Emil Ertl
Freiheit die ich meine
Emil Ertl

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Der Muschir hatte den ganzen Sommer und Herbst gearbeitet wie ein Zugochse. Der Kauf des Fabriksgebäudes auf dem Braunhirschengrunde war abgeschlossen, die Adaptierung der neuen Räume ging ihrer Vollendung entgegen. Es waren weite Säle da, hoch genug, um über dem Werk der Stühle Jacquardmaschinen anbringen zu können. Sobald die Maurer, Maler, Schreiner und Anstreicher den ersten Saal verlassen hatten, wurden versuchsweise einige Webstühle verschiedenen Systems aufgeschlagen, und es ging ans Probieren. In eigener Person saß der Muschir im Stuhl und webte. Er verstand sein Handwerk, aber gerade weil er es verstand, so kam er nicht im Handumdrehen ins Reine. Insbesondere schwankte er, ob er hölzerne Platinen wählen sollte, oder solche aus Draht. Das eine hatte etwas für sich und das andere. Schließlich entschied er sich für hölzerne Platinen. Geschmeidig waren die auch, wurde ihnen aber allzuviel zugemutet, so brachen sie entzwei; und brechen sei besser als sich verbiegen, fand der Muschir. Und überhaupt brauche man den Franzosen nicht alles nachzumachen, mit Löffeln hätten die es auch nicht gegessen. Der Antrieb des Messerkastens zum Beispiel schien ihm plump ersonnen; er dachte nach und war einer Verbesserung auf der Spur. Manchmal verbiß er sich in seine Idee, daß er die Mahlzeiten darüber versäumte. Immer aufs neue mußte Herr Seyfried, der Stuhlbauer, kleine Veränderungen vornehmen und das, was der Muschir ihm ansagte, in praktische Wirklichkeit umsetzen. Und dann webte der Muschir wieder einen ganzen Tag, fand neue Störungen und Hemmnisse und verbesserte die Verbesserungen. Das trieb er so lange, bis er fand, daß nichts mehr zu wünschen übrig blieb. Er entschied sich jetzt für das System, das er als das beste ausgeprobt hatte. Es war durch unscheinbare, aber für den Kenner bedeutungsvolle kleine Abweichungen zu einer eigenen neuen Form gediehen, die er nicht ohne Stolz »Type Leodolter« taufte.

Wie ein Förster, der durch den Wald schreitet und die überständigen Stämme zeichnet, so ging jetzt der Muschir von Stuhl zu Stuhl durch die alte Fabrik, die im Leodolterischen Familienhaus »Zum goldenen Stuck« am sogenannten »Platzel« hinter St. Ulrich noch im Gange war, geradeso ungefähr und nicht viel anders, als wie der Vater bei seinem Tode sie den Söhnen hinterlassen hatte. Hilfsmaschinen für die Musterweberei gab es hier noch keine, und wie zu Maria Theresias Zeiten war der Betrieb lediglich auf die Handarbeit gestellt. Prüfend stand der Muschir vor jedem Werke still, beobachtete die Arbeit, die geleistet wurde, und erwog die Brauchbarkeit der verschiedenartigen Mechanismen, die sich allmählich hier zusammengefunden hatten, und unter denen manches Stück sich befand, das man zu seiner Zeit für den letzten ersteigbaren Gipfel der technologischen Erfindung gehalten hatte. Herr Vielkind, der Werkführer, und der Stuhlbauer Seyfried begleiteten ihn. Herr Vielkind zog von Zeit zu Zeit ein großes kirschrotes Schnupftuch aus dem Hosensack, das er sein »Fazolettl« zu nennen pflegte, und verwickelte sich in einen erbitterten Kampf mit seiner Nase. Wenn das Blasen der Kriegsfanfaren verhallt war, schloß er wieder Frieden mit ihr und versöhnte sie durch eine Prise Schwarzgebeizten. Das macht einen hellen Verstand und scharfe Augen. Herrn Vielkinds Augen waren schon so scharf geworden, daß er seine schwarzumränderte Hornbrille ganz vorne auf der Nasenspitze trug und gewöhnlich über sie hinweg guckte. Nur wenn er schnupfte oder sich schneuzte, schob er sie zurück, weil man dabei nichts zu sehen braucht.

Der Muschir fühlte jedem Webstuhl den Puls und untersuchte seine Konstitution, indem er die Tritte prüfte oder die Latzen anzog, und setzte sich gelegentlich selber hin, nachdem er den Weber aufstehen geheißen, um zu versuchen, wieviel Kraft erforderlich sei, die Kettfäden zu heben und das Oberfach zu bilden. Bedächtig gab er dann sein Urteil ab: »Der ist pumperlgesund.« Oder den Kopf wiegend: »Dieser hat's auf der Brust.« Oder wohl gar: »Fort mit dem! Krüppel können wir nicht brauchen, und eine neue Fabrik ist kein Invalidenhaus für ausgediente Stühle.«

Manchmal fand ein regelrechtes Konsilium statt. Herr Seyfried, durch seinen Geschäftsvorteil verführt, neigte zu düsteren Diagnosen und hätte manchem Patienten, der bis dahin sein Tagewerk noch leidlich verrichtet hatte, gern das Leben abgesprochen. Aber der Werkführer nahm seine braven Webstühle kräftig in Schutz. Um jeden einzelnen war er bereit, sich mit dem Stuhlbauer zu raufen. Nein, das ließ er sich nicht gefallen, daß diese Fabrik, die er seit dreißig Jahren leitete, auf einmal wie ein Spital hingestellt wurde!

»Sie machen ja rein, als ob wir lauter Brennholz da hätten!«

Der Stuhlbauer war ein höfliches Männchen, das mit sich reden ließ und im Wortgefecht gerne Unrecht behielt. Er wußte es gut, daß man einem Schottenfelder Fabrikanten nicht geradezu widersprechen durfte, und schmierte gegenteilige Ansichten, die er dem Muschir gegenüber zu vertreten hatte, vorsichtig mit einem mildernden »Sozusagen« oder »Gewissermaßen« ein.

