Emil Ertl
Freiheit die ich meine
Emil Ertl

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In der inneren Stadt war man inzwischen an der Arbeit gewesen, die Volksbewaffnung durchzuführen.

Auf dem Lugeck hatten die Studenten, im Begriff nach der Hofburg zu marschieren, durch Fred, der es wieder vom Vater hatte, die ersten Nachrichten von dem Sturze Metternichs und dem ihnen eingeräumten Rechte des Waffentragens erhalten. Es mochte wohl die Meinung gewesen sein, daß sie sich damit beruhigen und nunmehr friedlich nach Hause gehen würden. Daran dachten sie aber keineswegs, die Gemüter zitterten noch vor Erregung, und das Mißtrauen bohrte in ihnen. Sie wollten nicht bloß das Recht der Bewaffnung, sie wollten vor allem Waffen haben! Vor wenigen Stunden noch war auf sie, die Wehrlosen, geschossen worden.

»Zum bürgerlichen Zeughaus!« lautete die Parole.

Im Rathaus in der Wipplingerstraße trat ihnen der Bürgermeister, umringt von uniformierten Bürgeroffizieren, entgegen und wollte Schwierigkeiten machen. Aber gewohnt, sich der Autorität zu beugen, begriff er rasch, daß im neuen Österreich, das seit einer halben Stunde geboren war, die Majorität der Autorität zum Verwechseln ähnlich sah. Darum entschloß er sich, nach bewährtem alt-österreichischen Rezept ihr keine anderen Prügel zwischen die Füße zu werfen als bureaukratische Umständlichkeiten.

Auf dem Judenplatz hinter dem Rathaus wurden Tische aufgestellt, dort hatten die neuen Volkswehrmänner, nachdem sie sich gehörig legitimiert, ihre Namen in Listen einzutragen, Freds Herz pochte ungestüm, als er den seinigen niederschrieb, beim grellen Schein der Fackeln, die gigantische Schatten auf die Häuserfronten warfen, während oben der bleiche Mond zwischen Wollen hervortrat. Die Szene hatte mitten in dieser Stadt, die noch gestern vom Geist der Bureaukraten und Philister erfüllt gewesen war, etwas märchenhaft Unglaubwürdiges, das an seine kühnsten Kinderphantasien erinnerte, wo er als Retter des Vaterlandes fabelhafte Kriegstaten ins Werk gesetzt hatte, wie sie in Indianerbüchern und in Schillers »Räubern« vorkamen. Nur daß es hier eine edle und hohe Sache galt: Die Freiheit! Und trunken vor Freude über die bevorstehende Wehrhaftigkeit, umarmte er Mießrigeln, der, plötzlich wieder aufgetaucht, vom Werbetische kam, wo er seinen Namen unmittelbar unter dem Freds eingezeichnet hatte. So blieb dieser stets Schwankende und Nörgelnde schließlich doch der guten Volkssache gewonnen! Weil sie zu rein und heilig war, um nicht jeden Suchenden und Sehnsüchtigen – und das war Mießrigel trotz alledem, meinte Fred – in ihren Bann zu zwingen! Arm in Arm begaben sie sich auf den Hof, wo ein endloses Harren anhob, bei der unbändigen Verwirrung, die die Waffenauslieferung vor dem Zeughaus hervorrief.

»Man muß lange warten, bis so eine Kuh kälbert,« sagte Mießrigel.

»Wer warten kann, bekommt sein Korn gemahlen und seinen Kuchen gebacken.«

Wirklich kälberte die Kuh schließlich für beide. Sie befanden sich unter den ersten, die ins Zeughaus eingelassen wurden und es bewaffnet bis an die Zähne wieder verließen. Ihre Rotte trat sogleich zur Beratung zusammen, drei Säbel, ein paar Pistolen mit Feuersteinschlössern, eine Trommel und vierzehn Musketen, die aber nicht adjustiert waren. Bürgermeister Czapka hatte ausdrücklich gewarnt, die Gewehre loszuschießen, wenn ihnen jemand Munition verabfolgen sollte; denn das könne dem Schützen übel bekommen. Was tats? Waffen waren es doch!

Über Mießrigels Vorschlag wählte der Kriegsrat Fred zum Anführer, weil er einen Schleppsäbel besaß und eine prächtige Feder am Hut, die Reliquie eines wackeren Wallensteiners aus dem Zeughaus. Mießrigel selbst sollte die Trommel schlagen, das paßte ihm gerade. Jetzt galt es nur noch das Ziel der militärischen Operation festzustellen. Ein Musketier und Jurist schlug vor, auf die Landstraße zu ziehen und die Villa Metternich zu bewachen, von der verlautet habe, der Pöbel plane ihre Demolierung. Indem sie das Eigentum sogar der Bestgehaßten schirme, meinte er, könne die Studentenschaft am beweiskräftigsten dartun, wie sehr es ihr um Gesetz und Ordnung zu tun sei. Aber der Vorschlag fand nur geringe Unterstützung. Gesetz und Ordnung schirmen – natürlich! Aber gerade vor der Villa Metternich mochten andere es besorgen. Es gab jetzt Volkswehr genug, aber keinen Oberbefehl, jeder Rotte stand es frei, Gesetz und Ordnung zu schirmen, wo es ihr gerade beliebte. Ein Mediziner, gleichfalls Musketier unter Freds Fahnen, meinte, bevor man an den Metternich denke, sei es Pflicht, sich der bedrohten Bürger zu erinnern. Und weil ihm nun vorhin ein Gerücht zu Ohren gekommen, wonach die Fabriken in den westlichen Vororten gefährdet seien, so schlage er vor, die Direktion gegen die Mariahilferlinie zu nehmen. Das gefiel der kleinen Schar wohl, und Fred, der an den Braunhirschengrund dachte, konnte es zufrieden sein, da der Vorschlag nicht von ihm selbst ausging. Also zog er den Säbel und marschierte voraus, Mießrigel, aus Leibeskräften die Trommel schlagend, an seiner Seite und die Pistolen und Musketen mit ernster Würde hinterdrein. Es war ein kleiner Triumphzug, durch die belebten Straßen der inneren Stadt, dann quer über das Glacis, die Laimgrube hinauf und die endlos lange Mariahilferstraße entlang: Überall jubelte das Publikum den bewaffneten Studenten zu und begrüßte sie begeistert mit geschwenkten Hüten und Tüchern. Fred dankte, indem er militärisch den Säbel senkte und Mießrigel wirbelte beinahe ein Loch in sein Kalbsfell; die Pistolen und Musketen hingegen verzogen keine Miene und trappten in strengem Takte auf das Pflaster, als wären sie richtige Grenadiere.

