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Während der Amtmann sofort einsah, daß Asbjörn Krag mit seiner Vermutung recht haben müsse – die Radfahrspuren redeten ja eine eindringliche Sprache – blieb der Polizeileutnant dabei, daß er der Dame keine solche Behendigkeit zutrauen könne. Als Krag ihn fragte, wo sie seiner Auffassung nach denn geblieben sei, deutete er geheimnisvoll und erschüttert an, daß sie vielleicht den Tod im Bach gesucht habe. »Lieber das,« sagte er. Da lachte Asbjörn Krag, aber er wurde gleich wieder ernst, als er die traurige Miene des Polizeileutnants sah. Dieser Mann liebte Frau Sonja wirklich.
Es zeigte sich, daß sie nicht vor zehn Uhr nach Helsingborg kommen konnten, und obgleich Krag sehr ungeduldig war, mußte man sich damit abfinden. In Söderköping klopfte der Amtmann die Bedienung des kleinen Hotels heraus, und die müden Reisenden nahmen ein stärkendes Frühstück. Darauf legte der Polizeileutnant sich ganz erschöpft zum Schlafen. Asbjörn Krag aber schien keine Müdigkeit zu kennen. Nachdem er sich von dem Amtmann verabschiedet und für seine liebenswürdige Hilfe gedankt hatte, setzte er sich hin und schrieb einige Briefe und Depeschen. Daß sämtliche Depeschen an dänische Polizeikollegen in Kopenhagen gerichtet waren, bewies, daß seine Arbeit am Schreibtisch den mystischen Flüchtling Frau Sonja Gade betraf. Als er fertig war, weckte er seinen Freund, und sie gingen zusammen zum Bahnhof. Um 12 Uhr waren sie in Helsingborg.
Bereits bei ihrer Ankunft dort, gleich am Bahnhof, setzte Asbjörn Krag seine Nachforschungen fort. Hier mußte er sich abermals über die Offenheit wundern, womit der Flüchtige die ganze Zeit zu Werke gegangen war. Auf seine Fragen sagte der Bahnhofsvorsteher aus, daß er am Morgen einen jungen Mann bemerkt habe, mit mädchenhaften Zügen, vollem, schwarzem Haar und einem Anzug, der ihn merkwürdig umschlotterte. Außerdem war dem Gepäckträger vorm Bahnhof derselbe junge Mensch aufgefallen, weil er eine Droschke zum Hotel nahm, obwohl das Hotel gleich um die Ecke lag, und er kein Gepäck hatte.
Wer sich am meisten über diese Aufschlüsse wunderte, war der Polizeileutnant. Also hatte Asbjörn Krag doch recht gehabt. Es war der schönen Frau geglückt, sich auf den Schnellzug zu schwingen, mit einer Behendigkeit, die er ihr nie zugetraut hätte. Und sie mußte auf den Zug gelangt sein, ohne daß jemand sie bemerkt hatte, sonst wäre sie sicher verhaftet worden. Darauf hatte sie sich in einen Wagenabteil begeben und beim Schaffner ein Billett gelöst, unter dem Vorwand, daß sie zu spät zum Bahnhof gekommen sei. Ganz unbehindert und in dem Glauben, daß sie ihre Verfolger auf eine falsche Spur gebracht habe, war sie dann in Helsingborg ausgestiegen und ins Hotel gegangen, ohne es für nötig zu halten, sich zu verbergen.
Von dem Augenblick, wo der Polizeileutnant alles dies einräumen mußte, widersprach er seinem Freund nicht mehr. Die Aufklärungen aber, die sie im Hotel bekamen, wo Frau Sonja eingekehrt war, setzten ihn noch mehr in Erstaunen.
Die Leute im Hotel bestätigten, daß vormittags ein junger Mann, gekommen sei, auf den die Beschreibung genau paßte. Man hatte ihm ein kleines Zimmer angewiesen, und da das Hotel eine Vorausbezahlung verlangte, weil der junge Mensch ohne Gepäck war und überhaupt verdächtig aussah, hatte er sich einen ziemlich hohen Geldschein wechseln lassen. Darauf hatte er sich nach dem nächsten Zug nach Christiania erkundigt und die Zeit in seinem Notizbuch aufgeschrieben. Bald danach war er in die Stadt gegangen, und als er zurückkam, trug er ein großes Paket unterm Arm. Dann blieb er eine Stunde auf seinem Zimmer Als er aber herauskam, trug er einen ganz anderen Anzug, einen viel eleganteren, der ihm besser saß.
Hier unterbrach Krag den Portier, indem er ihn um eine nähere Beschreibung des Anzugs hat, die er auch bekam.
