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XIX.

Das schlechte Wetter hielt an und zwang die Damen, im Zimmer zu verweilen.

Gabriele war eifrig bemüht, sich mit den Räumlichkeiten der Burg bekanntzumachen und der Gräfin möglichst an die Hand zu gehen. Zu ihrer Überraschung bemerkte sie, daß es so gut wie gar keine Arbeit für sie gab, denn Gundula verrichtete nach wie vor alle Obliegenheiten der Hausfrau und beaufsichtigte, schaltete und waltete wie sonst in Haus und Hof.

Gabriele begleitete sie zwar auf Schritt und Tritt und bemühte sich, hier und da kleine Handreichungen zu leisten, doch schien ihr diese Beschäftigung schließlich so unbedeutend, daß sie die Gräfin um Arbeit bat.

Diese lächelte.

»Ihre Arbeit ist die, bei mir zu sein, liebe Gabriele«, sagte sie ruhig. »Sehen Sie sich alles an, wie ich gewohnt bin, den Tag einzuteilen, und falls es einmal nottut, vertreten Sie mich. Am Nachmittag ist es oft so still, dann werde ich mich am meisten Ihrer Gesellschaft erfreuen. Heute zeige ich Ihnen die Zimmer der Burg, die wir für gewöhnlich nicht bewohnen.«

Das riesengroße Schlüsselbund an der Gürteltasche, schritt Gundula mit ihrem jungen Gast durch die wunderlichen Gemächer, in denen eine längst vergangene Zeit gleich einem Dornröschen in tiefem Zauberschlaf lag.

Am meisten interessierten Gabriele die Ölgemälde im Ahnensaal, einem viereckigen Gemach mit niedriger, getäfelter Decke und mit Parkettplatten, die schreitende Bären als Muster aufwiesen.

Hier hingen die Familienbilder, und Gabriele las ernsten Blickes die Namen auf den kleinen Schildern, während Gundula wie in tiefen, schwermütigen Gedanken langsam weiterschritt.

Gabriele las mit einigem Befremden unter verschiedenen Gemälden dieselbe Anmerkung.

Hier eine stolze, markige Männergestalt in schlichtem Wams und hohen Wasserstiefeln. »Christoph Caspar von Hohen-Esp, geb. anno domini 1522, ertrunken den 14. März 1570.«

Und hier eine schlanke, blühende Jünglingsgestalt, blondlockig, mit lachend hellem Blick – eine entschiedene Ähnlichkeit mit Guntram Krafft. »Wulffhardt von Hohen-Esp, geb. 1481, ertrunken um 1503.«

Und dort! »Diethelm von Hohen-Esp, Schirmvogt zu Land und See, geb. 1361, ertrunken im Kampf gegen seeräuberisch Gesindel um 1433.«

Und hier noch eins, zwei andere Bilder mit lateinischen Inschriften, dem schwarzen Kreuz und der Wiederholung des Spruches: »Und das Meer wird seine Toten wiedergeben.«

Gabriele wandte sich der Gräfin zu.

»Wie kommt es, daß so viele Grafen ertrunken sind?« fragte sie leise, »mir scheint es seltsam, daß sich ein derart seltener Unglücksfall so merkwürdig oft in einer Familie wiederholt.«

Gundula blieb vor dem Bild Wulffhardts stehen und nickte ihm wehmütig zu. »Das wundert Sie bei Männern, die Schirmvögte einer Küste waren, die sowohl wegen ihrer gefährlichen Strömungen als auch wegen der Piraten, die in den undurchdringlichsten Wäldern hier hausten, allgemein gefürchtet und verrufen war? Die Bären von Hohen-Esp haben aufgeräumt mit dem Gesindel, haben manch verwegenen Kampf zu Wasser und zu Land mit ihnen bestanden und sind manch armem, schiffbrüchigem Seefahrer in Sturm und Not zu Hilfe gekommen. Sehen Sie dort ... und dort ... und da drüben ... und an jener Seite dort ... sie alle sind den Heldentod auf dem Meer gestorben, Väter und Söhne, von den ältesten Tagen bis in die heutige Zeit hinein!«

Gundula schwieg, es war still und dämmrig, und Wulffhardts lachende Augen hafteten beinah in unheimlicher Lebendigkeit auf Gabrieles Antlitz.

Dem jungen Mädchen war es plötzlich so feierlich zumute, als stünde es in der Kirche. Ein tiefer Atemzug hob ihre Brust, ihre Wangen färbten sich röter, und ihr Herz, das seit jeher so begeistert für Mannesmut und Heldentum geschlagen hatte, hämmerte. Und während Gundula an das Fenster trat, um es für kurze Zeit zu öffnen, stand sie und blickte wie im Traum zu Wulffhardts jungem Heldenantlitz empor.