Die Mariahilferlinie fanden sie bereits zerstört, das Verzehrungssteuergebäude als rauchenden Trümmerhaufen – hier gab es nichts mehr für sie zu tun. Weiter also, immer dem Feuerschein entgegen, der am Himmel glühte ... Ausgeraubte Verkaufsläden, geplünderte Wirtshäuser, bekneipte Proletarierhorden, die zu gröhlen anfingen, wenn sie ihren Weg kreuzten: »Die Studenten kommen! Hoch die Studenten!«

»Mir scheint, die glauben,« sagte Fred beschämt, »wir kämen, ihnen beim Sengen und Rauben zu helfen!«

»Damit sind sie schon ohne uns fertig geworden,« sagte Mießrigel, der die Trommelschlägel im Gurt versorgt hatte, »Es ist lange nach Mitternacht, und die Saison scheint hier längst vorüber zu sein. Ich meine, wir gehen nach Haus!«

Fred würdigte ihn keiner Antwort und rief ein paar Gassenjungen an, die schreiend des Weges gerannt kamen: Wo es brenne?

»Im Grundrichteramt von Braunhirschen!«

»Eilmarsch!«

Die Trommel ratterte: »Sturm!«

Begeistert schwang Fred den Säbel: »Laufschritt!«

Als sie in die Gasse einbogen, standen sie abermals vor einem rauchenden Trümmerhaufen. Auch hier war nichts mehr zu retten. Nichts als die kahlen Mauern des Grundrichteramts starrten noch zum Himmel. Alles Holzwerk, das Dach, die Fensterstöcke, die Dippelbäume, alles verbrannt, alle Akten und Bücher ein Raub der Flammen.

Enttäuscht und unmutig versorgte Fred sein Schwert. »Wieder zu spät!«

»Ich hab' es gleich gespannt,« sagte Mießrigel: »Die Saison ist vorbei. Lassen wir's für heute und gehn wir zu Bett! Hier ist kein Ruhm mehr für uns zu holen!«

Unter den Musketieren war auch ein Pfaidler aus der innern Stadt, ein behäbiger Bürger mit Vollmondgesicht. Der schlug sich geschwind auf Mießrigels Seite.

»Ist eh' wahr, was der Herr Tambour sagt! Gehn wir schlafen! Was die Kerle anzünden wollen, das brennt eh' schon. Wir sein halt zu spät gekommen, wie die Österreicher alleweil!«

»Höllenzoch, fader!« brummte der Tiroler Ladurner, der sich auch in Freds Fähnlein befand.

»Wir haben die Aufgabe übernommen,« sagte Fred, »Gut und Blut der Bürger gegen die Ausschreitungen des Proletariats zu schützen. Und so lange sich noch eine einzige verdächtige Gestalt in diesen Gassen blicken läßt, wäre es Pflichtvergessenheit, das Feld zu räumen!«

Die Studenten stimmten ihm zu, Mießrigel hingegen beharrte auf seiner Meinung: »Morgen früh ist auch noch ein Tag, und wenn bis dahin die Freiheit nicht wieder abgeschafft und die Polizei wieder eingeführt ist, so werden wir noch Gelegenheit genug finden, Gut und Blut der Bürger gegen die Ausschreitungen des Proletariats zu schützen.«

Eine Rotte von Gesindel stob plötzlich durch die still und dunkel gewordene Gasse und rannte schreiend und Pechfackeln schwingend an den beratenden Volkswehrmännern vorüber: »Die Herrschaft soll daran glauben! Nieder mit den Blutsaugern! Zünden wir das Schloß an!«

»Gewehre bereit! Säbel in der Hand! Eilmarsch!« kommandierte Fred.

Mießrigel ließ abermals seine Schlägel auf dem Trommelfell tanzen und wirbelte kampfaufreizende Kapriolen. Mit frischer Begeisterung marschierte das Fähnlein im Geschwindschritt in der Richtung, die der Volkshaufe genommen. Vor dem Braunhirschenschloß staute sich eine johlende Menge. Man öffnete ihnen eine Gasse: »Die Studenten kommen! Hoch die Studenten! Hoch die Helden der Freiheit!«

Auf dem Vorplatz hinter dem eisernen Gitter sah Fred beim Scheine der Fackeln eine ganze Reihe Bärenmützen, die wie eine Mauer vor der Front des Schlosses aufmarschiert standen, die Musketen schußbereit im Arm.

»Nieder mit der Herrschaft!« schrie es aus der Volksmenge. »Tod den Blutsaugern! Nieder mit den Kaiserlichen! Stürmen wir das Schloß!«

Fred hielt sich an einer Gitterstange und schwang sich auf das gemauerte Postament. Die Leute stießen einander an. Da wollte einer reden! Reden halten gehörte zur Revolution, es gehörte zur Freiheit; aber keiner war bisher unter ihnen aufgestanden, zu reden. Nur johlen und heulen konnten sie. Und jetzt wollte endlich einer eine Rede halten, noch dazu ein Student! Das war eine Ehre für sie! Und es wurde still wie zu einer Andacht.

