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Das Fräulein ging mit Kurt zum neuen Stollen. Kurt zündete sein Licht an und ging vorauf in den Berg, auf der Bohle, die auf der Stollensohle in der Mitte der Hundsschienen lag, denn der Boden des Stollens war schlammig. Hinter ihm ging das Fräulein; in beiden Händen hielt sie die Rute, und mit Ringfinger und kleinem Finger der linken Hand hielt sie zudem den großen Taler eingeklemmt. So gingen die beiden schweigend in dem Stollen, und das Lichtchen blitzte klein in dem Dunkel um sie und funkelte wider in der Feuchtigkeit der Zimmerung. So gingen sie eine Weile.
Plötzlich rief das Fräulein leise und ängstlich: »Halt!« Kurt wendete sich um. Da stand das Fräulein, ihr Haar war gesträubt, ihr Blick starr, und dicke Schweißtropfen standen auf ihrer Stirn. Sie hielt die Rute krampfhaft fest, die mit großer Kraft schlug. Sie schlug nach der linken Seite. Das Fräulein wurde von ihr nach links gerissen an die Wand, und die Rute schlug an die feuchtglänzende Wand. »Schnell ein Zeichen in der Zimmerung machen,« sagte das Fräulein stammelnd. Kurt trieb den Haken seines Grubenlichts in die Zimmerung, schon machte er mit dem Schärper drei gekreuzte Einschnitte in den Stempel. Da ließ das Fräulein die ständig schlagende Rute fallen. Sie rief: »Haltet mich, ich werde ohnmächtig;« da sank sie auch schon in Kurts Arm.
Kurt ließ die Lampe an ihrer Stelle hängen, er nahm das Fräulein in den Arm und tastete mit den Füßen auf der Bohle zurück. Er keuchte unter der Last, die Füße glitten auf der feuchten Bohle oft ab und kamen in den Schlamm, an die Schienen des Hundslaufs. Langsam brachte er das Fräulein aus dem Stollen ans Licht. Da legte er sie auf den Rasen. Sie hatte die Augen geschlossen, ihr Atem ging keuchend; er faßte den Puls, der schlug hoch.
Da floß ein Wässerchen. Kurt fing Wasser in seiner Mütze auf und besprengte vorsichtig die Stirn des Fräuleins mit einigen Wassertropfen. Sie erwachte. »Wo bin ich?« rief sie: »Schnell zurück zu den Bergleuten, sie sollen die Stempel an der Stelle fortnehmen und querschlagen. Ich bleibe hier. Ich stehe gleich auf. Wenn die Bergleute an der Arbeit sind, dann bringt mir meine Rute heraus, auch den Taler. Ich habe beides aus der Hand gelassen.« Sie richtete sich auf und saß. Dann blickte sie Kurt an, der half ihr aufstehen. »Schnell, schnell, ich bleibe hier,« sagte sie.
Kurt eilte in den Stollen zurück. Da hing sein Licht in der Zimmerung, da lag die Rute und der Taler. Den Taler steckte er ein, Licht und Rute nahm er zur Hand. Nun eilte er weiter zu den Bergleuten vor Ort, indem er seine Schritte zählte. Er fand sie beim Aufräumen einer Sprengung. Schnell rief er ihnen zu, daß sie ihm folgen sollten; langsam, langsam für sein Gefühl nahmen sie ihr Werkzeug und ihre Grubenlichter zur Hand. »Nehmt die Kreuzhacke da mit!« rief er. Er ging vorauf und zählte seine Schritte. Als er seine Zahl abgezählt hatte, suchte er mit dem Licht an der Zimmerung. Er suchte und suchte, die drei Männer suchten auch. Schließlich fand einer die drei Kreuze.
Kurt nahm die Kreuzhacke zur Hand, er hackte hinter dem Stempel und suchte den loszubrechen. Der Stempel wankte nicht. Zwei der Männer, welche noch Raum zum Fassen am Stiel hatten, stemmten und zogen mit, Kurt schrie: »Hup! ... Hup! ... Hup!« Der Stempel löste sich, sein Fuß kam nach vorn. Nun wurde noch einmal weiter oben hintergehackt. Der Stempel löste sich weiter. »Vorsicht!« schrie einer der Bergleute. Vom First stürzte ein Balken herunter, den der Stempel gehalten, Gestein kollerte nach, der Stempel wankte und legte sich hin.
Nun machten sich die Männer an die beiden nächsten Stempel an jeder Seite; die lösten sich leichter, weil sie besser zu ihnen kommen konnten. So war schnell eine Öffnung geschaffen, wo die Bergleute eintreiben konnten.
Kurt nahm Lampe und Rute und ging aus dem Stollen. Da ging das Fräulein draußen auf und ab; sie atmete noch schwer und hielt mit beiden Händen ihre Brust. Er erzählte ihr, was geschehen war, und gab ihr den Taler wie die Rute. Sie nahm die Rute mit einer Hand am Stiel. »Nun macht sie nichts mehr,« sagte sie.
»Ich will es mir ansehen,« sagte sie. Sie legte die Rute draußen nieder, dann folgte sie Kurt wieder in den dunkeln Stollen auf der schlüpfrigen Bohle. Bald hörten die beiden die Schläge der Bergleute. Nun standen sie bei ihnen. Die Bergleute schlugen und schlugen, sie drehten das Eisen und schlugen mit dem Schlägel. Sie waren aufgeregt und schlugen in ihrer Aufregung und sahen nicht auf von ihrer Arbeit.
Das Fräulein nickte. Sie sagte: »So ist es gut.« Sie sagte: »Nun wollen wir zu dem alten Mann und seiner Tochter gehen und denen die Nachricht bringen. Das Mädchen hat Angst um Euch. Aber ich wollte es mir doch erst noch einmal ansehen.«
Die beiden gingen zurück, sie nahmen draußen die Rute auf, Kurt löschte sein Licht, und sie gingen eilig zu dem Haus des Geschworenen.
Marie hatte vom Fenster Ausschau gehalten. Als sie die beiden Zurückkehrenden erblickte, lief sie aus Stube und Haus ihnen entgegen, sie hängte sich um Kurts Hals und rief weinend vor Glück: »Habe ich dich wieder, habe ich dich wieder!« Kurt lachte und küßte sie auf die Stirn, da wurde sie rot und nahm ihren Arm von seinem Hals. Aber da ergriff das Fräulein ihre Hand und zog sie schnell mit; sie sagte: »Die Rute hat geschlagen, schnell zu dem Vater, die Bergleute arbeiten schon an der Stelle.«
Die drei eilten zum Haus und traten in die Stube. Mit glänzenden Augen sah der Geschworene auf sie. »Sie hat geschlagen!« rief er. »Ja, sie hat geschlagen,« sagte das Fräulein. Sie war noch so matt, daß sie sich gleich auf einen Stuhl setzen mußte.
Nun erzählten die beiden dem alten Mann, der bei ihrer Erzählung nickte, während Marie, die Hände gefaltet, mit großen Augen zuhörte. »Sie hat stark geschlagen, es war, als ob sie das allergnädigste Fräulein zu Boden reißen wollte,« sagte Kurt. »Ja, ich stürzte gegen die Wand des Stollens, ich konnte mich nicht mehr halten,« erwiderte sie. »Ein großer Gang, ein schöner Gang steckt da,« sagte der Alte und faltete die Hände. Er betete: »Nun danke ich dir, Gott, daß du mein Gebet erhört hast. Nun bitte ich dich noch, daß ich das erste Stück Erz sehen darf und daß der junge Mann da mein Nachfolger wird und daß er mein Kind heiraten kann, dann will ich nichts mehr von dieser Welt, dann will ich gern sterben. Mein Leben ist schön gewesen, auch die letzten Jahre sind schön gewesen, sie sind gut gewesen für mich, ich habe in ihnen gelernt. Nun habe ich wohl genug gelernt, daß ich von der Erde fortgehen kann.«
Kurt und Marie knieten vor seinem Bett, er sagte: »Gute Kinder seid ihr. Ich will zu Gott beten, daß ihr auch gute Kinder bekommt, die euch solche Freude machen, wie ihr euren Eltern macht.«
Das Fräulein stand zu Häupten des Bettes. »Wo ist denn das allergnädigste Fräulein?« fragte der Alte. »Der habe ich noch nicht gedankt. Der muß ich noch danken, denn durch sie ist das Glück gekommen.«
Da trat das Fräulein an die Seite, die beiden andern erhoben sich, das Fräulein kniete, wo sie gekniet hatten, und sagte: »Danken sollt Ihr mir nicht, denn was ich getan habe, das war nur Christenpflicht, daß ich meine Gabe verwende für die Menschen. Aber ich bitte Euch, Vater, segnet mich. Euer Segen wird mir helfen.«
»Ja, du hast keinen Vater gehabt und hast ein schweres Leben,« sagte der alte Mann. »Wer stolz ist und gut ist, der hat ein schweres Leben.« Er legte seine Hand auf ihren braunen Scheitel; da lag nun die Greisenhand mit den dicken Adern auf dem braunen, unbändigen Haar. Er sagte: »Gott segne dich und behüte dich. Er lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig. Er hebe sein Angesicht auf dich und gebe dir seinen Frieden.« Er sagte noch einmal: »Seinen Frieden.« Da quollen dem Fräulein die Tränen aus den Augen. Sie sagte: »Ja, seinen Frieden. Du weißt, Vater, was ich brauche.«
Die Augen des alten Mannes lächelten. Er sagte: »Ja, das wissen die Kinder nun nicht, daß die alten Leute durch sie hindurch ihr Herz sehen können, als ob sie von Glas sind.«
Nun stand das Fräulein auf. Da trat Marie zu ihr, mit niedergeschlagenen Augen und errötend. Sie sagte: »Ich muß Euch um Verzeihung bitten. Die Leute sagen alle, Ihr seid eine Hexe, und da habe ich Angst um Kurt gehabt, daß Ihr ihm etwas antut.«
Das Fräulein lachte und streichelte dem Mädchen die Backe. Sie sah plötzlich ganz vornehm aus. Sie sagte: »Das wußte ich ja, daß du den jungen Mann lieb hast, und da hast du aus Angst gesprochen, und Böses ist nicht in dir. Ich brauche dir nicht zu verzeihen, mein gutes Kind, denn du hast mich nicht gekränkt.«
Der Geschworene lag in seinem Bett mit geschlossenen Augen und atmete still. Die Hände mit den dicken Adern lagen auf der Bettdecke.
»Wir müssen den Vater allein lassen. Er muß schlafen,« sagte das Fräulein leise. Auf den Zehenspitzen gingen die drei hinaus aus der Stube. Draußen verabschiedete sich das Fräulein von den beiden und ging zum Pfarrhaus; Kurt und Marie gingen durch die Hintertür über den Hof in den Garten.
