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Außer dem auf so schreckliche Weise ums Leben gekommenen Anwalt wohnten nur drei Personen im Parlingehöfte: die Witwe, ferner Mary Mullin, die im Hause als Mädchen für alles tätig war, und schließlich der Mietsknecht Jonathan Oldbeg, ein Neffe der Frau Mullin. Oldbeg war etwa dreißig, seine Tante gegen vierzig Jahre alt. Das Zimmer der Witwe lag in der nordwestlichen Ecke des zweiten Stockwerks, Mary Mullin wohnte über der Küche und der Mietsknecht hatte seine Schlafkammer im Holzschuppen. Alle Fenster der drei Räume führten nach Norden mit Ausnahme von zweien in Mrs. Parlins Zimmer, die nach Westen gingen und einen Ausblick auf den Obstgarten und den Fluß gewährten.
Mrs. Parlin war eine große, auffallende Erscheinung, die ihren von weißem Haar gekrönten Kopf in einer Haltung trug, welche einige »königlich«, andere »eingebildet« nannten. Der Tod ihres Gatten war für ihren hochfliegenden Ehrgeiz ein schwerer Schlag gewesen, aber sie hatte ihn – wenigstens dem äußeren Anschein nach – zu überwinden vermocht. Der schlummernde mütterliche Instinkt, der jedem wahren Weibe eigen ist, war in ihr, der Kinder- und Gattenlosen, durch Wings beständige Besorgtheit um sie wachgerufen worden, und Wing stand ihr an Jahren genügend nach, um diesem Scheinverhältnis zwischen Mutter und Sohn die natürliche Vorbedingung zu verleihen. Aber auch in ihrem Gefühl für den alten Richter hatte etwas von jener Mütterlichkeit gelegen, die selbst der Schwächsten Mut zur Verteidigung gibt. Richter Parlin nämlich war nicht allein in Hinsicht auf seine Geldgeschäfte wie ein großer Junge gewesen; er hatte ein zu wenig entwickeltes Furchtgefühl besessen, um je zu Vorsichtsmaßregeln Veranlassung zu nehmen. Sich peinlich an seine Pflicht haltend, dachte er keinen Augenblick lang an die Feinde und Zwistigkeiten, die er sich schuf, während sie in diesen nicht nur Hindernisse für seine Laufbahn, sondern auch Gefahren persönlicher Natur erblickte. Aber selbst trotz ihrer beständigen Wachsamkeit war sie nicht imstande gewesen, ihn vor seinen Feinden, die seinen Bestrebungen entgegenarbeiteten und ihn vollends zu vernichten trachteten, zu bewahren. Und nachdem sich nun ihre tiefe Wehmut mit der Zeit gelegt hatte, übertrug sie die Sorge, die sie um die Laufbahn ihres Mannes getragen, auf Wing. Sie wurde liebenswürdiger und umgänglicher und zeigte auch für die Stadt ein freundliches Interesse, was man zu Lebzeiten des Richters an ihr nicht bemerkt hatte.
In diesen wiederhergestellten Seelenfrieden schlug der tragische Tod Wings mit zermalmender Kraft hinein; mit welcher Schwere er sie traf, das wurde von manchen erst dann erfaßt, als sie die gänzlich gebrochene Witwe des alten Richters sahen. Sie erschien um viele Jahre gealtert, und manche glaubten zu bemerken, daß dieses Unglück sie noch mehr erschütterte als vor Jahren der Tod ihres Mannes. Damals war ihr die Verantwortung für den guten Namen des Richters zugefallen, und Hand in Hand mit seinem Teilhaber und Freunde hatte sie diese Aufgabe erfüllen können. Wings Tod nahm ihr die letzte Stütze ihres Alters fort. Ohne Gatten und Kind hatte das Leben keinen Wert mehr für sie, und während die Menge in der Stadt davon flüsterte, wie reich sie nun wieder geworden sei – denn es war bekannt, daß das Testament des verstorbenen Advokaten sie zur Haupterbin bestimmte – saß sie einsam in ihrem großen Hause und blickte der Zukunft mit einer Scheu entgegen, die jede Hoffnung zunichte machte.
Ihre Zeugenaussage war nur kurz. Sie hatte Wing um halb zehn Uhr abends gute Nacht gewünscht, und zwar war sie eigens zu diesem Zweck in die Bibliothek gegangen, wie sie es immer des Abends tat, wenn er nicht bis zur Schlafenszeit in ihrem Wohnzimmer verweilte.
