Hermann Essig
Taifun
Hermann Essig

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Sie lief das erste Mal in den sagenumwobenen Grunewald hinein. Sie erstaunte, daß man das Wald nannte. Die Papiermengen, die verstreut herumlagen, waren wohl das Moos, aus dem die dürren Kiefern herauswuchsen. Ein Hitz- und Schweißidyll konnte sie das höchstens nennen, wie der Orgelmann unter dem einzigen dicken Eichenbaume saß und seinen Leierkasten drehte, dabei mit dem halben abgehackten Arm Mücken jagend und den Schweiß mit einem roten Taschentuch abtupfend.

Als schöne Dame gab sie dem Leiermann einen Groschen und erhielt dafür einen naseweisen Blick hinter blauen Brillengläsern. Die hat ja eine Katze! Das fiel dem Mann sofort auf. Und er zog gleich, als sie vorüber war, ein neues Register: »Alle Kätzle send no blend, wenn se erst acht Tag alt send, wenn se aber älter send, send die Kätzle nemme blend« Daran anschließend dudelte der Kasten: »Unsre Katz hat Junge, sieben an der Zahl, lauter blaue Schwänze, 's ist doch ein Skandal. Und der Kater spricht, die ernähr' ich nicht! Wie kann er das sagen, 's ist doch seine Pflicht.« Susanne verstand dieses Potpourri nicht, aber es mußte sich auf sie beziehen, denn eine Schar grüner Jungen, welche im Braunen lagen, hoben die Köpfe nach ihr und lachten mit Hinüberjohlen zum Leiermann. Dieser grinste und nickte freundlich zu ihnen herüber. Susanne sah es, wie man mit ihr Spaß trieb, und ihr Groschen tat ihr leid.

Die im Braunen liegenden grünen Jungen riefen Susanne zu. Sie wollten sie begleiten und ihre Katze am Spieße braten; dann blieben sie die Nacht mit ihr draußen und badeten in der Frühe mit ihr im Teufelssee.

Susanne lächelte über das fertige Programm und ging rasch weiter. Wo wollte sie eigentlich hingehen? Sie konnte ja schon merken, daß sie nicht ohne Anschluß blieb, wenn sie hier herumirrte. Und wenn sie an die Nacht dachte, die sie mit einem gänzlich Unbekannten hier verbringen sollte, so war ihr ein wenig Angst. Sie sah ein weißes Schild an einem Baume, darauf stand »Saubucht«. Für so etwas war sie gestimmt.

Sie lief nicht sehr lange, als es ihr zu öd wurde in dem Wald ohne Abwechslung. Sie kehrte um und fuhr mit der Eisenbahn nach dem Tiergarten. Während sie in das Häusermeer hineinfuhr, fuhr der Doktor in einem gleich aussehenden Zuge hinaus. Dieses Hin- und Herfahren in den Grunewaldzügen hatte so viel Trostloses an sich, diese obligate Luftschnapperei um einen Groschen oder fünfzehn Pfennig...

Sie sind wahnsinnig, die Menschen, daß sie sich zusammendrängen wie die Heringe. Die Hälfte aller dieser Menschen hätte ebensogut gewiß wo anders wohnen können, als ausgerechnet in Berlin. Aber nein. Alles wohnte in Berlin. Er, der Doktor selbst, weil sie ihn wieder holen konnten, wär's nun ein Theater oder ein Kinooperateur.

Er war so verzweifelt satt geworden, daß er nicht mehr wußte, wo er mit den Kräften hinsollte. Vier Stunden hatte er nach dem Frühstück bei der merkwürdigen Jungfer auf seinem Sofa geschlafen, so daß er mit krummsteifem Genick erwachte und die Welt ganz verrückt ansah. Es war ihm gewesen, als hätte eine Dame, während er schlief, an ihm hantiert. Hatte er bloß geträumt? Oder war's Wirklichkeit gewesen? Er stand ganz verdaddert in seiner Stube, als er sich erhoben hatte und die Hose zurechtschüttelte. Es fror ihn, schauderte ihn, und der Windzug, welcher von dem nahenden Gewitter durch die Wohnung strich, machte ein Geräusch wie die Schleppe von ihrem Kleide.