Da blühten die Narzissen, an dem Weidenbusch hingen die vertrockneten Rispen, der Apfelbaum stand in der Blüte, und die Frühlingssonne schien auf alles nieder, auch auf den feuchten Boden, der noch unordentlich war vom Winter her. »Nun muß der Garten endlich in Ordnung gebracht werden,« sagte Marie. »Die Kölschen hat zu viel anderes zu tun, sie ist nicht dazu gekommen.« Sie sagte das, weil sie spürte, daß Kurt ihr etwas Wichtiges sagen wollte. An einem Stachelbeerbusch ging sie vorüber, und zerstreut faßte sie mit zwei Fingern einen Zweig des Busches und ließ ihn wieder los.
Da sagte Kurt mit bebender Stimme: »Wenn es denn nun so richtig ist, daß ein Gang gefunden wird, dann kann ja dein Vater doch die Arbeit nicht mehr machen. Und wenn ich nun die Stelle bekäme, dann könnten wir doch heiraten.«
Marie lächelte schelmisch und sah ihn mit schrägem Blick von unten auf an. Sie sagte mit geheucheltem Erstaunen: »Danach bin ich ja noch gar nicht gefragt, ob ich heiraten will? Ich möchte lieber Jungfer bleiben. Was fehlt mir denn! Mein Vater wird ja wohl nicht lange mehr leben ...« Sie hatte weitersprechen wollen, daß sie nun bei dem bleiben werde; aber da kamen ihr die Tränen, und plötzlich sank sie an Kurts Brust. Sie preßte sich an ihn, sie sah nicht hoch und sagte: »Das richte du alles ein, wie du es für richtig hältst. Das verstehst du doch am besten.« Blutübergossen richtete sie ihr Gesicht auf und bot ihm den Mund zum Kuß.
Und so gingen die beiden noch lange im Gärtchen auf und ab, innig verschlungen, machten Pläne für die Zukunft und erzählten sich aus ihrem früheren Leben.
Unterdessen hatte der alte Mann leicht geschlummert. Als er die Augen wieder öffnete, war er allein in seinem Zimmer. Die zusammengefallene Glut des Ofens knisterte und durch das Fenster wehte die sonnige Frühlingsluft herein. Er hielt die Augen wieder eine Weile geschlossen und freute sich der Stille, dann öffnete er die Augen wieder.
Da klingelte die Haustür, und es klopfte an die Stubentür. Er rief »herein«, und es trat ein der Pfarrer, der ihm einen Krankenbesuch machen wollte.
Er legte Hut und Stock und Mantel auf einen Stuhl, dann ging er auf Fußspitzen zu dem Kranken, der ihn lächelnd erwartete. »Ich weiß schon,« sagte er, »das Fräulein hat mit alles erzählt. Ihr wißt ja, ich habe meine christlichen Bedenken, aber an dem Fräulein ist nichts Unchristliches. So will ich Euch denn Glück wünschen. Ihr habt ausgehalten. Ihr habt dem ganzen Ort Mut gegeben. Und Ihr habt auch Euch selber nicht geschont.«
»Der Mensch muß seine Pflicht tun,« sagte lächelnd der Alte. »Nun wird ja alles gut. Herr Pfarrer, nun habe ich eine große Bitte an Euch. Ihr habt doch in Wolfenbüttel einen Gönner, der einen Stein im Brett hat bei dem Geheimrat. Ihr kennt mich, daß ich nichts Unrechtes begehre, und Euer Gönner kennt Euch, und der Geheimrat kennt Euern Gönner. Es ist nämlich um den jungen Pfeffer, der jetzt bei mir wohnt. Er ist aus guter Familie, sein Vater ist Geschworener in Annaberg, und er versteht das Bergwerk; ich habe ihm auf den Zahn gefühlt, er kann ganz gut den Geschworenen spielen. Mit dem Schriftlichen kennt er sich besser aus als ich, er kann sogar Latein. Dem würde ich das Bergwerk ruhig anvertrauen, da könnte ich ohne Sorge sterben. Und dann ist da doch die Marie. Das Mädchen hat ihn gern, und die beiden könnten hierhinein heiraten. Ich behalte die Stube hier unten, und die jungen Leute ziehen nach oben. Lange wird es ja bei mir nicht mehr dauern, und dann haben sie das ganze Haus für sich allein. Nun möchte ich, daß Ihr nach Wolfenbüttel an Euern Gönner schriebet; wenn es sich herausstellt, daß alles richtig ist und wieder ein großer Gang ansteht, dann sollen die Herren Herzöge, denn es sind ja jetzt zwei, den Pfeffer zum Geschworenen bestellen. Und wenn der Herr Geheimrat noch Bedenken hat, dann soll der Gönner ihm sagen, wie alles gewesen ist und daß ich mein eignes Geld in das Bergwerk gesteckt habe. Das ist ja nur meine Pflicht gewesen, denn ich war der Geschworene, aber mancher hätte es doch nicht getan, und ich habe es getan, und darum soll er das mit dem Pfeffer mir altem Mann zuliebe tun, denn der Pfeffer ist gut, und einen Bessern findet er nicht.«
Da drückte der Pfarrer dem Geschworenen die Hand und sagte: »Ich sehe wohl, daß Euch das am Herzen liegt, darum schreibe ich noch heute, und es geht ohnehin ein Bote ab, der kann das Schreiben mitnehmen, dann ist es morgen in Wolfenbüttel, und ich schreibe so, wie Ihr mir gesagt habt, und aus meinem Eigenen setze ich noch hinzu, daß ich für alles bürgen kann, das Ihr gesagt habt, und ich kann bürgen als Euer Seelsorger und als Verkünder der evangelischen Wahrheit in Lautenthal.«
Der Geschworene drückte dankend dem Pfarrer schwach die Hand. Der Pfarrer aber fuhr fort: »Nach menschlichem Ermessen ist nun die Möglichkeit, daß Ihr bald abberufen werdet vor Euern himmlischen Richter. Habt Ihr Euch vorbereitet? Ich tadle es nicht, daß Ihr an das Bergwerk gedacht habt und an Euer Kind. Das sind nun unsere irdischen Pflichten, die wir erfüllen müssen, weil sie Gott uns auf die Seele gelegt hat. Und ich selber, wenn einmal mein letztes Stündlein naht, werde wohl an meine Gemeinde denken, die ich verlassen muß. Aber habt Ihr auch an Eure Seele gedacht? Wenn Euch etwas bedrückt, dann sagt es mir. Ich bin verschwiegen, kein Mensch soll etwas von mir erfahren.«
»Ich habe mich geprüft diese Zeit,« sagte der Kranke. »Ich will Euch nicht beschwerlich fallen. Da gibt es manche, die bauschen ihre Sünden vor sich auf, um sich wichtig zu machen, und denken, so machen sie sich lieb Kind vor unserm Schöpfer. Aber die habe ich immer kindisch gefunden. Ich habe gesündigt, namentlich in jungen Jahren, und zumeist durch Überheblichkeit. Aber es waren keine schlimmen Sünden, und ich hoffe zu meinem Schöpfer, daß er sie mir vergeben wird, denn ich weiß, daß ich an seinem Sohn einen Fürsprecher habe. So danke ich Euch denn, Herr Pfarrer; ich brauche mich nicht zu fürchten vor meinem Richter.«
Der Pfarrer sagte: »Ihr seid immer ein biederer Mann gewesen, Geschworener. So glaube ich Euch denn, und ich will beten, daß unser Herr Jesus Christus in seiner grundgütigen Barmherzigkeit sich Eurer annimmt.«
Der Kranke lächelte, und im Lächeln fielen ihm die Augen zu, sein Atem ging regelmäßig, und er schlummerte. Da erhob sich der Pfarrer von seinem Stuhl und ging leise dahin, wo er Mantel, Hut und Stock gelassen, nahm das und schlich vorsichtig aus dem Zimmer. Um den Kranken nicht zu stören, ging er nicht aus der Haustür hinaus, weil die bimmelte, sondern er ging durch die Hintertür, durch Hof und Garten, um aus der hinteren Gartentür auf den Weg an der Rückseite der Gärten zu kommen. Da traf er die beiden Liebenden, wie sie Hand in Hand und in ihr Gespräch vertieft im Gartenweg auf und ab gingen. Als sie ihn erblickten, zogen sie ihre Hände auseinander und wurden tiefrot. Der Pfarrer aber lächelte und zog grüßend seinen Hut.
Nicht lange nachher erwachte der Kranke wieder aus seinem Schlummer. Er lag still in seinem Bett, und vieles ging seinem Geist vorüber, er dachte an sein früheres Leben. Er lächelte darüber, daß es so schnell verrauscht war. Nun war ihm merkwürdig, daß er sich immer als Mittelpunkt des Geschehenen vorgekommen war, und alle andern Leute waren sich auch so vorgekommen. Wenn man aber im Sterben liegt, dann sieht man ein, daß das eine große Selbsttäuschung ist; und nun war die Stube hier, und die Stühle, der Tisch, das Bett und der Schrank, das war alles noch genau so, wie es bei seinem Vater gewesen war, und vielleicht auch wie bei dessen Vater; und wie der Vater gestorben war, da blieb es, und wenn er selber nun starb, dann blieb es auch so, indessen er auf dem Kirchhof lag, wo er nach dem Sanct Jacob hinübersehen konnte und auch nach dem neuen Stollen.
Indem er aber so dachte, da schrillte die Glocke wieder, und ein Mann stampfte und strich seine Füße draußen ab, dann klopfte es, und er rief »herein«, und da trat der Mühlenknappe ein, Franz Bacher, und grüßte linkisch, behielt die Mütze in der Hand vor sich gehalten, und entschuldigte sich, daß er störte.
Der Geschworene nickte lächelnd und deutete mit den Augen auf den Stuhl neben dem Bett, auf welchem der Pfarrer gesessen hatte.
Da setzte sich nun Franz breitbeinig, er stützte die eine Hand auf das Bein, in der andern drehte er die Mütze und sagte, daß er gar nicht lange stören wolle, denn er sehe wohl, daß der Geschworene müde sei, aber er habe doch gleich kommen wollen und sich melden, damit es nachher nicht heiße, er habe sich zu spät gemeldet und er hätte früher kommen müssen. Nämlich, da wird doch nun der Querschlag getrieben, und die Leute erzählen sich, da kommen sie auf einen Gang mit lauterm Weißgültig, und da werden wieder Bergleute angelegt, und das Pochwerk und die Hütte gehen auch wieder. Weil er doch nun das mit der Käthe festgemacht hatte, und er sagte sich, daß der Bergmann ja sein gutes Lohn verdient, und das Haus hatten sie, und zwei Kühe, und so ging es ja denn wohl, auch wenn die Laute nicht wiederkam. Deshalb wollte er sich nun gleich melden, damit ihm die andern nicht zuvorkamen. Und er war guter Leute Kind, sein Vater war Müller, nur, daß sie fünfzehn Kinder zu Hause waren, da konnte er natürlich von Hause nichts mitbekommen, und mußte sehen, wie er seine Nahrung fand.