»War es denn seine Gewohnheit, den Abend in Ihrem Wohnzimmer oder in der Bibliothek zu verbringen?« fragte der Coroner.
»An zwei oder drei Abenden in der Woche pflegte er in meinem Wohnzimmer zu sein; die andern Abende brachte er in der Bibliothek zu, wenn er zu Hause war.«
»War er des Abends häufig auswärts?«
»Nur, wenn er am Gerichte zu Augusta oder Portland zu tun hatte. Von Sitzungen in Norridgewock kehrte er immer noch des Abends zurück.«
»Um wieviel Uhr wird bei Ihnen zu Abend gespeist?«
»Um sechs.«
»War es am Tage des Mordes auch so?«
Die Witwe nickte, zu aufgeregt, um ihre Antwort sprechen zu können.
»Wer war beim Abendessen zugegen?«
»Theodor und ich.«
»Mary Mullin und Oldbeg essen nicht gemeinsam mit Ihnen?«
Dies war ein heikler Punkt im Haushalt der Witwe Parlin; denn im ganzen Städtchen hielt man es allgemein für Christenpflicht, mit seinen Angestellten an demselben Tische zu essen, und jede Abweichung von dieser Regel wurde arg bekrittelt.
»Nein,« sagte Mrs. Parlin, »sie essen für sich in der Küche.« Und dabei erhob sie schwach den Kopf, aber es war nur ein Schatten des alten Stolzes darin zu bemerken.
»Begaben Sie sich nach dem Abendessen direkt in Ihr Wohnzimmer?«
»Nein, zunächst gingen wir nach dem Vorderhof hinaus, um nach den Blumen zu sehen, dann begaben wir uns über die Landstraße nach dem Obstgarten und gingen schließlich bis zum Flußufer hinunter.«
»Und von dort kehrten Sie direkt nach Hause zurück?«
»Ja.«
»Und wohin gingen Sie dann, als Sie zurückgekehrt waren?«
»Nach meinem Wohnzimmer. Mr. Wing zündete meine Lampe an und entfernte sich mit der Entschuldigung, daß er noch einige Arbeiten zu erledigen habe.«
»Und wann sahen Sie ihn wieder?«
»Um halb zehn, als ich hinaufging, um ihm gute Nacht zu wünschen.«
»Sind Sie gewiß, daß es gerade um diese Zeit war?«
»Ja, denn als ich durch die Halle schritt, blieb ich vor der Uhr stehen, um sie aufzuziehen, und da bemerkte ich, daß es genau halb zehn war.«
»Zur Bibliothek führen zwei Türen, nicht wahr – eine von der Haupthalle und eine von der Seitenhalle her?«
»Ja.«
»Durch welche Türe traten Sie ein?«
»Durch die von der Seitenhalle her.«
»Welche neben der Seitentüre des Hauses liegt?«
Wieder nickte sie zustimmend – denn dieses war die Türe, durch die Wing seinem Tod entgegengegangen war.
»Klopften Sie an, bevor Sie eintraten?«
»Das tat ich immer.« Und ihr Kopf richtete sich wieder wie in schwachem Stolz in die Höhe.