»Arbeiter! Mitbürger! Kampfgenossen! Hört mich an!« sagte Fred. »Euer Unwille ist begreiflich. Es ist manches schwere Unrecht an euch, an uns allen begangen worden! Ihr wollt an der Herrschaft, die die Grundobrigkeit über diese Gegend ausübt, Vergeltung nehmen. Ihr wollt das Braunhirschenschloß dem Erdboden gleichmachen, wie es mit dem Grundrichteramte bereits geschehen ist. Ich gebe euch dagegen zu bedenken, daß das Schloß, wie ihr seht, von einer starken Militärabteilung besetzt ist. Wir haben es schaudernd erlebt und heute selbst mit angesehen, daß kaiserliche Truppen dazu fähig sind, ihre Waffen zu mißbrauchen und auf wehrlose Bürger zu schießen.«

Ein Wutgeheul der bis zum Wahnsinn erbitterten und halb betrunkenen Proletarierhorden antwortete ihm.

»Nieder mit dem Militär! Wir lassen nicht schießen auf uns! Die Kaiserlichen sollen bluten!«

»Für diese Verkennung der ihnen zustehenden Rechte und Pflichten,« fuhr Fred fort, »werden sie im Namen der Freiheit zur Verantwortung gezogen und ohne Nachsicht der verdienten Bestrafung zugeführt werden. Für jeden Tropfen Bürgerblut, der heute in der Herrengasse, auf dem hohen Markt, vor den kaiserlichen Stallungen und an andern Punkten der Stadt verspritzt wurde, soll strenge Rechenschaft gefordert werden! Der Kampf zwischen Bewaffneten und Unbewaffneten ist ein zu ungleicher, und es wäre Torheit, ihn aufzunehmen. Der Bürger und der Arbeiter ist verpflichtet, sein Leben der Arbeit, der Gesamtheit, der Freiheit aufzusparen! Wir dürfen nicht sinn- und zwecklos die unglückseligen Opfer vermehren, die heute in den Straßen der Stadt für die Freiheit verbluteten.«

»Hoch die Freiheit!« jubelte die Volksmenge. »Hoch die Studenten! Hoch die Helden der Revolution!«

»Auch soll uns niemand nachsagen dürfen,« lenkte Fred vorsichtig ein, »daß wir Gesetz und Ordnung mißachten!«

Ein Gemurmel erhob sich, einige von den Wildesten wollten remonstrieren. Man brachte sie zum Schweigen: Die Studenten verstünden es, auf sie könne man sich verlassen! Fred fühlte, daß er an Boden gewann.

»Person und Eigentum auch unserer Feinde müssen uns heilig sein, so fordert es die Freiheit!« rief er kühner werdend über die Köpfe der Menge hinweg und blickte herausfordernd in die Runde. Niemand rührte sich, es war totenstill.

»Darum stelle ich,« sagte er feierlich, »dieses Schloß und seine Bewohner unter den Schutz der Studenten, unter den Schutz des souveränen Volkes selbst! Ein freigewordenes Volk braucht keine Soldaten außer gegen den Feind, der seine Grenzen bedroht. Die kaiserlichen Truppen sollen abziehen, ich werde mit den Offizieren in diesem Sinne unterhandeln. Wo ein wahrhaft freies Volk wohnt, da sind sie überflüssig, denn unser gütiger Monarch hat die Bewaffnung des Volkes angeordnet, damit es Gut und Blut seiner Bürger selbst beschirme. Und das wollen wir ehrlich und treu besorgen, im Namen der Freiheit!«

»Im Namen der Freiheit!« rief es aus der Menge. »Hoch die Studenten! Hoch die Helden der Freiheit! Das Militär soll abziehen! Fort mit den Kaiserlichen! Wir wollen selbst das Schloß bewachen!«

Fred stieg herab und betrat durch das Gittertor den Vorhof des Schlosses, nachdem er sich ein weißes Tuch um den linken Arm geschlungen. Mießrigel, der sich als Adjutant aufspielte, ließ es sich nicht nehmen, ihn mit der großen Trommel zu begleiten. Der Unteroffizier der Grenadiere gab bereitwillig Auskunft über seinen Kommandanten: Es sei der Leutnant Baron Auenwald, der sich im Schloß befinde. Man wies die Abgesandten über die von der Parkseite aufsteigende Freitreppe in den Empfangssaal, wo die freiherrliche Familie um den Teetisch versammelt saß.

Der alte Freiherr erhob sich und ging den Freiheitshelden entgegen, sie in seiner weltmännischen Art begrüßend und den Damen zuführend. Fred küßte der Baronin die Hand und entschuldigte sich, daß er gezwungen sei, in so später Stunde hier einzudringen. Sie erwiderte nichts und verhielt sich fast beleidigend kühl, während Elfe, die neben ihr auf dem Kanapee saß, ihm lebhaft ihre schmale weiße Hand entgegenstreckte und mit leisem Vorwurf sagte: »Sind Sie unter die Revolutionäre gegangen?«

Indessen schienen ihre großen, verängstigten Augen nicht ohne Wohlgefallen auf ihm zu verweilen, und er sah, daß sie reif und noch schöner geworden war. Mießrigeln hingegen streifte sie mit mißtrauischem Seitenblick und verzog ein wenig den Mund dabei, als schwebte ihr das Wort Gretchens auf den Lippen: »Es tut mir in der Seele weh, daß ich dich in der Gesellschaft seh'!« Ihre freundliche Aufforderung, Platz zu nehmen und eine Tasse Tee zu trinken, wofür sie von der Baronin mit einem mahnenden Augenaufschlag zurechtgewiesen wurde, lehnte Fred dankend ab.

Er sei in rein dienstlicher Angelegenheit gekommen, sagte er, sich Baron Bela zuwendend, der ruhig sitzen geblieben war und gemächlich seine Zigarre rauchend die beiden seltsamen Gestalten mit ironischen Blicken maß. Er trug Felduniform und hatte die Dienstkappe über den Korb des Säbels gestülpt, den er zwischen den Beinen hielt. Womit er den Herrn dienen könne? fragte er in seiner etwas gedehnten und süffisanten Art.