»Ganz neu sozusagen ist der Stuhl freilich nicht mehr. Aber es gibt Modelle, die gewissermaßen noch schlechter sind. Wenn der Herr von Leodolter glauben, so können wir es ja probieren. Es wird zwar sozusagen Hopfen und Malz verloren sein, weil das Vorderwerk zu schwach ist, wenn wir einen Jacquardtritt anbringen – aber das tut nichts; stellt es sich am End' heraus, daß es mit dem Stuhl bei aller Müh' und Plag' eine ewige Murkserei bleibt, so kann man ihn später ja noch immer gewissermaßen – ausmustern.«

»Hollah, nein, so mein' ich's nicht! G'lumpert wird keines mitgenommen in die neue Fabrik! Deswegen sind wir ja da, daß wir miteinander ausstudieren, was noch zu brauchen ist und was nicht. Also, das will ich jetzt von Ihnen wissen: Rentiert sich's, daß wir in die alte Kraxen noch etwas hineinstecken, oder rentiert sich's nicht?«

Wenn man Herrn Seyfried aufs Gewissen gefragt hätte, ob ihm diese beste aller Welten gefalle, oder ob er etwas daran auszusetzen wüßte, so hätte er vielleicht geantwortet: Schön sei sie schon – gewissermaßen; nur das eine sei unangenehm daran, daß es Lagen gebe, wo man sozusagen Ja oder Nein sagen müsse. Und wenn auch der Muschir den Webstuhl eine »alte Kraxen« geschimpft hatte – deswegen wußte man doch, welche Antwort er gern hören wollte. Aber ein Stuhlbauer hat schließlich auch eine Verantwortung zu übernehmen ..

»Wär' nicht aus!« grollte Herr Vielkind. »Ich hab' schon andere Stühle für Jacquards einrichten sehen!«

»Aber bitte, schauen Sie sich nur einmal das Uebertragungswerk an? Das ist ja sozusagen gar keine Konstruktion nicht! Den Stuhl hat, darauf könnt' ein Fachmann beinahe wetten, vielleicht nicht einmal ein Stuhlbauer gemacht, sondern gewissermaßen nur ein Tischler aus dem vorigen Jahrhundert!«

Götsch Lebold, der Weber, der am umstrittenen Stuhl gearbeitet hatte und auf des Muschirs Geheiß aufgestanden war, schob mit der Hand den Mechaniker zur Seite und setzte sich wieder.

»Auf dem Stuhl da hab' ich das Brautkleid gewebt für Ihre Majestät die Kaiserin Maria Anna.«

Er gab dem Latzenzieherbuben einen Wink, und der zog an, daß die Korden ächzten und die schimmernden Seidenfäden der Kette wie auf einen Zauberschlag emporstiegen. Mit hartem Geknatter ließ der Weber die Schnellschütze durch das Fach fliegen, und die Kettfäden senkten sich wieder, und andere hoben sich an ihrer Stelle. Wie tausendfingrige Hände, die sich zum Gebet falten, so griffen sie ineinander, und immer aufs neue huschte gleich einer geisterhaften Maus die hurtige Schnellschütze durch das Gewirr und fand ihren Weg mitten im Labyrinth, indem sie dabei einen schönen blutroten Faden wie die Spur eines schweißenden Tieres hinter sich zurückließ. Und dann pochte wieder die Weberlade an die eingetragenen Fäden und schlug sie fest, und unter dem Brustbaum sah man das starke, prächtig gemusterte Seidenzeug hervorquillen, fest und griffig wie Segeltuch und doch weich dabei, edel und lind gleich kostbarem Pelzwerk.

Da bekam Herr Seyfried einen großen Respekt vor Götsch Lebold und seinem Webstuhl und fing an nachzudenken, wie man das Werk auf einen Jacquard umbauen könnte. Gedanken hatte er schon auch, der Herr Seyfried, wenn er wollte, und niemand sollte sagen können, daß nur der Götsch Lebold etwas verstand und der Seyfried nichts. Also machte er kluge, blinkende Äuglein wie immer, wenn er im Begriffe stand, sich etwas einfallen zu lassen, und richtig hatte er's auch schon. Ein Hebel und eine Kurbel, ein Zahnrad und ein Dorn, und der Stuhl, der das Brautkleid der Kaiserin Maria Anna gewebt hatte, war gerettet und für den Jacquardbetrieb eingerichtet – im Kopf des Herrn Seyfried wenigstens.

»No also, sehen Sie!« sagte der Muschir. »Warum sperren Sie denn nicht gleich das Hirnkastel auf?«

So wurde manches alte Inventarstück geschont und erhalten. Aber für Herrn Seyfried blieb noch genug zu tun übrig. Denn auch die alten Stühle sollten ausnahmslos auf Jacquards eingerichtet werden, und nur was fähig war, sich zu verjüngen, und bereit, sich dem neuen Leben anzupassen, fand Gnade. Allein wär' er nicht imstande gewesen, die Lieferung rechtzeitig zu bewältigen. Darum sah er sich genötigt, einen Teil seiner Aufträge an Geschäftsfreunde weiterzugeben. Die Stuhlbauer von Schottenfeld und Gumpendorf hatten alle Hände voll zu tun für die Firma Leodolter. Wie dann die ersten Stücke fertig wurden, fing die Uebertragung der Stühle nach dem Braunhirschengrunde an. Sie fand partieenweise, in kleinen Schüben statt, so hatte der Muschir es angeordnet. Denn die Montierung der Jacquards in den neuen Räumen erforderte viel Zeit und Mühe, und es lag ihm daran, keine größeren Unterbrechungen in der Fabrikation eintreten zu lassen, als unbedingt nötig war. Darum ließ er die alten Stühle laufen, bis von den neu eingerichteten wieder ein paar in Gang gebracht waren. Dann erst wurde von den alten wieder eine kleine Partie von ihren angestammten Plätzen bewegt, wo sie zwei Menschenalter lang treu und gewissenhaft ihre Arbeit geleistet hatten, und ins neue Fabriksgebäude überführt, sofern sie vor dem hohen Rat dessen für würdig erkannt worden waren. Was man aber bei der Sonderung der Schafe von den Böcken als unverbesserlich erfunden hatte, das wurde dahin geworfen, wo Heulen und Zähneknirschen herrscht, und unerbittlich durch klügere Modelle ersetzt.

