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XI.

Einen Augenblick stand Guntram Krafft regungslos und starrte der entzückenden Erscheinung des jungen Mädchens nach. Alles Blut, das ihm zuvor nach dem Herzen gestürmt war, schoß ihm in die Wangen, und ein Gefühl tiefster Mutlosigkeit überkam ihn. Er war viel zu harmlos und weltfremd, um in dem Benehmen der beiden eine Zurücksetzung oder Unhöflichkeit zu sehen, es erfüllte ihn nur mit tiefer Betrübnis, daß er zu spät gekommen war, und sein erster Gedanke war der, daß Gabriele wohl erwartet hatte, er werde früher den Weg zu ihr finden, um sie zu engagieren.

Wie soll er sich ihr wieder nähern, um sie zu versöhnen? Er ist so fremd hier, unter all den vielen Menschen doch so allein. Und sehr freundlich ist niemand zu ihm, keiner scheint Zeit und Lust zu haben, mit ihm zu plaudern. Dieses Empfinden macht ihn noch befangener als zuvor.

Da hört er leise, schnelle Schritte neben sich, und eine milde, freundliche Stimme spricht ihn an: »Dachte ich es mir doch, Graf, daß Sie nach der ersten Niete, die Sie gezogen, kaum noch Lust verspüren, in das volle Menschenleben hineinzugreifen! Schade, daß ich Sie vorhin erst im Vorübergehen entdeckte und erst pflichtschuldigst meine Tour abtanzen mußte, ehe ich Sie holen konnte. Ich hätte Ihnen gern Gabrieles Abweisung erspart.«

Guntram Krafft hatte überrascht den Kopf gewandt. Er blickte in die sehr sanften, liebenswürdigen Augen der Komtesse Sevarille.

»Oh, Komtesse ... Sie gedenken meiner ... Sie nehmen sich meiner so freundlich an?« stotterte er mit aufleuchtendem Blick und kämpfte gewaltsam seine Verlegenheit nieder.

»Selbstverständlich, Graf! Ich kann mich so lebhaft in Ihre Situation hineinversetzen. Sie sind fremd hier, alles mutet Sie ungewohnt an, und niemand von diesen hastigen, vielbeschäftigten Menschen hat Zeit, Sie ein wenig in die Sitten und Gebräuche der großen Welt einzuführen.«

»Nur Sie allein, Komtesse, wollen diese große Freundlichkeit haben?«

»Wenn Sie sich meiner Fürsorge anvertrauen wollen, Graf?« lächelt sie herzgewinnend.

»Ich danke Ihnen von Herzen«, sagt er warm und herzlich. »Wie schade, daß ich diesen freundlichen Schutzengel nicht früher fand! Sie hätten mich gewiß beizeiten zu Fräulein von Sprendlingen geführt, damit ich noch einen Tanz und nicht einen Korb von ihr erhalten hätte.«

Thea lächelt und hebt die Schultern.

»Auf jeden Fall hätte ich Ihre Bitte um den Tanz zu gelegenerer Zeit angebracht als Sie!«

»Gelegenere Zeit?«

»Sahen Sie nicht, wie sehr vertieft Gabriele und Herr von Heidler in ihre Unterhaltung waren?«

Der Bär von Hohen-Esp wurde abermals rot, als wäre er auf einer Sünde ertappt worden.

»Nein ... das sah ich nicht.«

»Herr von Heidler macht ihr den Hof. Wer weiß, was er ihr gerade sagen wollte, als Sie so störend dazwischentraten.«

»Sie liebt ihn?«

»Ich glaube es wohl, die ganze Stadt wenigstens erzählt es sich als Tatsache. Nun aber kommen Sie, lieber Graf! Es gibt noch viele reizende Damen im Saal, die alle sehr gerne mit Ihnen tanzen möchten. Sehen Sie hier, meine Tanzkarte! Ihr Name fehlt auch noch darauf, und den Kotillon habe ich speziell für Sie aufgehoben.«

»Ich kenne diesen Tanz nicht, Komtesse.«

»Gut! So setzen wir uns während dieser Zeit und sehen zu. Ich erkläre Ihnen die einzelnen Touren, und das nächstemal wirbeln Sie flott mit mir herum.«

»Das wäre sehr gütig, Komtesse«, spricht er wie einer, dem die Kehle zugeschnürt ist.

Gräfin Sevarille scheint keine Unterhaltungskünste von ihm zu verlangen; ihre dunklen Augen lachen fröhlich zu ihm auf, und sie spricht statt seiner, während sie nach dem Tanzsaal schreiten.

