Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Zu Beginn des Jahres 1807 hatte Benjamin Constant in sein Tagebuch notiert: »Je vais commencer un roman qui sera mon histoire«; und nur wenige Zeilen dahinter! »J'ai fini mon roman en quinze jours.« Der Roman »Adolphe« wurde demnach in Paris zu einer Zeit geschrieben, als er sich unter Vorwänden wenigstens für einige Monate von der noch in Acosta weilenden Frau von Staël freigemacht hatte und unmittelbar vor der neuen Anknüpfung mit Charlotte du Tertre stand. Für seinen Verfasser bedeutete er damals nichts mehr und nichts weniger als einen Versuch der Selbstbefreiung, einer Katharsis, entsprungen dem Bedürfnis, seine Seele von der aufgesammelten Spannung zu entladen und seine qualvolle verworrene innere Situation in einem umfassenden Selbstbekenntnis darzustellen und verständlich zu machen. Andere, rein literarische Absichten verband er mit der kleinen Arbeit nicht, deren Wert er selbst zunächst nicht hoch anschlug.
Gleich nach der Niederschrift begann er den Roman da und dort einzelnen seiner Bekannten vorzulesen, erst Hochet, dann Boufflers, dann Madame Récamier und Claude Fauriel, dann anderen. Die Näherstehenden erkannten ohne weiteres die autobiographischen Spiegelungen des Werkes, aber auch die Fremderen entzogen sich seiner eigentümlichen Wirkung nicht, und diese »Adolphe«-Vorlesungen bildeten längere Zeit eine kleine Sensation der literarischen Gesellschaftskreise. In den vier Jahren bis zu seiner Übersiedlung nach Göttingen und später wieder vor und während der Hundert Tage hat Constant den Roman seiner eigenen Angabe nach insgesamt wohl fünfzig Mal in kleinerem und größerem Kreise vorgelesen, und der Eindruck, den er damit zu machen pflegte, hätte seiner Autoreneitelkeit schmeicheln dürfen, wenn nicht für ihn selbst diese Vorlesung jedesmal ein angreifendes Erlebnis gewesen wäre. »Man muß dabei gewesen sein,« sagt Prosper de Varante in seinen Lebenserinnerungen, »wenn Constant seinen ›Adolphe‹ persönlich vorlas: die wachsende innere Ergriffenheit riß ihn mit sich und die Tränen überströmten zuletzt sein Gesicht, so stark wirkten jedesmal Erinnerung und Einbildungskraft auf sein leicht bewegliches Empfinden.« Und der Herzog von Broglie, der gleichfalls mehreren Vorlesungen als Zuhörer beiwohnte, bekennt, obwohl ihm wie jede Art von Bekenntnisromanen so dieser ganz besonders antipathisch war, daß an einem Gesellschaftsabend bei Madame Récamier die Zuhörer trotz der ermüdenden Vorlesungsdauer von drei Stunden wie unter einem Banne gestanden und zum Schlusse heftig geweint hätten, bis das nervöse Schluchzen einiger Damen in ein ebenso konvulsivisches Lachen überging, das die andern und den Autor selbst ansteckte und damit die Spannung der Gemüter löste.
