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Paris im Theater.


Ein Viertel nach sechs! Unruhig läuft Madame aus einem Zimmer in's andere. Ninie, die Köchin, ist heute unausstehlich langsam! Präcis um sechs Uhr sollte serviert werden, aber noch immer hat Jerome nicht die ersehnte Kunde gebracht! Madame fängt an, die Geduld zu verlieren. Ärgerlich zieht sie die Klingel.

»Mais, Jérôme ...«

Der Bediente versichert, er sei unschuldig. Ninie habe sich vermutlich mit dem Turbot verrechnet ...

Jetzt betritt auch Monsieur den Schauplatz.

»Nun, liebe Eulalie?« fragt er lächelnd, indem er den Chronometer aus der Tasche zieht ...

... Ein paar hundert Schritte weiter abwärts in der Straße prangt die Façade eines der zahlreichen »Cercles«, deren vornehmster Typus der »Jockei-Club« ist. Die Stammgäste sitzen schon seit einer halben Stunde vor den elegant gedeckten Eßtischen.

»Das soll wol bis morgen früh dauern?« murmelt ein alter, weißbärtiger Herr vor sich hin, indem er einen Blick nach der broncenen Standuhr auf dem Kamine wirft.

»Das Diniren scheint hier überhaupt abgeschafft zu sein!« bemerkt ein junger, braunlockiger Dandy, indem er lebhaft seinen Stuhl hin und her rückt ...

Dem Cercle gegenüber liegt ein vielbesuchtes Restaurant. Vier oder fünf Gäste scheinen ähnliche Gefühle zu haben, wie die beiden Herren im Gesellschaftshause.

»Kellner, vor einer Stunde habe ich ein Filet mit Trüffeln bestellt!«

»Kellner, wollen Sie mir meine Taube nun endlich bringen, oder nicht!«

»Es ist wirklich ein Scandal, Kellner. Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich keine Zeit habe ...«

– Wer Paris kennt, der weiß, was diese sonst so sanften Gemüther so ungeduldig macht. Monsieur und Madame, der alte weißbärtige Herr und der junge, braunlockige Dandy, der Mann vom Filet und der Mann von der Taube – sie alle haben den gleichen Gedanken: sie wollen heute in's Theater!

Der Franzose ist in seinem Privatleben die Pünktlichkeit selber. Wenn er z. .B. einen Genuß in Petto hat, so hält er darauf, daß derselbe auch regelrecht und vollständig in Scene gesetzt werde. Um keinen Preis will er zu spät kommen – weder zur musikalischen Matinée, noch zur politischen Versammlung, noch zur Beerdigung eines guten Freundes – am wenigsten aber zu einer Theatervorstellung. Der Pariser verschlingt sein Diner mit der Hast eines verfolgten Deserteurs; er begnügt sich im Nothfall mit einem Teller Suppe und einer Brodrinde: er dinirt gar nicht – wenn ihm nur als Lohn für dieses Opfer das Bewußtsein winkt, beim Aufgehen des Vorhangs an Ort und Stelle zu sein.

Den ersten Rang unter den fashionablen Theatern der Hauptstadt nimmt das Theatre-Italien ein: ihm zunächst und beinahe gleich steht die große Oper. Wer in der eleganten Welt eine hervorragende Rolle spielen will, der wird nicht umhin können, sich auf beide Bühnen zu abonniren. Ein fester Platz in den »Italiens« und der »Oper« verleiht seinem glücklichen Besitzer ein wunderbares Relief, obgleich dieser Luxus keineswegs zu den allzu kostspieligen gehört. Für ungefähr tausend Francs jährlich hat man in der Oper dreimal wöchentlich einen sogenannten Orchester-Fauteuil. Eine Loge mit sechs Plätzen, gleichfalls dreimal in der Woche zu benützen, kostet jährlich ungefähr achttausend Francs. Beansprucht man seine Plätze wöchentlich nur Einmal, so beläuft sich die Taxe auf ein Drittel der genannten Summen. Im Vergleich mit anderen Erfordernissen der reichen Leute, wie z. B. mit den Equipagen und Lakaien, verschlingen die beiden fashionablen Theater also einen verhältnißmäßig geringen Betrag, zumal sich gewöhnlich zwei, drei Personen an einem Platze betheiligen.