Nach dieser Rede richtete sich Franz in seinem Stuhl auf und zupfte sich die Weste zurecht.
Der Geschworene nickte. Er wollte sich erkundigen über ihn. Es war doch richtig, daß er in die Lautenmühle einheiraten wollte. Wenn da der Vater einverstanden war, so war es ja gut, denn der Müller war ein guter Mann; wenn der einen Schwiegersohn wählte, dann konnte man sich auf den wohl verlassen.
Franz wurde etwas verlegen und sagte, daß der Schwiegervater ja eigentlich nicht einverstanden gewesen war, aber weil es nun die Käthe so gern wollte, deshalb hatte er eingewilligt, und deshalb hatte er, der Franz, ja auch eingewilligt, denn die Käthe war ihm treu geblieben das ganze Jahr, und er war ihr auch treu geblieben, wie das nun so ist in der Welt.
Mit solchen Reden stand er auf, nahm die Mütze in beide Hände und betrachtete sie und sagte, er sehe wohl, daß der Geschworene müde sei, deshalb wolle er nicht länger stören, und der Schwiegervater könne über ihn Auskunft geben, und auch der Kurt Pfeffer, mit dem sei er gewandert, allerdings nur den einen Tag. Und so verabschiedete er sich denn und ging. Der Kranke aber dachte lächelnd: »So ist das nun. Der hält sich also auch für den Mittelpunkt des Geschehens und denkt, der Querschlag wird nur dazu getrieben, daß er Arbeit hat und die Käthe heiraten kann.«
Unterdes arbeiteten Kurt und die drei Bergleute mit fieberhafter Anstrengung an ihrem Querschlag. Sie hatten ihn schon ein Lachter tief eingetrieben. Da rollte beim Sprengen eine Wand herunter, die Kurt auffällig war. Er beleuchtete sie, da war in dem Gemenge von Quarz und Schwerspat eine Höhlung, in der saßen Kristalle von Erz, die ihm merkwürdig vorkamen; sie waren dreikantig, wie Weißgültigerz, aber hatten eine rauhe Oberfläche und sahen aus wie Schwefelkies. Er fragte einen der Bergleute. Der lachte, er schlug sich auf die Schenkel und tanzte, er rief und sang: »Weißgültig, Weißgültig!« Die beiden andern Männer hielten ihr Licht an das Stück, dann lachten auch sie und riefen: »Weißgültig!«
Kurt war noch immer erstaunt und ungläubig, da erzählten ihm die Männer, daß das Erz hier so vorkam, daß auf den Kristallen ein Überzug von Schwefelkies saß. Da wurde Kurt schwach ums Herz vor Freude, er mußte sich setzen.
Inzwischen leuchteten die Männer die Stelle ab, wo die Wand gesessen hatte, da fanden sie eingesprengt ein kopfgroßes Stück Weißgültigerz. »Wir haben den Gang!« riefen sie, und der eine setzte sich gleich und begann ein neues Bohrloch. Kurt aber zerschlug die Wand, die da vor ihm lag, und schlug das Stück mit den Kristallen heraus, das nahm er in die Hand und lief eilig mit ihm zu dem Geschworenen. Wohl eine Viertelstunde hatte er zu laufen. Er kam keuchend an und konnte nicht gleich sprechen; er warf das Stück auf die Bettdecke und rief: »Da!«
Der Kranke nahm das Erz prüfend in die Hand und betrachtete es, dann sagte er stockend: »Weißgültig«, und legte sich mit geschlossenen Augen zurück auf sein Kissen. Kurt lief auf die Diele hinaus nach Marie. Marie kam, hinter ihr die Kölschen. »Weißgültig!« rief er den Frauen entgegen. Marie wurde blaß und hielt sich das Herz, die Kölschen schlug wortlos die Hände überm Kopf zusammen, dann lief sie aus der Stube auf die leere Straße und schrie: »Der Gang ist gefunden, der Gang ist gefunden!« Aus den Häusern stürzten die Leute auf die Straße, die Kölschen lief die Straße hinunter wie verrückt und schrie: »Der Gang ist gefunden!« Die Leute liefen hinter ihr her, um zu fragen; aber sie lief immer weiter und schrie.
Marie machte sich um den ohnmächtigen Vater zu schaffen. Langsam öffnete der die Augen. Erst war er noch verwirrt, dann sagte er: »Ach ja!« Er nahm das Stück in die Hand, er prüfte es nochmals. Er sagte: »Nun wird alles gut. Nun laßt uns beten!« Die drei falteten die Hände. Der Alte sprach: »Herr Gott, ich bin so verwirrt, ich finde nicht die Worte, verzeihe mir, du kannst in unsere Herzen sehen, wir danken dir.« Da stürzte Marie auf ihn zu, sie sank in die Knie vor dem Bett, warf die Hände über die Bettdecke und drückte den Kopf in die Decke und weinte. Der Vater aber streichelte ihr das Haar und sagte: »Nun wird alles gut.«
Kurt lief aus dem Zimmer nach oben in seine Schlafkammer und kam gleich zurück. Er drückte dem Vater in die Hand, was er geholt hatte, und sprach: »Ich bin auch Formschneider. Das habe ich gelernt. Ich habe das Muster zu einem Ausbeutetaler geschnitten, zu dem das Silber vermünzt werden soll, das wir jetzt finden. Wir müssen doch dem Fräulein von Glück dankbar sein. Die hat uns das Glück gebracht. Was ich jetzt gewinne, das lasse ich gleich aufbereiten und in der Hütte schmelzen, dann bringe ich es selber nach Zellerfeld in die Münze und spreche mit dem Münzmeister, daß das Muster in Eisen geschnitten wird und dreifache Taler geprägt werden.«
Der Vater hielt sich den Buchsbaumstock entfernt vom Auge und betrachtete die Schnitzerei. Marie drückte sich an ihn und betrachtete neugierig mit. »Was ist das?« fragte sie. »Ein Mädchen, das die Laute spielt und singt. Die Laute, die geht auf unsern Fluß. Ihr Haar fliegt im Wind, das Lautenband und ihr Kleid. Sie steht auf einer großen Schnecke; sie steht auf einem Fuß; es ist, als ob sie tanzt. Ja, das ist das fremde Fräulein.«
»So habe ich sie einmal gesehen,« sagte Kurt stolz. »Das habe ich mir gemerkt, wie sie da aussah. Sie stand im Pfarrgarten auf der großen versteinerten Schnecke, die da liegt.«
»Und das ist Lautenthal,« sagte das Mädchen. »Das ist der Glockenberg, und das ist der Kranzberg. Und das ist die Hütte, und das ist der Sanct Jacob, und das ist die Kirche, und das da, das ist unser Haus.« Sie wurde rot. »Und das hast du gemacht?«
Der alte Mann hielt den Stock weitsichtig in der schwachen Hand. »Die Umschrift ist lateinisch,« sagte er. »Was heißt sie auf deutsch?« Kurt übersetzte: »Du, o Gott, wirst uns endlich die herrlich Klingende wiedergeben;« er erklärte: »Das geht auf das Silber und auf die Laute.«
»Ja, Gott hat uns einen neuen Gang finden lassen. Er soll nach dem Namen des Fräuleins heißen: Lautenthaler Glücksgang,« sagte der Geschworene. »Er wird uns auch die Laute wiedergeben, damit wir den Gaipel treiben können und der Müller mahlen kann. Aber nun laßt mich, liebe Kinder, ich bin müde. Die Freude war zu groß. Ich muß ruhen.« Er schloß die Augen. Die beiden gingen auf Zehenspitzen aus dem Zimmer. Das Erzstück hatte der Kranke auf dem Bett behalten. Als die beiden ihn allein gelassen, da öffnete er noch einmal die Augen, er strich liebkosend über das Stück. Dann schloß er die Augen wieder.
Kurt lief zum Pfarrhaus. Auf der Straße standen die Menschen, alle Menschen standen auf der Straße. Sie fragten ihn, er rief ihnen einige Worte zu. Das fremde Fräulein ging im Pfarrgärtchen auf und ab. Sie spielte die Laute und sang. Kurt blieb am Zaun stehen und rief hinüber: »Wir haben den Gang, wir haben den Gang!« Dann kehrte er schnell um und lief zurück; wieder fragten und riefen die Menschen, er lief zum Stollen zurück. Vor dem Stollen hatten sich schon viele Menschen angesammelt, sie drängten in den Stollen hinein. Eben, als Kurt ankam, quollen sie zurück. Es wurde geschossen. Er durchteilte die Menge, da standen die drei Bergleute. Er ging mit ihnen zum Querschlag; da lagen die abgesprengten Wände; große Stücke reines Weißgültigerz lagen dazwischen.
Unter den Harrenden draußen waren auch einige Puchjungen. Schnell gab Kurt seine Anweisung. Die größten Erzstücke wurden oberflächlich ausgesucht und mit dem Schubkarren zum Puchwerk gefahren, das still lag, weil die Wasser der Innerste müßig zur Seite abliefen. Ein Junge zog das Schütz, das Wasser strömte in das Gefluder, es rann zum großen Teil durch die Ritzen des ausgetrockneten Bohlenwerks, aber das Rad setzte sich knarrend in Gang, die Stempel hoben sich und trampelten, und die Jungen schütteten ihre Wände unter den einen Stempel. Kurt lief hin und her zwischen dem Stollen und dem Puchwerk. Da wurde wieder geschossen. Die Menge drängte wieder zu. Kurt rief, mahnte, erinnerte an die Gefahr. Niemand achtete auf ihn; Handstücke des Gesteins gingen von Hand zu Hand, wurden betrachtet, beurteilt. Kurt lief wieder in den Stollen und beobachtete die Aufräumearbeit; indessen ein Mann aufräumte und in den Hund lud, bohrten die beiden andern wie verrückt neue Löcher.