So hatte der Roman, trotzdem er einstweilen nur als Manuskript existierte, schon ein ziemlich großes Publikum gefunden und genoß eine gewisse Berühmtheit in der Gesellschaft, der sein Verfasser angehörte. Und da sich in London verschiedene seiner Bekannten befanden, die davon wußten oder gehört hatten, sah sich Constant auch hier öfters – in einer einzigen Woche viermal – zu Vorlesungen genötigt, deren eine übrigens die durch ihr Verhältnis mit Lord Byron bekannte Lady Caroline Lamb derart begeisterte, daß sie ihm – nach einem Berichte Sismondis an die Gräfin d'Albany – vor aller Welt eine exzentrische Liebesszene machte. Der Gedanke an eine Veröffentlichung in Buchform, die Constant noch zuletzt 1810 einem Pariser Verleger trotz dessen glänzendem Angebot abgeschlagen hatte, trat jetzt, da schon manches darin abgespiegelte Erlebnis mit dem Spinnweb der Vergessenheit verschleiert schien, von neuem an ihn heran, und er entschloß sich dieses Mal, ihm nachzugeben und damit – wie er sich in einem Briefe an Juliette Récamier vom Juni 1816 melancholisch ausdrückt – »vielleicht der letzten literarischen Eitelkeitsregung meines Lebens, denn mein Talent ist erschöpft.«
Man hat »Adolphe« einen französischen Wertherroman, wohl gar ein französisches Gegenstück zum Werther genannt. Ihn so zu klassifizieren hat man nur ein sehr bedingtes Recht. Von dem allumfassenden Gefühlsüberschwang, der idealen Natursehnsucht, dem tiefen Herzensrausche des goethischen Jugendromans geht kein Atemzug durch das französische Werk. Gemeinsam ist beiden nur, daß sie die Entstehung, Krisis und tragische Lösung eines Liebesromans im psychologischen Brennglase zeigen, daß sie beide – wenn auch in verschiedenen Graden – den Reiz des Selbsterlebten und Selbsterlittenen besitzen, und daß sich in beiden ein Stück Jahrhundertseele spiegelt. Aber der Kreis, in dem sich die Leiden des jungen Adolphe um den Mittelpunkt des eigenen Ichs bewegen, besitzt einen ungleich kleineren Durchmesser als der Äquator der Goethe-Wertherschen Gefühlswelt, in der ein ganzes Zeitalter sich selbst erkannte, und man tut Constant Unrecht, wenn man mit solchen Parallelen falsche Maßstäbe herausfordert. Selbst innerhalb der französischen Romanliteratur, soweit sie durch Rousseau ihre neue Richtung erhalten hatte, läßt sich die Stellung oder Wirkung des »Adolphe« nicht mit der des »Werther« in Deutschland irgendwie vergleichen, und trotzdem er in demselben Jahrzehnt entstand, wie die beiden eigentlichen Wertherromane Frankreichs, Chateaubriands »René« und Senancours »Obermann«, und mit beiden ein paar typische Grundzüge der Zeit gemeinsam hat, nimmt er diesen wie allen Romanen der sogenannten Emigrantenliteratur gegenüber seine besondere selbständige Stelle ein und hat sie bis auf den heutigen Tag behalten. Nicht als Nachläufer Werthers, nicht als Mitläufer Renés und Obermanns, die man heute nur noch mit frostiger Langeweile genießt, sondern als überraschend früher Vorläufer des modernen analysierenden Seelenromans hat sich »Adolphe« so ziemlich allein von allen Werken der »verkümmerten Romantiker«, die – nach einem Ausdruck Ernst Seillières – der eigentlichen Romantik in Frankreich vorangingen, den Anspruch auf unser ungemindertes Interesse bewahrt. Mit seiner eigenen Zeit teilt er nur jene unzufriedene Grundstimmung, in die so viele der damaligen Intellektuellen nach der Jahrhundertwende durch den beklemmenden atmosphärischen Druck der Napoleonischen Gewaltherrschaft versetzt worden waren, jenen typischen »ennui«, der das spätere »mal du siècle«, den Weltschmerz, vorbereitete; aber gerade diese Grundstimmung, die mit der Neurasthenie unseres eigenen Zeitalters eine entschiedene Verwandtschaft besitzt, läßt uns die Persönlichkeit Adolphes mit der Polychromatik ihrer Gefühle und ihrem Selbstbeobachtungszwang so merkwürdig modern erscheinen. Es wäre schwer möglich, sich einen René mit seinen inneren und äußeren Erlebnissen als ein Kind unserer Zeit vorzustellen: bei »Adolphe« würden ein paar leichte äußere Änderungen genügen, ihn zu einem modernen Roman zu machen, denn was er erlebt und wie er es erlebt, könnte mit kaum größerer psychologischer Schärfe und Wirklichkeitstreue, höchstens mit größerer Pflege des realistischen Details, den Gegenstand eines Romans etwa von Bourget oder Strindberg bilden.
