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»Warum hast du deine Aufgabe nicht gelernt, Fred?« fragte Herr Schinackel.
»Weil es nicht wahr ist, daß die Nachtigallen am Morgen singen.«
Herr Schinackel stutzte und wurde rot. Sangen die Nachtigallen am Ende wirklich nur des Nachts? Oder sangen sie auch am Morgen? Er wußte es nicht. Sein Lebtag hatte er keine Nachtigall singen hören.
In seiner Verlegenheit zog er sein Federmesser hervor und begann ein paar neue Federn zu schneiden, und dabei durchforschte er emsig alle Winkel seines Gedächtnisses. Aus eigener Erfahrung kannte er eigentlich nur die Lebensgewohnheiten der Kanarienvögel und allenfalls die der Sperlinge. Er war ein Stadtkind, in einem engen, holprigen Hofe aufgewachsen, zwischen Feuermauern und Hinterhäusern. Noch heute blickte er von seinem Stübchen auf diesen Hof hinunter, jahraus, jahrein. Da gab es nichts Grünes, nichts, woran man hätte sehen können, ob es Frühling war oder Herbst. Nur von dem kleinen Endchen Himmel hoch oben, wo die Wolken vorüberzogen, grüßte die große, freie Welt herein, Sehnsucht weckend, ins Weite lockend ... O! – ein enterbtes, armseliges Stadtkind war er! Ihm hatte noch keine Nachtigall gesungen!
»Vorerst wollen wir uns im Schreiben üben,« sagte er.
Und um Zeit zu gewinnen, gab er jedem der Knaben eine neue Feder und bezeichnete ihnen eine Stelle aus dem Namenbüchlein, die sollten sie schön ins Reine schreiben, ohne einen Tintenbatzen zu machen.
Und dann? Was würde er nachher beginnen? Wie würde er sich verhalten? Mit einer Strafe drein fahren? Wenn es nun einmal Freds Ueberzeugung war, daß die Nachtigallen nur des Nachts sangen? Im Grunde gefiel es ihm, daß der Knabe sich weigerte, blind nachzubeten, was im Namenbüchlein stand, wenn er es für falsch hielt. Papageien zu erziehen, war sein Ehrgeiz nie gewesen. Und wenn Fred vielleicht gar recht hatte? Und wenn die Nachtigallen wirklich nicht am Morgen sangen? Wahrheit mußte Wahrheit, Recht Recht bleiben. O, wer etwas von den Nachtigallen wüßte!
Und was wußte er überhaupt von der Welt? Von wie viel Schönem, das dieses Leben bieten konnte, besaß er nur eine blasse, farblose Vorstellung aus Büchern! Genau wie jene enge Kammer im Hinterhaus der Roveranigasse, wo er wohnte, genau so war sein ganzes Leben: mit einem einzigen kleinen Fensterchen auf einen verbauten, winkeligen Hof hinaus! Nur das Stückchen Himmel freilich, das hoch oben darüber schwebte ... Manchmal war es ganz rein und tiefblau, manchmal jagten silberschimmernde Wollen vorbei, manchmal lugte der Mond über eine Feuermauer, stieg langsam herüber, machte ein verzwicktes Gesicht und verwandelte die Schornsteine in geisterhafte Ungetüme, die riesige Schatten über die Dächer warfen ... Und manchmal wieder standen unzählige Sterne da oben, gelbe und weiße, hellfunkelnde und blasse, scharenweis – da sah man es erst, daß in dem winzigen Fleckchen Himmel ganze Welten Platz hatten. Hunderte und Hunderte ... Und geradeso schwebte auch ein wunderbares Endchen Himmel über seinem engen Dasein, voll von Möglichkeiten, mit glänzenden Lichtpunkten und Ausblicken ins Unendliche ...
Wer weiß? Vielleicht war es gut, daß ihm so vieles versagt geblieben war, was die Menschen zerstreut und ablenkt von ihren wahren inneren Zielen! Gibt es bessere Lehrmeister und bewährtere Erzieher als Entbehrung, Mühsal und Not?
Schon früh hatte er ihre Bekanntschaft gemacht. Sein Vater war kaiserl. königl. provisorischer Lottoakzessist gewesen Einer von den Menschen, die ihr ganzes Leben lang ältlich zu sein scheinen. Ein gewissenhafter, diensteifriger Beamter, den der Ehrgeiz verzehrte, kaiserl. königl. wirklicher Lottoakzessist zu werden. Aber er erlebte es nicht und segnete das Zeitliche, ehe er das Ziel seines Ehrgeizes erreicht hatte. Witwenpension gab es keine, es war nicht daran zu denken, daß der Sohn studiert hätte, wie er gern wollte. Seither hielt er sich und die Mutter durch Stundengeben über Wasser.