»Wissen Sie, Graf, was ich glaube? Sie finden unsere große Stadt, unsere lebhaften Feste, all die modernen Sitten und Gebräuche zunächst ganz greulich und sehnen sich heim in den köstlichen Frieden Ihres stillen Strandschlosses. O wie sehr begreife ich das! Auch für mich gibt es kein besseres Glück als ein Leben auf dem Land. Warum sehen Sie mich so erstaunt an? Scheint Ihnen das so unbegreiflich?«

Sein Blick haftet noch immer überrascht auf ihrem blassen Gesicht. »Ja, das finde ich sehr unbegreiflich, aber es freut mich um so mehr, es zu hören. Lebten Sie längere Zeit auf dem Land, Gräfin, daß Sie es liebgewannen?«

»Längere Zeit? O nein, Gott sei es geklagt! Nur ganz kurz und flüchtig lernte ich seinen Zauber kennen, und darum glüht die Sehnsucht desto heißer in meinem Herzen. Sie müssen mir viel von Ihrer Heimat, von Ihrem Leben und Treiben dort, erzählen, Graf! Zuerst aber möchte ich Sie recht vielen Damen vorstellen, damit Sie ...«

Er blieb zögernd stehen und blickte in die offene Saaltür, vor der Kopf an Kopf die Herren in glänzenden Uniformen standen und mit mehr oder minder harmlosen Scherzen die Tanzenden kritisierten.

»Ein Plaudern in der Galerie dürfte wohl lohnender sein als ein solches im Saal«, sagte er leise, und die Lichter flirrten vor seinem Blick, und die schmetternden Musikklänge taten ihm weh. »Lassen Sie uns hierbleiben, Komtesse, wenn Sie wirklich diesen Tanz für mich opfern wollen.«

»Opfern?« Sie neigte das Köpfchen mit den leuchtend roten Granatblüten zurück und lächelte. »Nicht im mindesten, der Tanzsaal lockt mich ebensowenig wie Sie! Darin bin ich so grundverschieden von meiner Freundin Gabriele, daß sie sich einzig inmitten des amüsanten Getriebes wohlfühlt, während sich mein Sinn seit jeher nach der beschaulichen Ruhe sehnte.« Sie setzte sich auf den weißen, golddurchwirkten Brokat des Diwans nieder, die lichtrote Seide ihres Kleides leuchtete unter den duftigen Tüllwogen, und hinter ihr baute sich eine Kulisse von Kamelie und Fliederbäumen auf, die die blühenden Zweige über ihr Köpfchen neigten.

Es war ein hübsches, anmutiges Bild, aber Guntram Krafft sah es nicht. Es lag noch immer wie graue Schleier vor seinen Augen, und aus allen Worten seiner Partnerin hörte er nur das eine heraus, daß Gabriele sich einzig bei Spiel und Tanz wohlfühle. Mechanisch setzte er sich an der Seite der Gräfin nieder.

»So würde Fräulein von Sprendlingen nie auf dem Land glücklich sein?«

»Nein, soviel ich beurteilen kann, nie! Und das ist ja auch gut, denn aller Wahrscheinlichkeit nach wird sie in eine Großstadt heiraten, da bleibt ihr ja alles zur Verfügung, woran ihr Herz hängt. Aber wir werden unterbrochen. Ah, Herr von Stetten! Holen Sie mich etwa schon zu unserer Fançaise?«

Der Vortänzer stand vor ihnen und verneigte sich hastig mit sehr scharmantem Lächeln.

»Leider darf ich mich noch nicht so glücklich preisen, Komtesse. Jetzt gilt mein störendes Eingreifen lediglich dem Herrn Grafen!« Abermals eine sehr höfliche Verneigung vor Guntram Krafft, der sich erhoben hatte und den Gruß erwiderte. »Der Kammerherr von Rheinsberg sucht Sie an allen Ecken und Enden, Graf. Seine Hoheit der Herzog haben den Wunsch geäußert, Sie zu sprechen. Auch dürfte es alsdann gelegene Zeit sein, daß Sie den fürstlichen Damen präsentiert werden.«

»Ich stehe zur Verfügung. Wollen Sie die Güte haben, mich dem Herrn Kammerherrn zuzuführen? Ich bitte um Verzeihung, Komtesse. Ich stehe bald wieder zu Diensten.«

Dann schritten die beiden Herren eilig davon, und Komtesse Sevarille erhob sich und wandte sich dem Saal zu.

»Thea!«

Beinah erschrocken schaute sich die Gerufene um. Hinter dem Boskett hervor traten Frau und Fräulein von Sprendlingen; sie hatten auf einem zweiten Wandpolster, das ganz versteckt hinter der grünen Kulisse stand, gesessen und waren weder von der Komtesse noch von dem Grafen Hohen-Esp bemerkt worden.

»Gabriele ... gnädigste Frau ... um alles in der Welt was tun Sie hier?«

Baronin Sprendlingen schritt mit einem merklich kühlen Gruß und ganz seltsam scharfem Blick an der jungen Dame vorüber, Gabriele aber blieb stehen und lachte.

»Solch indiskrete Lauscher hattest du nicht vermutet?«

Sie wandte sich ein paar Kavalieren zu, die augenscheinlich auf ihr Kommen gewartet hatten und die junge Dame um eine Extratour bestürmten.

