, sie habe ihn in der ersten Zeit ihrer Ehe viel mit ihren Versuchen gequält, seinem Wesen künstliche Temperatursteigerungen aufzuzwingen, und sich schließlich ob der Unmöglichkeit, dies zu erreichen, sehr unglücklich und enttäuscht gefühlt.
Verhältnismäßig spät erst nahm sie nach fast zwanzigjähriger Pause ihre Schriftstellerei wieder auf und schrieb, angereizt durch den kurz zuvor anonym erschienenen Roman »Le mari sentimental« von Samuel Constant, die »Lettres de Mistress Henley« (1784), die eine Art Widerlegung und Gegenstück zu dem Constantschen Roman darstellten und ihrerseits, mit deutlicher Verwertung eigener Seelenerlebnisse, das Schicksal einer lebhaften, temperamentvollen Frau an der Seite eines allzu kühlen und ruhigen Gatten behandelten. Das kleine Werk, das nicht ohne intimere psychologische Reize war, machte ein gewisses Aufsehen: noch viel stärker war dies einer zweiten Veröffentlichung beschieden, die ebenfalls schon vor der Pariser Reise erschien, den »Lettres Neuchateloises«. Zu ihnen verwertete sie ihre satirischen Beobachtungen der »Gesellschaft« Neuchatels, die sich durch dieses Spiegelbild ihrer Sitten und Persönlichkeiten nicht wenig skandalisiert fühlte und deren feindliche Haltung es Frau von Charriére Jahr und Tag rätlich erscheinen ließ, den Fuß nicht mehr in die nahe gelegene Stadt zu setzen. Dabei war der Roman keineswegs ein Schlüsselroman, wie die beleidigten Pfahlbürger sich einbildeten, sondern frei erfunden und reich an bemerkenswert feinen Zügen weiblicher Seelenkunde, wie an neuen Situationen und Motiven. Seine erste Auflage (Amsterdam 1784) war in wenigen Wochen vergriffen, ein für jene Zeit sehr ungewöhnlicher Erfolg, und seine zwar anonym gebliebene, aber geargwöhnte Verfasserin erfreute sich bald in weiteren Kreisen derselben Unbeliebtheit, wie als junges Mädchen in Utrecht und dem Haag. Auch der 1785 erschienene dritte Briefroman "Lettres écrites de Lausanne", in dem die aus einheimischen und kosmopolitischen Elementen eigenartig gemischte Gesellschaft der alten waadtländischen Universitätsstadt mit auffallend leichter und sicherer Hand gezeichnet war, erlebte rasch hintereinander mehrere Auflagen. Aber eine innerliche Befreiung hatten diese Arbeiten ihrer seelisch zunehmends unbefriedigten Verfasserin nicht gebracht, und nachdem sie die Sommermonate des Jahres 1785 in ländlicher Abgeschiedenheit und getrennt von ihrem Gatten verlebt hatte, entschloß sich dieser, Colombier für längere Zeit zu verlassen und in Paris Aufenthalt zu nehmen, von dessen großstädtischen Lebensverhältnissen er Anregung und Ablenkung für ihre nervöse Depression erhoffte. Im Februar 1786 erfolgte die Übersiedlung, und dieser Aufenthalt sollte der große, wenn auch verspätete Wendepunkt ihres Lebens werden, denn hier wurde ihr reifstes Werk, der Roman "Caliste", vollendet, der für seine Verfasserin das bedeutete, was etwas später für Frau von Staël die – stark unter ihrem Einfluß entstandene – "Corinne", und ebenfalls hier kreuzte in Benjamin Constant der Mann ihren Lebensweg, der ihr eigentliches Schicksal zu werden bestimmt war.
