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An einem Donnerstagmorgen, vierzehn Tage nach dem Gewitter, während Paulke den Hund das Rad der Buttermaschine treiben ließ, befand sich Annemie in der Milchkammer, die etwas tiefer lag als die Küche, und überwachte mit einer selbstsüchtigen Befriedigung den Fortgang der Arbeit. Die Stößer bewegten sich in der Maschine, die mit schneeweißem Leinen ausgeschlagen war. Daneben stand eine Reihe brauner, irdener Gefäße, die bis zum Rand mit Rahm gefüllt waren, blond wie die Halme im August. Kees war fortgegangen, um das Feld von Ylwaal bei der Schelde zu pflügen. Man hörte die grelle Stimme Paulkes, die den Hund antrieb, und das schnarrende Geräusch der Maschine. Ein säuerlicher Geruch von Buttermilch erfüllte das Zimmer.
Die Klinke der Tür bewegte sich. Annemie wandte sich um, und in der halbgeöffneten Tür bemerkte sie den schmalen Kopf ihres Bruders Wannes Andries.
»Guten Morgen, kleine Schwester! Morgen ist Markt, und ich komme schauen, ob du einen Auftrag hast. Ist noch alles beim alten?«
Ohne auf eine Antwort zu warten, stieg er die drei Stufen hinunter. Er war ein großer Kerl – zwölf Jahre älter als seine Schwester – mit glattem Gesicht und langen Beinen. Was aber in seiner Physiognomie, die fast ganz im Profil war, besonders auffiel, waren kleine, grüne Augen, eine stark gebogene Nase, ein froschartiger Mund, der fast bis an die ungeheuren Ohren reichte und wegen eines schwarzen Überzahns beständig zu lachen schien. Dieses stand in einem sonderbaren Kontrast zur würdevollen Wichtigkeit seiner Reden. Beim Gehen schwenkte er seine langen mageren Arme, die aus den zu kurzen Ärmeln hervorkamen. Seine Lastinghose schien um seine Heuschreckenbeine gewunden zu sein, und das breite, geflickte Hinterteil seiner Hose glich einer herabhängenden Kapuze, und deshalb sagten die jungen Burschen: ›Das Haus von Sessa Milledieux ist leer; die Leute sind zur Kirche.‹ Man nannte ihn Sessa wegen der Redensart ›C'est ça‹, ›So ist's!‹, und dem Fluchwort ›Milledieux‹, ›Potztausend‹, die ihm noch von seiner Zeit im Grenadierregiment anhingen.
Wannes war von seiner Schwester mehr gefürchtet als geachtet. Sie mochte den Schlaukopf nicht leiden, aber sie wagte es nicht, sich seinem Joch zu entziehen. Bloß in einem Punkt hatte sie ihm den Kopf gezeigt, als er nämlich beim Tode Cramps sich auf dem Hof niederlassen wollte, um dessen Leitung zu übernehmen. Die Witwe sah wohl ein, daß sie, wenn sie diesen Vorschlag annähme, vollständig abdanken würde, und deshalb nahm sie all ihren Mut zusammen, um ihm das förmlich zu verweigern. Wannes schien seither auf seine Idee verzichtet zu haben, aber in Wirklichkeit hielt er mehr als je darauf und wartete bloß auf eine günstigere Gelegenheit.
Als er in die Milchkammer hinabstieg, bückte er ein wenig den Kopf, auf dem er eine über die Ohren hängende Mütze trug, um nicht an der Decke anzustoßen. Er ergriff einen hölzernen Löffel, und ohne auf eine Einladung zu warten und ohne auf die ärgerliche Miene seiner Schwester zu achten, nahm er eine dünne Schicht Butter und strich sie langsam über seine Zunge.
»Ei, was das 'ne gute Butter ist, die ist ausgezeichnet. Und was gibt's sonst Neues? Doch keinen Verdruß? Und wie steht's mit der Ernte?«
»Gott sei Dank, wir brauchen nur noch den Roggen und das Grummet hereinzubringen ... Doch gehen wir einen Augenblick hinauf«, sagte sie, als er sich ein zweites Mal über den Buttertopf hermachen wollte, »dann kannst du eine Tasse warmen Kaffee trinken.«
»Ich sage nicht nein, aber ich habe nicht viel Zeit. Du weißt, ich hab's immer eilig, bin immer auf den Beinen. Ich gehe nach Stabroeck Runkelrüben aufladen. Der Karren und das Pferd von Nard Lips warten auf mich, ganz nahe hier beim Hof. Ich wollte nicht vorbeigehen, ohne zu sehen, was es Neues gibt.«
»Dann setz dich doch ein wenig«, sagte sie, als sie in das große Zimmer getreten waren. »Und wie geht's zu Hause, Wannes?«
»Ach, sprich mir nicht davon. Es ist immer dasselbe saure Leben. Was hast du es doch gut getroffen, Annemie, was bist du ein Glückskind! He, hatte ich dir nicht gut geraten? Der alte Nelis Cramp – Gott habe ihn selig –, der hatte wohl Geld wie Heu, wie?«
Als sie ihm den Kaffee einschenkte und Butter auf ein Stück Brot strich, fuhr er fort: »Jetzt denke ich gerade daran. Hast du noch immer deinen ersten Knecht?«
»Kees? Jawohl! Weshalb sollte ich ihn auch nicht behalten? Ich würde schwerlich einen anderen finden, der ihm gleichkäme«, antwortete sie, nicht ohne ein wenig zu erröten, denn die Frage hatte sie überrascht.