Die Logen der »Italiens« und der »großen Oper« dienen der vornehmen Welt als kleine Empfangssalons. Man lädt seine Bekannte »in's Theater« ein – nicht um zu hören oder zu sehen, sondern um zu plaudern. Junge unverheirathete Cavaliere revanchiren sich auf diese Weise den Familien gegenüber, bei denen sie aus- und eingehen. Sie bitten sich von Monsieur, Madame und Mademoiselle, bei denen sie vor acht Tagen dinirt oder getanzt haben, das Vergnügen zur »Nachtwandlerin« oder zur »Stummen von Portici« aus, und Monsieur, Madame und Mademoiselle sagen nicht Nein – am wenigsten Mademoiselle, in deren Augen ein logenbesitzender Junggeselle das Höchste ist, was der Erdball an begehrenswerthen Männern hervorbringt. Eine junge Pariserin, die eben die Pension verlassen hat, ist unfehlbar gekettet, wenn ein solcher privilegirter Sterblicher zweimal ihr Tischnachbar gewesen ist. Uebrigens bietet ein »Empfang« in der Loge die trefflichste Gelegenheit, den Charakter der jungen Dame zu studiren. Die Art und Weise, wie die mannigfachen künstlerischen und unkünstlerischen Eindrücke aus ihre Seele wirken; die mehr oder minder naive Manier, mit der sie ihren Beifall, ihre Bewunderung, ihr Entzücken zu verstehen gibt; die sorgfältige Beobachtung derjenigen Momente, die ihr am lebhaftesten zu Herzen gehen; – dies Alles wird den Schleier der gesellschaftlichen Convenienz, den Mademoiselle sonst vor ihrem wahren Wesen trägt, zerreißen, und einen Blick in's Innere gestatten. Jungen Männern, die sich verheirathen wollen, ist ein solcher Logenabend auf's Dringendste zu empfehlen.

Weniger unumgänglich zum Begriff eines vollendeten Gentleman ist der Besuch des Theatre-Français. Sein Publikum setzt sich mehr aus solchen Persönlichkeiten zusammen, die ein wirkliches Interesse an der dramatischen Darstellung nehmen. Indeß verleiht ein Abonnement auf das Theatre-Français einen gewissen Anstrich von literarischer Bildung, und so gibt es denn Leute von Distinction, die in jedem der drei genannten Thalia-Tempel einen Altar besitzen.

Alle übrigen Pariser Theater werden ohne Rücksicht auf die Forderungen des » bon ton« und lediglich nach den Eingebungen der individuellen Neigung besucht.

Es ist hier nicht der Ort, die zahlreichen Schauspielhäuser, deren sich die Seinestadt rühmen darf, namhaft zu machen, oder gar ihre Eigenthümlichkeiten eingehender zu besprechen. Es genüge die Bemerkung, daß Paris, trotz der Mißwirtschaft der Commune, die bekanntlich mehrere Theater dem Erdboden gleich gemacht hat, noch über vierzig größere und kleinere Bühnen besitzt, die alle erdenklichen Gattungen von dramatischen Erzeugnissen – Tragödien, Possen, bürgerliche Trauerspiele, Komödien, Rührstücke, Melodramen u. s. w. u. s. w., in mehr oder minder gelungener Weise zur Aufführung bringen und, wie schon oben bemerkt, gute Geschäfte machen.

Greifen wir ein Theater mittleren Ranges heraus und betrachten wir, dem Plane unseres Aufsatzes gemäß, das schaulustige Publikum. Schaulustig – das Prädicat paßt nicht auf Alle, die den bunten, unruhigen Zuschauerraum füllen! Eine Reihe von Personen will nicht sehen, sondern gesehen werden. Da erblicken wir in den offenen Ranglogen zu beiden Seiten der Bühne verschiedene Damen in glänzender Balltoilette: sie gehören in die fragliche Kategorie. Ohne Ausnahme Bürgerinnen der höheren Halbwelt, spielen sie, wie Goethe sagt, ohne Gage mit, und triumphiren, wenn sie eine möglichst große Anzahl blitzender Lorgnons und gewaltiger Operngucker »gefesselt« haben. Oft befinden sie sich in Gesellschaft eines flaumbärtigen Stutzers, der dann eine Befriedigung darin sucht, recht auffällig mit ihnen zu plaudern, und in jedem Zwischenakt einen Teller auserlesener Erfrischungen auffahren zu lassen.