Als zwanzig Jahre später Constant seinen Roman »Adolphe« niederschrieb, ließ er im ersten Kapitel den Helden, der seine eigenen Züge trägt, erzählen: »Ich war mit siebzehn Jahren Zeuge des Todes einer Frau gewesen, die mit ihrem reichen, wiewohl etwas bizarren Geiste dem meinigen die erste Richtung gegeben hatte. Sie war, gleich so vielen anderen, in die große Welt, die sie nicht kannte, im Vollgefühle ihrer Seelenstärke und ihrer wirklich großen Herzens- und Geistesgaben eingetreten. Indessen, wie ebenso viele andere hatte auch sie sich alsbald in ihren Hoffnungen getäuscht gesehen, da sie sich dem künstlichen, aber unabweisbaren Zwange der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht beugen wollte: nach einer freudlos vertrauerten Jugend hatte das Alter sie ereilt, wenn auch nicht bezwungen. Sie lebte damals auf ihrem Schlosse, nahe bei einem unserer Güter, verbittert, vereinsamt und einzig auf ihren lebhaften Geist angewiesen, mit dessen Hilfe sie an alles den Maßstab ihrer scharfen Kritik zu legen pflegte. Fast ein ganzes Jahr hindurch hatten wir gemeinsam in endlosen Gesprächen das Leben in allen seinen Formen und Gestalten an uns vorüberziehen lassen und dabei stets den Tod als den Ausgang aller Dinge betrachtet: nun mußte ich es mit meinen eigenen Augen ansehen, wie dieser Tod, von dem wir oft zusammen gesprochen hatten, auch von ihr Besitz ergriff...«
Nach dem Gesetz der Wahlverwandtschaft mußte sich allerdings der frühreife junge Constant von einer Persönlichkeit wie Frau von Charrière ebenso fasziniert und angezogen fühlen, wie sie von ihm, und das wechselseitige Gefallen der beiden an Jahren so ungleiche Menschen war so stark, daß sie sich in dieser Pariser Zeit Monate lang nicht nur die halben Tage, sondern auch ganze durchwachte Nächte im Austausch ihrer Meinungen, Urteile und Anschauungen über Gott und Welt und alle Zeit- und Streitfragen – und deren gab es an der Grenzscheide zweier Zeitalter nicht zu wenige! – ergehen konnten. Der durchdringende, überlegene Verstand, die Menschenkenntnis der allen Illusionen und allem Autoritätsglauben abholden Frau, ihr Haß gegen alle Vorurteile, Gemeinplätze, Konventionen ward nun der Wetzstein, an dem sich Constants eigener Skeptizismus, seine Neigung zur Paradoxie und sein – für den späteren Parlamentarier charakteristisches – Debattiertalent schärfen konnten, und gerade der große Altersunterschied mag das seinige dazu beigetragen haben, alle durch die Verschiedenheit des Geschlechts sonst bedingten Schranken des Vertrauens fallen zu lassen.
Es erhöhte die freie Kameradschaftlichkeit dieses Verkehrs, daß Frau von Charrière niemals daran dachte, ihren jungen Freund demoralisieren zu wollen, wozu seine Lebensführung einer minder vorurteilsfreien Natur Anlaß genug gegeben hätte. Besonders nach dem Scheitern seines Heiratsplans hatte er sich mehr denn je seiner Spielsucht wieder überlassen, die ihn immer tiefer in Schulden geraten ließ. Seinem eigenen Bekenntnis nach spielte er oft Abend für Abend bis tief in die Nacht und suchte dann noch Frau von Charrière, deren Gewohnheit es war, erst um sechs Uhr früh schlafen zu gehen, in ihrem Hotel auf, um ein paar Stunden im Gespräch mit ihr zu verbringen und hinterher bis Zum Nachmittag zu schlafen. Was nicht ausbleiben konnte, geschah: Oberst Constant, der von der Lebensweise seines Sohnes unterrichtet wurde, verlor die Geduld und zitierte ihn zu sich nach Holland. Aber Benjamin fühlte sich nun entweder schon zu alt, um sich der väterlichen Zuchtrute so ohne weiteres beugen zu wollen, oder durch den Einfluß seiner Freundin schon zu sehr im Zuge, wider alles Hergebrachte und Gesetzmäßige zu revoltieren; und da sein Vater schließlich einen Adjutanten nach Paris entsandte, in dessen Begleitung Benjamin die Reise nach Hertogenbosch antreten sollte, entwich er kurz entschlossen mit dreißig Louis in der Tasche, die er sich von Frau von Charrière geborgt hatte, fast ohne alles Gepäck nach Calais und von hier nach England, das ihm als das rettende Gestade der Freiheit und Unabhängigkeit erschien.