Aber wenn sie wirklich bei ihm gewesen wäre, so hätte er keinen so tollen Durst gehabt, denn sie hätte ihre Fruchtbonbons gefüttert. Und doch, wenn er sich befühlte, so war feststellbar, daß etwas in ihm vorgegangen war. Diese tolle Phantasie! Er mußte ins Freie!

Es wäre ein passender Zufall gewesen, wenn er mit seinem Zuge in Susanne hineingefahren wäre. Aber sie glitten aneinander vorüber und hatten nur ein nervöses Nichtwissen von einander. Der Doktor, ein alter Bekannter der verschiedenen Pumpstationen des frischen Grün, empfand die Langeweile des Waldes absolut nicht. Im Gegenteil, er lag noch um elf Uhr abends auf der Wasserscheide zwischen Krummer Lanke und Teufelssee. Man kannte ihn doch noch als den großen Schauspieler und wußte nichts von seiner Verabschiedung. Eine kunstsinnige Familie hatte ihn in ihrer Mitte, er machte bequeme Mätzchen und war der gefeierte Held. Grunewald mit Familienanschluß war stets seine Spezialität gewesen.

In der Familie stak natürlich eine heiratsfähige, bereits möblierte Tochter, die es wieder und immer wieder probierte, ihre entweihten Möbel an den Mann zu bringen. Darum erkundigte man sich eifrig nach seinen Verhältnissen, hauptsächlich nach den Wegen, auf denen man mit ihm kreuzen konnte. Es war die Familie Maaßen aus der Roßstraße. Und die Tochter Evchen war eine weit glänzendere Partie als ihr Ruf.

Der Doktor bekam sie mit Fünfzigtausend und sechs Zimmern. Das erfuhr er bereits in der Krummen Lanke. Und er erzählte dafür viel vom Taifun. »Ach, das sind diese Verrückten!«, rief Evchen aus, »die die Menschen mit tausend Köpfen malen, statt mit einem.«

»Ich bitte Sie, Fräulein, wer hat einen Kopf?« entgegnete ihr der Doktor. Das erzeugte ein Riesengelächter. In diesem Stile glaubte die Familie den Doktor ausgezeichnet unterhalten zu haben, nämlich weil sie sich selbst gut unterhalten hatte. Daran scheiterte die Brautfahrt Evchens im Kreise der Familie: an der zu guten Unterhaltung. Sie dachte stets an sich und nie an den Betreuten. Es war der Familie ganz unfaßlich, daß sie immer und immer beschwindelt sein sollte und nie den Fang machte, wo es wieder so reizend gewesen war mit dem Herrn Doktor.

Auf dem Katzentee versprach Evchen auch anwesend zu sein. Sollte sie etwa ihren Moppi mitnehmen? Auch das gab wieder ein Heidengelächter. Man sah eben, daß die Leute gar nicht den Ernst der Gesellschaft kannten. Wenn ein Katzentee angesagt war, so war seine Abwicklung ganz Stil. Evchen war ohne Stil. Eine Naturmenschin und darum eine sogenannte Kafferin; sie war lauter Herz, Verstand und Vergnügen, aber gänzlich ohne Vernunft. Es fehlte ihr die Kultur. Eine andere Vernunft existierte in keiner einzigen menschlichen Zusammenrottung.

Der Doktor erklärte natürlich, daß ihn ihre Anwesenheit gewiß erfreuen würde, aber sie müßte ihr schönstes Ballkleid anziehen. Das hielt die Dumme wieder für Scherz. Dem Doktor war das völlig klar, daß, kam sie in einem üblen Kostüm, er sie nicht im mindesten beachten würde.

Der Doktor war nach diesem Ausflug von einem solch moralischen Katzenjammer befallen, daß er am liebsten Hand an sich gelegt hätte. Er verachtete sich selbst, weil er einem hausbackenspießbürgerlichen Wesen die schwungvolle, anmutige, gabenreiche Zier einer Susanne geopfert hatte.