In den ersten Ranglogen paradiren auch die unbedeutenderen Schauspielerinnen, die einen freien Tag haben, und nun in souveränem Selbstbewußtsein die Leistungen ihrer Colleginnen »genießen« wollen. Ein fast unmerkliches, aber herb höhnisches Lächeln kräuselt die Lippen dieser Damen, die man, im Gegensatz zu den echten dramatischen Künstlerinnen, »Cabotinen«, d. h. Vagabundinnen nennt. Wenn man der Cabotine zumuthen wollte, eine Loge zweiten oder dritten Rangs zu besuchen, so würde sie sich in ihrer Stellung als »Artiste« tödtlich beleidigt fühlen. Die wirkliche talentvolle Schauspielerin begnügt sich dagegen mit einem bescheideneren Platze; auch ist es ihr nicht darum zu thun, vom Publikum begafft und beäugelt zu werden.

Die Leute von Distinction, von Welt, oder wie man die Aristokratie des Geldes und der Geburt sonst noch betiteln mag, bevorzugen die Logen, welche der Bühne gegenüberliegen. Dieselben sind nicht ganz so theuer, als die von der Halbwelt mit Beschlag belegten Prosceniumslogen, und gewähren überdies den Vortheil, daß man, ohne sich den Hals zu verrenken, die Scene überblicken kann.

Die Aristokratie des Geistes schlägt ihre Zelte im Parquet, oder, wie der Franzose sagt, im Orchester auf. Die Orchestersessel sind entschieden diejenigen Plätze, von denen aus die Bühne den zweckmäßigsten und natürlichsten Anblick bietet; Spiel und Decorationen sind für das Parquet berechnet; die Illusion ist hier am vollständigsten. In den Fauteuils d'Orchestre sitzen die Künstler, die Journalisten, die Schriftsteller, die Gelehrten, die Advocaten, die Aerzte, die gebildeten Kaufleute, mit einem Worte, das eigentliche Publikum, von dessen Urtheil der Erfolg oder der Mißerfolg eines Stückes abzuhängen pflegt – freilich nicht ausschließlich, wie wir gleich sehen werden. Das Parquet ist mit seinen Beifallsbezeugungen sparsam. Hat eine dramatische Novität indeß erst einmal das Eis gebrochen und einen einzigen lebhaften Applaus von dieser Seite geerntet, so kann der Autor in den meisten Fällen mit dem gezogenen Loose zufrieden sein.

Hinter den Orchestersitzen befindet sich das Parterre – der Lieblingsplatz aller derjenigen Leute, die über beschränktere Geldmittel verfügen und doch keine Lust haben, zur Höhe des sogenannten Paradieses hinanzuklimmen. Im Parterre steht der Handwerker, der Student, der kleine Bourgeois. Keine Fraction des gesammten Zuschauerraumes – die Parquet-Fauteuils nicht ausgenommen – nimmt so regen Antheil an dem, was auf der Bühne vorgeht, als das Parterre. Das Publikum dieser bescheidenen, aber einflußreichen Plätze bestimmt, nächst den Orchestersitzen, am wirksamsten, ob ein Stück reüssirt oder nicht. Was bei dem Parquet der geschulte Geschmack thut, das erzielt beim Parterre ein gewisser künstlerischer Instinkt. Man darf behaupten, daß das Parterre für Schwächen des Autors oder des Darstellers noch weit empfänglicher ist, als das Publikum der Fauteuils. Wenigstens bedeckt das letztere gar manchen Fehler mit der Hülle christlicher Liebe, den das Parterre auf's Unbarmherzigste zu rügen liebt. Die Stehplätze waren denn auch von je der Schreck der dramatischen Künstler. Noch unter Louis Philipp gehörte es zu den alltäglichsten Ereignissen, daß einzelne Stimmen aus dem Parterre den Schauspieler direct anredeten und verhöhnten; ja, es kam nicht selten zu förmlichen Zwiegesprächen, von denen uns die Theater-Annalen verschiedene aufbewahrt haben. So wurde ein unglücklicher Tragöde, der sich alle erdenkliche Mühe gab, vier- oder fünfmal hinter einander vom Parterre ausgepfiffen. Endlich riß ihm der Faden der Geduld. Er trat mit gekreuzten Armen an die Rampe und rief seinen Peinigern folgende geflügelte Bemerkung zu:

»Ihr dahinten habt es darauf abgesehen, mich zu ruiniren! Aber wartet! Ich habe mir sechs von Euch gemerkt! Wenn wir nachher fertig sind, prügle ich die sechse nach einander so windelweich, daß sie das nächste Mal vor lauter Bravo's rauh und heiser werden sollen!«

»Fort mit ihm!« schrie das Parterre.