Die Proletarier hätten das Grundrichteramt von Braunhirschen zerstört und niedergebrannt, berichtete Fred; leider seien die Studenten zu spät gekommen, es zu verhindern. Nun habe die Volkswut sich gegen das Schloß selbst und seine Bewohner gewendet, und nur mit Mühe sei es den Studenten gelungen, die aufgeregte Menge zu beschwichtigen, die nahe daran gewesen wäre, zum Sturm überzugehen. Noch blockiere sie Haupteingang und Straße, die Gefahr sei keineswegs als beseitigt zu betrachten. Durch den geringsten Anlaß könne der Brand der Leidenschaften aufs neue entfacht, Besitz und Leben der Familie den ernsthaftesten Bedrohungen ausgesetzt sein.

»Entschuldigen Sie,« unterbrach ihn Baron Bela, »warum erzählen Sie mir das alles? Von dem, was draußen vorgeht, bin ich selbstverständlich durch meine Leute unterrichtet. Sie sehen, daß ich mich dadurch nicht abhalten lasse, meinen Tee zu trinken und meine Zigarre zu rauchen. Der ganze Rummel hat für mich nichts Überraschendes. Ich war von Anfang an darauf gefaßt, daß die sträfliche Nachgiebigkeit der Regierung die Zuchtlosigkeit des Pöbels entfesseln würde. Ebendeshalb begrüßte ich es mit besonderer Genugtuung, daß ganz zufällig gerade meine Person dazu ausersehen wurde, den Befehl, dieses Schloß militärisch zu besetzen, zur Ausführung zu bringen. Wir sind vorbereitet und sehen den kommenden Ereignissen mit voller Ruhe entgegen, Besitz und Leben meiner Familie vor ernsthafter Bedrohung zu schützen, wird die Aufgabe sein, der ich mich hier zu unterziehen habe.«

»Sie werden sich, Herr Leutnant,« entgegnete Fred, »dieser Aufgabe nicht entledigen können, ohne eine ganze Anzahl Menschenleben zu opfern. Die Menge ist durch die Ereignisse des Tages bis zur Sinnlosigkeit erregt, ihr Zusammenstoßen mit dem Militär würde die entsetzlichsten Folgen nach sich ziehen. Ich zweifle nicht daran, daß Ihre Grenadiere, obgleich sie sich in der Minderzahl befinden, der unbewaffneten Masse des Volks weitaus überlegen wären. Aber ich erlaube mir daran zu zweifeln, daß neues und gänzlich zweckloses Blutvergießen der Absicht Sr. Majestät unseres gütigen Kaisers entspräche.«

»Über die Absichten Sr. Majestät,« sagte Baron Bela mit ironischem Lächeln, »wird ein kaiserlicher Offizier sich nicht durch einen Studenten belehren lassen. Ich bin Soldat und kenne keine andere Direktive als den Befehl meiner Vorgesetzten. Mein Auftrag geht nicht dahin, Blutvergießen zu vermeiden, sondern dahin, dieses Schloß und seine Bewohner gegen die Ausschreitungen der betrunkenen Kanaille zu verteidigen. Sagen Sie dem Pöbel, dessen Abgesandter Sie zu sein scheinen, daß er sich die Folgen wird selbst zuzuschreiben haben, falls er es wagen sollte, aggressiv vorzugehen.«

Freds Rechte fuhr unwillkürlich nach dem Griff seines Säbels, aber er bezwang sich, denn Elfe, die gespannt dem scharfen Wortwechsel zugehört hatte, rief mahnend dazwischen: »Herr Leodolter ist kein Abgesandter des Pöbels, Bela! Er kommt als Student, um zu vermitteln, und ist in diesem Augenblicke unser Gast!«

Abermals traf sie ein strafender Augenaufschlag der Baronin. Der Freiherr hingegen schien ihre Worte nicht zu mißbilligen, denn er sagte, freilich in seiner vorsichtig nach der Mittelstraße hin lavierenden Weise: »Die Gegensätze auf die Spitze zu treiben, liegt allerdings weder im Interesse des kaiserlichen Militärs, noch auch im Interesse der bürgerlichen Parteien, die heute, oder vielmehr gestern (er blickte nach der Uhr) immerhin einen gewissen politischen Erfolg zu verzeichnen haben. Gerade die Studenten sind durch die Sympathien, die sie auf beiden Seiten genießen –«

»Die Studenten sind schuld an allem! Sie haben die ganze Revolution gemacht!« rief Baron Bela, stand auf und ging mit nachschleppendem Säbel im Saale auf und nieder.

»Gerade die Studenten meine ich,« fuhr der Freiherr, den Zwischenruf scheinbar überhörend, unentwegt fort, »sind vielleicht die Berufensten, das Mittleramt zu übernehmen. Das Leben besteht aus Kompromissen, und wir können den Studenten nur dankbar dafür sein, wenn sie die tiefen Klüfte, die sich in wenigen Stunden zwischen den verschiedenen Gesellschaftsklassen aufgetan haben, zu überbrücken versuchen. Ich für mein Teil muß gestehen, es wäre mir eine wahre Beruhigung, wenn vor diesem schlichten Hause, das ein fortschrittlich gesinnter Mann bewohnt, Blutvergießen vermieden werden könnte.«

»Es kann vermieden werden!« sagte Fred warm. »Das gemeine Volk ist nicht schlecht, es ist nur roh, ungebildet, vernachlässigt, elend! Es sind Hungernde, Herr Baron, die vor ihrem Schlosse toben –«

»Besoffene!« warf der Leutnant dazwischen.