Die Wünsche und Gedanken solcher Roßstraßentochter waren ungefähr mit dem Verschwinden hinter einer Schießbude erledigt. Wo ihr die Hauptsache schon gemacht war, fing die Nebensache bei Susanne an. Er klammerte sich an seinen Bettpfosten und rief aus tiefer Seufzerbrust hervor: »Susanne.« Er fühlte ein großes Vermissen in der Seele. Zum ersten Male quälte ihn seine Liebe. Er liebte Susanne und war ein solches Schaf gewesen, und hatte nichts gesagt. Er preßte die Stirn an den Schrank und sprach die leisen Worte: »Susanne, warum bist du nicht hier?«

Und wie er diese Worte froh vor sich hinflüsterte, blies wieder der rauschende Windzug durchs Zimmer, daß er sich darnach umdrehte und unter seiner Gänsehaut erschauerte. Er hatte Furcht, es sei die andere da und mache ihm Schwierigkeiten.

Litt er denn an Halluzinationen? Die Einsamkeit in seiner Stube war ihm so widerlich, daß er sich zum Schlafe niederlegte, nachdem er das schaukelnde grüne Gaslicht gelöscht hatte, das so erbärmlich brannte, weil die Gasanstalt nicht mehr genügend Druck darauf hatte. Wenn nun bald alles Licht verlöschte! Wenn nun die ganze Welt unterginge! Ich freute mich auf die letzte rollende Fahrt im Bett hinunter in die Tiefe durch den Weltraum geschleudert. Mit solchen weltschmerzlichen Gedanken übergab er sein Gehirn dem Gotte Schlaf, der es in Seidenpapier einwickelte, bis er's zurückhaben wollte.

»Ich möchte nun morgen früh erwachen und an einen schönen Frühstückstisch kommen«, war sein endlich letzter Wunsch, dem der erste röchelnde Schnarchton folgte.

Susanne saß noch immer auf. Käterchen kam einfach nicht nach Hause. Wie lange noch mochte es mit ihr gehen? Sie hatte ein ganz verändertes Wesen. Früher war sie immer demütig und bescheiden gewesen, jetzt wurde sie von Tag zu Tag muckischer. Gegen elf Uhr trat Susanne auf den Flur hinaus und machte Treppenlicht, ging hinab zum Portal und sah nach, ob sie etwa davorstünde und nicht hereinkönne.

Da zuckte sie aber wie vor einem Einbrecher zusammen. In der Portalecke stand Käterchen, torkelte umher und konnte den Eingang nicht finden. Sie sah schrecklich aus. Ganz große Augen hingen ihr aus dem Gesicht. Sie grinste jetzt, als sie Susanne sah, und balancierte die Augen und den Hut. Sie war besoffen. Susanne zog sie mit Zorn und in ängstlicher Hast, daß es niemand vom Hause bemerkte, die Treppe hinauf. Oben aber stieß sie Käterchen in den Korridor, daß sie ihren Kopf mit der Garderobe zusammenbuckste. Sie musterte die dunkel nach ihrem Zimmer tastende Gestalt ihres Mädchens, welches geradeaus ins Dunkle grinste. Es lag deutlich wie Schlagsahne auf ihrem zerfledderten Hute, und ein tropfenweißer Strich ging von der Kreuzgegend über den Rücken des schwarzen Jacketts hinweg. War das Schlagsahne? Diese Frage gab Susanne ganz erhitzte Gedanken. Wo war Käterchen gewesen? Tiefer war eine große Schmierade.

»Wo hast du dich herumgetrieben?«

Käterchen grinste und phantasierte aus der überschwemmten Erinnerung heraus eine chevalereske Wahrheit. Sie war an der Groß-Lichterfelder Landstraße mit einem Haufen von neun Soldaten, die bei der Abfuhrgesellschaft m.b.H. Berliner Grundbesitzer in Aushilfe arbeiteten, unisono zusammengestoßen. Mit achtzehn Armen hatten die Soldaten mit ihr hineingeschwenkt, wo die Heidschnucken noch nicht abgefressen hatten, und lachend und ohne Widerstand hatte Käterchen Platz genommen. Susanne schnürte es am Nabel, als sie diese Erzählung anhörte. Und wie sie jetzt das gelbe faulige Maul Käterchens auf sich gerichtet grinsen sah, überkam sie ein Schauder und eine Vorstellung, als ob so alle die Weibsleute aussehen müßten, welche zerstückelt aus dem Ärmelkanal und der Spree gefischt würden.