Unter den Männern, welche dastanden, war ein Steiger. Kurt beauftragte ihn, auf alles zu achten; er mußte nun nach Hause und gleich Bericht nach Wolfenbüttel schreiben und den Gewerken Nachricht geben. Es würde wohl ein Herr aus dem Ministerium nach Lautenthal kommen. So ging Kurt eilig nach Hause; auf dem Weg begegnete er immer noch Leuten, welche zum Stollen gingen; es schien, als ob niemand im Ort zurückgeblieben war; junge Männer und alte Männer kamen, Bergleute und Waldarbeiter, Frauen und Mädchen. Nun war die Schule aus, da kamen die Kinder gelaufen; den Jungen hüpfte der Holster auf dem Rücken. Alle grüßten Kurt, viele der Männer drückten ihm die Hand.
Die Aufregung hatte sich auch dem Pfarrhaus mitgeteilt. Zuerst war die Magd zum Stollen hinuntergelaufen. Dann war der Pfarrer mit der Pfarrerin gegangen. Sie hatten die Fremde gefragt, ob sie mitkommen wolle. Die hatte lachend den Kopf geschüttelt.
Nun war das Fräulein allein im Gärtchen, kein Mensch ging auf dem Weg hinter dem Gärtchen vorüber. Sie ging in den schmalen Wegen zwischen den Buchsbaumstreifen, sie hatte die Laute in der Hand, schlug einmal einen Dreiklang an und summte verloren ein paar Töne dazu. Der Apfelbaum blühte, er streute seine Blütenblätter auf den Boden, der schon weiß bedeckt war. In weiten Kreisen fielen sie zur Erde.
Ein leichtes Frühlingslüftchen machte sich auf und trieb die Blütenblätter zur Seite. Es brachte einen fremden Ton ganz von weitem herbei. Sie stutzte, sie wußte nicht, was das bedeutete. Da wurde es ihr klar. Es war das Trampeln der Puchstempel.
Da war es ihr plötzlich, als ob ihre Brust weit würde. Sie hatte das tote Puchwerk gesehen, die ruhenden Stempel, die trocknen Herde, den stehenden Steinbrecher, das ausgetrocknete und zerrissene Gefluder, und hatte gesehen, wie das Wasser, das sonst all das tönende, hämmernde, trampelnde, rauschende Leben getrieben, untätig zur Seite fortrauschte. Nun hörte sie den Ton der Arbeit, sie dachte an die armen Leute, die verzweifelt, hungernd, sehnsüchtig in ihren Häuserchen gesessen hatten, die nun aus ihren Häuserchen herausgelaufen waren und am Eingang des Stollens lauschend, hoffend, glücklich standen, die gleich ihr nun das Geräusch der Arbeit hörten. Ein Glück, das sie nie gekannt bis nun, hob sie, daß das nun durch sie gekommen war, daß sie die richtige Stelle gefunden hatte, wo gearbeitet werden konnte.
Sie dachte: »Nicht ich bin es ja gewesen, ich habe von Natur die Gabe, die ist mir verliehen, und ich muß sie benützen, es ist meine Aufgabe, sie zu benützen.« Plötzlich, fast unbewußt, faltete sie die Hände; sie betete: »Gib mir, Gott, die Kraft, daß ich meine Gaben benützen kann, laß nicht zu, daß ich mich verzehre in falscher Sehnsucht. Du hast mir ein stolzes Herz gegeben und hast mich zum Weib gemacht; gib, daß ich deinen Willen erfülle.« Als sie so aber betete, da schlug ihr die Lohe hoch ins Gesicht. Sie dachte an den jungen Herzog und an den Geheimrat. Sie betete: »Mache, Gott, daß ich nicht einem leeren Hochmut nachhänge! Mache, Gott, daß ich den richtigen Weg gehe!« Sie begriff mit einemmal, was der Geheimrat für ein Mann war. Sie sah, daß durch ihn die Leute ihre Arbeit machen konnten und der Boden Früchte trug, um die Menschen zu ernähren. »Ja, was wollte ich denn?« dachte sie. »Ich wollte ja spielen. Aber zum Spielen hat mich Gott nicht geschaffen. Gott hat seinen eingeborenen Sohn geopfert, und als der am Kreuz hing, da hat er gesagt: ›Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.'« Sie betete: »Mache, Gott, daß ich deinem Sohne folgen kann, gib mir die Kraft, Gott; Gott, gib mir die Kraft.« Sie dachte an den Geheimrat, an das strenge Gesicht, die gütigen Augen. »Ja, der ist ein Herrscher,« dachte sie. »Wenn der wüßte, daß ich den Anbruch gefunden habe, dann würde er mit dem Kopf nicken und würde sagen: ›Das hat sie gut gemacht. Das muß man loben.'« Sie fühlte, wie sie stolz wurde durch dieses Lob. »Ich bin vor ihm ja wie ein Kind,« dachte sie. »Das Kind hat sich etwas in den Kopf gesetzt und mault, wenn es das nicht bekommt. Wie kindisch bin ich gewesen!«
In dem stillen Ort waren nur noch die Kranken und Schwachen, die in ihren Betten lagen oder matt auf ihren Stühlen saßen. Und vor dem Stollen draußen war es, da wurden die kleinen Kinder auf den Armen der Mütter getragen, die größeren gingen an der Hand der Mutter, die Schulkinder drängten sich zwischen den Leuten herum, die dastanden, suchten in die vordere Reihe zu kommen, damit sie in das dunkle Loch des Stollens sehen konnten.
Der alte Geschworene lag allein in seinem stillen und sauberen Stübchen. Im Ofen fauchte, knallte und knisterte das Feuer, durch das Fenster kam die sonnige Frühlingsluft. Er hielt die Augen geschlossen und lag im Halbschlummer.
Da öffnete er langsam die verharzten Augen. Das ferne Pochen der Stempel hatte sein Ohr getroffen. Er wußte nicht, ob er schlummerte oder wachte. Verwirrt faltete er die Hände zum Gebet.
Der kleinste Ofen in der Hütte war im Gang, aus dem Schornstein kamen dicke Rauchwolken. Zwei Männer in Schurzleder mit langen Gabeln beschickten ihn. Kurt stand gespannt da. Im Kessel zog sich, wallte, hob sich die zarte graue Masse. Mit einemmal riß es, das glänzende Silber schaute hervor. Ein Mann stieß den Zapfen aus, und zäh, langsam, glänzend wälzte sich das flüssige Silber in seinem schmalen Weg, verteilte sich in die Formen. »Glückauf!« riefen die Männer, Kurt fiel ein; plötzlich hatten die Männer ihr Gezäh fortgeworfen und lagen sich in den Armen; sie lachten, weinten und schluchzten. »Nun können wir wieder anfahren,« sagten sie. Sie schüttelten Kurt die Hand. »Wir danken auch,« sagten sie. »Wir danken auch dem fremden Fräulein,« sagten sie.
Auf dem geschmolzenen, glänzenden Streifen setzten sich Wölkchen ab, sie wurden dunkler; es waren Schlacken, die hoben sich, schoben sich; die Formen füllten sich, eine nach der andern. Der Lauf versiegte; nun leuchtete nur noch das Metall in den Formen, es erkaltete allmählich.
»Der Silberbote braucht nicht zu gehen. Ich bringe das Silber selber nach Zellerfeld zur Münze,« sagte Kurt. Im Haus des Geschworenen hing das Felleisen des Silberboten auf dem obern Boden. Kurt brachte mit einem der Männer die Silberbarren zu dem Geschworenen und legte sie vor dem Bett auf den Boden; einen legte er ihm auf die Bettdecke; mit zitternden Händen streichelte den der Geschworene. Nun packte Kurt die Barren in das Felleisen; der alte Geschworene verschloß es und behielt den Schlüssel. »Wie oft habe ich das Felleisen verschlossen!« sagte er. »Nun kann ich es wieder verschließen.«
Kurt huckte das Felleisen auf und nahm den schweren Wanderstock in die Hand. In dessen Innern befand sich ein spitzes Stilett zur Verteidigung, wenn er von Spitzbuben angegriffen werden sollte im Wald. Nach einem Druck auf einen Knopf konnte man es leicht herausziehen. »Es ist schwer, das Felleisen, das hatte ich nicht gedacht,« sagte er. Der alte Geschworene lachte und sagte: »Ja, Silber ist schwer. Das denkt man nicht, wenn man so einen Taler in der Hand hat.«
Nun sagte er noch: »Der Bornemann, das ist der Münzmeister in Zellerfeld, ist ein Grobian. Das weiß ich, ich habe auch manchen Strauß mit ihm ausfechten müssen. Er versteht seine Sache, aber das weiß er auch. Wenn du ihm sagst, nach deinem Muster soll der Prägestock geschnitten werden, dann wird er aufbrausen und wird sagen, daß das seine Sache ist, das Muster zu schneiden. Dann sagst du ihm: er ist der herzogliche Münzmeister, und die Münze ist herzoglich, und wir müssen unser Silber nach dort zum Ausmünzen bringen, damit der Herr Herzog auch etwas verdient an Lautenthal. Aber das Silber gehört den Gewerken, und von Lautenthal bekommt der Herr Herzog keinen Zehnten, deshalb münzt die Münze unser Silber nur in Lohn, und da können wir verlangen, was für ein Stempel auf die Münze gesetzt werden soll, und auch, was ausgemünzt werden soll. Du sagst: ›Es ist genau abgewogen. Wir kriegen dreihundert Löser von drei Talern und das andere ist Schlagschatz, den bekommt die Münze für das Münzen. Was Ihr auf den Schlagschatz macht, das ist Eure Sache, den könnt Ihr ausprägen, wie Ihr wollt. Aber wir wollen unsere dreihundert Löser haben, wo auf der einen Seite das Fräulein von Glück auf der Schnecke steht und die Laute in der Hand hat.‹ Auf der andern Seite kann er ja das braunschweigische Wappen prägen, das soll ihm unbenommen sein, und das kann er nach seinem eignen Muster schneiden lassen, wie er will.«
Der Geschworene hatte sich etwas aufgerichtet während dieser Rede, nun fiel er wieder matt zurück. Er sagte: »Geh mit Gott, mein Sohn. Gott wird dich vor Räubern behüten. Du bist jung und stark. Komm bald zurück. Ich freue mich, die neuen Löser zu sehen.«
Kurt verabschiedete sich und ging. Vor der Tür stand Marie und weinte. Sie sagte: »Du hättest den Silberboten sollen gehen lassen. Es hat sich herumgesprochen, daß wir den Anbruch gehabt haben. Wenn das nun Spitzbuben erfahren und lauern dir im Wald auf!«
Kurt lachte: »Seit Menschengedenken ist dem Silberboten nichts geschehen,« sagte er. »Bei uns in Sachsen ist es schlimmer. Da gehen immer zwei Mann zusammen und sind schwer bewaffnet.« Marie hängte sich an ihn; er küßte sie und riß sich los; sie sah ihm aus der Haustür nach; er schaute sich an der Ecke noch einmal um und schwenkte seinen Hut; dann verschwand er aus ihren Augen.