Als kurz vor Allerheiligen die Familie aus dem Himmelhaus nach der Stadt übersiedelte, fand sie den Oberstock des Leodolterischen Hauses am Platzel bereits geräumt. Sonst hatten hier die Schweifrahmen geklappert, die Spulmaschinen geschnurrt und die Webstühle ihr eintöniges Lied gesungen. Von früh bis spät hörte man zu Häupten das gleichmäßige Poltern und Lärmen der Arbeit, das allen Familienmitgliedern von Jugend auf gewohnt und lieb war. Jetzt blieb es merkwürdig still den ganzen Tag über, wie ausgestorben, unheimlich beinahe. Es ging allen etwas ab, fast wie ein Heimweh überkam es die Gemüter. So wie der Seemann, der zu Land geht, das Rauschen der Wogen vermißt, so fehlte diesen Menschenkindern das trauliche Geräusch, das von gesundem Leben und rastloser Tätigkeit Zeugnis abgelegt hatte. Besonders sehnsüchtig lauschte Bethi nach oben. Sie kam oft den ganzen Winter nicht ins Freie, sie hatte genau gewußt, wo jeder Stuhl stand und wer daran webte, sie unterschied da, wo die andern nur ein allgemeines Getöse empfanden, hundert einzelne, verschieden gefärbte eigentümliche Laute, in denen Vernunft und Regel war, und von denen einem jeden bestimmte Hantierungen oder kleine bezeichnende Begebenheiten entsprachen. Sie wußte, was die oben trieben, wer am fleißigsten war und wer am säumigsten, wer plump und täppisch, wer zart und von besserer Art, sie kannte die Leute, sah sie kommen und gehen, hatte ihre Lieblinge und Günstlinge unter den Kaviliererinnen und Andreherinnen, unter den Spulerinnen und Schweiferinnen, unter den Aufbäumern und unter den Webern. Sie nahm an den Geschicken vieler teil, unterstützte sie, wenn sie in Bedrängnis waren, legte ein Wort für sie ein bei den Brüdern, wenn es einen Verdruß gegeben hatte, und beschenkte zu Weihnachten die Kinder der Treuen und Bewährten, die schon seit langen Jahren wie zum Hause gehörten. Und jetzt sollte sie von all diesen Menschen nichts mehr sehen und hören, kein Teil mehr haben an ihrem emsigen Treiben und tüchtigen Schaffen! Sie empfand es deutlich: Ihr Leben wurde ärmer dadurch und farbloser.

Cajetana ging ganz in ihrer Brautschaft auf und lebte mit ihren Gedanken schon mehr in der Rittergasse als am Platzel. In der Rittergasse befand sich die Beywald'sche Atlas-, Samt- und Plüschfabrik, wo ihr Franzl einstweilen Prokurist war – Teilhaber brauche er noch keinen, sagte der alte Beywald. Das Haus war dreistöckig, der zweite und dritte Stock gehörte den Webstühlen und Hilfsmaschinen. Im ersten Geschoß wurde das Nest für das junge Paar bereitet, Tür an Tür mit der Wohnung der Eltern. Und Cajetana freute sich darauf, wenn sie es wieder klappern und schnurren und pochen hören würde zu Häupten. Dann erst würde sie sich wieder wie zu Hause fühlen, heimischer als jetzt im Vaterhause. Sogar Finettl, der Familienhund, vermißte etwas und schlich wie ein begossener Pudel umher. Und Susann, die als entlobte Braut gleichfalls ein schweres Herz hatte, karessierte ihn mit jener mitleidigen und verständnisvollen Zärtlichkeit, die alle, welche Kummer tragen, zueinander zieht.

Michella tat, um den Fabrikslärm leichter entbehren zu können, das ihrige, den Lärm der Wirtschaft nach Möglichkeit zu vermehren. Wie einer, der sich fürchtet, wenn alles rings um ihn stumm bleibt, auf einmal selbst zu singen anhebt, um wenigstens seine eigene Stimme zu hören, so dröhnte sie mit Husarenschritten durchs Haus, gab weithin schallende Befehle, revidierte das klappernde Porzellan und das klirrende Silber und fand kein Ende, Teppiche, Kleider und Möbel im Hofe klopfen zu lassen. Pappelmann, der Kontordiener, hatte die Uniform des Generalstäblers angelegt, blaue Leinenjacke und grünes Fürtuch, und schwang das spanische Rohr, daß die Staubwolken flogen. Frau Brodbeck, die Hausmeisterin, half ihm dabei, sie hieb mit einer Wut auf die vornehmen Perser, als wäre sie ein Grieche von Marathon. Das imponierte dem braven Pappelmann dermaßen, daß er mitten im Gefecht inne hielt und der Kampfgenossin einen Heiratsantrag machte. Frau Brodbeck aber antwortete nicht einmal darauf und klopfte weiter. Er diente um sie wie Jakob um Rahel schon das siebente Jahr, denn sie war noch immer die riegelsamste Wittib am Grund und hatte auch etwas auf der Sparkasse.