Von Kindheit auf war es seine Sehnsucht gewesen. Reisen! Die Welt sehen, die hohen Berge, das Meer, die wunderlichen Palmen, die roten und die schwarzen Menschen! Hätte er diesen Traum verwirklichen können, so hätte er sicher auch einmal eine Nachtigall singen hören. Aber es reichte nicht, ganz einfach. Nicht einmal zu einer Wallfahrt nach Mariazell reichte es, die er der Mutter gern einmal vergönnt hätte, weil ihr Herz daran hing, vonwegen des Seelenheils. Und einmal, als es fast so aussah, als könnte es jetzt doch bald reichen – richtig kam wieder etwas dazwischen, der Herr Doktor nämlich. Denn gerade, als die paar mühsam und unter Entbehrungen zusammengesparten Gulden endlich ein bescheidenes rundes Sümmchen gaben, da erkrankte die Mutter. Und das ließ er sich nicht nehmen, für ihre Gesundheit mußte geschehen, was nottat, das ging allem andern voraus. Aber mit der Gesundheit steht es nicht wie mit vielen andern Dingen, daß man sie auch schon hat, wenn man nur Geld darum gibt; und oft kann man viel Geld darum geben und hat sie erst recht nicht. Schinackels Ersparnisse gingen drauf, aber die Mutter wurde nur immer kränker. Und schließlich mußte sie sterben, ohne in Mariazell gewesen zu sein. Indessen meinte der Kooperator von St. Ulrich, der sie mit den Sterbesakramenten versehen hatte, er hoffe sie trotzdem glücklich hinübergebracht zu haben.
Darüber war Zeit hingegangen, dem Schinackel wuchs ein langer, wilder Bart, er fing an ins Mannesalter einzurücken; aber weit über die Linienwälle war er nie hinausgekommen. Was wußte er von Nachtigallen? Einmal, da er noch ein Halbwüchsiger gewesen, hatte der Vater dem Staat einen großen Dienst erwiesen. Es war ihm nämlich gelungen, einen Spitzbuben hopp zu nehmen, der einen gefälschten Riskonto präsentierte. Dafür erhielt er fünf Gulden Schein als außerordentliche Remuneration. Das war eine Art Ehrengabe, die machte ihn stolz! Fast ein wenig wie ein Staatsretter kam er sich vor, wie ein kleiner Vater des Vaterlandes. Er wollte sich auch einmal einen guten Tag machen und fuhr nach Klosterneuburg zum Heurigen, und seinen Buben nahm er mit. Zurück schwammen sie die Donau herunter, auf einem wirklichen Dampfschiff. Und die Schaufelräder des Schiffes schlugen hohe Wellen. Und an der Nase unter dem Leopoldsberg hätte man beinahe scheitern können. Das war ein Tag, voll von Abenteuern! Noch jetzt dachte Schinackel manchmal daran zurück und zehrte von der Erinnerung. War es nicht eine Art Reise gewesen? Jedenfalls die größte seines Lebens. Mit der Mutter hatte er höchstens ab und zu einmal einen Ausflug in den Prater unternommen, oder nach Schönbrunn, allenfalls auch nach Sievering, wo sie sich vom Jungfernbrünndl gern ein paar Nummern für einen Terno rekommandieren ließ. Denn sie hatte es, so lange sie lebte, immer wieder mit dem kleinen Lotto versucht. Sie glaubte an eine sittliche Weltordnung. Und die hundertfünfzig Gulden Schein, die ihr Mann damals dem Finanzärar gerettet hatte, als er den Spitzbuben mit dem falschen Riskonto hopp nahm, die hätte sie doch eigentlich gewinnen müssen, wenn es eine himmlische Gerechtigkeit gab! Vielleicht wäre es ihr auch schließlich geglückt, wenn sie lange genug hätte zuwarten können. Aber sie erlebte es ebensowenig als ihr Mann den wirklichen kaiserl. königl. Lottoakzessisten erlebt hatte. So ist das Leben ...
Seit die Mutter tot war, kam Schinackel sommerüber dreimal wöchentlich auf die Leodolterische Besitzung heraus, um die Knaben zu unterrichten. Seine Erfahrungen von der Natur und allem, was darin kreucht und fleucht, erweiterten sich von der Zeit an zusehends; aber einer Nachtigall war er doch noch nicht begegnet. Weder auf dem Hinweg, noch auf dem Rückweg. Weder am späten Abend, noch am frühen Morgen. Denn ab und zu einmal verbrachte er auch den Abend und den Morgen auf dem Lande, wenn er nämlich aufgefordert wurde, im Himmelhause zu übernachten, was bisweilen vorkam. Er nahm eine solche Einladung immer gerne an und schlief in dem guten Bette, das Michella ihm rüsten ließ, wie ein Gott. Darüber machte er sich jetzt Vorwürfe. Das nächste Mal, wenn es wieder dazu käme, würde er kein Auge schließen, nahm er sich vor, und die ganze Nacht und den ganzen Morgen lauschen, ob er nicht vielleicht etwas schluchzen höre. Denn die Nachtigallen, wenn man den Büchern trauen durfte, sollten schluchzen. Wie fingen sie es nur an, und wie mochte es klingen?