Diese abenteuerliche und planlose Reise ins Blaue entsprach ganz Constants Eigentümlichkeit, sich von plötzlichen Eingebungen leiten zu lassen. »Was mich so oft in meinem Leben,« schreibt er selbst, »zu gewagten und verblüffenden Schritten veranlaßt hat, die einen besonders entschlossenen Charakter vorauszusetzen schienen, war gerade der absolute Mangel an solcher Entschlossenheit und das Gefühl, das ich stets dabei hatte, daß das, was ich tat, nichts weniger als mein unwiderruflicher Vorsatz war.« Mit noch fünfzehn Louis in der Tasche kam er Ende Juni 1787 in London an, ohne eine Menschenseele zu kennen und ohne sich über die Dauer seiner Barmittel Sorge zu machen. Er fand es anfangs wundervoll, einmal ganz unkontrolliert und ungekannt zu sein, und schaffte sich im Hochgefühl dieser Unabhängigkeit zunächst für zwei Louisdor ein Paar Hunde und einen Affen an. Da er sich jedoch mit diesem Vierhänder nicht vertrug, tauschte er ihn gegen einen dritten Hund ein und vertauschte, ein andrer Hans im Glück, die beiden ersten dem Händler wieder um den vierten Teil des Kaufpreises. (Man muß solche kleinen Züge erwähnen, weil sie für Constant fast charakteristischer sind, als die großen Handlungen und Wandlungen seines Lebens.) Ein paar Wochen trieb er sich planlos in London herum, wo er ein paar Bekanntschaften aus Lausanne und Paris erneuerte; dann schlug er sich, fast ohne Barschaft und nicht ohne ernstliche Gefahren, in die ihn sein Leichtsinn brachte, zu Fuß, zu Pferd oder zu Wagen bis hinauf nach Edinburg zu seinen früheren Studienfreunden durch. Zum ersten Male lernte er in diesen Wochen einsamer Wanderungen und Ritte den Hochgenuß des ungestörten Alleinseins kennen, dem in späteren bewegten und ruhelosen Jahren immer wieder seine Sehnsucht galt. Er spielte mit dem Gedanken, Europa ganz zu verlassen und sich als Farmer im fernen Virginien anzusiedeln. Und in der Wertherstimmung, zu der die Heimat Ossians die natürlichen Kulissen lieferte, begann er einen Roman in Briefen zu schreiben, der freilich weder jetzt noch später über die ersten paar Kapitel hinauskommen sollte.
Seinem Vater hatte er gleich von London aus einen langen Entschuldigungsbrief geschrieben, in dem er Gesellschaftsekel und Einsamkeitsbedürfnis als Grund seiner Reise vorschützte und ihn bat, ihm fünfzehn- oder zwanzigtausend Livres von seinem mütterlichen Vermögen auszubezahlen, damit er damit nach Amerika auswandern und sich eine Existenz gründen könne; er erhielt aber vorerst weder eine Antwort noch einen roten Heller und mußte endlich notgedrungen an die Heimreise denken. Sein bester Freund aus der Edinburger Studienzeit, John Wilde, der ein paar Jahre später wahnsinnig werden sollte, half ihm beim Abschied mit zehn Guineen aus. Erst bei der Wiederankunft in London, als er abermals von Mitteln gänzlich entblößt war, fand er Briefe seines Vaters vor, der ihm die schneidendsten Vorwürfe und zugleich die Eröffnung machte, daß er auf keinerlei finanzielle Hilfe von ihm zu rechnen habe. Mit Mühe und nicht ohne Demütigung gelang es ihm noch einmal, von einem Londoner Arzte, der gleichfalls in Edinburg studiert hatte, wenigstens die Mittel zur Reise bis Calais zu borgen, wo er drei Monate nach der Ausfahrt, reichlich ernüchtert von seinem improvisierten Ritt ins alte romantische Land der Stuarts, am 1. Oktober eintraf und nach Verpfändung seiner goldenen Uhr die Weiterreise über Brügge und Antwerpen nach Hertogenbosch, der Garnison des Alten, antrat.