Die Mittel, wodurch Michella die Rührigkeit und Unruhe zu ersetzen trachtete, die ehedem im Hause geherrscht hatten, mußten sich endlich erschöpfen, und nachdem auch das letzte Stäubchen beseitigt war, hörte man nur um so deutlicher, daß man – nichts mehr hörte. Es half alles nichts, die Webstühle waren fort. Nur im Hintertrakt gab es noch welche, aber ihr Geräusch drang nicht bis herüber, und es machte einen fast spukhaften Eindruck, besonders an den länger werdenden Abenden, wenn die Lichter brannten und man sie jenseits des Hofes hinter den Doppelfenstern stumm sich bewegen sah, neben ein paar lautlos sich drehenden Schweifrahmen, die mit ihren dürren Spinnenarmen lange, huschende Schatten an die Wände warfen ...

Indessen horchte Bethi manchmal verwundert auf und wußte sich's nicht zu deuten, daß über ihrem Schlafzimmer von Zeit zu Zeit ganz deutlich etwas gegen die Stubendecke pummerte und klopfte, fast wie dereinst. Sie kannte den Platz und ahnte es bald, daß es der Götsch Lebold war. Wie ging das zu? Hatten sie den alten Mann übersehen? Im Hause vergessen? Gleichviel! Sie beschloß zu schweigen und freute sich wie über eine letzte Fliege in der durchwärmten Winterstube, die man gut kennt und liebt, und die einem noch Gesellschaft leistet, lange in die böse Jahreszeit hinein, während ihre Genossinnen längst verflogen und erfroren sind.

Die Knaben, die jetzt in die Zollnerische Hauptschule gingen und schwer an ihrem Joche trugen, schlichen manchmal die Treppe hinauf, um in den ausgeräumten Zimmern zu tollen, in denen ihre Stimmen und Schritte seltsam wiederhallten. Die Freiheit des Gartenlebens fand eine erwünschte Fortsetzung. Nur daß das Wigwam jetzt in der Einöde aufgeschlagen wurde, in einer wüsten, kalten Wildnis, die merkwürdigerweise Fenster hatte. Und vor diesen Fenstern sah man langsam die ersten weißen Flocken vom Himmel wirbeln.

Auf Entdeckungsfahrten in die unwirtlichen Gefilde ausziehend, öffneten sie einmal eine der letzten Türen in den verlassenen Räumen und blieben erschrocken stehen. In dem kahlen Zimmer saß an seinem Zampelstuhl der Götsch Lebold und webte. Sein Enkel Schani war bei ihm, ein zwölf- oder dreizehnjähriger stämmiger Bursch, der ihm die Korden zog. Sie ließen sich nicht stören in ihrer Arbeit, und ohne aufzublicken, schnellte der Weber seine Schütze hin und her, während der Latzenzieherjunge kein Auge von den Schnüren wandte, die er in Bewegung zu setzen hatte. Scheu näherten sich die Leodolterknaben, beide ernst geworden, ohne recht zu wissen, warum. Und nachdem sie eine Weile zugesehen, schlichen sie verstohlen wieder davon, gingen hinunter und setzten sich schweigend hinter ihre Aufgaben. Es war, als hätte das Beispiel des alten Webers, der einsam und trotzig dort oben sein Tagwerk verrichtete, sie beschämt und an ihre eigenen Pflichten erinnert.

Sie behielten ihr Geheimnis bei sich, wie auch Bethi es tat. Der Muschir war verreist, Geschäftsverbindungen in Ungarn anzuknüpfen. Ihn allein ging es an, was Götsch Lebold trieb. Vielleicht hatte er es gar so angeordnet? Niemand wußte etwas davon, daß der Weber allein im Hause zurückgeblieben war, und die es wußten, lächelten einander zu und freuten sich, daß sie etwas wußten, was die andern nicht wußten.

Als aber gegen Weihnacht der Muschir zurückkehrte und mit dem Baumeister durch die ausgeräumten Säle schritt, um seine Anordnungen zu treffen, da konnte es nicht ausbleiben, daß der webende Einsiedler entdeckt wurde. Der Muschir erstarrte fast zu einer Salzsäule, als er ihn erblickte.

»Fix noch einmal, da hört sich doch alles auf! Ist das ein Geist oder der Götsch Lebold?«

Aber statt jeder Antwort ratterte nur die Schnellschütze, bis der Muschir dem Latzenzieherbuben ein zorniges »Aushalten« zudonnerte.

Jetzt mußte der Weber doch Rede und Antwort stehen. Der Seyfried hab' ihm den Stuhl ohnedies wegnehmen wollen, und der Vielkind auch. Das lasse er sich aber nicht gefallen! Eine Sünd' sei es, mitten im Stück aufhören und das Trum verurassen! Indessen sah der Muschir, daß er einen dick vollen Seidenbaum hatte und erst kürzlich angedreht und neu aufgebäumt haben mußte.

»Und überhaupt möcht' ich bitten,« sagte der Götsch Lebold, »wenn ich meinen Stuhl behalten dürft', so wie er immer gewesen ist. Ich hab' ihn halt einmal gern und häng' an ihm.«

»Das sind Extremitäten! Sie wissen es ja, ich richt' Jacquards ein. Glauben Sie vielleicht, gerade Ihnen wird man ein Extrawürstel braten, weil, Sie der Götsch Lebold sind?«

»Ein jedes Ding hat seine Wissenschaft,« sagte der Götsch Lebold. »Aber die Jacquards, das sind Ludern. Und eh' daß ich eine Maschin' angreif', eher hack' ich mir die rechte Hand ab.«

»Dann schauen Sie, daß Sie weiter kommen! Packen Sie zusammen und lassen Sie sich den Lohn auszahlen!«

Der Muschir hatte sich entfernt, die Weberlade in den Händen saß der Götsch Lebold und sinnierte. In den Runzeln und Falten, die sich von den Augen gegen die Wangen furchten, sammelte sich Feuchtigkeit und tropfte auf die seidene Kette nieder.

»Herr Großvater?«

Er schaute auf.