»Das ist wahr! So ist's! Aber ein Knecht läßt sich doch immerhin ersetzen. Es gibt auch noch andere Findelkinder und Bastarde. Aber was ich sagen will, ist bloß wegen seines Alters; er scheint mir noch sehr jung zu sein, um ein Gut wie dieses zu leiten. Hast du denn auch noch Zutrauen zu ihm?«
»Nun ja, gerade soviel wie früher. Aber weshalb fragst du denn so etwas?« murmelte Annemie vor sich hin, die ungeduldig wurde und stehenblieb, damit er gehen sollte.
Der ungeladene Gast hatte es jedoch nicht eilig. Der Kaffee war gut, er schenkte sich noch eine Tasse ein, und da sie ihn nicht mehr nötigte, schnitt er sich einen zweiten Runken Brot ab, über den er noch von der guten Butter strich. Er trank und kaute langsam und wohlgefällig.
»He, he, weshalb diese Fragen? sagst du, liebes Schwesterchen. Ganz einfach, weil ich dir wohlwill. Du bist noch jung, sehr jung, da muß man achtgeben. Ja, soll ich dir's heraussagen, potztausend!«
Er stand auf und ging bis zur Tür – mit seinen Stelzen brauchte er nur drei Schritte zu tun –, steckte seinen spitzen Kopf in die Küche hinein, um sich zu vergewissern, daß niemand dort lauschte, und dann setzte er sich wieder, um weiterzuessen.
»Es schickt sich nicht, daß dieser hübsche Schwarzkopf mit einer frischen Herrin, wie du eine bist, zusammenwohnt«, erklärte er kaltblütig, nachdem er einen Mundvoll hinuntergeschluckt hatte, und dann lehnte er sich rückwärts, und mit seinen durchdringenden Augen suchte er auf dem Gesicht seiner Schwester zu lesen.
Annemie lachte laut auf, um ihm ihre Verlegenheit nicht zu zeigen.
»Das ist wieder eine von deinen verrückten Ideen, mein armer Wannes«, sagte sie. »Man hat wohl recht, wenn man dich den Mißtrauischen nennt. Ich sehe schon, was du mir sagen willst. Ich brauchte einen anderen Mann hier, so einen wie du, nicht wahr?«
»Annemie, Annemie! zweifle nicht an der Gescheitheit deines älteren Bruders. Seit dem Tode Meister Cramps ist die Stellung dieses Kees Doorik nicht mehr haltbar unter diesem Dach. Ich will mich nicht in Sachen mischen, die mich nichts angehen – Gott bewahr mich davor! Du bist deine freie Herrin geblieben, mach wie du willst. Aber ich würde an deiner Stelle einen anderen Knecht suchen.«
»Ich sag dir noch einmal, Wannes, ich weiß nicht, was du willst«, stammelte die Witwe, der der ernste Ton des Predigers aufgefallen war. Sie setzte sich vor ihn, denn ihre Beine schwankten, und ihr Herz schlug schneller. Sie suchte sich jedoch zu wehren.
»Mein seliger Mann, den du immer einen schlauen Kopf genannt hast, verstand auch etwas von den Dienstboten, und er hat mir diesen armen Teufel mehr als einmal empfohlen, da er das kostbarste Werkzeug seines Gutes sei.«
»Oh, ich leugne das nicht. Aber sein junges Alter gefällt mir nicht recht. Könntest du nicht einen älteren Knecht dingen? Da hat man mir erst neulich zu Wilmersdonk von Sus Bellemans, einem ordentlichen, fleißigen Kerl, gesprochen ...«
»Wie? Von diesem häßlichen Buckligen mit den roten Augen?«
»Nun ja, von ihm, den die schwangeren Frauen so sehr fürchten; aber ich denke, du gehörst doch nicht zu denen ...«
Er lächelte spöttisch und hielt einen Augenblick inne, um sich selbst über seinen Witz zu freuen; dann atmete er wieder auf, als wenn er dem Folgenden mehr Wichtigkeit beilegen wollte, und seine Augen, die sonst kalt und gleichgültig waren, erglänzten wie in einer dunklen Flamme.