Constants eigentümliches Verhältnis zu seinem Vater, der Einfluß, den Frau von Charrière auf seine Jugend und Weltanschauung geübt hatte, seine Erfahrungen mit der kleinstädtischen Hofgesellschaft in Braunschweig, das alles hat in den einleitenden Abschnitten des kleinen Ich-Romans und in Adolphes knapper Selbstcharakteristik seinen Niederschlag gefunden. Und nichts vielleicht ist bezeichnender für diesen ohne Kindheit und Naivetät herangewachsenen jungen Menschen, als der Umstand, daß er nicht abwartet, bis der Götterfunke der Liebe von selbst den Weg zu seinem Herzen findet, sondern in dem einmal gefaßten Vorsatze, geliebt zu werden, in seinem Gesellschaftskreise auf die Suche geht, bis ihm die um zehn Jahre ältere Geliebte eines Grafen P. als ein würdiger Gegenstand der Umwerbung erscheint. Ganz planmäßig und bewußt beginnt er sich für diese Ellénore, eine polnische Aristokratin, die mehr ihrer Schönheit und liebenswürdigen Weiblichkeit, als ihren Geistesgaben eine leidlich befestigte gesellschaftliche Stellung dankt, zu interessieren, sie zu studieren, ein Problem daraus zu machen, wie er sie gewinnen könnte; und da der Erfolg seiner einmal gereizten Eitelkeit nicht rasch genug entspricht, entwickelt sich aus dem ungeduldigen Wunsche, um jeden Preis zu gefallen und zu siegen, ein immer heftigerer, ins Maßlose gesteigerter Entzündungszustand, dessen Fiebergrade dem davon Befallenen alsbald das untrügliche Symptom einer großen Liebesleidenschaft dünken und ihm seiner Meinung nach ein Recht darauf geben, in Ellénores Leben das Schicksale zu spielen. Mitleid, Sympathie, Interesse, Zärtlichkeit lassen im Herzen der so stürmisch geforderten Frau allmählich wirklich die Liebe entstehen, die Adolphe selbst für sie zu empfinden sich einbildet, sie wird endlich sein, und eine ganze Weile dauert der heimliche Glückszustand an, genau so lange, als in Adolphe die Einbildungskraft seine Illusionen gegen die kritisch zersetzende Selbstbeobachtung zu verteidigen vermag.
Unmerklich beginnt ihm dann Ellénores Leidenschaft für ihn, deren Entfachung vordem sein blindlings verfolgtes Ziel gewesen war, durch die Ausschließlichkeit, mit der sie auf ihn, seine Zeit, seine Gedanken Anspruch erhebt, erst unbequem zu werden, dann seinen Widerspruch zu reizen: es kommt zu Vorwürfen, zu Verstimmungen, zu Szenen, und da Ellénore opferwillig die Konsequenzen ihres Schrittes auf sich nimmt und den Grafen samt ihren beiden Kindern um Adolphes willen aufgibt, sieht sich dieser vom Rückzug in seine Unabhängigkeit abgeschnitten und sich selber, der Welt und seinem Vater gegenüber mit der vollen Verantwortung für seine Handlungsweise beladen. Damit beginnt sein tragischer Konflikt, der Konflikt eines Menschen, der aus ewiger Furcht vor dem Schmerz, den er einem andern Herzen nicht verursachen will, zwischen Großmut und Verstellung, Mitleid und Lüge, Zartgefühl und Grausamkeit hin- und hergetrieben wird, sein Gewissen mit seinem Stolz, seinen Stolz mit seinem Pflichtgefühl, sein Pflichtgefühl mit moralischen Sophismen zum Schweigen zu bringen sucht und sich so immer wieder von einer Selbsttäuschung, einer Galgenfrist zur andern rettet, nur um der harten Notwendigkeit einer Entschließung zu entgehen. Ein Tantalus seiner Empfindungen, vermag er weder aus der tiefen Flut einer ursprünglichen und großen Leidenschaft zu trinken, die vor seinen dürstenden Lippen zurückweicht, noch den rettenden Zweig der Freiheit zu erhaschen, der bei seinem Zugreifen jedesmal tückisch emporschnellt. Was alles an seelischen Foltern, an Reue, Bitterkeit, Selbstvorwürfen, Empörung in Benjamins Journal intime eine lange weite Strecke auseinandersteht, kommt hier dem Leser in konzentrierter Darstellung zur Hand. Deutlich nimmt das unlösbar gewordene Verhältnis Ellénores zu Adolphe den Zickzacklauf und den stürmischen Charakter an, den