Er ging am ausgetrockneten Bett der Laute entlang zwischen dem Glockenberg und dem Kranzberg; Schöllkraut wuchs zwischen den trockenen Kieseln, noch gelbe Blätter vom vorigen Jahr und die ersten grünen Blätter, welche sich breiteten, von diesem Jahr. Am Rande neigten sich die gelben Blüten des Huflattichs. Da standen noch kleine Häuserchen; die kamen in immer weiteren Zwischenräumen. Dann rückte der Wald bis an das trockene Bett heran, nur einen schmalen Fußpfad lassend. Kurt ging steil bergan und mußte sich auf seinen Stock stützen. Nun kam die Lautenmühle. Da trat eben Franz mit einem Schubkarren voll Mist aus dem Stall. Den ließ er stehen und lief schnell zu Kurt, grüßte hastig und fragte, wie es stehe, ob bald wieder Leute angelegt würden. Käthchen trat aus dem Haus; als sie Franz in so angelegentlichem Gespräch mit Kurt sah, wurde sie rot und ging wieder zurück. Der alte Müller sah aus dem Fenster auf die beiden, grüßte und nickte. »Ich habe mir den neuen Stollen auch angesehen,« schrie er. »Nun müssen wir nur wieder Wasser bekommen, dann ist alles gut.« Kurt vertröstete Franz, der Anbruch sei außerordentlich, man werde bald Leute gebrauchen. Nun ging Franz zu seinem Schubkarren zurück und Kurt ging weiter.
Da ging er nun auf einem schmalen Waldsteig nach Hahnenklee hinauf. Schon sahen die ersten hellgrünen Spitzen aus den Fichtenzweigen, und es duftete nach Frühling und Harz. Ein Eichhörnchen sprang um einen Stamm und blickte neugierig nieder. Da blühte ein Fleck Buschwindröschen. Eine wunderbare Stille war, wie ein Märchen war der Wald. Kurt fühlte die Zukunft vor sich, es weitete sich in ihm vor Glück; er dachte an Marie, er dachte an den guten alten Mann, an das alte Haus, in das er nun vielleicht als Herr einziehen durfte, er dachte an seine schöne Arbeit, und wie er jede Woche sein Silber an die Gewerke ausliefern würde. Da lag das Leben vor ihm wie eine weite Frühlingslandschaft, und mit einemmal schrie er einen lauten Juchzer in die stille Luft des Waldes.
So stieg er aufwärts durch den Wald. Da lichtete es sich zwischen den Stämmen, es kamen Wiesen, zwischen denen flossen Wasserläufe‚ und geduckt lagen da kleine Häuserchen, zwei, drei Häuserchen. Er ging an den Häuserchen vorbei, er begrüßte die Leute und erhielt den Gruß zurück. Die Leute erkannten das Felleisen des Silberboten. »Habt Ihr wieder Silber gefunden?« fragten sie. »Jawohl,« antwortete Kurt, »das Felleisen ist schwer.« Kinder standen da, rotznäsig und mit dem Finger im Mund, und staunten ihn an. Er ging weiter und ging wieder in den Wald. Nun ging er wieder im Wald bergauf, dann wurde es eben, dann lichtete es sich wieder, und da lagen inmitten der Wiesen Clausthal und Zellerfeld. Ab und zu lag noch ein schmutziger Flecken Schnee auf den Wiesen. Er ging weiter, da kam er zu den ersten Häusern und fragte nach der Münze. Ein Kind lief mit und wies ihm Bescheid, die Leute schoben die Fenster hoch und sahen dem Fremden nach. Nun stand er vor dem Haus und trat ein.
Über die Diele ging gerade ein Mann, ein hochgewachsener, schwerer Mann mit buschigen Augenbrauen, etwas gebückt mit schleppendem Gang. »Zu wem wollt Ihr?« fragte er Kurt. »Zum Münzmeister Bornemann,« sagte der. »Der bin ich,« erwiderte Bornemann. »Tretet ein!«
Die beiden traten in eine niedrige Stube, geweißt, mit kleinen Fenstern. Bornemann stand vor Kurt. »Das ist das Lautenthaler Felleisen,« sagte er. »Ich habe an siebzig Mark Silber darin,« sagte Kurt, indem er es abwarf auf den Boden. »Ich habe schwer geschleppt den Berg hinauf.« – »Ein Silberbote muß schwer schleppen,« sagte grämlich der Münzmeister. »Also einen neuen Anbruch habt Ihr gemacht,« fuhr er fort und setzte sich, ohne Kurt einen Stuhl anzubieten. Kurt nahm sich selber einen Stuhl und setzte sich ihm keck gegenüber. Bornemann machte große Augen, sagte aber nichts.
»Der Geschworene läßt sagen, Ihr sollt Löser ausprägen zu drei Talern das Stück, und hier wäre das Muster für die eine Seite,« sagte Kurt, indem er seinen Buchsbaumstock aus der Tasche holte.
»Das Muster mache ich,« sagte ruhig Bornemann. »Aber gebt her, laßt sehen, was Ihr da in Lautenthal zusammengepfuscht habt!« Er sah sich den Stock an. »Gar nicht schlecht,« sagte er anerkennend brummend. »Habe ich geschnitten,« bemerkte Kurt. »So, Ihr?« fragte der Münzmeister und sah Kurt erstaunt an. Dann legte er den Stock auf den Tisch, legte die Hand auf die Tischplatte und trommelte mit den Fingern, indem er sprach: »Wie gesagt, das Muster mache ich.«
»Der Geschworene läßt Euch sagen, das Silber gehört den Gewerken, und Ihr habt es nur zu prägen,« erwiderte ruhig Kurt. »Ob wir das Muster für den Stempel liefern wollen, das ist unsere Sache.« Dem Münzmeister schwoll die Zornader an. »Das Muster mache ich. Dafür bin ich der Münzmeister. Ich bin von dem Herrn Herzog angestellt,« sagte er.
»Es ist alles richtig abgewogen, hier ist der Zettel, Ihr könnt nachwiegen lassen,« sagte Kurt, ohne auf die Rede des Münzmeisters einzugehen. »Dreihundert dreifache Löser, der Schlagschatz ist dabei, den könnt Ihr vermünzen, wie Ihr wollt.«
Der Münzmeister haute die Faust auf den Tisch und rief: »Da soll denn doch ein Donnerwetter dreinschlagen; du willst mir wohl Vorschriften machen? Wer bist du denn?«
Kurt sagte ruhig: »Ich bin Kurt Pfeffer aus Annaberg in Sachsen; mein Vater ist dort Geschworener, und ich bin auf der Wanderschaft und habe aus Gefälligkeit dem Geschworenen ausgeholfen.«
»So? Auf der Wanderschaft? So einen Windhund aus Sachsen können wir hier gerade noch brauchen,« knurrte Bornemann.
»Zur Münze will ich gar nicht gehen,« erwiderte ihm ruhig Kurt. »Ich will zum Bergwerk.«
Bornemann sah Kurt immer erstaunter an. »Wann sollen denn die Löser fertig sein?« fragte er. »Ich habe jetzt viel zu tun.«
»Es ist ein neuer Anbruch, das wißt Ihr selber,« erwiderte Kurt. »Zwei Jahre lang hat Lautenthal keine Ausbeute gegeben. Wir haben einen neuen Gang gefunden. Da sollen die Löser übermorgen fertig sein.«
»Wir?« fragte erstaunt Bornemann.
»Ja, wir,« erwiderte Kurt bestimmt. »Der Geschworene liegt im Bett. Er hat mir alles anvertraut.«
»So, übermorgen. Das geht nicht so schnell. Das Muster muß ich dem Eisenschneider geben. Der schneidet gut einen Tag an dem Stempel. Und dann habe ich noch keine Rückseite.«
»Als Rückseite könnt Ihr einen Stempel nehmen, den Ihr schon habt,« erwiderte Kurt.
Der Münzmeister stand schwerfällig auf, schritt zu einem Wandschrank und öffnete den; da lagen Stempel ordentlich nebeneinander. Er nahm einen heraus. »Der hat die Jahreszahl und ist für einen dreifachen Löser, aber die Umschrift stimmt nicht mehr. Da steht bloß Rudolf August. Der junge Herr Herzog steht nicht dabei.«
»Das macht nichts,« sagte unerschütterlich Kurt. »Darauf soll es nicht ankommen. Die Taler gehen gleich an die Gewerke. Die mögen sie ausgeben oder aufheben, das ist ihre Sache. Das weiß keiner, ob sie vor vierzehn Tagen geprägt sind oder jetzt.«
Bornemann warf den Stempel auf den Tisch. Er sagte: »Mein Münzmeisterzeichen steht darauf. Dann denken die Leute, ich habe auch das andere Muster geschnitten. Und mein Zeichen muß ich auf meinen Talern haben, dafür bin ich Münzmeister.«
Kurt sagte ruhig: »Mir ist das ganz gleichgültig, was für ein Zeichen auf den Lösern steht.«
Der Münzmeister nahm den Stock wieder in die Hand und betrachtete ihn. »Die Figur ist gar nicht schlecht,« sagte er. »Die ist besser, als wenn ich sie gemacht hätte. Zu schämen brauche ich mich ja nicht, Pfuscherei ist es nicht ...« Er dachte einen Augenblick nach, dann sagte er in milderem Ton: »Na, meinetwegen. Übermorgen kannst du deine dreihundert Löser holen. Das Gewicht wird ja wohl stimmen, ich muß aber erst nachwiegen. Alles muß seine Ordnung haben.«
Kurt erhob sich.
»Wohin willst du denn?« frage Bornemann. »Du bist doch fremd hier. Oder willst du gleich wieder nach Lautenthal zurück und übermorgen wiederkommen? Das ist ein weiter Weg, und du hast gehörig zu tragen. Du kannst bei mir bleiben. Du schläfst in der Dachkammer oben. Gegessen hast du auch wohl noch nicht. Ich habe geschlachtet.«
Kurt dankte für die freundliche Einladung. »Nicht nötig,« knurrte Bornemann. »Kannst dir auch den Betrieb ansehen. Ich bin heute der erste Fachmann im Münzwesen. Wie ich angestellt wurde, da hatten sie eigentlich so einen vom Adel, der die Stelle kriegen sollte, denn die ...« er machte die Gebärde des Geldzählens. »Aber der verstand nichts von der Sache. Na, da haben sie denn lieber einen Fachmann genommen.«
Der Münzmeister ging zur Tür vorauf. Er sagte zu Kurt: »Jetzt nimmst du dein Felleisen, das kannst du gleich auf deine Kammer bringen, und dann setzen wir uns zum Essen.« Er ging vorauf aus der Tür, Kurt folgte ihm mit dem Felleisen. Draußen rief er eine Magd und trug ihr auf, Kurt in die Kammer zu führen und nachher zur Wohnstube zu weisen.