»Öffnete er Ihnen die Tür?«
»Freilich. Meine Art zu klopfen war ihm schon bekannt.«
»Bemerkten Sie irgend etwas Besonderes an ihm oder vielleicht in seinem Zimmer?«
»Nein.«
»Konnten Sie, als Sie anklopften, aus irgend einem Umstand entnehmen, ob er las oder schrieb?«
»Er hatte ein Buch in der Hand, als ich eintrat, und das Licht stand neben seinem Lesestuhl auf einem kleinen Tisch.«
»An welcher Stelle des Zimmers standen dieser Lesestuhl und der kleine Tisch?«
»Vor dem Kamin.«
»War denn Feuer im Kamin?«
»O ja; freilich nur ein paar Holzkohlen.«
»War es denn kalt an jenem Abend?«
»Nein, das nicht, aber er hatte sehr gern ein Holzfeuer im Kamin, und wenn der Abend nicht gar zu warm war, ließ er eines anzünden, selbst wenn er deswegen das Fenster offen lassen mußte.«
»Stand das Fenster an jenem Abend offen?«
»Ja, das Fenster, das nach dem Fluß hinausführt und den Fahrweg überblicken läßt.«
»Liegt dieses Fenster dem Pulte am nächsten von allen?«
»Von den nach Süden gehenden Fenstern, ja. Das Pult selbst stand zwischen den beiden nach Westen führenden Fenstern.«
»Bemerkten Sie, ob die Vorhänge herabgelassen waren?«
»Die der westlichen Fenster waren geschlossen, die der südlichen dagegen waren aufgezogen.«
»Hielten Sie sich lange in dem Zimmer auf?«
»Nicht länger, als nötig war, um ihm gute Nacht zu wünschen und ihn zu ermahnen, nicht zu lange zu lesen.«
»Und was erwiderte er darauf?«
»Er lachte – wie gewöhnlich, wenn ich von seinem langen Aufbleiben sprach, und sagte dann noch: ‹ Sie wissen ja, daß ich über meine schlechten Angewohnheiten nicht hinwegkomme, aber heute abend will ich wirklich bloß noch ein oder zwei Kapitel lesen, denn ich habe noch einen Brief zu schreiben und muß früh zu Bett, da morgen ein geschäftiger Tag sein wird.›«
»War das alles, was er sagte?«
»Außer ‹ Gute Nacht› ja.«
»Bemerkten Sie irgend etwas an seinen Bewegungen, seinen Worten oder an dem Ton, in dem er sprach, das auf Erregung oder sonstige ungewöhnliche Empfindungen schließen ließ?«
»Nichts. Er war wie immer fröhlich und anscheinend vergnügt und lachte ganz sorglos, als er von seinen schlechten Angewohnheiten sprach.«
»Wann sahen Sie ihn dann zum nächsten Male?«
Diese Frage kam so plötzlich, daß jeder, der sie hörte – auch die Witwe – erstarrte. Sie wurde weiß und schwankte einen Augenblick lang, als ob sie fallen wolle. Doktor Rogers, ihr Arzt, trat auf sie zu, doch ehe er ihr zur Seite stand, hatte sie sich bereits mit äußerster Willenskraft aufgerafft und erwiderte mit erhobenem Haupt: »Am nächsten Morgen, kurz nach sechs, als er tot auf der Schwelle der Seitentüre lag.«
Dann aber war ihre Fassungskraft zu Ende, ihr Kopf fiel auf den vor ihr stehenden Tisch herab, und ihr Gesicht wurde den Blicken der neugierigen Menge entzogen. Aber kein Schluchzen war zu vernehmen, sie hatte ihre Tränen schon vorher vergossen.
Beim nächsten Verhör sagte sie aus, daß sie kein ungewöhnliches Geräusch in jener Nacht vernommen hatte. Sie habe einen gesunden Schlaf und sei nicht leicht zu wecken. An jenem Abend sei sie gleich, nachdem sie die Uhr hatte zehn schlagen hören, in Schlaf gefallen und nicht eher erwacht, als bis Mary Mullin kurz nach sechs Uhr morgens an ihre Tür geklopft habe, um ihr die Entdeckung des Mordes zu melden.
»Glauben Sie, daß eine Pistole an der Seitentür Ihres Hauses abgefeuert werden konnte, ohne daß Sie davon etwas hörten?« fragte der Coroner mit jener plötzlichen Schärfe, die ihm zuweilen eigen war.
»Ich muß es wohl glauben; denn so ist es ja geschehen,« war ihre Antwort, und mehr als einer der Zuschauer glaubte Trotz darin zu vernehmen.
»Hätten Sie es aber vorher für möglich gehalten?«
Sie schaute ihn nachdenklich an, als erwäge sie die Frage und ihren Zweck.
»Nein,« sagte sie dann frei.
Die Antwort stimmte offenbar mit der Ansicht der Zuschauer überein, von denen einige durchaus nicht freundliche Blicke auf die Witwe warfen. Aber der Coroner fuhr fort: »Mrs. Parlin, was ist Ihnen über die Herkunft des verstorbenen Theodor Wing bekannt?«
Jeder Kopf war der Witwe zugewandt, wie um die Antwort, die sie auf diese Frage geben mußte, zuerst zu vernehmen. Denn selbst der größte Dummkopf war sich bewußt, daß diese Frage die wichtigste von allen bisherigen war. Die Witwe wurde bleich – noch bleicher als zuvor – und ihre Haltung bekundete einen mehr fühlbaren als ersichtlichen Trotz. Sie wappnete sich anscheinend gegen den Coroner und das Publikum.