zur Zeit, da der Roman geschrieben wurde, die Beziehungen seines Verfassers zu der Kalypso von Coppet noch lange nicht verloren hatten. Dieselbe Gewitterstimmung, derselbe jähe Wechsel zwischen maßloser gegenseitiger Erbitterung und Versöhnungsszenen, derselbe chronische Zustand der Beargwöhnung und Gereiztheit herrscht im Roman wie in der Wirklichkeit. Die Briefe von Adolphes Vater an den allen Vorstellungen unzugänglichen Sohn könnten wörtlich von dem alten General Constant herrühren, die letzte freiwillige Gefangenschaft Adolphes auf dem entlegenen polnischen Landguts Ellénores gleicht ganz so mancher Situation, die Benjamin in Coppet erlebt hatte, die kritische Haltung der Gesellschaft, die sich von Adolphes Verhalten skandalisiert fühlt und seine Motive falsch beurteilt, ist dieselbe, unter der auch Benjamin so oft zu leiden hatte. Nur darin liegt der Fall Adolphes pointierter als der seines Urbildes, daß Ellénore um seinetwillen die mühsam eroberte gesellschaftliche Stellung an der Seite des Grafen, ihres langjährigen Beschützers, aufgibt und durch das ihm unerwartete und unerwünschte Opfer ihrer äußeren Existenz in Adolphes Ritterlichkeit einen erzwungenen Bundesgenossen ihrer Ansprüche findet. Diese Verschärfung des Konflikts ist ein ebenso feiner Zug, wie das Motiv, das schließlich die Katastrophe herbeiführt: daß Adolphe einem älteren Freunde seines Vaters gegenüber im Trotz des Augenblicks sein Ehrenwort verpfändet, sich endlich wirklich von Ellénore zu trennen, und daß der Freund, um den gleichwohl unschlüssigen jungen Menschen endgültig zum Werthalten zu zwingen, diesen Brief nach Ablauf der Frist an Ellénore gelangen läßt und damit der ohnehin Herzleidenden den Todesstoß versetzt, an dem sie allmählich dahinsiecht. Der berühmte Schlußakt der »Kameliendame« und der »Traviata«, das Paradestück aller Sarah Bernhardts und Koloraturprimadonnen, hat im letzten Kapitel des »Adolphe« sein literaturgeschichtliches Urbild.
Für Ellenore aber nach alledem das direkte Modell in Frau von Staël zu sehen, wie es in der Regel geschieht, wäre falsch. Frau von Staël hat schlechterdings zu keinem Zuge dieser unglücklichen Frau Modell gestanden. Alles Äußere der Persönlichkeit Ellénores deutet vielmehr sehr bestimmt auf jene Madame Lindsay, zu der Benjamin Constant in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts Beziehungen unterhalten hatte. Wie Ellénore Polin ist und in der Sprache die Ausländerin verrät, war Madame Lindsay Irländerin. Wie jene dem Grafen P. in sein politisches Exil gefolgt war, so diese dem Grafen Auguste de Lamoignon, einem Emigrierten, dessen Exil sie in London jahrelang getreulich teilte und dem sie, wie Ellénore ihrem Beschützer, zwei Kinder schenkte. Auch das wenige, was über die hochherzige Persönlichkeit der Irländerin bekannt ist, selbst der Altersunterschied, der sie von Constant trennte, stimmt mit ihrem Ebenbilde im Roman überein, und wenn Prosper de Barante von ihr erwähnt, sie habe, nach allem was er gehört, Constant mehr geliebt als irgend eine andere Frau, so macht dieser Umstand es nur verständlicher, daß der Autor des »Adolphe« sie im Auge hatte, als er Ellénore von sich sagen ließ: »Liebe war mein ganzes Leben!« Gleichwohl sind auch Reminiszenzen an andere Frauen in der Erzählung leicht festzustellen: die Briefepisode, mit der Adolphe die näheren Beziehungen zu Ellénore einleitet, deckt sich mit dem früher erwähnten Abenteuer des achtzehnjährigen Benjamin in Lausanne, als dessen Gegenstand das autobiographische »Cahier rouge« die englische Gesandtin Madame Trevor nennt, und die ausführlich dargestellten Sterbestunden deuten auf den wochenlangen Tod seiner Freundin Julie Talma, dessen erschütterter Zeuge er zwei Jahre vorher gewesen war. Flüchtig taucht auch einmal Madame Récamier in der Episodenfigur einer vermittelnden Freundin auf.