Ja, er glich Guntram Krafft ... und doch ... nein! Da war dennoch keine Ähnlichkeit!

*

Von Tag zu Tag gewann Gabriele die Gräfin lieber, und auch Gundulas Herz schlug immer wärmer und zärtlicher für das anmutige Mädchen, an das sich ihre liebsten und geheimsten Zukunftspläne knüpften.

Der fast ununterbrochene Verkehr im einsamen Haus führte die Menschen schneller zusammen; er gestaltete auch das Verhältnis zwischen Gundula und ihrem jungen Gast von Stunde zu Stunde inniger.

Das sehr ruhige, ernste und doch liebenswürdige Wesen des Fräulein von Sprendlingen war der alternden Frau sehr sympathisch; die große Aufrichtigkeit, ihr ehrliches Bestreben, sich nützlich zu machen und fleißig zu sein, und ihre anmutige Schönheit gewannen vollends ihr Herz.

Immer ungeduldiger sah sie dem Tag entgegen, an dem Guntram Krafft heimkehren sollte, und nun verschob er diesen Zeitpunkt zum drittenmal und deutete an, daß er vorerst überhaupt noch nicht an die Heimreise denke.

Die regnerischen Tage hatten lachendem, sonnenhellem Frühlingswetter das Feld geräumt, und Gabriele schritt zum erstenmal an der Seite der Gräfin in den Park hinab.

Der Inspektor trat den Damen mit respektvollem Gruß entgegen, starrte einen Augenblick wie gebannt in das reizende Mädchengesicht, dessen Anblick ihm so überraschend wurde und in dieser alten Welt doppelt wohltat, und meldete der Gräfin mit etwas unsicherer Stimme, daß das neue Reitpferd, das der Herr Graf gekauft habe, nach Walsleben nachgeschickt werden solle.

»Das ist ein Unsinn, lieber Möller! Ich hoffe, daß mein Sohn dieser Tage zurückkommt, und will auf alle Fälle erst einmal schreiben, ehe dem Tier der unbequeme Transport zugemutet wird.«

Die Damen schritten weiter, und Gabriele blickte voll harmlosen Staunens zu der Burgherrin auf.

»Seit wann reitet Ihr Herr Sohn so gern, daß er sich sogar das Pferd nachkommen lassen will? Er sagte mir doch in der Residenz, daß der einzige Sport, den er eventuell gern ausübe, das Rudern sei.«

Gundula war stehengeblieben und starrte die Sprecherin an, als höre und verstehe sie nicht recht.

»Mein Sohn sagte Ihnen ...«, wiederholte sie langsam, »ja um alles in der Welt, kennen Sie ihn denn, Gabriele?«

Gabrieles große Augen blickten ebenso erstaunt wie die der Gräfin.

»Ja, gewiß! Ich lernte den Grafen in der Residenz auf einem Hofball kennen und nahm an, daß ich es seiner gütigen Fürsprache verdanke, hier im Haus aufgenommen zu sein. Hat Ihr Herr Sohn meinen Namen nicht erfahren?«

Gundula schüttelte langsam den Kopf. »Kein Wort hat er mir davon gesagt! Er sah sogar Ihr Bild, Gabriele.«

Das junge Mädchen schritt ruhig an der Seite der Gräfin weiter. »Oh, so hat er mich wohl gar nicht wiedererkannt! Er hat so unendlich viele fremde Gesichter zu sehen bekommen und so viele Namen gehört, daß es nur ganz natürlich ist, wenn er die einzelnen nicht im Gedächtnis behielt.«

Gundulas Augen bekamen plötzlich einen auffallenden Glanz.

»Aber er tanzte mit Ihnen?«

»Doch nicht, Frau Gräfin. Der Graf kam sehr spät zu mir, da waren meine Tänze vergeben.«

»Ach, das hat er gewiß sehr bedauert. Plauderten Sie nicht zur Entschädigung mitsammen?«

»Bei Tisch, gnädigste Gräfin. Ihr Herr Sohn saß neben mir. Sehr viel sprachen wir aber nicht, und was wir sprachen, weiß ich nur noch dem Sinn nach. Wir waren verschiedener Ansicht; der Graf liebte das Meer, ich nicht. Sehr liebenswürdig erschien ich ihm sicherlich nicht, wenn er überhaupt meinen Worten Wert beilegte, was ich bezweifle.«

Die Burgherrin von Hohen-Esp fragte noch so mancherlei, und Gabriele erzählte vom Leben und Treiben in der Residenz. Sie kannte so viele Menschen, für die sich die Gräfin noch lebhaft interessierte, und so legten die Damen den Spaziergang in sehr angeregter Unterhaltung zurück.