»Er war der Sohn des Richters Parlin.«
Wäre ihr daran gelegen gewesen, Sensation zu erwecken, so hätte sie sich keinen größeren Erfolg wünschen können. Ein Gemurmel der Überraschung lief durch den Raum, und die Aufregung der Menge erreichte eine Höhe, daß sich der Coroner eine Zeitlang vergeblich bemühte, die Ordnung aufrecht zu erhalten. Aber die Begierde, weitere Fragen und Antworten zu vernehmen, kam ihm zu Hilfe, und die Stille wurde wieder hergestellt.
»Aus einer früheren Heirat?«
»Nein. Er war ein uneheliches Kind.«
»Wann haben Sie das zum ersten Male erfahren?«
»Am elften dieses Monats.«
»Also am Tage nach dem Morde?«
»Ja.«
»Wie erfuhren Sie es denn?«
»Aus einem Schriftstück, von der Hand des Richters geschrieben, das ich in Theodors Pult vorfand. Die Aufschrift des Umschlages lautete: »An Mrs. Amelia Parlin und Mr. Theodor Wing, im Falle des Todes eines von beiden von dem Überlebenden zu öffnen und zu lesen; solange verschlossen aufzubewahren.«
»War dieses auch von der Hand des Richters geschrieben?«
Es fiel einigen auf, daß sie stets »Richter Parlin« statt »mein verstorbener Mann« sagte, gerade als wolle sie den Anwesenden ihre Verwandtschaft mit dem geachteten Manne vor Augen halten.
»Ja,« bestätigte sie die Frage.
»Zeigen Sie mir das Schriftstück, bitte.«
Die Witwe zog einen großen, viereckigen Umschlag hervor und reichte ihn dem Coroner, der, zum Gerichtshof gewandt, bemerkte: »Ich bedaure, daß ich gezwungen bin, Ihnen ein Schriftstück vorzulesen, dessen Kenntnisnahme offenbar nur für eine Person bestimmt gewesen ist: für Mrs. Parlin oder Mr. Wing, je nachdem, welcher von beiden den andern überleben würde. Die Umstände aber, unter denen Mr. Wing seinen Tod fand, lassen eine Änderung zu, sie zwingen uns sogar, von der Urkunde Kenntnis zu nehmen. Bevor ich aber mit Vorlesen beginne, möchte ich bemerken, daß ich ein Mitbürger des Richters Parlin gewesen bin. Ich hatte die Ehre, ihn näher zu kennen, und das betrachte ich – ungeachtet dessen, was ich Ihnen vorlesen werde – noch jetzt als eine Ehre. Er war ein vortrefflicher Rechtsgelehrter, ein gerechter Richter, ein guter Bürger und, ich darf hinzufügen, ein edler Mann. Wenn er gesündigt hat, – wer von uns ist ohne Sünde? Er werfe den ersten Stein auf ihn. Ich bin nicht berechtigt dazu.«
Die Witwe saß mit hocherhobenem Kopfe da, als ob sie die alte Kraft, die so viele für geschwunden hielten, zurückerhalten hätte. Wenn ihr Gatte in Frage kam, kannte ihr Mut keine Grenzen. Sie wich keinem Auge aus, das auf sie gerichtet war, im Gegenteil, sogar die gütigen Worte des Coroners strafte sie mit ihrem Blick; sie schien gesonnen, keinen Augenblick lang zu dulden, daß man über die Vergangenheit ihres Mannes etwas Falsches andeutete. Nicht dieser Menschen Sache war es, ihn anzuklagen – und ebensowenig, ihn zu entschuldigen. Was er getan hatte, ging allein ihn und Gott etwas an, und ihr Blick sagte deutlicher, als Worte es vermocht hätten: »Auch ich klage ihn nicht an.«
Inzwischen las der Coroner vor: »Ursprünglich hatten drei Personen das Recht, von dem, was ich hier schreibe, Kenntnis zu erhalten. Die eine von den dreien ist vor vielen Jahren gestorben, und ehe die zweite stirbt, sollen diese Worte nicht gelesen werden. Dem Lauf der Natur entsprechend ist wohl anzunehmen, daß das Lesen dieser Urkunde Theodor, nicht meinem Weibe zufallen wird. Und für diesen Fall glaube ich, daß wenn Theodor dieses liest, ich mit meinem Weibe wieder vereinigt sein und ihr alles selbst erzählt haben werde – so erzählt, daß sie meine Treue zu ihr deutlicher empfinden mag, als geschriebene Worte auszudrücken vermögen.