»Gehen Sie zu Bett«, schrie sie und verließ die nachtumrandete Gestalt. Sie konnte aber diese Nacht kaum schlafen. Immer sah sie die grinsende Gestalt mit dem häßlichen Mund. Aber nur was hinter den Lippen war, war häßlich. Es mußte tiefes Müllvolk sein, das diesen Mund küßte mit neunköpfigem Fanatismus. Susanne wurde von der Zahl schier erstickt, und Käterchen, das Luder vom Schwarzwald, hatte all die Knochen ertragen, welche die Zahl noch unheimlicher aufbauschten.

Sie fieberte, dachte bald an Brüssel, bald an den Hoteldirektor, und die Taifunfratzen kitzelten ihre Glieder, dabei fühlte sie die Notwendigkeit, Käterchen sofort hinauszuwerfen, weil sie bald heiratete. In den tollsten wildesten Verschlingungen mischten sich diese Vorstellungen in ihrem Halbschlafe durcheinander. Kätzi lag nie geschickt und wurde dauernd herumgeworfen, von der Decke aufs Kissen, vom Kissen auf den Teppich, von dem sie wieder emporkletterte. Susanne war himmelangst vor dem nächsten Abend, wie verlebt sie aussehen mußte nach diesen Nachtphantasien. Es war ihr am Morgen so übel, daß sie sich erbrach.

Käterchen wurde von ihr aus dem Bette gerissen; zuerst aufgedeckt. Also das war von solcher Zahl verwüstet worden. Käterchen räkelte sich und war geschmeichelt. Das raubte Susanne die Geduld. Sie holte den Feuerhaken und war im Begriff, unbesonnen auf sie loszuschlagen, wo es auch hinging. Glücklicherweise stand Käterchen, als sie ihn brachte, schon vor dem Bett.

Statt der Hiebe ging ein Hagel von Schimpfworten in vlämischer Mundart über Käterchen nieder, daß er wie giftige Lanzen in Käterchens Brust dringen sollte. Käterchen zitterte auch wirklich zuletzt, als wollte das gnädige Fräulein aus ihren Eingeweiden weissagen. »Ich friere, ich muß mich anziehen«, schlotterte sie.

»Dann mußt du dich anziehen! Cochon! Cochon!« schrie Susanne und spuckte. »Wenn du überhaupt noch bei mir bleiben willst, so wirst du dir heute noch alle Zähne ausreißen lassen. Zur Strafe! Cochon! Ich will dich herumtreiben! Alle deine Zähne müssen dir in den Hals hinabgestoßen werden! Nur weil du solch ein Mistloch hast, verfährt das Lümmelvolk so stiefelsdick mit dir. Bist du noch nicht angezogen? Raus mit dir!« Und sie erhielt einen kräftigen Rippenstoß, daß sie in die Küche flog. Dort stand sie mit verglasten Augen und wimmerte: »Gnädiges Fräulein, heute noch? Das halte ich nicht aus, gutes Fräulein.«

»Jawohl, heute. Du gehst zum Zahnarzt. Da gibt es keine Weigerung. Ich will dir die neun schon aus dem Leib schinden.«

»Fräulein, sind Sie doch nicht so grausam! Wir sind doch alle nur Menschen!«

»Menschen! Du! Ein Mensch? Ein Vieh bist du! Kein Schwein ist wie du.«

»Verzeihen Sie mir das. Ich bin eine Witwe!« schrie Käterchen.