Das geschah nun, und so kam denn Kurt zur Wohnstube, wo ein langer Tisch ohne Tischtuch stand mit Tellern und allbereits die Familie sich gesetzt hatte. Da saß Bornemann an der Spitze, zu seiner Rechten war ein Stuhl leer für Kurt, zur Linken saß die Frau des Münzmeisters, dann kamen an jeder Seite sechs Kinder, wie die Orgelpfeifen, von einem achtzehnjährigen Mädchen mit langen, strohblonden Zöpfen abwärts bis zu einem zweijährigen Kind, das mit seinem Löffel ungeschickt und ungeduldig auf den Zinnteller haute. Dann kamen die Münzer mit rußigen Nasen und Backen, und der Schlächter in weißer, blutbefleckter Schürze, und am Ende kam die Magd. In der Mitte auf dem Tisch aber standen drei große Schüsseln mit Wurstsuppe, und aus der einen füllte die Frau vom Hause in die Teller und reichte herum, aus der zweiten füllte die Tochter ein und aus der dritten die Magd.
So kam denn zu jedem ein Teller mit Wurstsuppe, in der die Fettaugen nur so schwammen, und die Münzer machten leise anerkennende Bemerkungen über die Fettaugen, der Schlächter aber lobte das Schwein.
Nachdem jeder seinen Teller ausgelöffelt hatte, wurde noch einmal aufgefüllt, und da erklärten die Münzer, daß die Suppe sehr nahrhaft sei, und der Metzger erzählte, daß das Schwein sich gar nicht gesträubt hatte, wie er es aus dem Koben vorgezogen hatte, sondern es war ganz ruhig mitgegangen wie ein Hündchen; das kam davon, daß es so an die Menschen gewöhnt gewesen war und kein Mißtrauen hatte. Die Frau erzählte aber, daß das Schwein die letzten drei Wochen mit Roggen gefüttert war, denn das macht den Speck fest und macht ihn süß, und der Münzmeister erzählte von früheren Schweinen; und so wurde von den wichtigen Personen gesprochen und die unwichtigen Personen schwiegen und hörten aufmerksam zu.
Nun stand die Magd auf und ging aus der Stube, und dann kehrte sie zurück. Sie stieß die Tür mit dem Fuß auf, denn sie trug das schwere und große Brett mit dem Kesselfleisch hoch über dem Kopf. Kurt sprang auf und hielt die Tür, daß sie eintreten konnte. Das Brett wurde mitten auf den Tisch gesetzt, und nun schnitten und verteilten die drei Frauen das Kesselfleisch.
Bornemann lachte breit über das ganze Gesicht und sagte: »Wenn man Fleisch hat, dann wird man doch kein Brot essen!« Die Münzer lachten laut, auch der Schlachter lachte. Er sagte: »Nein, so dumm wird man doch nicht sein.« Die Kinder baten leise: »Mir ein recht großes Stück,« »mir ein recht fettes Stück,« und während noch die Letzten am Tisch vorgelegt bekamen, hatten die Ersten schon aufgegessen. Die Frau seufzte, aber sie seufzte mit glücklich gerötetem Gesicht: »Ich komme gar nicht zum Essen, alles will vorgelegt haben,« und so legte sie von neuem vor, wo der Teller abgegessen war. Da sagte das kleinste Kind in seiner Kinderaussprache und mit seinem dünnen Stimmchen: »Ich kann nicht mehr,« darüber lachte die ganze Tafel, ein älteres Kind wiederholte lustig: »Ich kann nicht mehr,« und nun schrien alle Kinder: »Ich kann nicht mehr.« – »Gott sei Dank,« sagte die Frau und sank glücklich auf ihren Stuhl zurück. Die Münzer aber schmunzelten und strichen sich zufrieden den Bart.
»Auf das Schweinegut gehört ein Schnaps,« sagte nun Bornemann zu Kurt, indessen alle von ihren Stühlen aufstanden, und nahm ihn mit in die andere Stube, in welcher er zuerst mit ihm gesprochen hatte. Da öffnete er einen Wandschrank und entnahm dem eine Flasche mit zwei Gläschen. Er hielt die Flasche gegen das Licht, dann goß er ein und stellte die Gläschen auf den Tisch, die Flasche setzte er wieder fort. »Tausendgüldenkraut,« sagte er. Dann ergriff er das eine Gläschen, spreizte den kleinen Finger ab und sagte: »Da steht er, blinder Hund!« Kurt ergriff sein Gläschen, spreizte gleichfalls den kleinen Finger ab und tippte mit dem an den Finger Bornemanns, dann kippte jeder sein Gläschen über, sagte brr! und setzte das Gläschen befriedigt auf den Tisch.
»So,« sprach nun Bornemann. »Du bist kein Dummer. Nun sag einmal, weshalb hast du denn das so gemacht mit dem Silber? Das ist doch Unsinn, da gleich das Pochwerk laufen zu lassen und einen Ofen anzustecken, das weißt du doch auch; und dann sollen die Löser gleich ausgeprägt sein. Wozu ist das denn nun?«
Kurt kratzte sich den Kopf. Er sagte: »Ja, das ist, weil ich dem alten Geschworenen noch eine Freude machen wollte. Er macht es nicht lange mehr. Da sage ich mir: ›Wenn einer tot ist, dann kann man ihm nichts mehr antun. Und ein guter Mann ist er doch gewesen.‹ Nun hat er noch einmal das Pochwerk gehen hören und sieht auch den ersten Taler, der aus dem neuen Silber geprägt ist. Der neue Gang soll der Lautenthaler Glücksgang heißen, das hängt mit dem Löser zusammen; gewöhnlich steht das Glück auf einer Kugel, aber auf dem Löser steht es auf einer Schnecke, weil es so langsam gekommen ist, aber nun klingelt's ihm in die Ohren.«
»So!« erwiderte Bornemann. »Na ja, das läßt sich hören. Ich werde ja auch einmal alt, das geht schneller, als man denkt, da hätte ich auch gern so eine Freude. Fünfzig bin ich ja nun auch schon. Aber nun wollen wir gehen, ich will dir alles zeigen.«
Sie gingen in die Münzstube. Da saßen die Münzer vor Ambossen; sie legten mit der Zange das runde Silberstück auf den untern Stempel, und dann schlugen sie mit einem schweren Hammer den oberen Stempel ein. Das fertige Stück fiel herunter, der Mann betrachtete es, ob es fehlerlos war, und warf es in einen Korb. Der Silberbrenner stand am Herd; er zog den Blasebalg und machte das Silber glühend. Am Fenster saß vor einem Tischchen der Eisenschneider. Er hatte das Muster Kurts vor sich liegen und schnitt es in einen Stempel ein. Kurt trat zu ihm hin und sah dem geduldigen Mann zu. »Ein tüchtiger Mann,« sagte Bornemann, »er hat alle meine Stempel geschnitten.« Der Mann sah auf und lachte. »Ja, bei uns in Zellerfeld wird das Geld gemacht,« sagte er; »da müssen die Leute aus dem ganzen Land kommen und müssen es holen.«
»Den verheirateten Leuten gebe ich ihre Arbeit ins Haus,« sagte Bornemann. »Du weißt ja selber, wie das ist. Einmal kommt viel Silber, einmal kommt wenig. Wenn einer seine Arbeit zu Hause macht, dann kann er es sich mit der Zeit so einrichten, wie es ihm paßt. Wenn das Heu gemacht wird, dann kann er natürlich nicht münzen.«
Der Münzmeister sagte: »Nun habe ich noch schriftliche Arbeiten vor, ich muß dich jetzt allein lassen. Sieh dir alles an und sieh dir auch Clausthal und Zellerfeld an, und dann kommst du zum Vesper zurück.« Damit ging er und ließ Kurt allein, und der sprach noch mit den Leuten, beobachtete die Arbeit und ließ sich erklären, und dann ging er hinaus auf die Straße und betrachtete die Häuser. Da war die Apotheke, die war mit bunt angemalten Menschenköpfen verziert, und die Kirche und das Schloß. Er ging in das Schloß, da hingen auf der Diele große Bilder, die Begebenheiten darstellten; er sah sie genau an und bewunderte sie. Dann ging er den Hügel hinunter ins Tal, wo der Zellbach floß, und als er den Bach auf einer Bohlenbrücke überschritten hatte, da war Clausthal; da reihten sich zu beiden Seiten die niedrigen Häuserchen der Bergleute, und er dachte sich, was die Leute wohl machten, wenn einmal sehr viel Schnee fiel. Ein Mann in braunem Kamisol lag mit den Armen in der Fensterbank und schaute aufmerksam durch die Öffnung des hochgeschobenen Fensters auf die leere Straße. Den fragte er, was sie da machten, wenn der Schnee über das Dach ging. Der Mann zog ein pfiffiges Gesicht und sagte: »Dann steigen wir zum Anfahren durch den Schornstein hinaus.« Kurt wurde betroffen, er errötete und ging eilig weiter, die Straße bergauf.
Auf der Bremerhöhe hatte ein Windmüller eine neue Mühle gebaut. Die Schindeln waren hell und freundlich, aus dem kleinen Fenster schaute der Müller vergnügt ins Weite, und die Flügel drehten sich im leichten Wind mit Sausen.
Nun ging die Straße wieder bergab, die Häuser waren stattlicher. Da lag die Clausthaler Kirche, das Rathaus und andere große Gebäude. Die Kirchenuhr hob zum Schlagen an, er blickte hoch und sah, daß er umkehren mußte, denn das war ihm klar, daß der Münzmeister ungemütlich wurde, wenn er zu spät kam.
Der Eisenschneider brauchte länger zu seiner Arbeit, als Bornemann angenommen hatte. Der tröstete Kurt und sagte: »Das ist immer so. Und wenn du dir bloß ein Paar Stiefel besohlen läßt, es dauert länger.« Aber das Silber war inzwischen ausgewalzt, die runden Stücke ausgeschnitten, dreihundert Stücke. Und als der Eisenschneider fertig war, da wurde gleich geprägt.