In der darauffolgenden Nacht lag Gundula mit weit offenen Augen schlaflos in den Kissen. Eine außerordentliche Aufregung hatte sich der einsamen Frau bemächtigt, seit sie durch Gabriele erfahren hatte, daß Guntram Krafft sie bereits kannte. Da war es, als ob plötzlich ein Schleier vor ihren Augen zerrissen sei. Sie entsann sich der seltsamen Veränderung, die mit dem jungen Mann vor sich ging, als er Gabrieles Bild sah. Sie rief sich sein Benehmen ins Gedächtnis zurück und hatte den Schlüssel dafür gefunden. Guntram Krafft hatte sein Herz an das auffallend reizende Mädchen verloren, das bewies ihr sein Verhalten auf dem Ball und seine Erregung beim Anblick des Bildes. Gabriele gab es selber ehrlich zu, daß sie nicht sonderlich liebenswürdig zu ihm gewesen sei; das hatte der weltfremde, unerfahrene Mann für eine direkte Abweisung gehalten; er ergriff in planloser Verwirrung die Flucht.

Und so, wie er damals die Residenz um des jungen Mädchens willen verließ, so kehrte er auch jetzt in der ersten Aufregung Hohen-Esp den Rücken, um ein Wiedersehen zu vermeiden.

Die Gräfin lächelte. Welch ein Kinderherz! Als ob sich diese Flucht auf die Dauer durchführen ließe! Vielleicht machte ihn seine Liebe auch scheu und befangen; er flieht aus Verlegenheit. Seine Schwermut, sein so ganz verändertes Wesen seit der Heimkehr bestätigten diese Ansicht.

Auf alle Fälle ist es seine Absicht, Hohen-Esp um Gabrieles willen fernzubleiben, und mit Vernunftsgründen richtet man bei verliebten Leuten nichts aus. Also muß die Gräfin eine kleine List gebrauchen, den Flüchtling heimzuholen. Der Zweck heiligt die Mittel.

Mit einem Lächeln auf den Lippen schlief die Gräfin ein, und als sie früh am Morgen erwachte, schrieb sie gleich ein paar Zeilen an Guntram Krafft.

Sie teilte ihm mit, daß sie sich nicht wohl fühle, daß sie die Nacht meist schlaflos verbracht habe, sie sei eine alte Frau, der jeden Augenblick etwas zustoßen könne. Die Abwesenheit ihres einzigen Kindes sei ihr ungewohnt und beunruhige sie, die Sehnsucht nach ihm wirke nachteilig auf ihren Zustand ein. Außerdem sei der alte Klaaden einige Male dagewesen, um voll Ungeduld nach dem Herrn zu fragen, wahrscheinlich sei seine Anwesenheit aus irgendeinem Grund dringend notwendig. Zum Schluß bat sie den Sohn, unverzüglich abzureisen und zu kommen, falls er sie nicht noch kränker machen wolle.

Ein beinahe schelmisches Lächeln spielte um Gundulas sonst so herbe und ernst geschlossene Lippen, als sie das Schreiben adressierte und durch einen reitenden Boten gleich besorgen ließ.

Nun wußte sie bestimmt, daß Guntram Krafft noch am selben Tag eintreffen werde.

Aber ihre kleine Komödie mußte sie nun durchführen; darum klagte sie auch Gabriele, daß sie eine schlechte Nacht gehabt habe und sich leidend fühle.

Das junge Mädchen war aufrichtig erschreckt und besorgt; es bemühte sich, auf jede Weise die Kranke zu hegen und zu pflegen. Da sah Gundula, welch ein weiches, zärtliches Gemüt sich hinter all der ernsten Gemessenheit ihres Wesens versteckte, und sie freute sich darüber von Herzen.

*

Als Gabriele in die große gewölbte Küche trat, sah sie eine dunkelgekleidete, trübselig dreinschauende Frau, die in einem Topf Essen empfing und mit bescheidenem Dank und Gruß davonschritt.

»Wer war die Frau? Eine Kranke?« fragte Gabriele die Mamsell.

»Nein, gnädiges Fräulein, das war die Witwe des Fischers Riek, der bei der letzten Rettung der Schiffbrüchigen vom Wrack der ›Sophie Johanne‹ ertrunken ist.«

Ertrunken! Gabriele sah plötzlich die Bilder aus dem Ahnensaal vor sich, unter denen neben dem schwarzen Kreuz dieses Wort geschrieben stand.

»Es ertrinken wohl viele Männer hier?« fragte sie nachdenklich.