»Ausgestoßene, die die Not tatsächlich an ihrem eigenen Leibe erfahren, und die jetzt, das Geschenk der Freiheit mißverstehend, sich aller Fesseln entledigt und den jüngsten Tag gekommen glauben. Es wäre eine Ungerechtigkeit, sie für ihr beschränktes Urteil nach demselben Maßstabe verantwortlich zu machen, nach dem wir unsere eigenen Gedanken messen, und eine Grausamkeit, sie, wenn sie sich Ungehörigkeiten zu schulden kommen lassen, niederzuknallen wie die Hasen! Glauben Sie mir, sie verdienen unser Mitleid und unsere Nachsicht und sind lenkbar wie die Kinder, wenn man ihr Vertrauen zu gewinnen weiß und ihre Leidenschaften verstehen lernt. Der Anblick der Soldaten vor dem Schlosse macht sie sinnlos, versetzt sie in Raserei, wie den verprügelten Kettenhund der Anblick einer Riemenpeitsche. Geben Sie Befehl, daß das Militär abzieht, und sie retten Familienväter, Gatten, Söhne, die in wenigen Tagen still und friedlich zu ihrer Arbeit zurückkehren werden, vor dem sicheren Tode! Ich beschwöre Sie im Namen der Freiheit, im Namen der Menschlichkeit: Haben Sie das Herz zu dieser edlen Tat, es wird Ihnen und den Ihrigen kein Haar gekrümmt und kein Sandkorn Ihres Besitzes beschädigt werden!«

Elfes glänzende Augen hingen an Freds Lippen, ihre Hände lagen gefaltet auf dem Tisch, und ihre Wangen glühten. Der Freiherr, vor eine klare Entscheidung gestellt, verbarg seine Unruhe nicht und schien zu schwanken. Die Baronin richtete sich auf und sagte streng: »Man will uns der Gewalt des Pöbels überantworten?«

»Die Studenten werden uns beschützen!« rief Elfe hingerissen.

»Das hieße den Bock zum Gärtner machen!« sagte der Leutnant, sich vor Fred aufpflanzend. »Wer bürgt mir dafür, daß die verrückte Horde nicht wie ein Heuschreckenschwarm über dieses Schloß herfällt?«

»Ich bürge Ihnen dafür,« sagte Fred, »und die Majestät des Kaisers, der die Studenten bewaffnet hat, damit sie Gut und Blut seiner Untertanen gegen die Ausschreitungen Unvernünftiger schirmen!«

»Vielleicht mit dem Bratspieß da?« höhnte Baron Bela, indem er mit der Fußspitze Freds Säbelscheide berührte. »Oder mit der großen Trommel,« sagte er, Mießrigeln mit einem Seitenblick streifend.

»Durch eine mächtigere Waffe, die Sie allerdings nicht kennen,« rief Fred aufs tiefste verletzt. »Durch offenes und freies Manneswort!«

Ein Diener stürzte in den Saal, Entsetzen malte sich auf seinen Mienen: Die Proletarier bildeten sich ein, der Herr Student würde hier gefangen gehalten, und machten Miene, das Schloß zu stürmen! Mießrigel benützte die Verwirrung, die durch diese Botschaft entstand, dem Leutnant den verschluckten Unmut heimzuzahlen, und fing plötzlich »Sturm« zu trommeln an, daß allen der Schrecken in die Glieder fuhr. Zornig fiel Fred ihm in den Arm: »Ich bitte dich, laß das! Eile hinaus und sag ihnen, ich käme sogleich wieder und brächte gute Botschaft!« Und zu Baron Bela gewendet: »Der Augenblick der Entscheidung drängt. Geben Sie der Stimme der Menschlichkeit Gehör! Räumen Sie das Feld!«

Ein tausendstimmiges Johlen drang wie aus der Ferne in den Saal.

Der Leutnant stampfte den Boden. »Ich lasse mich nicht zwingen von der revoltierenden Plebs!«

»Niemand zwingt Sie,« rief Fred. »Es ist Ihr freier männlicher Entschluß, den ich erwarte. Ich bitte Sie nur, ja, ich bitte für diese irregeleitete Menge: Schonen Sie ihr Leben! Und wenn ich ihre Sache nicht geschickt geführt und Sie durch ein allzu rasches Wort verletzt haben sollte, verzeihen Sie mir! Aber lassen Sie es diese Unglücklichen nicht entgelten!«

Er streckte ihm die Hand hin und wartete, da wurde sie ergriffen und warm gedrückt, aber nicht von Bela, der finster und unbeweglich vor ihm stand. Elfe war es, die sich niederbeugte und seine Hand mit Tränen benetzte: »Sie sind gut, Fred, und hilfreich! Ich danke Ihnen!« Trunken vor Glück und Verwirrung sah er ihr blondes Haar nahe an seiner Brust und fühlte ihre warmen Lippen, die sich auf den Rücken seiner Hand preßten.

»Elfe!« rief die Baronin entrüstet.

Die Tür flog auf, irgend eine Stimme schrie: »Sie bombardieren die Grenadiere mit Steinen!«

Schon war der Leutnant aus dem Saal. Fred, sich losreißend, folgte ihm wie im Taumel. Mit fliegendem Atem rannte er über den knirschenden Gartenkies ... Zu spät!

»Schlagt an! Feuer!«

Eine ratternde Salve und gleich darauf Wehgeschrei und Stöhnen und Jammern von Verwundeten und Sterbenden. Kommandorufe. Die Grenadiere mit gefälltem Bajonett vor. Die Menge kreischend über Tote und Blessierte hinweg die Gasse hinunter, die Parkmauer entlang. So treiben ein paar Knaben mit ihrer Peitsche eine ganze Schar schnatternder Puten vor sich her ... Und aus schon größerer Ferne fortgesetztes zerstreutes Musketengeknatter: Pelotonfeuer gegen die Fliehenden.

Abseits, im Laubdunkel des andern Straßenausgangs, stand Mießrigel und trommelte »Vergatterung«. Die Reste der Volkswehr sammelten sich um ihn, es waren aber nur mehr elf Musketen und zwei Pistolen, der dicke Pfaidler und ein paar Studenten fehlten, vielleicht gefallen, vielleicht mitgerissen durch den Strom der Menge. Fred stieß zu ihnen, Tränen liefen ihm aus den Augen ... Es tat ihm weh: So wurde die neue Freiheit besteckt!