»Was soll das wieder heißen?« raufte Susanne sich in den Haaren, »das versteh ich nicht. Du stachelst mich immer mehr zu Grausamkeiten. Ich könnte dich in Stücke zerhacken. Ich halte das nicht aus, zu denken, was über dich hinweggegangen ist.«

»Verzeihen Sie mir's doch Fräulein, ich war draußen gewesen bei Onkel und Tante, da war der Kommis im guten Nebenzimmer gesessen und hat so viel Wein gewichst, damit er seine sechzigtausend Mark Objekt einweihe«, rechtfertigte sich Käterchen mit Energie.

»Schweige«, rief Susanne und hielt sich die Ohren zu.

Käterchen riß ihr die Hände von den Ohren. »Nein, Sie müssen das begreifen, Fräulein, wie mir da zumute gewesen ist. Da nahm er ein abgenagtes Hammelbein aus der Tasche und hielt mich zum Narren damit.«

Susanne fiel fast in Ohnmacht vor Empörung. Sie sagte jetzt gedämpft: »Du kannst nicht bleiben, Käterchen. Ich war im Walde draußen, und es muß ganz anders werden. Für die Veränderung taugst du nicht mehr.«

Käterchen fiel ihrem Fräulein um den Hals und bettelte: »Fräulein Susanne, ich kann ja nicht mehr leben ohne Sie. Ich will mir auch endlich das Maul reparieren lassen, wenn Ihnen das so zu Ekel ist. Ich will mich ganz ducken.«

»Nein, es ist unmöglich. Ich war auch bei verschiedenen Baroninnen. Du bist zu gemein.«

»Ich?« frug Käterchen erstaunt. »Sagen Sie lieber, nicht gemein genug. Wenn Sie so sagten, das hätte ich geglaubt. Das Fräulein wollte dann wohl eine, die stiehlt und betrügt, die recht schöntun kann.« Sie machte eifrige Knickse dazu.

»Koche mir eine Suppe, aber wasche dich vorher, ich befehle es dir, wasche dich vorher!« Sie drohte mit dem Eisen, und Käterchen ergriff sofort die Seife.

Susanne blieb schweigend danebenstehen und beaufsichtigte sie, damit sie Garantie hatte, daß sie die Landstraße und all das Schaudererregende abwusch. Wenn nach Susannes Meinung ein Körperteil noch nicht blank genug war, so deutete sie unwirsch mit dem Feuerhaken darauf. Das ziemlich alte Käterchen benahm sich dabei wie ein Schulkind, so flink parierte sie auf alle Winke. Susanne gab auch den Befehl, wann sie aufhören sollte. Da sagte sie: »Jetzt geht es eher«, mit pfiffigem Lachen und rieb sich das spitze Kinn. »Zieh dich an, und dann koche erst für mich. Nicht, daß du jetzt deine Kleider reinigst, die kannst du erst vornehmen, wenn Feierabend ist, oder wenn ich heute abend im Taifun bin.«

Käterchen setzte ihre Arbeit aus und horchte auf. »Ach richtig, das ist heute abend«, sagte Käterchen mit Gier, gerade als freute sie sich auf ein neues Abenteuer.

Susanne bändigte sie sofort und setzte hinzu. »Natürlich bleibst du dann zu Hause. Und damit du nicht in Versuchung kommst, werde ich die Schlüssel an mich nehmen und dich einschließen.«

Käterchen zuckte zusammen und war den ganzen weiteren Tag in sich versunken und nachdenklich. Susanne versuchte sie deshalb durch immer neue Vorwürfe aus der Fassung zu bringen, so daß Käterchen am liebsten durchgegangen wäre. Susanne stach sie wie ein Skorpion mit immer schändlicheren Verbildlichungen ihrer tiefen Verkommenheit.

Stumm und still war Käterchen auch, weil sie nicht zum Zahnarzt gehen wollte. Sie druckste herum wie ein Kind, das wußte, daß es Prügel zu bekommen hatte. Sie war ganz degenmäßig, denn vor dem Zähneziehen hatte sie gewaltige Bange.