Die Alte nickte laut seufzend. »Daß Gott erbarm! Ach, gnädiges Fräulein, es ist ein gar saures Stückchen Brot, das die Fischer und Seeleute essen. Es trägt wohl jeder alle Stund' sein Totenhemd auf dem Leib.«

»Ich habe gar nicht gedacht, daß es so sehr gefährlich ist, auf dem Wasser zu fahren.«

»Im Binnenland kann man sich das wohl meist nicht recht vorstellen. Wenn man die See aber einmal recht bös und grob gesehen und den Sturm aus Nordost pfeifen hörte, dann begreift man's.«

»Kommt das oft vor?«

»Mehr als oft! Gott sei gelobt, daß es gerade jetzt, wo der Graf abwesend war, nicht arg geweht hat! Und wenn was passiert wäre, meinte gestern noch der alte Klaaden, so hätten sie mit den neuen Apparaten doch noch nicht ohne den Grafen zuwege kommen können.«

»Ah – der Graf unterweist sie darin?«

»Wer anders als er! Ja, wenn der junge Herr nicht wäre, gnädiges Fräulein!«

Gabriele sah zwar noch nichts so Unersetzliches und keinen so gewaltigen Verdienst darin, die Fischer ein wenig anzuleiten, aber sie nickte zustimmend und schritt weiter nach dem kleinen Küchengarten, der im hellen Sonnenschein seine jungen Kräutlein und frisch erschlossenen Kirschblüten badete. Fern sah sie einen Strich der blauen See glänzen, so still und blau, wie sie damals in Heringsdorf vier Wochen lang gelegen, und sie schüttelte gedankenvoll den Kopf und begriff es nicht, daß dies glatte Wasser so gefährlich und unheimlich sein sollte.

*

Da es in dem großen, hallenartigen Speisezimmer noch kalt war, brannte ein loderndes Kaminfeuer, und Gräfin Gundula hatte ihren Sessel nahe hinrücken lassen und verlangte nach ihrem Spinnrad.

»Ich kann es nicht ertragen, die Hände so müßig zu falten«, antwortete sie auf Gabrieles besorgte Bitte, heute ruhig zu bleiben, und als das Rad fröhlich schnurrte und der Faden lief, ließ das junge Mädchen die feine Stickarbeit sinken und sah mit leuchtenden Augen zu.

»Wie schön, wie poetisch das ist! Oh, das möchte ich auch lernen, Frau Gräfin.«

»Gewiß, liebe Gabriele, meine Mägde spinnen alle und können Ihnen gleich ein Rad leihen.«

»So darf ich mir ein Rad holen?«

»Selbstverständlich; ich unterweise Sie gern.«

Gabriele eilte davon und kam nach kurzer Zeit mit einem Spinnrad zurück.

»Dieses ›Radeln‹ ist mir lieber als das moderne«, scherzte die Gräfin, »wir sind hier gut hundert Jahre zurück.«

»Das ist schön, darum wohnt hier noch die Poesie in all ihrer unverfälschten Schönheit.«

»Sie lieben sie?«

»Über alles. Mama neckte mich oft, daß es für mich besser gewesen wäre, zu eines König Artus' Zeiten zu leben. Ich begeistere mich so sehr für alles Ritterliche, Edle, Kühne und Herrliche – und gerade daran ist unsere prosaische Zeit so arm.«

»Nicht arm, Gabriele, es tritt nur nicht so auffällig hervor wie ehemals.«

»Gibt es noch Helden im neunzehnten Jahrhundert?«

»Gewiß! Sie ziehen nur nicht mehr in glänzender Rüstung durchs Land.«

»Ich tue unseren modernen Tapferen vielleicht sehr unrecht mit solcher Ansicht, aber einem Mädchen verzeiht man es wohl, wenn es sich seine Ideale etwas eigenwillig bildet. Ich möchte einen Helden sehen, seine tollkühne Tapferkeit selber schauen, und das ist vielleicht nur noch bei einem waghalsigen Reiter der Fall, der alle Gefahren eines Rennens vor unseren Blicken herausfordert und überwindet.«

Gundula lächelte ganz seltsam. »Sprachen Sie über dieses Thema vielleicht auch mit meinem Sohn?«

»Ich glaube ja. Möglicherweise verargte er es mir.«

Die Gräfin schob das Spinnrad ein wenig zurück und hob lauschend das Haupt. Vom Hof herein tönte Hufschlag, lautes Rufen und eilige Schritte. Glückselig verklärt blickten Gundulas Augen, sie atmete wie von Unruhe und Spannung erlöst auf und sagte leise: »Er kommt! Es ist Guntram Krafft!«

Gabriele erhob sich und trat eilig ans Fenster, um hinauszublicken.

»Ja, es ist der Graf«, rief sie der Burgfrau zu, und ihre Stimme klang nicht einen Hauch erregter als sonst.


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