Fest stand das eine, und daran war kaum zu rütteln, daß Fred über diesen schluchzenden Nachtvogel vorderhand sicher mehr Erfahrung besaß als sein Herr Lehrer. Und auf keinen Fall sollte dem Knaben Unrecht geschehen; weder ihm noch der Wahrheit. Darum griff Herr Schinackel, als Poldi und Fred mit Schreiben fertig waren, nach ihren Namenbüchlein und fällte ein Salomonisches Urteil, indem er kurz entschlossen einen dicken Strich durch die Nachtigallen machte und »Schwarzamseln« darüber schrieb.
Somit war für dieses Mal Fred dem »Skalpiertwerden« entronnen. Aber Schinackel gab dieselbe Lektion noch einmal auf, fürs nächste Mal, mit den Schwarzamseln statt der Nachtigallen. Fred mußte sich nun doch bequemen, die merkwürdige Geschichte von Gottlieb und Emilie auswendig zu lernen, und tat es auch. Jetzt war nichts mehr darin, was seiner Überzeugung widersprochen hätte. Schwarzamseln hatte er oft am frühen Morgen singen hören.
Schinackel freute sich, daß er der Notwendigkeit entronnen war, Fred zu strafen. Er tat es nicht gern, um so weniger, als der Erfolg stets zweifelhaft blieb und eine Strafe nur den Trotz des Knaben zu wecken pflegte. Im Grunde hatte der Lehrer ebenso wie der Muschir eine gewisse Schwäche für Fred. Vielleicht gerade deshalb, weil er ihm mehr zu schaffen machte als Poldi. Hier gab es Aufgaben für einen Erzieher, das fühlte er. Oft zerbrach er sich den Kopf darüber, wie er es anzustellen hätte, den Knaben auf den richtigen Weg zu leiten. Und oft quälten ihn Zweifel, wenn er sich nicht ein noch aus wußte, er verbrachte schlaflose Nächte damit, sich pädagogische Gedanken und Pläne zurechtzulegen. Darum liebte er Fred, wie man alles liebt, wofür man sorgt, worein man sein Kapital steckt, sein geistiges oder sein klingendes. Bei Poldi indessen, der still und unauffällig seine Pflicht tat, hatte er das Gefühl, als bedürfe er seiner kaum. Wenn er von einer der Tanten oder vom Muschir gefragt wurde, wie es mit den Knaben stehe, so redete er von Fred mit Eifer und Wärme wie von seinem eigensten Werte, von Poldi hingegen zwar in Ausdrücken höchsten Lobes, aber gleichsam mehr mit Achtung als mit Liebe.
Die Liebe zu Fred war Schinackels Oase. Die Oase, die jeder Mensch braucht, das gewisse Plätzchen, wo Gedanken und Gefühle sich erquicken, wo Palmen stehn, die Schatten spenden, wo eine Quelle sprudelt, wo Datteln reifen. Sein Lebensweg war hart und rauh und von je voll spitzer Steine gewesen. Er mußte auch seine Oase haben, sonst wäre er verschmachtet. Früher war es die Liebe zu seiner Mutter gewesen, jetzt war es die Liebe zu Fred. Frauenliebe kannte er nicht. Die Sorge um seinen Schüler ersetzte ihm alles, was einen Menschen sonst beglücken kann. Er war ein Stiefkind des Lebens, besaß nichts, hatte keine Seele, an der er hing, und keine, die an ihn dachte. In jeder Hinsicht der Ärmsten einer wär' er gewesen, hätt' er die Sorge um Fred nicht gehabt, durch die ihn das Schicksal für alles andere entschädigte, was es ihm sonst versagte. Im übrigen nährte er sich von seiner Überzeugung. Und die war freilich auch von unermeßlichem Wert für ihn; denn er war davon überzeugt, daß wahrhaft frei nur der Verzichtende und Entsagende sei, der nichts besitze und nichts benötige, und dessen Sehnsucht, von der Erde gelöst, um die Sterne kreise.