Es wurde immer später, und gegen Mittag glaubte Käterchen, wieder frei reden zu können, ohne Gefahr. Kaum aber brachte sie ein Wort hervor, so rief Susanne: »Wie spät ist es denn? Warum bist du noch nicht beim Zahnarzt? Mach sofort, daß du hinauskommst!«

Sie rief es hinter der angelehnten Türe des Schlafzimmers, und Käterchen blieb mäuschenstill stehen. Da rief Susanne noch einmal. Käterchen antwortete: »Zu welchem denn?«

Von Susanne kam keine Antwort mehr. Käterchen atmete auf, aha, sie hatte heute keine Zeit, weil's zur Abendgesellschaft ging. Und dann war die Strafe für diesmal wieder vergessen. Sie fing an, beim Kochen lustig zu pfeifen, wobei sie sich jedesmal kurz unterbrach, wenn sie aus dem Topfe naschte. Dann trat Susanne heraus und hatte in der Küche etwas zu suchen. Käterchen lachte spöttisch wegen dieses Mißtrauens. Aber wehe, wenn man sie erwischt hätte. Kätzi war jetzt nicht mehr so nahe wie in Brüssel beim Herde, das war das Gute in Berlin. Sonst aber war's in Brüssel zehnmal besser gewesen. Das Fräulein sonderte sich neuerdings gänzlich von ihr ab. Von netten Spielereien durfte sie schon gar nicht mehr anfangen, dann ging Susanne einfach hinein ins Zimmer und schlug die Tür zu. Ach ja. So ging es eben mit den Herrschaften. Susanne war genau dieselbe, wie man's von anderen erzählte. Es mußte irgendeine Luft gefächelt haben, die am Ende doch Doktor hieß. Käterchen drielte bei dieser Betrachtung Speichel über ihre dicken Lippen in das Essen. Sie konnte den Doktor nicht leiden. Wahrscheinlich blieb sie dann nicht länger. Auch das war mit Onkel und Tante gestern genauestens besprochen; wenn sie eines Tages telephonierte, so wollten sie oder der Kommis jemanden schicken, der ihren Korb holte.

Susanne aß heute, das Handtuch um die Büste geschlungen; mit lachsfarbenen seidenen Strümpfen und in einer elfenbeinfarbenen Hose saß sie am Tische, Kätzi zwischen die geschlossenen Schenkel gelegt. Ihre ganze Büste schillerte heute in einem zarten Rosa-Teint, von dem die Gesichtsfarbe in nichts abstach. Der Haarturban erschien wie eine unterbrochene Fortsetzung der Hose, die Augen waren die bestechendste Auffälligkeit. Diese deuteten an, daß alles herrlich war. »Wenn der Doktor kein ganzer Simpel ist«, murrte Käterchen, als sie aufsetzte, »dann beißt er an. Der Kapitän störte Sie immer mittenmang im Essen.« Susanne lachte hinaus und machte ein gutes Gesicht zu Käterchen. Die Folge war, daß dieser die Tränen kamen und sie das Schnupftuch hervorholte. Kätzi sprang auf den Tisch.

»Hab' ich dir irgend etwas getan?« frug Susanne.

Käterchen blickte von ihrem Platze auf und ging mit ihrem Blicke über Susannes Rosenrot hin.

Susanne wurde verlegen und legte das Tuch breiter aus. Da gab es Käterchen einen schluchzenden Stoß in der Brust. Sie wußte, daß alles vorbei war. Susanne klopfte auf den Schoß, damit Kätzi hinabsprang.

Wie war ihr einmal die Welt aufgegangen, als sie vom Schwarzwald durch reinen Zufall zu dem Fräulein nach Brüssel gekommen war. Und wie schrumpelte in Berlin alles wieder zusammen. So sah Käterchen die Welt an.

Und umgekehrt. Susannes Augen waren nur größer und weiter geworden, einesteils durch das Magererwerden vom Hungern, andernteils aber durch das aufmerksame Betrachten sich nahender Ereignisse. Wie mannigfaltig waren sie doch bei aller scheinbaren Eintönigkeit. Ihr war das Zurückliegende wie ein verkümmertes sinnloses Dasein. Wie schön war jetzt das Ahnen einer Tätigkeit. Einen ungefähren Begriff hatte sie durch ihren Verkehr mit dem Taifun. Es schwebte ihr als Ideal vor, eine zweite Hermione zu werden, ja, sie in kurzer Zeit zu überflügeln.