»Herr Großvater, wissen Sie! Wenn wir einmal eine Revolution machen, wissen Sie! Eine Revolution, so wie die in Paris! Dann sollen die sich freuen! Dann hauen wir ihnen die Maschinen zusammen, daß es kracht!«

Und als der Großvater eine Bewegung mit der Hand machte, so als ob er sagen wollte: »Wir sind doch die Schwächeren«, da kam der Junge näher, mit blitzenden Augen.

»Herr Großvater? Wissen Sie was? Es sind viele, viele Arbeiter jetzt, eine ganze Menge, mehr als man glaubt! Sie müssen nur zusammenhalten, nachher blast der Wind ans einem andern Loch! Nachher heißt es Freiheit! Gleichheit! Brüderlichkeit! Nachher müssen die Fabrikanten mit uns teilen, was sie verdienen, und keine Maschin' darf uns mehr den Lohn wegfressen. Kommen Sie, Herr Großvater! Gehn wir! Es gibt noch genug Fabriken auf dem Schottenfeld, und ein paar Zeugweber, wie wir zwei sind, kann man überall brauchen!«

Da packte der Götsch Lebold wirklich zusammen und ging mit Schani aus dem Haus. Und Bethi Leodolter lauschte seither vergeblich nach oben und ahnte, daß es etwas gegeben haben mußte.

Poldi stand Qualen aus in der Schule. Nicht daß es ihm schwer geworden wäre. Er lernte zwar nicht spielend, aber was er einmal verstanden hatte, wußte er auch. Man konnte sich auf ihn verlassen. Die Lehrer waren zufrieden mit ihm. Direktor Lausch, auf den es besonders ankam, hielt sogar große Stücke auf ihn. Direktor Lausch, der stets tadellos glatt rasiert ging, trug noch einen blauen Frack mit fabelhaft hohem Umlegkragen und ein blendendweißes Tuch mehrfach um den Hals gewickelt. Schon das winzigste Bartstreifchen beiderseits an den Ohren hätte ihm ein kleinmütiges Zugeständnis an die Demokratie geschienen, einen Rock statt eines Fracks zu tragen, hielt er für eine saloppe Rücksichtslosigkeit gegen seine Nebenmenschen und die schwarze Halsbinde für eine unappetitliche Neuerung, welche die Menschheit nach und nach jedem Gefühl für Reinlichkeit und damit schließlich auch allen übrigen Tugenden entfremden würde. Er war ein Freund der Jugend und huldigte als Pädagog ähnlichen Grundsätzen wie der hochselige Kaiser Franz.

»Es ist nicht notwindig,« pflegte er zu sagen, »daß die Schieler mit Kinntnissen luxurieren.«

Wenn aber der hochselige Kaiser den Zweck der Schule darin erblickt hatte, Staatsbeamte auszubilden, so hielt hingegen Direktor Lausch es für ihre Aufgabe, »Mienschen« zu erziehen. Der Haupterfordernisse für einen »Mienschen« zählte er drei auf: »Pflichtgefiehl, Modistes Biniehmen und ein gewisses Schinisiehkoa«.Je ne sais quoi.

Für sich allein hätte Poldi gute Zeiten gehabt. Doch befand er sich in beständiger Angst um Fred. Er lernte zu Hause mit ihm und half ihm bei den Aufgaben. Aber wenn er ihn noch so gut vorbereitet zu haben glaubte, so konnte es doch geschehen, daß Fred in der Klasse versagte. Er schickte seine Gedanken gern auf Abenteuer und baute an einem großen Luftschloß, das ragte mit Türmen und Zinnen gegen die Wolken, draußen auf der Himmelswiese, knapp am Saume des Waldes. Es war stark befestigt, mit Gräben und Bastionen versehen, und hielt manche schwere Belagerung aus. Wenn es den Belagerten zu bunt wurde, so ließen sie plötzlich die Zugbrücken herab und wagten einen Ausfall, und Fred war an ihrer Spitze. Worauf dann die Feinde schmählich die Flucht ergriffen und den Abhang hinunter gejagt und bis vor die Tore der Stadt verfolgt wurden.

Eine merkwürdige Fähigkeit war in Fred, das Unwirkliche lebhafter zu empfinden, als das Wirkliche. Wie eine seelenlose Hülle konnte er auf der Schulbank sitzen und doch eine Menge erleben dabei. Dann wurde er taub und blind gegen alles, was um ihn vorging, und bloß was nie gewesen war, existierte. So kam es, daß er manchmal auf Fragen, die Poldi noch knapp vor der Stunde mit ihm eingeübt hatte, in unerklärlicher Weise die Antwort schuldig blieb. Poldi schnitt es durchs Herz, wenn Direktor Lausch dann ein bekümmertes Gesicht machte und fast weinerlich sagte: »Fried, was bist du für ein Miensch? Ich verlange ohnediehm so wiehnig von meinen Schielern!«

Im Frühling vermählte der Muschir sich mit Julie Patruban. Cajetana wünschte sich ein tüchtiges Kopfweh für den Tag, um gegen Papa Beywald zu demonstrieren. Aber sie war zu gesund und bekam keins. Papa Beywald hatte ihren Franzi fortgeschickt, weit fort, gar nach Lyon! Dort sollte er im Samt- und Zeugweben noch einiges zulernen und den Franzosen womöglich ein paar Vorteile abspicken. Die Rittergasse, meinte der alte Beywald, sei zwar sehr schön, aber ein junger Mann müsse von der Welt ein bißchen mehr gesehen haben. Und zum Heiraten wär' im Herbst auch noch Zeit. Das gefiel Cajetana gar nicht. Wie groß war doch die Welt! Wenn man wirklich so viel von ihr sehen wollte, daß es der Rede wert wäre, so käme man überhaupt nie zum Heiraten. Übrigens – wer weiß? Vielleicht war es ganz gesund für den Franzi, tröstete sie sich schließlich, wenn er die Französinnen kennen lernte. Wenigstens würde er es zu schätzen wissen, daß er ein Schottenfelder Mädel bekam. Denn die Französinnen waren durch die Bank eitel, falsch, hoffärtig, hinterlistig, kokett, bösartig und ordinär. Das wußte sie ganz genau. Gesehen hatte sie freilich noch nie eine, außer die überbescheidene »Mademoiselle«, das kreuzbrave alte Möbel, das unermüdlich durch die Straßen der Vorstadt geisterte, um mit den halbwüchsigen Töchtern der wohlhabenden Bürgerhäuser » Cloche et Marteau« zu spielen.