Als der erste Löser zu Boden fiel, da nahm ihn Kurt auf; er wickelte ihn sorgfältig in ein Tuch, das er mitgebracht, und steckte ihn in die Tasche. »Das ist der erste Löser,« sagte er, »den bekommt der alte Wiedenhöfer. Der kann ihm angerechnet werden; seit zwei Jahren hat er kein Gehalt bekommen, und außerdem hat er auch von seinem Eignen zugebüßt.« Als der zweite Löser fiel, da nahm er den, wickelte ihn ein und steckte ihn in die Tasche und sagte: »Den bekommt das fremde Fräulein als eine Erkenntlichkeit. Der wird mit verrechnet unter den Ausgaben. Denn das Fräulein hat den Querschlag angegeben.«
Es war schon spät am Abend, als die dreihundert Löser geprägt waren. Kurt packte alles sorgfältig ein und tat es in sein Felleisen. Aber der Münzmeister sagte: »Du wirst doch nicht bei nachtschlafender Zeit noch nach Lautenthal gehen wollen! Die Nacht ist keines Menschen Freund. Wer weiß, was alles in der Nacht sein Wesen im Walde treibt! Geh du morgen früh, da ist Sonntag, dann kommst du auch noch zurecht.«
Kurt schwankte. Er wäre gern wieder in dem frommen Häuschen in Lautenthal gewesen und hätte mit Marien gesprochen und am Bett des Alten gesessen. Aber dann besah er das schwere Felleisen und dachte, wie ihn das behinderte, und dachte an allerhand Geister und Gespenster, die des Nachts dem Wanderer Possen spielten, und es konnte doch auch kein Mensch für Räuber und Spitzbuben gutstehen; so sagte er denn zögernd zu, daß er noch die Nacht dableiben wollte, und schlug in die dargereichte Hand des Münzmeisters. »Ich habe an dir einen Nagel gefressen,« sagte er. »Du bist kein Dummer. Grob genug bist du mir ja gekommen. Aber das macht nichts. Du bist im Recht gewesen.«
Während die beiden so sprachen und mit dem gepackten Felleisen in der Münzstube standen, tat sich die Tür auf und Leibniz trat herein. Er hatte von den Vorkommnissen in Lautenthal gehört und fragte nun Kurt nach allem. Kurt erzählte ihm, wie alles gewesen war, als Fräulein von Glück mit der Rute ging und wie sie zuletzt ohnmächtig wurde und wie dann der reiche Anbruch gefunden wurde. Er griff in die Tasche, holte die beiden Taler heraus, die er besonders eingewickelt hatte, und zeigte sie Leibniz.
»Ja, das ist sie,« sagte Leibniz, und seine Stimme war merkwürdig bewegt. »Ja, das ist sie.«
»Sie ist wie ein Engel vom Himmel nach Lautenthal gekommen,« sagte Kurt mit leuchtenden Augen.
»Ach, das ist das Bild einer wirklichen Person?« fragte Bornemann erstaunt.
Kurt wurde verlegen. Leibniz aber antwortete etwas von oben herab, um das weitere abzuschneiden: »Eine vornehme Dame vom Hof.« Neugierig nahm Bornemann nun das zweite Stück in die Hand, um es nochmals zu betrachten.
»Ja, sie ist so etwas wie ein höheres Wesen in dieser niedern Welt, wie ein guter Naturgeist,« schloß Leibniz, indem er Kurt den Löser zurückgab. Dann grüßte er die beiden und ging.
Bornemann machte ein mißbilligendes Gesicht, als er den andern Löser wieder auf den Tisch legte. Er sagte: »Der Herr Hofrat ist gewiß ein gelehrter Herr, das kann ich nun nicht beurteilen, aber der Fachmann schüttelt den Kopf. Viel Geld kosten die Versuche, und es kommt nichts heraus bei ihnen. Er sitzt im Schloß und macht seine Berechnungen und Zeichnungen, und das soll nachher alles stimmen, wenn er hinauskommt. Stimmt nicht. Hinter seinem Rücken lachen sie ihn aus.«
Kurt wollte etwas erwidern; aber er bedachte, daß das nichts nützte, und so schwieg er.
Die beiden gingen nun in das Wohnzimmer und erzählten sich da allerhand. Während sie dasaßen, kam eine Magd vom Schloß und brachte vom Herrn Hofrat drei Speziestaler und sechs Mariengroschen und sagte: »Der Herr Hofrat wolle einen Löser geschlagen haben von der Art, wie er ihn eben gesehen, und die Speziestaler seien das Silber dafür, und die sechs Mariengroschen sollten Schlagschatz sein.«
Bornemann nahm das Geld in Empfang und versprach, daß er morgen gleich den Löser hinüberschicken werde.
So verging denn der Abend, und am andern Morgen stand Kurt auf, er aß noch die Morgensuppe mit der Familie des Münzmeisters, und die Frau steckte ihm ein Stück Brot und Speck in den Brotbeutel als Wegzehrung, und dann huckte er sein Felleisen auf, nahm den Stock mit dem verborgenen Stilett in die Hand und verabschiedete sich mit herzlichem Dank. Bornemann trat in die Haustür und sah ihm nach, bis er um die Ecke bog.
So ging denn Kurt nun zurück durch die Straßen des Städtchens und über die kahle Höhe und durch den Wald. Es war früh am Morgen, und die Vögel sangen, zwitscherten, schlugen und pfiffen und machten ein Geschrei, daß man fast sein eigen Wort nicht hätte hören können. Kurt aber setzte seinen Stock und schritt ruhig fürbaß und kam wieder überall vorbei, wo er auf dem Hinweg vorbeigekommen war, und das Herz sprang ihm in der Brust vor Freude, er wußte gar nicht über was. Und so vergingen denn die Stunden, da stand er oben auf dem Berg und sah unten Lautenthal liegen. Er stand schräg und hatte hinten das Felleisen auf den Stock gestützt. Es war Sonntag, und die Kirche war aus; da gingen die Kirchenglocken; er hörte sie hier oben läuten und sah durch die Schallfenster die Glocken hin- und herfliegen wie toll. Da öffneten sich die Kirchentüren, und die Menschen quollen heraus. Sie stauten sich auf dem Kirchplatz und bildeten einen dichten Haufen. Dann sah er, wie, als die letzten wohl, aus der Kirchtür das fremde Fräulein und die Pfarrerin traten. Die Menge teilte sich vor den beiden, die Männer nahmen ihre Schachthüte ab und reihten sich zu beiden Seiten auf; sie waren in der Bergmannstracht, in Schachthut, schwarzem Kittel und Hinterleder, und die Steiger hatten ihren Häckel in der Hand. Das Fräulein und die Pfarrerin gingen grüßend durch die Reihe, und die Glocken läuteten noch immer.
Kurt ging bergab, der Weg lief steil, und er kam in eine schnelle Gangart. So kam er an die Kirche. Da standen die Leute noch immer auf dem Kirchplatz und besprachen sich; die Glocken schwiegen bereits.
Ein alter Bergmann saß da an einer Ecke des Platzes auf einem Schemel. Er hatte einen Korb Semmeln vor sich und verkaufte die. Drei Semmeln kosteten einen Pfennig. Er sagte: »Nun habe ich anderthalb Jahre lang das Geschäft aufgegeben gehabt, denn es war kein Geld unter den Leuten. Aber heute will ich es einmal wieder versuchen.«
Zwar, es war noch gar kein Lohn ausgezahlt; aber weil nun doch die Aussicht war, daß wieder Bergleute angelegt wurden, so hatten die Leute doch einiges von den allerletzten Pfennigen in die Tasche gesteckt. Ein Mann stand vor dem Semmelkorb, er suchte sich die Semmeln aus, indem er sorgfältig alle Semmeln durchprobte; dann bezahlte er seinen Pfennig und sagte dabei: »Die Kinder sollen doch auch etwas haben von der Freude.« Ein Bursche kam und kaufte für ein Mädchen die Semmeln; er sagte: »Die bringst du deinen Geschwistern mit nach Hause.« Manche Frau sah wohl sehnsüchtig nach dem Korb, sie dachte an ihre Kinder; aber dann bedachte sie wohl, daß man ja doch noch nicht wisse, wie alles ausgehen werde, daß man das Geld noch festhalten müsse.
Die Leute sahen, wie Kurt den Weg mit seinem Felleisen herabstieg. Der Steiger, dem er das Werk überlassen, kam ihm schnell entgegen. Er berichtete, daß der Gang sich immer besser mache. Die Leute sahen nach oben zu den beiden hin, die miteinander sprachen, und nickten grüßend. Als Kurt herunterkam, da klang ihm von hundert Stimmen das »Glückauf!« entgegen. Er sah lauter frohe Gesichter.
Plötzlich begann einer mit heller Stimme zu singen, und bald fielen mehrere ein, und es dauerte nicht lange, da sangen alle:
»Seid fröhlich, ihr Gewerken,
und habet guten Mut!
Reich Erz läßt sich jetzt merken,
es wird bald werden gut.
Wir haben angetroffen
einen reich-fündigen Gang;
Ausbeut ist nun zu hoffen,
Gott sei Lob, Ehr und Dank!«
Nun ordneten sich die Leute während des Gesanges zu einem Zug, und es machte sich von selber, daß Kurt mit Felleisen und Stock an die Spitze kam. Und während der Zug marschierte, sang er weiter:
»Es darf euch nicht gereuen,
was ihr bisher verbaut;
jetzt wird euch Gott erfreuen,
weil ihr ihm habt vertraut,
euch euer Bitt gewähren,
wie ihr oft habt begehrt,
und gute Kux bescheren:
Ist das nicht lobenswert?«
Und so kam der Zug vor dem Hause des Geschworenen an, der in seinem Bett lag und durch das offene Fenster schon von weitem das Singen gehört hatte. Marie stand in der Haustür, hielt die Hand schützend über die Augen und schaute auf. Da sah sie den Zug ankommen, und an der Spitze ging Kurt in seiner Alltagstracht und bestaubt, mit dem schweren Felleisen, hinter ihm die Bergleute in ihrer Sonntagsgewandung; am Ende des Zuges gingen unordentlich Weiber und Kinder mit frohen und glücklichen Gesichtern. Kurt ersah Marien, da wurde die rot und lief eilig ins Haus zurück; die Bergleute aber sangen:
»Wer Gottes reiche Gaben,
Gold, Silber und Edelgestein,
will aus der Erde haben,
so kann nicht anders sein,
er muß erst was dran wagen,
ob's ihm gleich schwer vorkömmt‚
und zuvor Kosten tragen,
eh er Ausbeute nimmt.«
Und nun hatten sich die Bergleute vor dem Haus des Geschworenen geordnet, in Reihen hintereinander, und die Frauen und Kinder standen auf den Trittsteinen der gegenüberliegenden Häuser. Da sangen die Leute den letzten Vers, und die Frauen fielen mit ein, und sie sangen:
»O Jesu, lieber Herre;
wir bitten dich mit Fleiß,
reich Ausbeut uns beschere,
zu deines Namens Preis!