Der Gedanke, seinem Vater nach dieser leichtsinnigen Odyssee als verlorener Sohn gegenüberzutreten, hatte ihm schon unterwegs die heftigsten Beklemmungen verursacht. Das Bewußtsein seiner Schuld drückte ihn tief darnieder, und längst hatte er unter Selbstvorwürfen die grenzenlose Unbesonnenheit verwünscht, durch die er den ihm auf der Welt am nächsten stehenden Menschen in monatelangem Kummer und Aufregung erhalten, vielleicht sogar krank gemacht. Aber wenn er auf einen drohend stürmischen oder eisig strafenden Empfang gerechnet hatte, so sollte er sich darin wenigstens geirrt haben: sein Vater, der gerade mit anderen Offizieren bei einer Whistpartie saß, als er unvermutet ins Zimmer trat, begrüßte ihn so gelassen und höflich, als wenn nichts geschehen wäre, und verriet mit keinem Worte, was in all den Monaten der Ungewißheit und Sorge in ihm vorgegangen war. Benjamin hätte den heftigsten Auftritt dieser ihm unheimlichen Selbstbeherrschung vorgezogen. Er war mit dem Bedürfnis gekommen, sich seinem Vater reuig an die Brust zu werfen, durch eine rückhaltlose Aussprache sein Vertrauen und seine Liebe zurückzugewinnen: die vorwurfslose, kühle Gelassenheit, der er begegnete, empfand er verletzend, und das Wort, das den Bann hätte brechen können, blieb ungesprochen. Der Oberst, der darauf gewartet haben mochte, daß Benjamin den ersten Schritt seiner Verzeihung entgegen tue, gab ihm schon nach drei Tagen die Weisung, nach Lausanne zu reisen, ohne daß es zu einer Aussprache gekommen wäre.
Das eigentümliche Verhältnis zwischen Vater und Sohn, das dieser Vorgang beleuchtet, kann nicht besser gekennzeichnet werden, als Benjamin selbst es später zu Beginn seines Romans »Adolphe« getan hat. Nachdem Adolphe die chevalereske Nachsicht gerühmt, mit der sein Vater sich seiner jugendlich leichtsinnigen Lebensführung gegenüber stets verhalten hatte, charakterisiert er sein Empfinden diesem gegenüber also: »Ich war von seinem Recht auf meine Dankbarkeit und meinen Respekt ganz und gar durchdrungen: aber ein innigeres Verhältnis hatte sich niemals zwischen uns herausgebildet ... Ich fand in ihm, wenn auch keinen gestrengen Richter, so doch einen Beobachter von kaltem Blute und kaustischer Schärfe, der im Gespräch mit mir zuerst ein halb mitleidiges Lächeln aufsetzte und nach einer Weile regelmäßig mit einiger Ungeduld die Unterhaltung abzubrechen suchte. Ich kann mich nicht erinnern, bis zu meinem achtzehnten Jahre auch nur einmal eine Stunde mit ihm vernünftig gesprochen zu haben. Seine Briefe an mich waren zärtlich und voll von vernünftigen und teilnahmsvollen Ratschlägen; kaum aber standen wir uns dann wieder Aug in Auge gegenüber, so nahm sein Wesen etwas merkwürdig Gezwungenes an, was mich um so erkältender berührte, als ich es mir auf gar keine Weise zu erklären vermochte ... Ich wußte eben damals noch nichts von jener Zagheit des Herzens, die uns als ein verborgenes Leiden bis in das höchste Alter begleitet, uns die heißesten Gefühle nach außen hin verleugnen läßt, unseren Worten den Ton empfindungsloser Kälte gibt, in unserem Munde selbst noch den Sinn dessen verändert, was wir eigentlich sagen wollten, und unserer ganzen Ausdrucksweise eine gewisse Unbestimmtheit oder den Anstrich einer mehr oder minder bitteren Ironie verleiht, gleich als wollten wir uns an unseren eigenen Empfindungen schadlos halten für den Schmerz, den es uns verursacht, sie nicht offenbaren zu dürfen. Und so wußte ich damals auch nicht, daß mein Vater an diesen Gefühlsstockungen sogar seinem Sohne gegenüber litt, und daß er manches Mal, wenn er lange genug auf eine Äußerung der Zärtlichkeit meinerseits gewartet hatte, von der mich eben seine scheinbare Kälte zurückhalten mußte, mit Tränen im Auge bei anderen Leuten darüber klagte, daß ich, sein einziges Kind, ihm keine Zuneigung entgegenbringe.«
Man muß sich gegenwärtig halten, daß Benjamin, der schon bei der Geburt seine Mutter verloren hatte, ohne Geschwister zu besitzen, von seinem siebenten Jahre an keine andere Gemütspflege erfuhr, als die Aufsicht dieses verschlossenen Vaters, um die seelische Zersetzung zu verstehen, unter der sein Charakter frühzeitig zu leiden hatte. Schwerlich wußte jemand dies besser zu beurteilen, als Benjamins kluge Cousine und Freundin Rosalie de Constant, die in einem ihrer Briefe gelegentlich von ihrem Onkel Juste-Arnold bemerkt: »Niemand verstand, wenn er wollte, so durch eigenartige Liebenswürdigkeit zu bezaubern wie er, niemand aber auch so tödlich durch die Bitterkeit einer überlegenen Ironie zu verwunden.«