Dagegen ist freilich Adolphe selbst in allen wesentlichen Zügen seinem Verfasser aus dem Gesicht geschnitten, und aus diesem Umstände erklärt es sich, daß man Ellénores Persönlichkeit mit der Rolle verwechselte, die sie in dem Roman zu spielen hat, und in ihr ohne weiteres das leicht maskierte Porträt Frau von Staëls sehen wollte. Adolphes ganze psychologische Situation Ellénore gegenüber ist allerdings dieselbe, in der er sich lange Jahre hindurch mit Frau von Staël befand; alles was Adolphe mit und ohne eigene Schuld leidet und leiden macht, ist durchaus der Reflex seines großen Herzenserlebnisses, und man muß es Constants Aufrichtigkeit zum Ruhme nachsagen, daß er sich selber nicht geschont hat. Er hat nicht die giftige und rachsüchtige »Beichte eines Toren« geschrieben, auch keine medisante Abrechnung im Stil von »Elle et Lui«. Sein Roman ist mehr bittere Selbstanklage, als Selbstverteidigung, kein Schatten einer Schuld, eines Vorwurfs fällt auf die Frau, die ein Opfer ihrer Liebe wird, und man fühlt aus allem nur den einen Wunsch des Verfassers heraus, seinen Helden wenigstens gerecht beurteilt zu sehen. In dem kurzen Nachwort des Buches, den beiden Briefen, die zwischen dem fingierten Herausgeber und einem ehemaligen Bekannten Adolphes gewechselt werden, bezeichnet ihn dieser geradezu »als das Opfer einer Mischung von Egoismus und Empfindsamkeit, aus der sich sein Wesen zu seinem und anderer Unglück zusammensetzte: als einen Menschen, der das üble stets voraussah, bevor er es tat, und verzweifelt bereute, nachdem es geschehen war: der mit seinen Vorzügen fast noch mehr gestraft war, als mit seinen Fehlern, weil diese Vorzüge nur seinem Gefühl, nicht seinem Verstande entsprangen: einen Menschen, der in beständigem Wechsel bald ganz Hingebung, bald ganz Härte war, aber immer mit der aufhörte, weil er mit der Hingebung begann, und der keine andere Spur von sich hinterließ, als das Unrecht, das er andern zugefügt hatte.« Schonungsloser und strenger ist Benjamin Constant selbst von seinen unbedingten Gegnern niemals charakterisiert worden. Aber diese Härte, sie mag für Adolphe gegeben sein, für Constant selbst ist sie übertrieben, denn sein eigenes Charakterbild weist noch eine ganze Reihe von bestimmenden Zügen auf, die in dem engen Rahmen des Romans keinen Platz finden konnten. So sicher die menschliche Tragik Adolphes diejenige Benjamin Constants selber war, so sicher war der Mensch Benjamin Constant weit mehr als nur ein Adolphe.
Frau von Staël hatte jedenfalls keine Ursache, den Roman und seine Veröffentlichung als Kränkung zu empfinden. Daß sie es dennoch könnte, scheint Constant selber besorgt zu haben, da er kurz nach dem Erscheinen des Buches noch aus London an Madame Récamier schrieb: »Ich fürchte, daß eine Person, auf die der Roman freilich nicht im entferntesten hindeutet, weder was die gesellschaftliche Stellung, noch was den Charakter angeht, sich dadurch verletzt fühlen wird.« Aber zwei Monate später sieht er sich dieser Befürchtung enthoben und kann an dieselbe Adresse berichten: »Adolphe hat keinerlei Verstimmung zwischen mir und jener Person hervorgerufen, deren unbegründete Empfindlichkeit ich fürchtete. Sie hat im Gegenteil meine Bemühung sehr wohl bemerkt, jede für sie kränkende Anspielung zu vermeiden.