In seiner großen Dürftigkeit hatte er so oft den unschuldigsten Freuden des Lebens entsagen müssen, daß er schließlich dahin gelangt war, aus der Not eine Tugend zu machen. Die denkbar größte Bedürfnislosigkeit war ihm allmählich zum Bedürfnis geworden. Und als seine Mutter gestorben war und er sich in die Lage versetzt sah, sich manches gönnen zu können, was er sich sonst hatte versagen müssen, da faßte er den Entschluß, an seiner Lebensweise trotzdem nichts zu ändern und die Entsagung, zu der er früher durch die Umstände gezwungen gewesen, nunmehr um ihrer selbst willen zu betreiben. Jetzt erst gewann er dieser Tugend den rechten Geschmack ab. Ein Diogenes, der notgedrungen in der Tonne wohnen muß, ist ein armer Schlucker. Erst ein Diogenes, der ebensogut im Palaste wohnen könnte, wenn er nur wollte, aber es trotzdem vorzieht, in der Tonne wohnen zu bleiben, wird zum Philosophen. So entbehrte auch Schinackel, was er entbehrte, ungleich freudiger, seit er freiwillig entbehrte. Ja, er fand die Entbehrung, nachdem er sie einmal zum Grundsatz erhoben hatte, geradezu genußreich; sie wurde ihm zur Lieblingsbeschäftigung für seine freie Zeit, zu einer Art von Sport, den er neben seinem harten Berufe zur Erholung und zum Vergnügen in seinen Mußestunden betrieb.
Eine gewisse Neigung zur Ertötung des Fleisches verriet schon die äußere Erscheinung des wildbärtigen und haarbuschigen Menschen. Susann Leodolter nannte ihn Johannes den Täufer und lief vor ihm davon, wenn sie ihn nur von weitem erblickte. Aber bei Tisch – denn er blieb, so oft er herauskam, über Mittag – war sie doch genötigt, ihm standzuhalten. Dann sah sie ihm beinahe furchtsam und doch mit einer gewissen Neugierde, abgestoßen und gleichzeitig wieder gefesselt, beim Essen zu und machte sich Gedanken über ihn. Ob er wohl, wenn er allein zu Mittag aß, sich auch wie die andern Menschen nährte, oder von Heuschrecken lebte? Und ob er sich dann ebenfalls einer Gabel bediente, oder nur die fünf Finger brauchte? Heuschrecken mit einer Gabel essen! Es lief ihr seltsam angenehm über den Rücken, sie dachte an den Gärtner Vogel, der den Goldkäfern die Köpfe abbiß, wenn er besonders gut gelaunt war.
Sie hätte sich nicht sonderlich gewundert, wenn Schinackel eines Tages im härenen Gewand erschienen wäre, einen Strick um die Lenden. Der Frack, den er trug – obgleich der Rock damals schon üblicher war –, wollte ihr nicht recht zu der Vorstellung passen, die sie sich von ihm machte. Und wenn jemand – gewöhnlich war Michella dieser jemand – sich hinter Schinackels Rücken die Bemerkung erlaubte, es sei schon eine wahre Schande, wie fadenscheinig und zerschlissen er einhergehe, so nahm sie ihn mit Eifer in Schutz und behauptete, gerade das passe zu ihm und stehe ihm wohl an. Bei einem Manne wie ihm dürfe man sich an Äußerlichkeiten nicht stoßen und könne auch nicht verlangen, daß er etwas darauf halte.
Michella war eine Fanatikerin der Ordnung und Nettigkeit. Ein Jahr ihres Lebens hätte sie darum gegeben, ihn einmal so recht nach Herzenslust ins große Waschfaß stecken zu dürfen, wie sie es mit Finettl, dem Familienhund, zeitweilig tat. Und ein wahres Freudenfest wär' es für sie gewesen, wenn sie Herrn Schinackel einmal Haare und Bart kräftig scheren und kämmen und ihn mit frischen Kleidern und Stiefeln hätte versehen können. Besonders mit Stiefeln. Sie fand Schinackels Beschuhung entsetzlich und eines gebildeten Menschen unwürdig.
»Am liebsten möcht' ich ihm, wenn es anginge, ein Paar alte Stiefel vom Muschir schenken!«
»Sie wären ihm zu klein,« sagte Susann nachdenklich. »Überhaupt – er sollte Sandalen tragen ... «
Und sie stellte sich ihn vor mit Sandalen, auf dem heißen Sand der Wüste. Vermutlich hatte auch der Täufer Sandalen getragen. Aber wenn er Stiefeln getragen hätte, der Täufer, so hätten sie bestimmt, dachte sie, geradeso und nicht anders aussehen können wie Schinackeln seine.
Unförmlich und schlecht geglänzt waren Schinackels Stiefel allerdings und märchenhaft umfangreich. Daß sie ihm persönlich angemessen und eigens für ihn sollten verfertigt worden sein, war kaum zu glauben; er ging darin einher wie in ein paar Kähnen. Dieses eben war es, was ihm bei Poldi und Fred den Namen »Schinackel« eingetragen hatte; denn eigentlich schrieb er sich Ferdinand Scheichenstuhl.