Obwohl in Millbank geboren und aufgewachsen, wurde ich zum Studium des Rechts nach Bangor in das Bureau des Richters Murdock gesandt. Mein Vater hegte große Bewunderung für die Justiz und bat den ihm befreundeten Richter, mich in sein Bureau aufzunehmen. Und wenn ich es in meinem Beruf recht weit gebracht habe, so verdanke ich dies zum großen Teil nur der Treue, mit der Richter Murdock das Vertrauen meines Vaters rechtfertigte.
Während ich noch in seinem Bureau arbeitete und kurz vor meiner Rückreise nach Millbank, geriet ich in nahe Beziehungen zu einer jungen Bangorer Dame, die durch mich die Mutter des Mannes wurde, der jetzt als Theodor Wing bekannt ist. Unglücklicherweise kann ich nur wenig zu ihren Gunsten sagen, doch weise ich meinen Teil an der Verantwortung für das geschehene Unrecht nicht zurück. Aber Gott weiß, daß für den Fehltritt, den sie damals tat, nicht mich allein ein Tadel trifft. Soviel ich weiß, war und ist sie ein Weib von vortrefflichem Verstande und bedeutenden Mitteln, die ihr im Leben noch weit fortgeholfen haben.
Glücklicherweise hatte ich keinen Mangel an Geldmitteln, und war somit imstande, sie und ihr Kind reichlich zu versorgen. Meinem Gerechtigkeitsgefühl folgend, bot ich ihr wohl die Heirat an, allein sie machte zur Bedingung, daß ihr Kind in einem Institut untergebracht werden solle, da es sonst für alle Zeiten wie ein Schandfleck auf uns lasten würde. Dieser Forderung vermochte ich nicht beizustimmen, und ihr Entschluß, auf die eheliche Rechtfertigung zu verzichten, veranlaßte mich, auf der Hut zu sein; ich konnte mir nicht denken, daß ein Weib von ihrem Temperament es freiwillig auf sich nehmen werde, mit einem vaterlosen Kinde durchs Leben zu gehen. Und die folgenden Ereignisse gaben mir recht: innerhalb dreier Monate hatte sie das Kind in einem Säuglingsinstitut untergebracht und war unter einem glaubhaften Vorwand nach Bangor zurückgekehrt.
Natürlich rechnete sie dabei auf meine Verschwiegenheit, allein ich zögerte nicht, hierfür die Bedingung zu stellen, daß das Kind von nun an ausschließlich mir gehören sollte, damit ich für es sorgen und ihm später zu einer Stellung in der Welt verhelfen könnte, die der seiner Eltern ebenbürtig war. Meine Ehe ist nicht mit Kindern gesegnet gewesen, und so fällt allein ihm und meinem Weibe, den beiden auf der Welt, deren Ansprüche an mich heilig sind, einst alles zu, was ich im Leben gesammelt habe.
Theodor hat zu mir ganz wie ein Sohn gestanden. Mag diese Erzählung, wenn er sie liest, ihm eine Erklärung für manches sein, worin ich schlechter als ein Vater gegen ihn gehandelt habe.