Hilf, Herr, laß wohl gelingen
jetzt und zu aller Zeit,
so wolln wir dir Lob singen
hier und in Ewigkeit.«
Während der letzten Worte war Marie wieder in die Haustür getreten, feuerrot vor Verlegenheit und geschoben von der Kölschen, die hinter ihr stand; beide Frauen waren gleichfalls in der Kirche gewesen und hatten noch das schwarze, gelbgeränderte Gesangbuch in der Hand. Marie nickte dankend, in ihren Augen standen Tränen. Da riefen die Bergleute laut »Glückauf!« Dreimal riefen sie »Glückauf!«; dann zerstreuten sie sich.
Aber noch als das letzte Glückauf! erschallte, sprang Kurt nach vorn; er mußte sich halten, daß er Marie nicht umarmte und küßte, sie mußte sich halten, daß sie ihm nicht in die Arme fiel. So gaben sich die beiden die Hand; gleichzeitig rief Kurt: »Wie geht es dem Vater?« und Marie sagte: »Dem Vater geht es gut.« – »Komm herein,« sagte Marie, »komm herein und erzähle, ich bin so froh, daß du wieder da bist!«
Kurt stürmte in die Stube und warf das Felleisen in die Ecke. Der alte Geschworene saß aufrecht in seinem Bett. Er hatte dem Gesang gelauscht, seine Hände waren zum Gebet gefaltet. Er sah nicht zu Kurt hin, er sah ins Leere.
Kurt und Marie standen betroffen. Da lachte Kurt auf, er griff in die Tasche und holte den Löser hervor, den er in einen Lappen gewickelt dort trug. Der Löser funkelte in dem silbern milden Prägeglanz. Er nahm ihn zwischen beide Finger und legte ihn vor dem alten Mann auf die Bettdecke.
Erstaunt, zerstreut blickte der auf Kurt, dann auf Marie, dann nahm er den glänzenden, funkelnden Löser in die Hand, vorsichtig, zwischen zwei Finger. »Der erste Löser von dem neuen Gang,« sagte Kurt. »Der erste Löser,« wiederholte der Alte und sah glücklich auf die Münze zwischen seinen Fingern. »Das ist das Fräulein. Das ist das Glück.« Er sah lange auf den Löser, dann ließ er ihn matt auf die Bettdecke fallen.
Marie eilte zu ihm, sie legte ihren Arm von hinten um ihn und ließ ihn aus seiner sitzenden Stellung langsam in die liegende gleiten.
Eine Pause war, dann sagte der Alte leise und langsam: »Schicke doch die Kölschen zum Herrn Pfarrer, sie soll mich entschuldigen, daß ich ihm so zur Last falle, aber ich möchte gern das Heilige Abendmahl genießen.«
Die beiden jungen Leute wurden blaß. Auf Zehenspitzen ging Marie eilig aus dem Zimmer, sie hielt die Tränen so lange zurück, bis sie vor der Tür war; da konnte sie sie nicht mehr halten. Sie sagte der Kölschen mit fliegenden Worten den Wunsch des Alten.
»Ach, Herr Jesus! Und ich habe mein Sonntagskleid schon ausgezogen!« rief die. Schnell hatte sie sich die Schürze abgebunden, mit den Händen über das Schläfenhaar gestrichen, dann lief sie schon eilig zum Pfarrhaus.
Weil der reiche Gang gefunden war, hatte der Fleischer am Donnerstag ein Schwein geschlachtet. Das Fleisch war schnell verkauft; die meisten Käufer hatten nicht bezahlen können; aber nun sollten ja die Männer wieder Arbeit haben, und so gab ihnen denn der Fleischer auf Borg. Die Pfarrerin hatte einen Braten genommen. Der sollte nun eben aus dem Ofen geholt und auf den Tisch getragen werden, als die Kölschen kam.
Der Pfarrer warf schnell wieder seinen Talar über, befestigte die Beffchen und setzte die Mütze auf; er nahm den Becher mit dem Teller in die eine Hand und das Buch unter den Arm; den Kasten mit den Oblaten und das Weinkännchen trug die Kölschen mit heiliger Scheu; so machte er sich bereit zum Weg. Die Frau Pfarrerin stand in der Küchentür und rang die Hände; sie rief: »Ich habe dir kein Frühstück gebracht, ich wollte dir den Hunger auf den Braten nicht verderben, nun gehst du mit nüchternem Magen, iß doch wenigstens erst etwas, ich schneide dir gleich ein Stückchen Braten ab! Sieh nur, wie schön er ist! Und die Schale so knusprig! Nun verbrennt mir die Gottesgabe; ich muß ihn aus dem Ofen ziehen; kalt kann man ihn ja auch essen; für uns drei Frauen allein, das wäre ja eine Sünde!«
Der Pfarrer sagte: »Laß mich, ich darf mich nicht aufhalten, das ist mein Dienst.« Damit ging er aus dem Haus, gefolgt von der Kölschen.
Als er die Straße hinunterschritt, so eilig es das würdige Gewand erlaubte, da bog gerade der Bote aus Wolfenbüttel um die Ecke. Er hatte einen Brief für den Herrn Pfarrer, ein kleines Paketchen für das fremde Fräulein.
Der Pfarrer nahm beides; zerstreut steckte er das Paketchen in die Tasche, dann öffnete er im Gehen den Brief und überlas ihn. Er freute sich über den Inhalt, dann legte er den Brief in sein Buch, und da stand er auch schon vor dem Haus des Geschworenen, öffnete die Haustür und ging in die Stube, wo der Kranke schwach atmend und mit geschlossenen Augen in seinem Bett lag, indessen die beiden jungen Leute neben ihm auf Stühlen saßen, Marie zu seinen Häupten und Kurt zu seinen Füßen.
Marie und die Kölschen rückten eilig den Tisch und deckten ihn. Sie stellten das Kästchen mit den Oblaten und das Weinkännchen auf; sie legten eine Oblate auf den Teller und gossen einen Schluck Wein in den Becher, sie legten das schwere Buch in die Mitte. Teller und Becher waren nur zinnern.
Der Pfarrer stand aufrecht mit dem aufgeschlagenen Buch vor dem liegenden Kranken und las die Einsetzungsworte. Der Kranke öffnete die Augen; er sah gläubig zu dem Pfarrer hoch; seine Finger spielten, ohne daß er es wußte; seine Lippen bewegten sich mit den Worten des Lesenden, ohne daß er es wußte.
Der Pfarrer sagte: »Nehmet und esset; das ist mein Leib.« Er hielt vor den Kranken den zinnernen Teller mit dem Leib des Herrn. Marie trat dem Vater zur Seite, umfaßte ihn und hob ihn in sitzende Stellung. Der Kranke bemühte sich mit den Fingern, aber er konnte den Arm nicht heben. Da kam Kurt; er nahm den Leib des Herrn vom Teller und legte ihn dem Kranken in den Mund.
Nun setzte der Pfarrer den leeren Teller wieder auf den Tisch. Dann nahm er den Kelch und las: »Und er nahm den Kelch und dankte, gab ihnen den und sprach: Trinker alle daraus; das ist mein Blut des Neuen Testamentes, welches vergossen wird zur Vergebung der Sünden.«
Marie hielt den Vater in sitzender Stellung, der Pfarrer legte das Buch auf die Bettdecke, beugte sich vor, setzte dem Kranken den Kelch an den Mund und gab ihm zu trinken. Der sah dankbar und gläubig hoch zu ihm und bewegte die Lippen zu unhörbaren Worten.
Marie legte den Vater wieder zurück, und auf den Wink seiner Augen nahm sie seine Arme und Hände und ordnete sie, daß sie gefaltet waren.
Da nahm der Pfarrer das Schriftstück aus seinem Buch, das der Bote ihm gegeben, und sagte: »Nun habe ich Euch noch eine Nachricht aus dem irdischen Leben zu bringen. Ich habe eben ein Schreiben aus Wolfenbüttel bekommen, daß der Herr Geheimrat Euerm Wunsch nachgegeben hat in Anbetracht Eurer treuen und guten Amtsführung und nach Euerm Ableben den hier anwesenden Kurt Pfeffer als Geschworenen in Eure Stelle einsetzt.«
Der Sterbende sah mit gespannten Augen hoch und lauschte den Worten. Nun sprach er; er sprach so leise, daß der Pfarrer sein Ohr an seinen Mund legen mußte. Er sagte: »Ich sterbe jetzt. Dann müssen die Kinder das Trauerjahr abwarten, ehe sie heiraten können. Aber das tut nicht gut. Das Mädchen ist allein in der Welt, und der junge Mann ist allein in der Welt. Deshalb sollt Ihr sie gleich jetzt an meinem Sterbebett trauen. Ich weiß, daß die beiden meine Erinnerung im Herzen tragen werden, auch wenn sie nun froh sind und ihre junge Ehe führen.«
Der Pfarrer richtete sich auf und sagte den beiden den Willen des Sterbenden. Die wurden rot. Der Sterbende drehte mühsam die beiden Trauringe vom Finger, welche er zur Erinnerung an seine verstorbene Frau getragen, der Pfarrer nahm sie ihm ab. Nun stellten sich die beiden vor dem Pfarrer auf, sie sahen zu Boden. Der Pfarrer sagte die Trauworte, er steckte jedem von den beiden einen Ring an den Finger und sagte: »Was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden.« Die beiden knieten vor dem Pfarrer nieder, und der sprach den Segen. Der Sterbende sprach ihn mit Lippen, welche schon blau wurden, unhörbar mit. In der Tür stand die Kölschen und weinte, sie trocknete sich die Tränen mit der Schürze.
Aber als die Segensworte zu Ende waren, da bewegten sich die Lippen des Sterbenden nicht mehr, Marie warf sich schluchzend über das Bett und rief: »Die Augen sind ihm gebrochen.« Der Pfarrer beugte sich vorsichtig vor und drückte ihm die Lider zu.
Die Kölschen lief laut schluchzend aus der Stube. Sie lief in die Küche, wo im Fenster in einem Blumentopf eine Myrte stand, welche Marie seit ihrer Einsegnung gepflegt hatte. Sie war zu einem Kranz gezogen. Mit bebenden Fingern schnitt die Kölschen die Myrte ab, dann kam sie wieder in das Zimmer zurück, wo Marie noch immer über dem Bett des Toten lag; sie legte ihr den Kranz auf das Haupt. Marie fühlte die Bewegung; sie ordnete mit zwei Fingern ihr Haar und rückte den Kranz an seine richtige Stelle.