Für das wichtigste, was dem heranwachsenden Menschen beigebracht werden müsse, hielt Herr Schinackel die Kunst, sich selbst zu bezwingen. Hierfür den Willen schon im jugendlichen Alter zu stählen, hatte er eine ganze Reihe kleiner Finten ausgedacht. Eine der wichtigsten, die im Laufe jeder Unterrichtsstunde mehr als einmal zur Anwendung kam, bestand darin, daß beim Abzählen an den Fingern niemals mit Daumen und Zeigefinger begonnen werden durfte. Sonst machen es freilich alle Menschen so, auf der ganzen Welt, gerade als hätten sie sich miteinander verabredet. Schinackels Schüler aber mußten ihr »Erstens, zweitens, drittens« mit dem kleinen und dem Goldfinger anfangen. Auf diese Weise sah der störrische Adam sich gezwungen, zuerst in den sauern Apfel der Schwierigkeiten zu beißen, bevor er durch Entfaltung der angenehmeren und leichteren Finger, die für den Schluß gespart blieben, Orgien feiern durfte. Wenn Schinackel die Vorzüge dieser Übung rühmte, die nach dem Grundsatz »Erst die Mühe, dann der Lohn« aufgebaut war, so warf Fred dagegen ein, daß man aber sehr zu kurz dabei komme, wenn man nur bis drei oder gar bloß bis zwei zu zählen habe, worauf der Lehrer dann zu erwidern pflegte, es liege eine gewisse Befriedigung auch schon in dem Gedanken, wie angenehm es fürder kommen würde, wenn man weiter zu zählen hätte.
Wie Herr Schinackel selbst nicht Tabak rauchte, so ließ er sich auch von jedem Schüler in die Hand hinein versprechen, niemals – im ganzen Leben nicht! – Tabak zu rauchen. Auch Poldi und Fred hatten dieses Versprechen ablegen müssen. Es war ihnen nicht schwer gefallen, denn sie kannten das Laster nicht, dem sie abschwuren, und spürten vorderhand auch keine Neigung, es kennen zu lernen. Michella pries es als wahren Glücksfall, daß Schinackel die Knaben ein ähnliches Gelöbnis wie bezüglich des Tabaks nicht auch betreffs der Seife habe ablegen lassen. Denn er, für seine Person, entsagte auch dem Gebrauche dieses Luxusartikels, und regelmäßig fand Michella, wenn er im Leodolterischen Landhause übernachtete, das schöne Stück Rosenseife am andern Morgen unberührt, das sie ihm vorsorglich auf den Waschtisch gelegt hatte, während zu ihrem Entsetzen auf dem Handtuch all jene Unreinigkeit abgelagert war, die für gewöhnlich dazu bestimmt ist, vom Waschwasser fortgespült zu werden.
Einmal, bei einem Mittagessen, an dem auch Schinackel teilnahm, war ein Strudel aufgetragen worden, und Fred schickte sich an, aus seinem Stücke vorerst die Rosinen herauszustochern, wie er es gerne tat, um gleich mit dem Leckersten zu beginnen. Aber der Lehrer, der es bemerkte, hinderte ihn daran und zwang ihn, die Rosinen auf dem Tellerrande klug aufzusparen, um sie erst am Schlusse, gleichsam als Belohnung, zu genießen. Darüber wurde Fred ungehalten und meinte, das Beste müsse man essen, solange man noch frisch bei Appetit sei, und nicht erst warten, bis man nichts mehr möge; worauf Schinackel, in dem Bedürfnis, sein Vorgehen durch pädagogische Gründe zu rechtfertigen, zu den Damen gewendet bemerkte, der menschliche Wille müsse frühzeitig im Entsagen geübt werden. Ein Strudel sei gleichsam ein Symbol des Lebens, dort gebe es auch Lichtpunkte und süße Augenblicke in der Masse des Alltags, mit denen hauszuhalten eine Forderung der Vernunft und des Charakters sei.
»Muß man die Zibeben überhaupt am Anfang oder am Schluß essen?« fragte Bethi Leodolter lächelnd. »Mir scheint das kunterbunte Vielerlei der Ingredienzien zum Wesen eines Strudels zu gehören, und es kommt mir gemütlos vor, beim Essen wieder in seine Bestandteile zu zerlegen, was die Kochkunst mit so viel gutem Erfolg zu einer Einheit verschmolzen hat. Warum die Rosinen vorher, warum sie nachher essen? Eins ist so falsch wie das andere. Sie gehören zum Ganzen und sollen als Klang im Akkord wirken, nicht als einzelner Ton.«
Michella hatte inzwischen an einem Finger des Herrn Lehrers einen kleinen Tintenfleck bemerkt. Um Gotteswillen, dachte sie bei sich, diese Tinte kommt wieder in mein armes Handtuch, statt ins Waschwasser!