« Auch Sismondi, der langjährige Hausfreund von Coppet und in diesem Fall ein Kronzeuge, erkennt es in seinen Briefen an die Gräfin d'Albany besonders an, daß Constant von Ellénores Bilde jeden Zug der Ähnlichkeit mit Frau von Staël sorgfältig ferngehalten habe, aber in dem stürmischen, fordernden, verzehrenden Wesen ihrer Liebe sei freilich das eigentliche Urbild nicht zu verkennen, und die Ähnlichkeit in diesem ausschlaggebenden Punkte sei zu frappant, um nicht alle sonstigen Unterschiede aus dem Felde zu schlagen. »Ich erkenne,« äußert er, »den Autor des Buches fast auf jeder Seite wieder, und nie ist mir ein Selbstporträt von ähnlich verblüffender Treue vorgekommen. Er weiß alle seine Fehler und Schwächen verständlich zu machen, aber er entschuldigt sie durchaus nicht und bemüht sich nicht einmal, sie sympathischer erscheinen zu lassen. Es ist möglich, daß er in den ersten Jahren aufrichtiger in seiner Liebe war, als er sich im Roman darstellt: zu der Zeit, als ich ihn kennen lernte, glich er jedenfalls ganz und gar Adolphe, war er ebensowenig mehr wie dieser fähig, Liebe zu geben, ebenso wechselnd in seiner Stimmung, ebenso bitter und ebenso geneigt, aus Gutherzigkeit und Schwäche diejenige, deren Herz er zerrissen hatte, immer wieder durch Versprechungen und Beteuerungen zu täuschen.« Frau von Staël ihrerseits hat wohl gelegentlich erklärt, sie liebe diesen Roman am wenigsten von allem, was Benjamin geschrieben habe; aber es klingt beinahe wie ein ironisch-verstecktes Dementi, wenn sie dem hinzufügt: »Ich glaube nicht, daß alle Männer Adolphes sind, sondern nur die eiteln.« Sie war es jedenfalls, durch die unter andern auch Lord Byron bei seinem Aufenthalt in Coppet den Roman kennen lernte. Er las ihn auf ihren Wunsch und schrieb noch im Juli 1816 darüber seinem englischen Freunde Samuel Rogers (der zu Constants Londoner Bekannten zählte): »Ich habe Benjamin Constants › Adolphe‹ samt seinem Vorwort gelesen, worin er bestreitet, nach Modellen gearbeitet zu haben. Das Buch hinterläßt einen unerfreulichen Eindruck, wirkt aber sehr überzeugend in seiner folgerichtigen Darstellung einer erloschenen Liebe, dem vielleicht peinlichsten Zustand, der sich denken läßt. Ich bezweifle gleichwohl, ob alle solche › liens‹ (wie er sie nennt) so unglücklich enden, wie sein Held und seine Heldin.« Und nochmals, sieben Jahre später heißt es in einem Briefe Byrons an die Gräfin Blessington: »Ich sende Ihnen hier › Adolphe‹. Er enthält einige melancholische Wahrheiten, ist aber nach meiner Ansicht ein allzu tristes Buch, um jemals populär zu werden.«
Tiefer hat Constants Bekenntnisbuch ein paar Jahre später auf einen andern großen zeitgenössischen Dichter, auf Franz Grillparzer, gewirkt, der am 11. März 1829 in sein Tagebuch eintrug: »Gelesen: Adolphe von Benjamin Constant. Mit einem Einblick in das menschliche Herz geschrieben, der denjenigen schaudern macht, der sich in einer ähnlichen Lage befunden hat oder befindet.« Grillparzer befand sich in solcher Lage, und auch viele andere glaubten ein Stück ihres eigenen Selbst in Adolphe wiederzufinden. Selbst Sainte-Beuve, der sonst in der Beurteilung Constants immer als Staatsanwalt auftritt, konnte sich der Bewunderung für »Adolphe«, nicht entziehen: er nennt ihn ein vollendet und köstlich gemaltes – freilich auf graue Leinwand gemaltes – Pastell. Seine ausgesprochensten Verehrer aber hat der Roman begreiflicherweise erst in unserer Zeit gefunden, der er mit der Handhabung der psychologischen Sonde viele Jahrzehnte vorausgeeilt war. Einige der feinsten Köpfe des modernen Frankreich haben seiner Meisterschaft auf diesem Gebiete gehuldigt: Anatole France, der zu einer der jüngsten »Adolphe«-Ausgaben die Einleitung verfaßte, Paul bourget, der in dem Werke schon das ganze Martyrium des esprit d'analyse, jenes Hangs zur Selbstzerlegung und Selbstzerfaserung zu finden erklärte, der in der jetzigen Generation schon so viele Opfer gefordert habe, und Emile Faguet, der geistvollste lebende Essayist Frankreichs, der in seiner Sammlung »Politiqus et Moralistes du dixneuvisème siècle« dem »Adolphe« und seinem Verfasser eine tiefdringende Studie gewidmet hat.