Das neuvermählte Paar rollte in einer schweren gelben Extrapostchaise zur Mariahilferlinie hinaus, um eine Hochzeitsreise ins Salzkammergut zu unternehmen. Der Muschir entdeckte den Frühling. In seinem Kontor am Platzel hinter St. Ulrich hatte er nach und nach vergessen, daß es einen Frühling gibt. Jetzt sah er Himmelsschlüsselblumen auf allen Wiesen blühen, aber er bedurfte keines Schlüssels, der Himmel hatte sich wie von selbst vor ihm aufgetan. Wenn Seligsein Wunschlosigkeit ist, so war er selig. Er wünschte sich nichts, als immer so fort in den blauen Tag hineinzufahren, an der Seite dieses lieben, sanften jungen Mädchens, von dem er gar nicht glauben konnte, daß es nunmehr sein angetrautes Weib geworden war. Er machte sie aufmerksam auf all das Schöne, das es in der Gegend gab, auf die eilenden Bäche und blauenden Berge, auf die großen silbernen Wolken, die am Himmel flogen, und auf die Sonnenlichter, die in jungbegrünten Buchenwäldern spielten. Und dazwischen verfiel er manchmal in ernstes Nachdenken und ertappte sich plötzlich dabei, wie er nachrechnete, ob es nicht möglich gewesen wäre, bei der letzten Partie Rohseide, die er erstanden, um ein paar Perzent günstiger abzuschließen, wenn er eine vorteilhaftere Konjunktur abgewartet hätte.

Es vergingen mehrere Tage, eh' es ihm gelang, seine Gedanken von der gewohnten Tätigkeit loszumachen. Sie konnten auch schweigen nebeneinander im Wagen, ohne daß es sie bedrückte.

Julie faßte Zutrauen zu ihm. Seine kindliche Freudigkeit, die mit nachdenklichen Stunden wechselte, gefiel ihr. Sie war so zart und schmächtig, daß fast ein halber Sitz zwischen ihnen frei blieb. Es hatte niemals weniger zärtliche Hochzeitsreisende gegeben und nie zufriedenere. Die Berge wurden höher, und die Straße zog an einem hohen, dunkelgrünen Wasser hin. Sie hatten zu tun mit Schauen und Staunen und zeigten sich gegenseitig die Herrlichkeiten des Landes.

Einmal hörten sie den Kuckuck aus der Tiefe eines Waldes rufen. Der Muschir ließ halten, sie lauschten und zählten. So oft, in ununterbrochener Folge, hatten sie den Ruf des Kuckucks nie vernommen.

»Eine lange Reihe von glücklichen Jahren ... « sagte der Muschir und ergriff fast schüchtern ihre Hand.

Es standen ihr auf einmal die Augen voll Tränen.

Die Straße fiel jetzt scharf bergab, und der eingelegte Radschuh knirschte im Schotter. Ein paarmal gab es unangenehme Erschütterungen, daß sie auflachend mit den Köpfen beinahe aneinanderstießen. Dann rollte der Wagen wieder frei und leicht, der Postillon setzte sein Horn an den Mund und schmetterte ein Lied in die kühle Morgenluft. In gleichmäßigen Rhythmen begleitete das einsame Traben der Pferde die frohe Weise. Über den Wiesenhängen schimmerte es wie grauer Reif, wo sie noch im Schatten lagen; wo aber die Sonne hingekommen war, da glitzerten Tauperlen mit Demantgefunkel. Das Gefühl einer wohltuenden Reinheit, wie sie nur die Frühe kennt, war in ihre Gemüter eingezogen und strahlte aus ihren Augen wieder. So fuhren sie dahin ...

An einem sonnig stillen, leise zitternden Mittag hielten sie am Rande eines Sees, dessen milchiges Wasser von lieblich hellblauer Farbe war. Die Koffer wurden abgebunden und in einen flachen Kahn verladen, der Muschir entlohnte den Schwager. Sie stießen vom Ufer und glitten durch raschelndes Schilf, und dann trieben Ruderschläge sie gegen das glitzernde Kirchdorf, das auf der andern Seite des Wassers zu Füßen schwerer Gebirge lag. Es war sommerlich warm, es hatte nicht geregnet, seit sie die Stadt verlassen hatten, nicht einmal ein trüber Tag, nur ab und zu eine weiße fliegende Wolke am tiefblauen Firmament, weich geballt wie schimmernder Schnee, mit zarten grauen Tinten an der Schattenseite. Der Muschir trug jetzt über seinen Vatermördern einen hohen englischen Zylinderhut aus feinem Strohgeflecht, der Juliens Heiterkeit erregte. Er zeigte sich ein wenig empfindlich, da bezwang sie sich. Es war auch alles gewählt und vornehm an ihm, daß er stattlich aussah wie ein Lord, während sie in dem breitkrämpigen Schäferhut, der ihr Antlitz beschattete, einem feinen, zarten Landmädchen glich. Die breite biedere Herbergswirtin, bei der sie abstiegen, wies ihnen nebeneinander die Zimmer an, eins »für die kleine Fräule«, wie sie sagte, und eins »für den gnädigen Herrn Vater«. Es währte einige Tage, ehe sie sich daran gewöhnen konnte, sie als Eheleute zu betrachten.