Susann sagte, indem es ihr über den Rücken lief: »Wenn ich die Zibeben so auf dem Tellerrand nebeneinander liegen sehe, kommt es mir immer vor, als wären es dicke Brummfliegen, die im Strudel waren. Vielleicht würde es gar nicht so übel schmecken: ein Strudel mit Brummfliegen und Regenwürmern gefüllt?«
Cajetana schüttelte sich vor Ekel.
»Pfui Teuxel! Wirst du gleich stillschweigen? Schweinderl du!«
»Mein Gott,« meinte Susann, »es hat Menschen gegeben, die sich überhaupt von Brummfliegen und Heuschrecken und ähnlichen Leckerbissen nährten.«
»Kinder, wenn Ihr vielleicht mal Tinte an die Finger bekommt beim Schreiben« – Michella wendete sich an die Knaben, sprach aber so laut, daß alle es hören mußten – »das Beste bleibt eine Zitrone. Wir haben deren genug in der Küche. Man reibt damit eine Zeitlang den tintigen Finger, wäscht ihn dann gut mit Seife und spült schließlich den Seifenschaum ausgiebig im Waschbecken ab. Sollte noch immer etwas Tinte an der Stelle zurückgeblieben sein, so wiederholt man diesen Vorgang, und erst bis alle Tinte gründlich beseitigt ist, trocknet man die Hände mit dem Handtuch.«
»Wir machen es immer so, wenn wir Tinte an den Fingern haben,« sagte Poldi.
»Gut so!« lobte ihn Schinackel. »Wenn Ihr dann älter seid, mit der Feder umgehn könnt und keine Tinte mehr an die Finger bekommt, dann werdet Ihr auch lernen, Euch mit dem Waschwasser allein zu begnügen. Denn Seife zum Wasser ist eine Ueppigkeit wie Wein zum Wasser. Der Mensch wird schließlich ein Knecht der Zivilisation, wenn er nicht rechtzeitig lernt, seine Bedürfnisse einzuschränken.«
Michella seufzte und bot Schinackel noch ein Stück Strudel an. Er dankte, er sei bereits gesättigt.
»Man ißt doch nicht bloß, um satt zu werden?« Susann neigte sich über den Tisch und sah ihn fast neugierig an, mit großen, aufmerksamen Augen, gleichsam Belehrung heischend. »Man ißt doch wohl auch, weil es einem schmeckt, glauben Sie nicht? Und weil ein leckeres Essen überhaupt eine gute Sache ist?«
Er wurde verlegen, daß das hübsche blonde Kind, das schon zu fast fraulicher Ueppigkeit neigte, ihn so geradeaus und lange ansah, und langte sich noch ein Stück von der Schüssel.
Michella sagte: »Daß man von seinen Gelüsten abhängig und dadurch zum Sklaven werden kann, wie Sie sagen, das glaub' ich gern: aber das geschieht doch wohl nur dann, wenn man übertreibt und sich der Ueppigkeit hingibt, was auf keinen Fall das Richtige ist. Indessen sonst, was die kleinen, unschuldigen Freuden anlangt – ich bitte Sie! Die schöne rosige Seife zum Beispiel, die wir auf unsern Waschtischen benützen! Wie angenehm schäumt sie, wie macht sie die Haut sauber und lind! Warum sollte man sich ein so harmloses Vergnügen versagen? Ich muß gestehen, ich komme mir noch lange nicht wie eine Schwelgerin vor, indem ich sie benütze.«
»Solche kleine Entbehrungen,« erwiderte Schinackel, »empfehle ich nur zur Stärkung der Willenskraft. Ich selbst lege sie mir freilich auch grundsätzlich auf. Denn um ein großes Ziel zu erreichen, muß man auch im Kleinen entsagen, was oft ganz überraschend schwierig ist.«
»Und das große Ziel?« fragte Bethi. »Worin besteht es eigentlich?«
»Die Seele frei zu machen von allem Kleinen und Nichtigen. Sehen Sie, Fräulein Leodolter, man redet jetzt so viel von der Freiheit und sehnt sich danach. Was nützt sie uns, wenn wir die wahre Freiheit nicht haben, die uns innerlich frei macht, frei von uns selbst und von allen äußeren Umständen des Lebens?«
Er neigte den großen haarigen Kopf etwas zurück. Man sah's an seinem Auge: Was er da sagte, erwärmte ihn, schien ihm eine Sache, würdig, sich dafür einzusetzen.