»Wenigstens«, fügte er langsam hinzu, indem er bei jedem Wort mit dem Stiel seines Messers auf den Tisch klopfte, »wenigstens würde der Aufenthalt eines solchen Scheusals hier auf dem Hof den Verdacht der Leute ablenken. Verstehst du das?«
»Der Leute? Welcher Leute? Glaubst du, ich sollte mich durch ihr Geschwätz bestimmen lassen? Ich sehe schon, wie es damit steht. Du hast dich von diesen Neidhälsen aus Dinghelaar beschwatzen lassen, von jenen Faulenzern, die vor Ärger bersten, weil sie sehen, daß auf dem Weißhof alles gut vorwärts geht. Wenn man mir Kees wegnehmen will, so ist es bloß, weil man weiß, wie nützlich er mir ist.«
»Und deshalb sagt man sogar, du wolltest ihn heiraten, um sicher zu sein, daß dieser musterhafte Bauer dich nie verlassen werde.«
Die Witwe senkte den Kopf. Ein heftiger Kampf ging in ihr vor. Sie dachte, sie könnte ja reden, alles offen bekennen und ihrem Bruder wie dem ganzen Dorf die Stirn bieten, indem sie ihre Neigung eingestehen würde. Aber liebte sie den treuen Jungen wirklich so sehr, um ihm zuliebe sogar ihre Vorurteile aufzuopfern? Sie erinnerte sich an all die Hingebung, die Kees seit so vielen Jahren gezeigt hatte, an seine immer untertänige Haltung, seine Uneigennützigkeit, in der eine Liebe sich verbarg, wie sie gewiß keinem anderen mehr eine solche einflößen würde. Nur einmal war diese platonische Zärtlichkeit beinahe umgeschlagen, aber damals war Annemie ja selbst fast auf dem Punkt, sich zu vergessen.
Der Potztausend suchte auf dem Gesicht seiner Schwester zu erraten, was in ihr vorging. Jetzt war er ärgerlich darüber, daß sie hübsch und munter war. Wäre sie alt und häßlich gewesen, so hätte sie sich in den Witwenstand ergeben und hätte wenigstens nicht so leicht einen Mann angezogen.
Er fuhr fort: »Man sagt noch mehr, man behauptet sogar, du hättest dich schon lange in diesen Sonderling verliebt. Ich glaube wohl, daß er selbst diese Gemeinheiten im Dorf herumerzählt. Er hofft so, deine Hand leichter zu gewinnen ... Meisterin Doorik! nein, das wäre zu komisch. Bedenke doch, er hat nicht einmal einen Namen ... Sag nur, Annemie, gelt, es ist nichts Wahres an dieser Geschichte?«
Wannes stand auf und ging bis zu seiner Schwester, die ganz niedergeschlagen war, und er nahm sie bei der Hand. Er wollte aus der Ungewißheit herauskommen und erfahren, ob sie einen Fehler begangen hatte.
»Dieser Vagabund«, flüsterte er ihr ins Ohr, »hat dich doch nicht angerührt? Wir brauchen doch keinen Skandal zu fürchten? ...«
»Oh, was das anbelangt, das kann ich beschwören!« antwortete sie laut und in einem so aufrichtigen Ton, daß der Fragesteller wieder aufzuatmen wagte.
Und als die junge Frau, die sich durch diese Erklärungen tief gedemütigt fühlte, heftig zu weinen anfing, hielt er es für angezeigt, einen anderen Ton anzuschlagen.
»Ich habe nichts mit Kees zu tun«, wiederholte sie. »Das sind lauter Lügen. Als Knecht hatte ich ihn lieb, das ist alles! Soll ich ihn denn vor die Tür setzen?«
»Nun ja, aber ganz geschickt ... Du brauchst ihn nicht fortzujagen wie einen Hund; das würde Lärm machen, und das ist ja nicht nötig. Warte auf eine gute Gelegenheit, suche einen Vorwand, um ihn zu ersetzen, aber ohne daß er anfängt zu schreien. Wir werden zusammen einen anderen suchen, wenn du willst.«
Sie antwortete nichts, aber schweigend willigte sie in diese Feigheit ein. Man hörte eine Stimme im Hof.
»Da hätte ich's fast vergessen«, sagte der verschmitzte Andries mit einer zufriedenen Miene, indem er den Satz auf dem Boden seiner Schale schüttelte. »Was soll ich auf deine Rechnung in der Stadt verkaufen?«
Annemie wischte sich mit dem Zipfel ihrer Schürze die Augen ab, und bevor sie ihren Bruder hinausbegleitete, hatte sie Zeit gefunden, ein anderes Gesicht aufzusetzen.
Sie ließ Paulke einige Butterwecken, die in grüne Kohlblätter eingewickelt werden, und drei Dutzend Eier auf den Karren tragen.
Der Hof erschallte von wütenden Peitschenhieben und rauhen Rufen. Es war Janneke, der das Pferd trieb, das die Dreschmaschine im Innern der Tenne in Bewegung setzte. Die Putzmühle schnarrte, und durch die weitgeöffnete Tür sah man die Spreu tanzen wie eine gelbe Staubwolke, während das Korn in den Trichter fiel.
Der Vater und der Sohn wechselten einen bedeutungsvollen Blick; Andries machte die Leine los, hieb ebenfalls mit der Peitsche auf das Pferd ein und entfernte sich mit seinem Karren in die Richtung nach Stabroeck.