»An den aristokratischen Dickschädeln ist Hopfen und Malz verloren,« sagte Mießrigel, als alle beisammen waren. »Sie haben kein Einsehen und wollen partout dem Mob ihre Schlösser nicht zum Plündern überlassen. Da sind die kleinen Leute, die Bäcker und Selcher, halt doch viel freiheitlicher gesinnt! Von denen hat es keiner über sein liberales Herz gebracht, einen Zug Grenadiere vor seinen Laden hinzupflanzen.«

»Halten Sie Ihr Maul, Sie Sancho Panza der Revolution!« sagte einer der Studenten; »wir haben jetzt wichtigeres zu tun, als Ihre faulen Späße anzuhören!«

Der Tiroler Ladurner kehrte von einer kleinen Rekognoszierung zurück und meldete, auf der freien Wiese hinter der Parkmauer sammle sich das Volk schon wieder.

»Ein ganzer Haufen Proletarier ist den Grenadieren entkommen und nach der Seite hin abgezogen, wo wir stehen,« sagte der erste. »Gerade die Rädelsführer sind dabei gewesen, eine Zeit lang befand ich mich mitten unter ihnen und hörte, wie sie die neue Losung ausgaben. Es geht jetzt gegen die Leodolterische Seidenzeugfabrik. Auf die mechanischen Webstühle haben sie es abgesehen. Die fräßen ihnen das Brot weg, sagten sie, krumm und klein müsse alles geschlagen werden und der rote Hahn aufs Dach gesetzt! – Dahin laßt uns marschieren, Kameraden, und sogleich, damit wir nicht abermals zu spät kommen!«

»Ich bin ein Leodolter,« sagte Fred, »und würde Einwände erheben, wenn eine andere ebenso dringende Aufgabe zur Wahl stünde. Es ist uns aber im Augenblick keine sonstige Gelegenheit bekannt, wo wir helfend eingreifen könnten, und die Fabrik liegt hier ganz in der Nähe; so erkläre ich mich einverstanden, nicht weil, sondern obgleich ich ein Leodolter bin. Unter der Voraussetzung natürlich, daß alle Mitglieder unseres Fähnleins das Unternehmen billigen?«

»Vorwärts! Nur rasch voran! Führe uns, Bruder!« riefen die Musketen und Pistolen begeistert.

In wenigen Minuten standen sie auf dem Platz. Da heulten schon wieder die Wölfe in ganzen Rudeln um die Hürde. Das Licht der Fackeln fiel auf das Gebäude. Bei ihrem Scheine glaubte Fred eine Bewegung hinter den Fenstern des ersten Stockwerks wahrzunehmen, wo die Säle mit den Spul- und Windmaschinen lagen. Er wunderte sich. Waren denn außer Vielkind noch viel Leute im Haus?

Mießrigel wirbelte die Trommel. Da öffnete sich wieder eine Gasse, man ließ das Fähnlein passieren und jubelte den Studenten zu. Fred nahm die Richtung gegen den Haupteingang, von wo dumpf dröhnende Schläge schauerlich durch die Nacht schollen. Näher herangekommen, gewahrten sie, daß das Tor bereits mit Äxten und Brecheisen bearbeitet wurde. In diesem Augenblick flog oben ein Fenster auf, und Fred erschrak heftig, als der Muschir sich zeigte, den jungen Brodbeck an der Seite.

»Zurück – oder es wird siedendes Wasser auf euch gegossen! Wer nicht verbrüht sein will, zurück!«

In panischem Schrecken sprangen die Leute vom Hause fort, ein Geheul der Wut erschütterte die Luft. Fred besetzte das Tor und stellte seine Musketen im Halbkreis herum auf. Er fühlte sich diesmal unsicher, und sein Herz pochte heftig. Lieber hätte er den Muschir zu Haus in seinem Bette gewußt. Sein Anblick mußte auf die Leute, die Fred großenteils als Weber aus der Fabrik erkannte, wie das rote Tuch auf den Stier wirken. Und an einem andern Fenster hatte er flüchtig die Umrisse eines Kopfes beobachtet und glaubte Poldi erkannt zu haben. Hier galt es wirklich Gut und Blut schirmen! Und die einzige Waffe, die er gebrauchen durfte und konnte, war das aus dem Herzen dringende Wort. Denn von seinen Musketen und Pistolen, auch wenn sie adjustiert und geladen gewesen wären, hätte er auf keinen Fall Gebrauch machen wollen und im Namen der Freiheit nie und nimmer Schergen- und Henkersdienste verrichtet!

Jetzt stand er zitternd vor innerer Erregung der drohenden Arbeitermenge gegenüber, die murrend zurückgewichen war und danach zu brennen schien, die Äxte, Hämmer und Eisenstangen, die die Leute in Händen hielten, an den mechanischen Kraftstühlen zu versuchen. In der vordersten Reihe fiel ihm ein zerlumpter Mensch auf, ein alter gebrechlicher Mann, der sich wie ein Wilder gebärdete, und den er sofort erkannte, obgleich die Fackel, die er trug, das runzlige Gesicht zu einer teuflischen Fratze modellierte – denn die Erinnerungen der Kindheit sind treu. Das hätte er damals nicht gedacht, den Götsch Lebold so wiederzusehen! Und er hörte aus seiner krähenden Greisenstimme die Rachsucht für ein verpfuschtes Leben zetern: »Die Maschinen müssen hin sein! Der Blutsauger muß hin sein! Die ganze Welt, alles, alles muß hin sein!«

Zwei Studenten hoben Fred auf ihre Schultern. Er wollte reden und nahm seine ganze Hoffnung zusammen, sein heiliges Feuer für die gute Sache, seine Liebe zu dem geringen Volk, sein Mitleid mit den Enterbten der Gesellschaft, seine Angst um den Bruder, den er in diesem bedrohten Haus vermutete.