»Nehmen Sie auch Gläubige auf?« fragte Susann gespannt.
»Wie meinen Sie, Fräulein?«
»Ich meine, ob Sie ganz allein sind, oder auch taufen und eine Gemeinde haben?«
»Sie machen sich über mich lustig,« sagte er beschämt.
»O nein! ... Ich dachte nur so ...«
Sie stotterte und blickte bestürzt auf Bethi. Es lag wirklich nicht in ihrer Absicht, sich über ihn lustig zu machen, nicht im Traum fiel es ihr ein! Es hatte sie nur auf einmal gereizt, was er etwa darauf sagen würde? Wie Neugier war es über sie gekommen oder Vermessenheit. Ueberhaupt empfand sie manchmal einen eigentümlichen Antrieb zu seltsam vermessenen Worten oder Handlungen. Es konnte geschehen, daß sie unversehens ein Trinkglas ergriff und mit ausgestreckter Hand von sich hielt und plötzlich zu Boden fallen ließ. Weil es ihr jäh durch den Kopf geschossen kam, Gott sei allmächtig und könne es verhindern, wenn er nur wolle. Würde er es wirklich verhindern? Oder würde er es geschehen lassen? Plumps, da lag das Glas in Scherben ...
Aehnlich hatte sie's mit den Kerzenflammen, und kaum war es ihr möglich, eine zu sehen, ohne den Finger hineinzustecken. Nicht selten fühlte sie sich sogar versucht, den Finger länger in die Flamme zu halten, als es eigentlich zu ertragen war. Dabei dachte sie immer: Wirds denn ernstlich sengen, oder spaßiger Weise einmal garnicht? Im Grunde schien es ihr keineswegs unmöglich, daß es einmal nicht brennen könnte, und es kam vor, daß sie sichs so lange einredete, bis sie richtig eine böse, schmerzhafte Brandblase davon getragen hatte.
Durch hilfeflehende Blicke auf Bethi erhoffte sie jetzt Rettung aus der Verlegenheit, in der sie sich befand. Schinackel argwöhnte, sie wolle sich lustig über ihn machen – es war durchaus nicht der Fall, aber die richtigen Worte, ihn aufzuklären, ihn wieder zu versöhnen, fand sie allein nicht, Bethi sollte ihr helfen! Die konnte es, wenn sie nur wollte! Die wußte immer gute Worte zu finden! Warum sprang sie ihr nicht bei in ihrer Not? Warum sagte sie nichts und schaute ihr nur so eigen ernsthaft in die Augen?
Immer, wenn sie etwas angerichtet hatte, war es ihre Gewohnheit, unter Bethis Fittige zu flüchten. Und meistens rettete Bethi sie und nahm sich ihrer an. Diesmal aber nicht, diesmal blieb sie stumm. Sie billigte ihr Benehmen gegen Schinackel so wenig, wie sie ihr Benehmen gegen Mießriegel billigte. Und sie hielt ihren ängstlichen Blick ruhig aus und schaute sie nur ernst und verweisend an und schüttelte den Kopf dazu. Es lag ein schwerer Tadel in diesem stummen Blicke. Susann begriff es, und es tat ihr unendlich wohl. Sie hatte es gern, wenn Bethi sie zurechtwies. Da fühlte sie sich so eigen angenehm gezüchtigt, so wohlig gedemütigt. Und wie eine Büßerin schlug sie die Augen nieder, fest überzeugt, daß ihr Unrecht geschah, und daß alle ihr Unrecht taten und sie verkannten, alle, alle, auch Schinackel; und dieser Gedanke war wiederum von einer ganz eigenen ungeahnten Süße.
Bethi sagte noch zu Schinackel: »Ein jeder findet sich mit dem Leben ab nach seiner Art. Und keiner hat das Recht, über den andern zu lächeln.«
Damit war der Zwischenfall erledigt.
Nach Tisch ging Schinackel mit den beiden Knaben die
Kieswege des Gartens entlang. Es war um die Zeit, wo die Aprikosen reifen. Eine dieser köstlichen goldgelben Früchte war, schwer vom Safte, vom Baum gefallen und lag wie ein grellfarbiger Edelstein im hellgrünen Grase. Der Lehrer hob sie auf und betrachtete sie mit seinen etwas kurzsichtigen Augen. Das Fleisch schien so blühend und schwellend, und die Haut schimmerte von einem zarten, weichen Flaum, der darüber hingehaucht war, wie über einen üppigen Frauenleib. Schinackel mußte plötzlich an die festen, rosigen Wangen Susanns denken, und die roten und bräunlichen Tüpfelchen auf der Haut der leckeren Frucht erinnerten ihn an die Sommersprossen, die die Wangen des Mädchens schmückten. Jawohl, schmückten: Er hatte es früher nicht gewußt, wie entzückend auf der zarten Haut eines jungen Mädchens diese niedlichen Sommerflecken sein können, die der glühende Kuß der Sonne hervorzaubert.