»Ihr wollt also nicht, daß ich weiter spiele?«

»Fort mit ihm!«

»Gut! So werde ich nie wieder vor Euch auftreten. Das sei nun Eure Strafe!«

»Um so besser!« jauchzte die ausgelassene Menge. – Das Stück konnte nicht zu Ende geführt werden.

Auch humoristische Einwürfe aus den Reihen des Parterre's gehörten früher nicht zu den Seltenheiten. Seit den letzten zehn Jahren haben sich die Verhältnisse etwas weniger patriarchalisch gestaltet. Die lauten Bemerkungen sind gegenwärtig das ausschließliche Monopol des »Paradieses«. Hier, unmittelbar unter dem Dache, ist nämlich das Publikum noch um eine Schattirung naiver, rücksichtsloser und leidenschaftlicher als in der Tiefe. Das Lärmen gehört in den Höhen des Paradieses wesentlich mit zum künstlerischen Genusse. Es kostet den Gamin, der droben an der Balustrade lehnt, gewaltige Ueberwindung, auch nur während zweier Scenen den Schnabel zu halten. Selten vergeht eine Vorstellung, ohne daß der Olymp durch irgend einen faulen Witz die ästhetische Illusion beeinträchtigt hätte. Zuweilen sind diese Unarten indeß treffend und von unbeschreiblich komischer Wirkung.

So erinnere ich mich, vor einigen Jahren irgend einer ersten Aufführung im Gymnase-Theater angewohnt zu haben, deren ernster, getragener Charakter jedenfalls nicht auf eine paradiesische Störung berechnet war. Ein auffallend häßlicher Schauspieler gab die Titelrolle. – Wie das Stück hieß, habe ich leider vergessen.

»Ha!« sagt im dritten Akte der erste Liebhaber zu dem Titelhelden – »ha, mein Vater, Du veränderst Deine Züge ...«

»Sehr gut!« rief's vom Olymp herunter, »er kann dabei nur gewinnen!«

Ein unbändiges Gelächter war die Folge dieser malitiösen Bemerkung; an eine dem Sujet angemessene Stimmung war nicht mehr zu denken: das Stück fiel durch. Ich bin überzeugt, ohne die Ungezogenheit des witzigen Bengels würde es wenigstens einen sogenannten succés d'estime erlangt haben, denn es war von einem allgemein geachteten Autor.

Das Paradies ist, wie bereits angedeutet, die leidenschaftlichste Fraktion des ganzen Hauses, und zwar entbrennt es mit gleicher Lebhaftigkeit in Haß und Zorn, wie in Liebe und Bewunderung. Folgendes Billet-Doux, welches Fräulein Marie R..., eine der hübschesten und liebenswürdigsten Pariser Schauspielerinnen, von einem jugendlichen Olympier erntete, ist für den Sturm der Gefühle, wie er den »Titi« charakterisirt, gewiß höchst bezeichnend. Er schrieb:

 

»Mein Fräulein!«

»Sie liegen mir Tag und Nacht im Herzen: ich komme jeden Abend hierher, um Sie zu sehen. Ich heiße August, und bin Broncearbeiter. Wenn Sie mir für nächsten Sonntag ein Stelldichein gewähren wollen, so senden Sie mir Ihren Brief durch die Schließerin. Sie werden mich sehr leicht erkennen: ich bin der große Blonde, der immer die Beine durch die Balustrade hängen läßt.

Ihr Sie liebender
August

 

Das folgende Gegenstück möge den Olympier im Zorn illustriren.

Es war im Jahr 1870, einige Monate vor der Kriegserklärung. Im Theatre de la Porte St. Martin, das seitdem der Bestialität der Commune zum Opfer gefallen ist, wurde eine interessante Novität gegeben. Wie bei allen ersten Vorstellungen war die Elite der Kritik zugegen. Drei Reihen Orchestersessel waren fast ausschließlich von den Herren Jules Clarétie, Paul Foucher, Théophile Gautier, Francisque Sarcey und so weiter mit Beschlag belegt. Die Feuilletonisten warteten mit außergewönlicher Spannung. Es war vorauszusehen, daß sie einen besonders strengen Maßstab anlegen würden.

Der Vorhang geht auf. Das Stück verräth eine unläugbare Lebensfähigkeit, aber eine der Hauptrollen wird gleich von vornherein so schändlich schlecht gespielt, daß es keiner übermäßig gereizten Kritik bedurft hätte, um den Stab darüber zu brechen. Die Journalisten gaben denn auch die unverhohlensten Zeichen des Mißfallens, und enthielten sich selbst da des Applaudirens, wo die glückliche Anlage des Drama's eine Beifallsbezeugung gerechtfertigt haben würde.