Die Reise Benjamins nach Lausanne führte diesmal über Colombier, wohin Frau von Charrière mit ihrem Gatten erst wenige Wochen vorher aus Paris zurückgekehrt war, und hier wurde in den ersten Oktobertagen ein lebhaft bewegtes Wiedersehen gefeiert, wenn auch zunächst nur für die Dauer weniger Tage. Während der ganzen abenteuerlichen Reise durch England und Schottland hatte Constant nicht aufgehört, Brief auf Brief an die neugewonnene Freundin abzusenden und ihr bald im Ton ironischer Selbstverspottung, bald in dem einer etwas forcierten Abenteuerlustigkeit und mit einer gewissen vertraulichen Frivolität, die manchmal hart die Grenzen des Taktes streifte, über seine Ergebnisse und Stimmungen zu berichten. In einem der letzten dieser aus England datierten Briefe teilte er ihr bereits mit, daß er auf Wunsch seines Vaters wahrscheinlich in die Hofdienste des Herzogs von Braunschweig treten werde, der damals als Oberbefehlshaber der preußischen Truppen in Holland weilte und bei dieser Gelegenheit mit Oberst Constant in nähere Fühlung gekommen war. Und in der Tat erreichte ihn jetzt, kaum wenige Wochen nach seinem Eintreffen in Lausanne, das definitive Gebot des Vaters, sich für Dezember zur Übersiedlung nach Braunschweig bereit zu halten: eine Entscheidung übrigens, die ihm keineswegs unwillkommen war, denn sie versprach, in sein unstetes und zerfahrenes Leben endlich eine gewisse Ordnung und Stetigkeit zu bringen, zugleich aber auch, ihm eine größere persönliche Unabhängigkeit zu sichern, als er sie bisher genossen hatte.
Vor dem Antritt der Reise nach Deutschland gedachte er noch einige Tage in Colombier zu Gaste zu sein, aber kaum dort angekommen, erkrankte er ernstlich, und aus den acht Tagen seines Bleibens wurden ebenso viele Wochen, während deren ihn die Herrin des Hauses mit der erdenklichsten Sorgfalt pflegte und betreute. Hier im Winterfrieden ländlicher Abgeschiedenheit genoß der Zwanzigjährige, der seit frühester Kindheit ein heimatloses Wanderdasein geführt, nie ein Vaterhaus, ein Mutterherz oder Geschwister besessen hatte, zum ersten Male etwas wie ein Daheim, das ihn die weichere Rekonvaleszentenstimmung noch wohltuender empfinden ließ, einen Zufluchtsort, wo sein Wähnen Frieden fand, so weit seine ruhelose Natur des Friedens überhaupt fähig war.
Es liegt auf der Hand, daß das ungewöhnliche Verhältnis vielfach in einem für die Gattenehre des Herrn von Charrière wenig schmeichelhaften Sinne interpretiert worden ist. Sainte-Beuve insbesondere, der seine Feder stets in eine Mischung von Honig und Essig zu tauchen pflegte, wenn er über den ihm antipathischen Constant schrieb, hat es nicht unterlassen, dem jungen Benjamin seiner »marraine« gegenüber die Rolle eines Cherubin zuzuerkennen, wie sie etwa der junge Rousseau bei Frau von Warens gespielt hatte, und viele haben ihm gutgläubig nachgeschrieben. Aus einer ganzen Anzahl von inneren und äußeren Gründen darf man eine derartige Intimität für völlig ausgeschlossen halten. Schon die Einzelheiten der großenteils erhaltenen Korrespondenz sprechen unbedingt dagegen. Ganz abgesehen davon, daß die beiden Menschen ein Altersunterschied von siebenundzwanzig Jahren trennte: eine Frau, mit der ihn auch erotische Fesseln verbanden, hätte Constant niemals mit dieser Offenherzigkeit, ja Rücksichtslosigkeit zur Vertrauten seiner Liebes- und Heiratsaffären gemacht, wie er es erst von England, später von Braunschweig aus getan hat. Und dann: sein Charakter hatte manche große Schwäche, zweifellos, aber einer Schuftigkeit war er, der in zahlreichen Duellen seine Ehre verteidigt hat, absolut unfähig, und nichts anderes wäre es gewesen, wenn er die Gastfreundschaft des schlichten und gütigen Herrn von Charrière dazu mißbraucht hätte, ihn zum Menelaos zu machen, überdies mit einer Helena, die den Jahren nach reichlich seine Mutter sein konnte.