Da Gabriele nur mit einem der Herren tanzen konnte – und sie tat es, wie eine Königin, die einem Vasallen eine herablassende Huld erweist –, so war auch Gräfin Sevarille in diesem Augenblick begehrte Ware und flog ebenfalls im Arm eines Tänzers auf feurigen Galoppklängen dahin.

Graf Guntram Krafft war dem Herzog vorgestellt worden und wurde von dem hohen Herrn durch eine ganz besonders gnädige und lange Unterhaltung ausgezeichnet, und der Einsiedler von Hohen-Esp, der zuvor so zaghaft und unsicher auf dem Parkett gestanden hatte, trat plötzlich fest und sicher auf, wie ein Mann, der über schwankendes Moorland geschritten ist und nun wieder festen Boden unter den Füßen fühlt.

Er wuchs unter dem Blick seines Fürsten empor zu dem alten, frischen Selbstbewußtsein, das ihm die heimatliche Scholle gab, er redete frank und frei in seiner schlichten, treuherzigen Weise, die klug, verständig und liebenswürdig klang, wenig von sich selber und seinem Tun und Handeln, aber dafür desto mehr von seiner Mutter. Die begeisterte Verehrung für die Gräfin leuchtete ihm aus den Augen, und durch die Seele des Fürsten zog wie stille Wehmut der Gedanke: Um wieviel reines und schönes Glück hat sich sein Vater selbst betrogen!

Das Wohlgefallen des hohen Herrn an dem jungen Grafen war ein ganz ersichtliches, er führte ihn persönlich der Herzogin und Prinzessin Amalie zu, und auch diese bezeigten ihm ein sehr freundliches Interesse.

Gabriele hatte während des Tanzes zufällig in der Nähe des Herzogs gestanden, als er den Bären von Hohen-Esp durch seine Ansprache auszeichnete. Ihr Blick streifte die Sprechenden und schärfte sich plötzlich, als er das Antlitz Guntram Kraffts traf. Die Veränderung in seinem Aussehen fiel ihr auf, sie war sehr vorteilhaft.

»Sehen Sie doch, mein gnädiges Fräulein«, lachte auch ihr Tänzer, »vor Serenissimus wandelt sich der tolpatschige Bär zum Löwen! Er sieht wirklich ausgezeichnet aus, der Hohen-Esper. Denken Sie sich jenen Mann in die Rüstung eines Gralsritters, und er würde schön sein wie ein Gott!«

»Er ›würde‹ – freilich! Aber er wird es nie werden!«

»Leider, jene Zeiten sind vorüber.«

»Sie leben noch in jedem Mann fort, der Säbel und Degen führt, der kühn bereit ist, in den Kampf für Fürst und Vaterland zu ziehen.«

»Der Bär von Hohen-Esp dient dem Vaterland mit dem Pflug!«

Sie sah ihn groß an. »Das mag wohl sein«, zuckte sie etwas ungeduldig die Schultern, »aber es genügt mir nicht!«

»Und warum nicht?«

»Weil ich bei einem Mann Taten sehen will! Es steckt in jedem Mädchenkopf ein gutes Stück Romantik, das den Wert eines Mannes nur nach der Qualität von Mut und persönlicher Kühnheit bemißt, die er zeigt. Die idealste Tat imponiert mir gar nicht, wenn der Betreffende, der sie ausübt, nicht dabei etwas wagt und sein Leben aufs Spiel setzt. Wirklicher Heldenmut begeistert mich stets zu heißem Entzücken, zu flammender Bewunderung.«

»Ich verstehe Sie und Ihre Ideale vollkommen, mein gnädiges Fräulein, und freue mich dessen, wenngleich Sie bei all Ihrer edlen Leidenschaftlichkeit doch etwas engherzig urteilen. Jeder leistet gewiß so viel, wie in seinen Kräften steht, aber jeder muß sich auch den Verhältnissen anpassen, in die ihn Gottes Vorsehung gestellt hat. Aber warten Sie nur, wenn sich die Gelegenheit bietet, wird auch Graf Hohen-Esp seinen Mann stehen!«

Ein sarkastisches Lächeln zuckte um Gabrieles Mund, mit ungläubigem Blick streifte sie die Reckengestalt des Genannten, der soeben befangen vor den jungen Prinzessinnen stand, dann wandte sie mit aufleuchtenden Augen das Köpfchen und sah Herrn von Heidler entgegen, welcher sich hastig zu ihr Bahn brach und um eine Extratour bat.

Die breite Narbe auf seiner Stirn hob sich dunkelrot von dem erhitzten Gesicht ab, die Narbe, die stets von dem schweren Sturz erzählen wird, den der schneidige Kavallerist bei einem tollkühnen Ritt erlitten hat. Gabrieles Herz schlägt schnell, sie legt die bebende Hand auf seinen Arm und blickt sekundenlang in das scharfgeschnittene, trainierte Gesicht mit den unruhig flackernden Augen.


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