Als Frau Doktor – ein ehrgeiziger Puls wogte in ihr, so daß sie schwer nach Luft rang und ihr umgelegtes Tuch lüftete. Diese beiden ganz gegensätzlichen Melodien saßen heute am Tisch. Die eine vor Trübsal und Schwermut den Kopf senkend, die andere vor Fülle fast zerspringend wie eine brechfertige Pflaume: Käterchen und Susanne.

Kätzi holte sich heute Verschiedenes selber auf den Teller, ohne dabei vermeiden zu können, daß ihr ein Tropfen auf das Tischtuch fiel.

Gleich nach Tisch begann das Fertigmachen für den Abend. Käterchen bettelte noch einmal um ein Mittagsschläfchen, aber Susanne ließ sich nicht bewegen. Sie wollte elastisch und ohne Kopfschmerz sein. Käterchen war außer sich, daß sie die schöne Susanne nur kalt bedienen durfte. Sie verfluchte sich selber und alle Massenwirtschaft. »Vielleicht denken Sie noch einmal an mich«, winselte sie. Aber Susanne blieb stumm und hantierte rüstig an sich und Kätzi. Und als Käterchen schließlich in eine Wut ausbrach und sich Verletzungen beibrachte, ging Susanne mit einem Tritt auf sie los: »Bestie – nein!«

Das war über alles Verstehen. Bestie. Sie war eine Bestie? Und dieses Nein! Ein Nein, das jede Hoffnung ausschloß. Sie erhob sich vom Boden, auf dem sie auf den Knieen gelegen und gefleht hatte, schwieg und sprach nichts mehr. Auf keine Frage antwortete sie mehr, bis es Susanne zu dumm wurde und sie ihr in der Küche das Waschbecken über den Kopf goß.

Käterchen stand triefend und starrte wie leblos. Die Quälereien wurden täglich toller. »Lassen Sie mich doch gehen!« schrie sie aufbegehrend. »Jetzt sieht man deinen wahren Charakter«, war die Antwort.

Da wollte Käterchen wieder sanft werden, aber ein schneidender Hohn stieß sie zurück. Als sie dann allein in der Küche saß, sprach sie mit sich selber, agierte und fabbelte mit den Händen, legte sie sich erdrosselnd um den Hals, bis sie fast erstickte. Erst wenn sie tiefblau angelaufen war, ließ sie wieder los. Nein, es kam ihr noch ganz anders.

Während Susanne mit Kätzi unter dem Arm zur Türe schritt, um fortzugehen, stürzte Käterchen auf sie los, als wollte sie sie erwürgen. Aber doch fehlte ihren Händen der Mut dazu, den schönen Hals der Herrin auch so zu pressen, wie den ihrigen. Susanne erschrak zuerst, faßte sich dann aber schnell. Sie sprach mit Ruhe: »Also man kann dich heute abend nicht einmal allein lassen. Laß ich aber offen, so gehst du davon. Das ist ein noch größerer Schaden für dich. Zieh dich schnell an. Oder kannst du das auch nicht, Kätzi tragen?«

Käterchen schluchzte: »Jawohl kann ich Kätzi tragen«, und in kaum zwei Minuten hatte sie die Katze schon auf dem Arm und ging mit. Unterwegs wurde sie halbwegs wieder vernünftig.

Susanne gab ihr Verhaltensmaßregeln mit der Katze. Sie solle sie wieder bei sich haben, wenigstens solange, bis die offizielle Tour der Katzen darankam. Sie wußte ja selbst noch nicht, wie dieser Tee überhaupt veranstaltet wurde. Jedenfalls solle sie sich gar nicht um die andern kümmern, sondern warten, bis sie selbst ihr Kätzi wieder abnahm. Das Tier war übrigens kaum mehr zu erkennen. Vom Schampoonieren hatten sich ihre Haare gekräuselt, als wären sie gebrannt worden, und Spangen, Bänder, Ketten und Schleifchen waren im Überfluß angebracht.


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