»Und wo ist der junge Mann geblieben?« fragte Krag, nachdem er alles genau in sein Notizbuch eingetragen hatte. »Wohnt er hier noch im Hotel?«
»Nein,« antwortete der Portier, »er ist abgereist.«
»Wohin?«
»Ja, das ist eine merkwürdige Geschichte. Als er zum zweitenmal hier bei der Portierloge vorbeiging, übergab er mir einen Brief zur Aufbewahrung. Er trug eine kleine Tasche in der Hand. Ich fragte ihn, ob er abreisen wolle, aber er antwortete nur: ›Was geht das Sie an, habe ich nicht für mehrere Tage bezahlt?‹ Ich verbeugte mich nur und sagte: ›Wie Sie wünschen, mein Herr.‹ Als er aber aus der Tür war, gab ich einem meiner Laufjungen einen Wink, und von diesem Augenblick an folgte dem jungen Menschen ein Spion auf den Fersen. Im übrigen schien ihn die Möglichkeit, daß man ihn ausspionieren könne, ganz und gar nicht zu interessieren, denn er blickte sich nicht ein einziges Mal um. Er ging zum Bahnhof, und als der Zug nach Christiania kam, stieg er ein und fuhr ab. Das ist alles, was ich weiß.«
»Er hatte Zimmer Nr. 27, nicht wahr?« fragte Krag.
»Das stimmt. Aber woher wissen Sie das, mein Herr?«
Krag zeigte auf die Fremdentafel.
»Da steht ja noch der Name,« sagte er. »Iwan Repin, er ist Russe.«
Der Portier nickte.
Asbjörn Krag streckte die Hand aus.
»Den Brief,« sagte er. »Den Brief, den Iwan Repin hinterlassen hat. Er sollte dem Herrn oder den Herren, die nach ihm fragten, ausgeliefert werden, nicht wahr? Und hier sind wir. Also her mit dem Brief.«
»Es steht ein Name auf dem Kuvert,« antwortete der Portier.
Asbjörn Krag überlegte. Er war nicht ganz sicher, welcher Name es sein könnte.
Der Portier aber kam ihm unerwartet zu Hilfe.
»Ich höre, daß Sie Norweger sind,« sagte er.
Das gab Krag eine Idee.
»Ich werde Ihnen sagen, welcher Name auf dem Kuvert steht,« sagte er. »Da steht: Polizeileutnant Helmersen.«
Der Portier verbeugte sich.
»Sehr richtig,« sagte er, »hier ist der Brief.«
Asbjörn Krag steckte den Brief ein, obgleich der Polizeileutnant schon die Hand danach ausgestreckt hatte.
»Was sollen wir mit den Kleidungsstücken machen?« fragte der Portier.
»Welchen Kleidungsstücken?«
»Der junge Mann hat seine alten Sachen hier gelassen.«
»Bewahren Sie sie auf, bis er wiederkommt!«
Asbjörn Krag hatte es jetzt eilig. Er zog seinen Freund mit in das Café des Hotels. In einer stillen Ecke bestellten sie sich eine Erfrischung. Und dann öffnete er den Brief und reichte ihn dem Polizeileutnant. Dieser nahm ihn mit zitternden Händen. Es war Sonjas Handschrift.
Der Polizeileutnant las ihn erst stillschweigend, dann las er ihn Krag vor.
Es war ein seltsamer Brief.
»Lieber Freund,« schrieb sie, »Sie haben meinen Hund, meinen treuen Cora, getötet und mir einen großen Kummer bereitet. Warum wollen Sie nicht verstehen, daß ich allein sein möchte? Warum folgen Sie mir trotz Ihres Versprechens? Wenn Sie noch Freundschaft für mich fühlen, müssen Sie diese sinnlose und herzlose Verfolgung einstellen. Sie vergrößern nur meine Leiden, und ich leide schon so genug. Ich hinterlasse diesen Brief hier, weil ich annehme, daß, wenn Sie meinen früheren Aufenthalt ausfindig gemacht haben, Sie mir überall zu folgen imstande sind. Aber ich bitte Sie noch einmal: Lassen Sie mich in Ruhe, vielleicht werden Sie mich dann um so eher wiedersehen.
Ihre Freundin.«
Keine andere Unterschrift. Helmersen hatte Tränen in den Augen, als er fertig war. Krag sah ihn fragend an.
»Ich gebe es auf,« sagte der Polizeileutnant, »ich folge ihr nicht weiter.«
»Ich aber,« sagte Krag, »ich will diesem Rätsel auf den Grund kommen. Sie ist nach Christiania gereist. Sie müssen mich entschuldigen, lieber Freund, aber ich habe das Verlangen, diese interessante Dame kennen zu lernen.«
Als er sah, daß der Polizeileutnant Einwendungen machen wollte, unterbrach er ihn energisch.
»Es nützt Ihnen doch nichts,« sagte er, »ich gehe nicht von meinem Entschluß ab. Dieser Brief gilt nur Ihnen, nicht mir. Ich reise heute nachmittag nach Christiania. Versuchen Sie nicht, mich zu überreden, an meinem Entschluß ist nichts zu ändern.«
Als diese Worte in Helsingborg gewechselt wurden, saß ein Mann in einem Café in Kopenhagen. Dieser Mann sprach mit einer Dame.
Im Laufe des Gespräches sagte er zu der Dame:
»Ich reise heute abend nach Christiania.«
Dieser Mann war der Richtige.