Bei einem abendlichen Gang durch die Dorfstraße sahen sie an vielen Hauswänden aufrechtstehende Bretter befestigt, wettergrau die meisten, mit verblichenen Inschriften. Von einem starken jungen Menschen, der mit aufgerollten Hemdärmeln und geschulterter Sense an ihnen vorüberschritt und freundlich grüßte, erfuhren sie auf ihre Fragen, daß es Totenladen seien, die man zum Andenken an die Verstorbenen aufbewahrte, indem man sie außen an die Wohnstätten nagelte, wo die Lebenden gehaust hatten. Was ein Totenladen wäre? wollte der Muschir wissen: da lachte der junge Mensch mit der Sense und schritt weiter. Aber Julie hatte es verstanden und erklärte es ihm, daß das Brett gemeint sei, worauf man den Toten bettet, bis der Schreiner den Sarg geliefert hat. Von solchen Dingen wollte der Muschir nichts hören; es verstimmte ihn, daß die Leute hier sich in den Kopf gesetzt hätten, einen auf Schritt und Tritt ans Sterben zu mahnen.

»Das sind Extremitäten,« sagte er. »Die Menschen sind fürs Leben da. Arbeiten und verdienen ihre Sache. Wer wird alleweil ans Ende denken? Da käm' einem schließlich alles überflüssig vor, daß man schafft und sich plagt und erwirbt.«

Julie schwieg. Am Ende des Dorfes lasen sie auf einem Brette: »Gedenkladen der erngeachten Maria Leitner, alte Bäckin von hier, gestorben am 11. März 1831 in ihrem 43. Lebensjahr.« Und darunter stand der Reim:

»Lieber Gatte und auch ihr Kinder, gute Nacht,
Mein schweres Leiden ist vollbracht.
Im Leben ist kein bleibend Glück,
Wir blühen nur einen Augenblick
Und sind nie sicher vor dem Grab
Und fallen wie die Blumen ab.«

Julie fühlte sich seltsam ergriffen. Gelegentlich war ihr eines der poetischen »Taschenbücher« in die Hand gekommen, die es damals gab, in grüner oder rosenroter Seide gebunden, mit Goldpressung. Darin hatte sie stets die empfindsamen Verse bevorzugt.

»Jeder weiß es,« sagte sie; »und doch hab' ich nie so recht daran gedacht: Wir fallen wie die Blumen ab ... «

Er zog sie mit sich fort.

»Es ist so viel Reichtum in diesem Leben,« sagte er im Weitergehen. »Mir wird manchmal fast bange. Was war meine Jugend? Arbeit! Mein ganzes Leben? Nichts als Arbeit. Ich habe das Geschäft hinaufgebracht. Es muß aber noch viel größer werden. Eine Weltfirma! Jetzt will ich immer nur an dich denken. Für dich werde ich jetzt arbeiten. Mit allem Schönen, das es gibt, werde ich dich umgeben. Ich hab' es mir in den Kopf gesetzt, daß ich dich glücklich machen will.«

»Du bist gut, sagte sie dankbar. »Aber sieh, ich brauche nicht viel. Es ist manchmal so eine Sehnsucht in mir. So, als ob man um vieles weiter werden könnte in seinem Innern, freier sozusagen. Wenn wir uns gegenseitig dazu verhelfen könnten?«

Er verstand nicht recht, wie sie es meinte, und ging befangen neben ihr her. Sie kamen auf eine kleine Anhöhe über dem See, dessen leicht gekräuselte Fläche man durch die Bogen eines verfallenen Gemäuers unter sich schimmern sah. Da setzten sie sich auf eine Bank und hörten die Wellen glucksen, die Gipfel der Berge jenseits des Wassers färbten sich glutrot, obgleich die Sonne bereits untergesunken war.

Jetzt erinnerte er sich, daß er auf dem Weg Briefe behoben und in die Brusttasche gesteckt hatte. Er zog sie hervor, entschuldigte sich und las. Sie dachte an die Andreasgasse, an das Klappern der Webstühle und an ihren Vater und sah enttäuscht drein, daß sie ohne Nachricht von zuhause geblieben war. Die Briefe waren ausführlich, er verbrachte eine gute Zeit mit Lesen, und sie fühlte sich einsam. Als er endlich die Papiere zusammenfaltete, machte er ein zufriedenes Gesicht, reckte seine Glieder und war aufgeräumt.

»Es steht gut auf dem Braunhirschengrund. Die Jacquards sind in Gang. Ich freu' mich, wenn ich dir das alles zeigen kann. So ein ganzer Saal mit Jacquards sieht aus wie eine Feerie. Wie ein vernünftiger Mensch benehmen sich solche Maschinen. Vernünftiger als mancher Weber ... « Dann sagte er noch: »Der Götsch Lebold war da und hat gebeten, man soll ihn wieder nehmen. Das wär' eine schöne Ordnung! Der Vielkind hat ihm die Tür gezeigt.«

»Wer ist der Götsch Lebold?« fragte Julie.

»Ein alter Dickkopf, der nicht mehr mitkann. Oder vielmehr – er könnte schon, aber er mag nicht. Er bildet sich ein, daß wir ihm zulieb auf den alten Zampelstühlen weiterorgeln sollen. Da wird noch mancher an die Luft gesetzt werden. Die Leute glauben rein, eine Fabrik ist da, damit die Arbeiter ein schönes Leben haben. Am liebsten möchten sie uns auffressen, und wir sollen sie dafür füttern. Keiner ist zufrieden mit seinem Lohn, und doch weiß jeder einen Verwandten, einen Sohn, eine Tochter, die er gern bei uns unterbrächte. Darum ist es ihnen nicht recht, wenn man Neuerungen einführt. Aber die werden schauen! Je weniger Arbeiter ich brauche, desto lieber ist mirs. Zu was haben wir denn Erfindungen? Gib nur acht, wenn ich mit der Dampfkraft anfange!«

»Kann man denn das?« fragte Julie verwundert.