Von seiner Seite fehlte diesen Beziehungen jedenfalls jeglicher erotische Einschlag: bei Frau von Charrière, in der viel unverbrauchte Gefühlskraft lebte, zumal ihr das Mutterglück versagt geblieben war, wird man ein solches Empfinden trotz ihrem Alter nicht ohne weiteres von der Hand weisen dürfen, – war nicht um dieselbe Zeit auch die sechsundfünfzigjährige Frau Aja dem jungen Unzelmann gegenüber in ähnlicher Herzenslage? – aber verraten hat sie es niemals, und unter allen Umständen überwog doch auch bei ihr das reine Gefühl einer »maternité intellectuelle«. Wie als junges Mädchen im Briefwechsel mit dem geistreichen Voltairianer David Constant d'Hermenches, fand sie jetzt als alternde Frau in seines ihm geistesverwandten Neffen Benjamin ganzer Urteils- und Anschauungsweise einen so stark mitschwingenden Resonanzboden ihrer eigenen Natur, daß das Verhältnis für sie wohl kaum einen geringeren, eher einen größeren Reiz hatte, als für jede andere ein Liebesverhältnis. Sie fühlte, wie sehr sie sein Denken beeinflußte – befruchtete wäre bei einer das Leben so verneinenden Persönlichkeit nicht das treffende Wort – und ihm die Richtung gab, und sie liebte ihn um dieses Einflusses willen fast wie ihr eigenes Geschöpf. Nichts ist bezeichnender für den wahren Charakter ihrer Gefühle, als der Umstand, daß nicht Constants Verheiratung es war, die ihre Beziehungen trübte und löste (obwohl er zunächst in seine Frau wirklich verliebt war und in seinen Briefen nach Colombier daraus kein Hehl machte), sondern erst fünf Jahre später seine Eroberung durch Frau von Staël, deren geistiger Einfluß den Isabellens von Charrière abzulösen bestimmt war.
Der endgültige Abschied von Colombier – Mitte Februar 1788 – fiel Benjamin so schwer, als werde er aus einem Paradies vertrieben. Seine Briefe von der Reise – und er schrieb von jeder Station unterwegs – atmen nichts als Dankbarkeit und Heimweh. »So lange Sie leben und so lange ich lebe,« schreibt er, »und in welcher Lage ich mich auch befinden mag, immer wird mich der Gedanke begleiten: es gibt ein Colombier! Bevor ich Sie kannte, sagte ich mir: wenn es zu schlimm kommt, kann ich mich töten. Jetzt denke ich: wenn die Menschen mir das Leben gar zu unerträglich machen, winkt mir in Colombier eine Zufluchtsstätte.« Und ein andermal freut er sich noch in der Erinnerung der Ruhe, der Gesundheit und des Glücks, das er im Hause Charrière gefunden, und fügt melancholisch hinzu: »Die Ruhe und das Glück sind nun dahin, nur die Gesundheit ist mir noch geblieben, wenn schon durch diese gräßliche und dumme Reise etwas erschüttert. Aber gerade aus diesem von Ihren Geschenken mache ich mir am wenigsten, und ich gäbe zehn Jahre Gesundheit in Braunschweig für ein Jahr Krankheit in Colombier.« Auf diesen Ton sind die Briefe durchweg gestimmt, aus denen im übrigen noch hervorgeht, daß die Verwandten in Lausanne an dem langen Intermezzo in Colombier Ärgernis nahmen und daß der Stadtklatsch dort allerhand ähnliche Blasen getrieben hatte, wie späterhin in Sainte-Beuves anzüglich-verkniffener Darstellung.