Es kam auf einmal, wie eine kleine Bewußtlosigkeit, ein Rausch von wilder Begierde über ihn. Eine Blutwelle schlug über seine Wangen, und ein Zittern lief ihm unter der stumpfen Glut der sommerlichen Nachmittagsstunde wie ein fröstelnder Schauer durch den willensstarken Körper. Er tat seine Kiefern auseinander und biß mit seinen großen, weißen Zähnen mit der Wut eines ausgehungerten wilden Tieres in die duftende Marille.
Da kam er zur Besinnung, sah die beiden Knaben an und wurde noch röter im Gesicht. Er schämte sich vor ihnen. Infolge einer wunderlichen Transsubstantiation war ihm das mollige Fleisch der vollreifen Frucht für einen Augenblick gleichsam zum Leib der Sünde und des Genusses geworden, an dem seine erhitzte Einbildungskraft ihre Lust büßte ... Und er fühlte das Bedürfnis, die reine Frucht Gottes wieder zu entsühnen.
»Hör, Fred!« sagte er kauend, »ich bin dir gut, das weißt du, ich bin nicht bloß dein Lehrer, ich bin auch dein Freund. Das spürst du doch, nicht wahr, das spürst du doch, daß ich auch dein Freund bin?«
Fred nickte, etwas betroffen freilich und verwirrt.
»Sieh, ich denke oft nach über deine Zukunft und habe Angst um dich. Lerne dich bezwingen, Fred, sei streng gegen dich selbst! Das Leben ist voll von Gefahren. Verstehst du mich?«
»Nein,« sagte Fred ehrlich.
»Die Zeit wird kommen, wo du mich verstehst. Befolge meinen Rat! Rauche nie Tabak, zähle nicht vom Daumen her und spare die Rosinen aufs Ende! Am Kleinen muß der Mensch seine Kraft erproben und sich tagtäglich daran erinnern, daß nur der wahrhaft frei ist, der sich selbst überwindet!«
Die Knaben sahen ernst und ziemlich bestürzt zu ihm auf, sie hatten das Gefühl, daß er ihnen wohlwollte, und daß irgend ein nützlicher Sinn hinter seinen Worten verborgen sein mochte.
»Daraufhin wollen wir jetzt einen Bund schließen,« sagte Schinackel. »Und dieses sei das äußere Zeichen.«
Und er reichte die andere Hälfte der Marille, die er noch in der Hand hielt, seinem Liebling, der sie feierlich verzehrte, mit einer stillen Ahnung in der Brust, daß dieses ein sehr bedeutungsvoller Augenblick sei. Poldi, der leer ausgegangen war, stand etwas enttäuscht daneben. Hatte er etwas angestellt? Warum wurde er ausgeschlossen vom »Bunde«? Wars eine Strafe? Und wenn, wodurch hatte er sie verdient?
Die Tränen traten ihm in die Augen, aber er kämpfte sie hinunter. Schinackel bemerkte nichts davon, er hatte an Poldi nicht gedacht. Der bedurfte seiner Mahnungen nicht. Der würde seinen Weg auch allein finden. Nur um Fred bangte ihm, daß er verloren gehen könnte, wie ein feurig wildes Füllen in den Bergen, wenn er ihm den Weideplatz des Lebens nicht mit Grundsätzen umzäunte.
Uebrigens übte der »Bund« wirklich eine zeitlang einen günstigen Einfluß auf Freds Führung. Er zeigte sich eifriger und fügsamer als sonst, das Geheimnisvolle, das allein schon im Worte lag, beschäftigte seine Einbildungskraft und erleichterte ihm die Erfüllung seiner Pflichten. Schinackel freute sich im Stillen und hielt sich für einen vorzüglichen Pädagogen und ahnte nicht, daß die Gefahr für Charaktere nach Freds Art weniger in der Abneigung gegen allgemeine Grundsätze liegt, als gerade in solchen Oriflammen, wie der »Bund« eine war. Denn sie suchen immer etwas außer sich, dem sie ihr Feuer zur Verfügung stellen können, das freilich gar oft nur ein rasch verloderndes Strohfeuer ist. Will es das Glück, so kann die Fahne, der sie folgen, ab und zu einmal auch eine große Idee sein. Fügen Zufall und Umstände es aber anders, so lassen sie sich auch an einem bloßen Trugbild genügen oder an einem hohlen Schlagwort, hinter dem nichts weiter steckt als leerer Wind.
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