»Warum soll man es nicht können?« Ausprobiert muß es halt noch werden. Wenn es einen mechanischen Baumwollstuhl gibt, warum soll es keinen mechanischen Seidenstuhl geben können? Einer ist auch schon, der mechanisch arbeitet, wohl an die zwanzig Jahre, weil er eine gute Wasserkraft hat, weiter draußen, nahe am Gebirg. Da ist ein großes Rad wie bei einer Mühle, das treibt das ganze Werk. Aber wieviel erspart er dabei? Zwei, drei Handarbeiter für jeden mechanischen Stuhl, das lohnt kaum die Anlage. Die Dampfkraft muß mir mehr leisten. Zehn bis zwölf Hände will ich ersparen pro Stuhl!«

»Diese Weber werden dann aber alle brotlos?« warf Julie schüchtern dazwischen.

»Die Postillons werden auch bald das Nachsehen haben bei den Eisenbahnen; müssen sich halt etwas anderes suchen.«

Julie sah still und traurig hinaus auf den weiten See und die friedlichen Berge. Der Muschir war im Zug, er erzählte ihr von seinen Plänen, wie er alles einrichten und deichseln würde. Er lachte und bewegte im Eifer seine großen Hände und merkte es nicht, wie behutsam und schonend der Abend auftrat, der mit ernsten Schritten von den östlichen Gebirgen niederstieg. Da hatte sie die Empfindung, daß sie unglücklich sein würde an der Seite dieses lauten und bärenhaften Menschen, wenn ihr nicht ein Kind geschenkt würde, das zwischen ihnen stünde, an das sie sich anschließen, und das sie mit ihrer Liebe umgeben könnte.

Der Muschir blieb den ganzen Abend gesprächig, heiter und hitzig. Es war, als hätten die guten Nachrichten aus der Fabrik einen anderen Menschen aus ihm gemacht. Als sie auf dem kleinen Söller vor ihrer Herberge zu Abend gegessen hatten, der halbe Mond über dem Gebirge stand und ein silbernes Gekräusel von Wellen durch die finstere Tiefe flutete, wo der See lag, da wurde er aufmerksam auf ihre Schönheit und fing zum ersten Male an, sie mit Zärtlichkeiten zu bedrängen. Sie verstand ihn nicht sogleich, war verwirrt und befangen und wußte nicht, wie sie ihn abwehren sollte, ohne ihn zu kränken. Aber sobald es unauffällig geschehen konnte, entzog sie sich ihm und begab sich unter einem Vorwand auf ihr Zimmer. Beim Schein des Mondes, der die niedrigen Fensterkreuze scharf und klar auf den gedielten Boden zeichnete, saß sie mit klopfendem Herzen auf dem Rand ihres Bettes und lauschte und hörte ihn nebenan auf- und niedergehen und polternd herumkramen. Ein paarmal schien es, als näherten sich seine Schritte, da stockte ihr Atem, und schließlich erhob sie sich geängstigt und legte die Schuhe ab, damit er sie nicht hören sollte, und schlich so leise als möglich durch die Stube, um den Schlüssel herumzudrehen – aber in demselben Augenblicke öffnete sich die Tür, und er trat ein und umfing sie, zitternd und glühend und Liebesworte stammelnd.

Sie fürchtete sich vor ihm, beinahe verabscheute sie ihn in dieser Minute, und doch brachte sie es nicht übers Herz, ihre wahre Gesinnung zu verraten, und ihm eine tödliche Kränkung zuzufügen, indem sie ihn von sich stieß. Die abenteuerlichsten Pläne, wie sie ihm entfliehen könnte, kreuzten ihr Hirn, und dazwischen kam ihr wieder der Gedanke, wie trostlos es wäre, ohne Kind an seiner Seite zu leben, jederzeit den Liebkosungen ausgesetzt, die eine jähe Laune ihm eingeben konnte. Wie eine Taube, die man einfängt, zitterte sie hilflos in seinen Händen, und er deutete in seiner Verliebtheit ihr mädchenhaftes Beben zu seinen Gunsten und merkte es nicht, daß ihre verzweifelte Hingebung einer Art von Feindseligkeit abgerungen war, die sie gegen ihn empfand.

Die schweigende Mondnacht am See glitt langsam in das Meer der Ewigkeit hinüber, ein Tropfen unter unzähligen, der spurlos entschwindet, und von dem niemand mehr weiß. In Juliens Erinnerung aber gruben alle Einzelheiten dieser Nacht sich mit Schreckenszügen ein, daß sie zeitlebens nichts davon vergaß und einen stets erneuten Widerwillen gegen ihren Gatten und gegen sich selbst empfand, so oft sie daran denken mußte. Das stille Seedorf, das die Quellen des Lebens zu wecken schien, während es im Kult der Toten schwelgte, verließen sie am andern Morgen, um ihre Reise fortzusetzen. Eine dem Muschir unerklärliche Unruhe hatte sich Juliens bemächtigt, daß sie nirgends mehr verweilen mochte und unablässig von Ort zu Ort drängte. Nur in der Veränderung und steten Bewegung schien ihr Gemüt sein Gleichgewicht zu bewahren.

Er mußte sich darein fügen, und sie fuhren weiter durch Land und Stadt. Er umgab sie mit der schonenden Aufmerksamkeit eines väterlichen Freundes, und sie blieb ihm eine sanfte, dankbare Gefährtin, die sich bewußt war, seiner Nachsicht zu bedürfen. In ihren schlaflosen Nächten aber betete sie zu Gott, er möge den Abscheu vor dem Leben von ihr nehmen, oder sie mit Unfruchtbarkeit schlagen. Denn sie fürchtete sich einem Kinde das Leben zu schenken, das in widerwilliger Wonne empfangen wäre.

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