»Im Namen der bewaffneten Studentenschaft! Im Namen des souveränen Volkes! Im Namen der Freiheit! Arbeiter! Brüder!«

Da wurde er jäh unterbrochen, wurde überschrien; nicht von der Volksmenge, die still geworden war und bereit, seinen Worten zu lauschen, als es hieß, ein Student wolle sprechen. Nur zu gut kannte er die mächtige Stimme, die da von oben donnerte. Der Muschir, der abermals am Fenster erschienen war, wußte seiner leidenschaftlichen Empörung keine Zügel anzulegen. Die Wahrheit sollten sie hören, die da unten, nicht schmeichlerische Revolutionsphrasen; und die Rettung seines Hab und Guts wollte er nicht einer Studentenrede danken, sondern sich selbst.

»Ihr Helden der Gasse da unten!« rief er. »Lärmschlager! Revolutionsgesindel! Hört, was ich euch zu sagen habe, wenn ihr die Wahrheit noch vertragen könnt! Das ist die Freiheit nicht, was ihr wollt! Das ist Pöbelherrschaft! Brutale Gewalt! Empörung gegen Gesetz und Ordnung! Arbeiter wollt ihr heißen? Sind das Arbeiter, die ihr Gerät zerstören möchten? Sind das Arbeiter, die ihren Fabriksherrn ruinieren wollen? Ungetreue Knechte seid ihr! Verräter an euren Wohltätern! Kappelbuben! Tagediebe! Strawanzer! Kein ehrlicher Arbeiter wird euch mehr in das Gesicht speien mögen!«

Bis dahin hatte die Volksmenge lautlos zugehört, wie erstarrt durch das Donnerwetter, das sich so unerwartet entlud. In vierundzwanzig Stunden hatten sie sich rasch daran gewöhnt, »Mitbürger«, »Brüder«, »Souveränes Volk« zu heißen, die Kühnheit dieses plötzlichen Füllhorns von Schimpf, das über sie ausgegossen wurde, lähmte sie beinahe für einen Augenblick. Aber jetzt begriffen sie erst recht, wie es gemeint sei, da tobte die Raserei des Wahnsinns durch ihre Reihen.

»Stürmt das Haus! Reißt ihm die Zunge aus dem Mund! Er hat das Volk beleidigt! Er höhnt die Freiheit!«

Fred sah es kommen, daß sie die Studenten zur Seite drängen und wieder Hand an das Tor legen würden. Abermals ließ er sich auf die Schultern der Kameraden heben, um den tosenden Orkan durch Worte zu beschwören.

»Das ist kein Student! Das ist selbst ein Leodolter!« rief es ihm entgegen. Und von Mund zu Mund flog die Kunde: »Das ist ein Leodolter! Das ist kein Student! Man will uns betrügen! Er soll still sein! Wir wollen ihn nicht hören! Jagen wir die falschen Studenten zum Teufel!«

Eine entschlossene Schar jüngerer Proletarier, mit schweren Hämmern und Schienenstücken bewaffnet, machte einen Vorstoß gegen das Studentenfähnlein, an ihrer Spitze derselbe Götsch Schani, in dessen Hand Fred damals die seinige gelegt, als Studenten und Proletarier in jener geheimen Spelunke unter Mießrigels Patronanz sich verbrüdert hatten. Der wußte jetzt nichts mehr von Verbrüderung, weil er in Fred nur den Leodolter, nicht den Studenten erblickte.

»Gebt die Bahn frei!« rief die aufrührerische Rotte den Studenten zu. »Ihr habt hier nichts zu suchen! Ihr seid bezahlte Handlanger der Leodolterischen!«

»Schlagt an!« kommandierte Fred.

Die elf ungeladenen Musketen flogen an die Wangen, die zwei Feuersteinpistolen richteten ihre unschädlichen Mündungen drohend gegen die Angreifer. Es bestand keine Gefahr, daß etwas losgehen könnte, aber schon der bloße Anblick der Feuerschlünde, dazu Mießrigels kriegerischer Trommelschlag, übten eine zwingende Gewalt. Die mörderische Wirkung der Grenadiersmusketen vor dem herrschaftlichen Schlosse Braunhirschen stand den Proletariern, die dort mit dabei gewesen waren, in frischer Erinnerung. Sie sorgten dafür, daß die Panik sich rasch verbreitete, und rissen auch die anderen, die neu hinzugekommen waren, in kopfloser Flucht mit sich fort. Wie ein riesiger Flug Stare von der Wiese, in die er eingefallen, sich plötzlich erhebt, wenn man bloß in die Hände klatscht, und mit schwirrendem Geflatter das Weite sucht, so stob der kreischende Schwarm vor Mießrigels Trommel, die bloß von einer Handvoll ungeladener Gewehre unterstützt wurde, über den weiten Fabriksgarten dahin. Und während die Studenten das fliehende Volk bis in die nächstgelegenen Gassen verfolgten und nach allen Windrichtungen zersprengten und zerstreuten, stand Fred an der Grenze des Grundstückes auf seinen Säbel gelehnt, todmüde an Leib und Seele, und überlegte, was soeben geschehen: Daß er die Gewalt der Waffen, wenn die seinigen auch bloßes Blendwerk waren, hatte zu Hilfe rufen müssen, um die bedrängte Freiheit gegen Pöbelausschreitung zu schirmen. Er schämte sich jetzt fast der großen herzwarmen Worte, die er vorhin im Saale des Braunhirschenschlosses vor dem Freiherrn und dessen Familie hatte erklingen lassen.