Ich finde keinen Grund, mit dieser Beichte fortzufahren, es sei denn, um meinem Sohn die Möglichkeit, einiges mehr über seine Mutter zu erfahren, zu bieten und meiner Gattin die beruhigende Gewißheit zu gewähren, daß mein Fehltritt jene Frau nicht in Elend und weltlichen Ruin gebracht hat. Ein Jahr, nachdem sie meinen Sohn verlassen, wohnte ich ihrer Hochzeit mit einem Manne bei, der durchaus ebenbürtigen Ranges war und später noch zu Reichtum und politischer Machtstellung gelangte. Sie ist ihm hierbei eine beträchtliche Hilfe gewesen, und ihr Name wird in Verbindung mit seinem Schicksal beinahe ebenso häufig genannt wie sein eigener. Ihre Kinder haben alle eine bedeutende Stellung im sozialen Leben erreicht, und einige von ihnen scheinen sowohl den vortrefflichen Verstand und die unentwegte Energie ihrer Mutter als auch ihres Vaters Begabung, zu Geld- und Machtmitteln zu gelangen, geerbt zu haben. Hierüber mehr zu sagen, als diese Mitteilungen enthalten, das würde sogar den beiden Lieben gegenüber, von denen nur einer diese Zeilen liest, ein Unrecht gegen die Frau und ihre Kinder bilden. Ihrem Einfluß gegen mich schreibe ich es zu, daß es mir nicht gelang, die Stelle eines Grafschaftsrichters zu erhalten. Aber wie groß auch meine Enttäuschung hierüber war, ich vermag heute von dieser Tatsache ohne Bitterkeit gegen sie zu sprechen und ohne die Absicht, sie eines begangenen Unrechts zu zeihen. Wenn ich dadurch, daß ich die Strafe für meine Sünde auf mich nehme, sie von andern abwenden kann, so bin ich zufrieden.«
Jeder, der nicht das stark ausgeprägte Gefühl dieses Mannes für Recht und Unrecht gekannt hatte, mußte außerstande sein, die Gefühlsstrenge des Richters, die aus diesem anscheinend kalten und sachlichen Bericht des Tatbestandes sprach, zu erfassen. Der Zeugin auf der Zeugenbank dagegen klangen diese Worte, als ob der Tote sie selbst gesprochen und ihr sein Herz bloßgelegt habe. Und indem sie sich die Bitterkeit, in der er diese Worte geschrieben, vergegenwärtigte, wurde sie aufs neue von jenem längst erstorbenen Instinkt des Schutzes beseelt, der ihre Schwachheit vorzeiten befähigt hatte, einen Schild für seine strenge Geradheit zu bilden; hoch hielt sie ihren Kopf, zu stolz auf ihren Toten, um jemand vermuten zu lassen, daß sie auch nur den leisesten Tadel gegen diesen starken Geist ausspräche, dessen Worte nur sie allein bis zu ihrer letzten Bedeutung zu verstehen vermochte.
Die Stille, die der Verlesung folgte, bewies deutlich die tiefe Bewegung, die alle ergriffen hatte. Und hart klang die Stimme des Coroners, bevor sich die Menge von ihrer Ergriffenheit erholt hatte, in das allgemeine Schweigen hinein.
»Wann erfuhren Sie zum ersten Male von der Existenz dieser Urkunde?«
»Der Urkunde selbst am elften. Aber den Umschlag und dessen Aufschrift bekam ich schon vor einer Woche oder zehn Tagen zufällig zu Gesicht.«
»Können Sie nicht den genauen Tag angeben?«
»Nein. Ich bemerkte den Umschlag, wie ich schon sagte, nur zufällig, und ich nahm an, daß er eine Bestimmung des Richters Parlin enthielt, die dieser für einen der erwähnten Fälle getroffen hatte. Fragen sind mir deswegen nicht in den Sinn gekommen.«
»Wollen Sie unter Ihrem Eide erklären, daß Sie von dem Inhalt dieser Urkunde nicht früher etwas gewußt haben als nach dem Tode des Mr. Theodor Wing?«
Sie hob ihren weißen Kopf empor und erwiderte in scharfem verweisendem Tone: »Ich stand bereits unter dem Eide, als ich mein Zeugnis ablegte, und ich erklärte damals, daß ich dieses Schriftstück und seinen Inhalt erst am elften Mai kennen gelernt habe. Dem vermag ich nichts hinzuzufügen.«
»Haben Sie jemals vor dem elften dieses Monats eine solche Verwandtschaft Ihres Gatten mit Mr. Wing vermutet?«
»Nein – nie.«
»Wenn Sie diese Verwandtschaft noch zu Wings Lebzeiten gekannt hätten, würde dadurch in Ihren Gefühlen für Mr. Wing eine Änderung eingetreten sein?«
Die Witwe zögerte mit der Antwort, als ob sie erst ihr Herz befragen wolle, und der Coroner wartete geduldig – augenscheinlich mitverstehend. Stille herrschte in dem Raum wie vorhin nach Verlesung der Urkunde. Dann richtete Mrs. Parlin ihren Blick gerade auf den Coroner, und frei und ohne Zittern kam ihre Antwort: »Ich glaube – ja.«
»Danke,« sagte der Coroner. »Sollte ich Ihnen bei diesem Verhör unnötige Pein verursacht haben, so spreche ich darüber mein Bedauern aus. Aber ich weiß, Sie werden mir glauben, daß ich nur bestrebt gewesen bin, meine Pflicht zu erfüllen.«
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