In der mühelos beherrschten Differenzierung seelischer Verworrenheiten und ihrer fast mathematisch klaren Analyse ist »Adolphe« die erste frühe Frucht des modernen psychologischen Romans, und man muß schon bis zu Flauberts »Education sentimentale« und weiter bis zu manchen russischen und skandinavischen Seelenmalern vordringen, um auf Ähnliches zu stoßen. Der Begriff der Lebenslüge, den uns Ibsens Dramen geläufig gemacht haben, taucht hier zum ersten Male als tragisches Motiv in der erzählenden Literatur auf. Bis dahin hatten die männlichen Romanhelden das Zeitwort »lieben« nur in der aktiven und transitiven Form konjugiert: Adolphe ist der erste, den nicht die Liebe selbst ergreift, sondern die zunächst gegenstandslose Sucht, geliebt zu werden. Sein Vorsatz »Je veux être aimé!« bezeichnet eine neue Etappe in der Psychologie der Liebe, und es entspricht durchaus dieser seelischen Disposition, daß seine Wahl auf eine um zehn Jahre ältere Frau fällt, auf die »Frau von dreißig Jahren«, deren literarische Entdeckung sonst zumeist – nach Jules Janins Vorgang – erst Balzac gutgeschrieben wird. Die eigentümliche, aufgeregte Gefühlswelt, in die viele Frauen am Nachmittag ihres Lebens eintreten, wenn die Leidenschaft sie noch einmal oder überhaupt zum ersten Male trifft, dieser spätreife Nachsommer des weiblichen Herzens, der das erotische Erlebnis so viel schwerer und bitter-süßer, dunkler und tiefer, Verzicht und Enttäuschung aber um so grausamer empfinden läßt, hat in Ellénore ihr erstes literarisches Beispiel. Ein vordem unerschlossenes Klima der Frauenseele war damit der Darstellung gewonnen. Und zugleich vertritt die Geliebte Adolphes als erste den gesellschaftlichen Magdalenentypus der um ihrer freien Liebe willen deklassierten Frau, dem die spätere Romanliteratur so viele Abstufungen gegeben hat, der Damen mit und ohne Kamelien, der weiblichen Asra, welche sterben, wenn sie lieben, ohne wiedergeliebt zu werden.
In der Vereinigung solcher Eigenschaften und Besonderheiten erscheint dieser mehr als hundertjährige Roman tatsächlich als eine Kostbarkeit, um so mehr, als er nicht das Werk eines Dichters ist, sondern nur das eines geistreichen Schriftstellers, dem ein ungewöhnlich früh geschärftes Talent der Selbstbeobachtung in diesem Falle zu sagen gab, was er litt. »Ich könnte ihn heute nicht mehr schreiben,« gesteht er sich selbst, als er den Roman ein paar Jahre nach der Niederschrift in Deutschland wieder liest, und es bedarf dieses Eingeständnisses kaum. Nur ein unter jahrelangen seelischen Erregungen gepeitschtes, zu schmerzhaft-feiner Empfindlichkeit gesteigertes Innenleben konnte diese einer wirklichen Dichtung so ähnliche Kritik des eigenen Herzens zustande bringen. Sie war und blieb denn auch Constants einzige literarische Leistung, neben der das formlose Journal intime nur als Petschaft seiner Persönlichkeit Bedeutung hat.
Nach dem Zeugnis von J.J. Coulmann, Constants Jünger und anhänglichstem Freund aus den letzten Lebensjahren, der das Originalmanuskript noch gesehen, hat der Roman ursprünglich in anderer Fassung und mit einem Ausgang existiert, der der Wirklichkeit besser entsprach, das heißt: das Verhältnis zwischen Adolphe und Ellénore endete nicht mit deren Tode, sondern mit der Lösung des beiden Teilen zuletzt unerträglich gewordenen Bandes. Daran sollte sich als Fortsetzung und Gegenstück ein zweiter Roman unmittelbar anschließen, der diesmal nach der weiblichen Hauptfigur »Cécile« benannt war und Constants Herzenserlebnis mit seiner zweiten Frau in absichtlicher Kontrastwirkung zu der umwölkten, zerrissenen Stimmung des »Adolphe« auf idyllisch-zartem, ungetrübtem Hintergrunde behandelte. Dank dem Rate der klugen Lady Holland, in deren Hause Constant während der Londoner Zeit verkehrte, verzichtete er darauf, diesen zweiten Teil mit dem ersten zusammen erscheinen zu lassen: daß das fertige Manuskript existiert hat, bestätigt nicht nur Coulmann, auch Sainte-Beuve, der es noch später nach Constants Tode in den Händen eines seiner Freunde sah.