Ein gut gekleideter Mann, anscheinend den besseren Ständen angehörig, kam die Fünfhauserstraße hergelaufen und sah ihn stehen: »Um Gotteswillen sagen Sie mir, ist keine Polizei in der Nähe, kein Militär? – Sie tragen selbst Waffen,« besann er sich; »wer sind Sie?«

»Ich bin einer von den bewaffneten Studenten und gehöre zur neuen Volkswehr. Meine Musketen haben soeben die Proletarier auseinander getrieben, die die Leodolterische Seidenfabrik stürmen wollten.«

»Haben Sie Erbarmen, Herr, und kommen Sie mir zu Hilfe!« rief der Atemlose. »Ich bin Besitzer der Kattundruckerei gleich hier nebenbei in Fünfhaus, es sind keine fünf Minuten bis dahin. Die Arbeiter machen Miene, auch meine Fabrik zu stürmen, ich bin Familienvater, meine Frau und meine Kinder wohnen im Hause, mein ganzes Kapital steckt in meinem Unternehmen, ich bin ein Bettler, wenn sie mir meine Maschinen zerschlagen! Seien Sie barmherzig, Herr, und retten Sie mich und die Meinen vor dem sicheren Untergang!«

Einen Augenblick schwankte Fred. Durfte er hier die Gefahr für beseitigt halten? Würde der alte Götsch und der Götsch Schani nicht vielleicht wiederkehren, wenn es ihnen gelang, ihre Scharen zu sammeln? Er sah einzelne Rotten von Proletariern in der Richtung gegen Fünfhaus abziehen. Auf dem Braunhirschengrund durfte der Sturm wohl für zurückgeschlagen gelten. Aber wie auch immer! Die Volkswehr war nicht dazu da, gerade nur die Leodolterische Fabrik zu schützen. Sie stand im Dienst der Allgemeinheit, und er hatte kein Recht zu zögern.

»Ich kenne den Weg. In wenigen Minuten werde ich mit meinen Leuten zur Stelle sein.«

Er streckte ihm zur Bekräftigung die Hand hin, der andere ergriff sie, drückte sie unter heißen Dankesworten und eilte zurück. Fred rief nach Mießrigel. Der bog ohnedies gerade aus einer Nebengasse ein, um nach seinem Hauptmann zu sehen.

»Bleib hier stehen,« befahl Fred, »und trommle unsere Leute zusammen. Die Weberhorde wird sich so bald nicht sammeln. Die Pflicht ruft uns zu einem neuen Unternehmen.«

»Ich trommle keine Freiheit mehr,« sagte Mießrigel, »die wächst mir schon zum Halse heraus. Und Gleichheit trommle ich schon gar nicht mehr, denn ich habe mein Herz entdeckt und mit freudigem Staunen die Wahrnehmung gemacht, daß ich im Grunde eine aristokratische Natur bin und es mit allen andern Ständen lieber zu tun habe als mit Proletariern. Aber Brüderlichkeit, meinetwegen, die will ich dir zulieb trommeln, wenn du damit einverstanden bist.«

»Trommle was du magst; nur sieh zu, daß du unser Fähnlein so rasch als möglich wieder zusammen bekommst!«

Er lief durch den Garten zurück gegen das Fabriksgebäude und rief zu den Fenstern hinauf: »Hollah, wer ist oben? Ist Poldi da?«

Ein Fenster wurde aufgemacht: »Bist du es, Fred?«

»Bist du es Poldi?«

»Fred! Daß ich dir die Hand nicht drücken kann! Du setzt dich Gefahren aus!«

»Mach dir keine Sorgen, Poldi! Es ist eine große Zeit, der wir dienen, unser Leben steht in Gottes Hand.«

»Kannst du nicht zu uns herein kommen? Ich räume die Barrikade vor der Hinterpforte weg!«

»Ich muß fort, Poldi! Höre, was ich dir zu sagen habe. Die Proletarier sind versprengt. Wenn sie sich noch einmal sammeln sollten, so stopf dem Muschir den Mund, daß er nicht Wahnsinn schwatzt! Ich eile mit meinen Leuten nach Fünfhaus, es ruft uns die Not! Zwei Musketen lass' ich euch zur Bewachung vor dem Tor, mehr kann ich nicht entbehren. Haltet euch so lang als möglich, ich kehre zurück, sobald unsere Pflicht es gestattet. Lebe wohl!«

»Die zwei Musketen nimm nur mit, sie sind allein zu schwach und für nichts. Wir brauchen sie nicht, wir halten uns auch ohne sie, und dir könnten sie abgehn.«

»Du kannst recht haben, so will ich sie mitnehmen; um so rascher hoff' ich drüben fertig zu werden. Lebe wohl! Gott befohlen, Poldi!«

»Leb wohl, Bruder! Gott mit dir, Fred!«

Er eilte fort und stieß wieder zu den Seinen, die sich inzwischen beinahe vollzählig um Mießrigel eingefunden hatten. Nur eine Pistole fehlte.

»Um den ist nicht schade,« sagte Mießrigel, »das war ein gewisser Kuchaz, ein Böhm'! Ein paar Proletarier haben ihm » Sláva« zugerufen, da machte er gemeinsame Sache mit ihnen.«

»Ein Überläufer?« rief Fred empört; »das kann ich nicht glauben.«

»Ich hab' es mit eigenen Augen gesehen,« sagte Mießrigel. »Ein Böhm' bleibt halt alleweil ein Böhm'!«

»Vor der Freiheit gibt es keinen Unterschied der Nationen mehr,« wies Fred ihn strenge zurecht; »alle sind gleich, und alle unsere Brüder.«

Er konnte sichs jetzt, da er mit Bestimmtheit Poldi in der Fabrik wußte, doch nicht versagen, Vorsichtsmaßregeln zu treffen, und bat einen seiner Studenten, als Wachposten im Gartengebüsch zurückzubleiben und ihm unverzüglich Meldung zu erstatten, wenn nur die geringste Zusammenrottung stattfände oder sonst etwas Verdächtiges sich in der Umgebung zeigte. Der versprach, kein Auge von dem Gebäude zu wenden und etwa drohende Gefahr sofort zu signalisieren. Nun erst ging Fred erleichtert von dannen.

»Eilmarsch!« kommandierte er, sich wieder an die Spitze seines Fähnleins stellend.

» Sláva!« machte Mießrigel und fing wie wütend zu trommeln an.

*


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