Die Olympier mußten nun der Ansicht sein, die Haltung der Feuilletonisten sei unbillig, oder das Mitleid mit dem unglücklichen Schauspieler gewann ausnahmsweise die Oberhand – kurz, sie ereiferten sich mit einem Male wie auf Verabredung und schrieen in allen Tonarten:

»Hinaus mit den Journalisten! – Vor die Thüre mit den Federfuchsern! – Man gibt ihnen Freibillets und sie wollen sich noch obendrein über die Künstler lustig machen! Fort mit den Tintenklexern!«

Zwei oder drei der insultirten Schriftsteller wandten sich entrüstet um, und versuchten, das Paradies auf das Unanständige seines Benehmens aufmerksam zu machen.

Diese unglückliche Tactik gab das Signal zu einem neuen Unfuge. Mit einem Male ergoß sich ein wahrer Hagel von halbfaulen Birnen, Orangeschalen, Apfelgröbsen und hundert anderen unnennbaren Ingredienzien über die Denkerstirnen der armen Federhelden, und verursachte einen so panischen Schrecken, daß die Vorstellung unterbrochen werden mußte. Jules Clarétie, der sich gerade umgedreht hatte, erhielt eine halbe Goldreinette in den geöffneten Mund; die ehrwürdige Glatze Francisque Sarcey's wurde von einer steinharten Wallnuß und zwei Bergamotten getroffen, so daß sie noch nach mehreren Tagen die bedenklichsten Spuren zeigte; Paul Foucher ward im Genick verletzt u. .s. .w. u. .s. .w. Nun schritt freilich die Polizei ein – aber, wie es in der Fabel heißt, »ein wenig spät«! Die Pariser Kritik hatte die Wuth des Olymps aus eigenster, persönlichster Erfahrung kennen gelernt! Es war amüsant, wie die Herren des Tags darauf in ihren Feuilletons auf die vermaledeiten Titi's loswetterten; ob ihre Moralpredigten dazu beigetragen haben, die verwahrlosten Gemüther zu bessern?

Eine Rolle von täglich mehr zusammenschrumpfender Bedeutung spielen die bezahlten Klatscher, die Claqueurs, auch Römer (Romains) oder Ritter vom Kronleuchter geheißen. Sie sitzen entweder zwischen den Orchesterfauteuils und dem Parterre in den sogenannten Stalles, oder im dritten Rang über den Mittellogen. Da sie nicht zum eigentlichen Publikum gehören, so entziehen sie sich unserer heutigen Studie.

Der Pariser hat die eigenthümliche Gewohnheit, im Theater zu essen. Oben unter der Decke verzehrt man, wie aus dem vorhin geschilderten Vorfall ersichtlich, rohes Obst, und zwar vorzugsweise Aepfel. Das Parquet vertilgt Orangen, oder allerlei Gebäck, das in den Zwischenakten herumgetragen wird. In den Logen werden Bonbons, glacirte Ananasscheiben, feine Trauben etc. genascht, und zwar mit Hilfe eines eigens hierzu erfundenen Instrumentes, der Bonbonzange. Der größere oder geringere Grad von Eleganz, den man bei der Handhabung dieses kleinen silbernen Werkzeuges entwickelt, wiegt schwer in der Wage des Urtheils aller »Leute von Welt«.

Die Demimonde in den Prosceniumslogen liebt auch im Punkte des Naschens das Extravagante, Originelle. Es gehört zum feinsten Ton, seine Loge in eine Art Bazar zu verwandeln, indem man alle erdenklichen Luxusgegenstände etc. vor sich auf die Brustwehr ausbreitet. Eine Dame von »Chic« sitzt gewöhnlich hinter einer Garnitur, die aus folgenden Dingen besteht: einem Bonbon-Täschchen, einem Obstkörbchen, einem Kuchenteller, einem Bouquet, einem Fächer, einem Operngucker, einem Batisttaschentuch, einem »Figaro«, einem Theaterzettel, einem Riechfläschchen. Je reichhaltiger der Bazar ist, um so höher steigt die Dame in der Achtung ihrer Verehrer und ihrer Rivalinnen, denn jeder Gegenstand ist ein Beweis, mit welcher Aufmerksamkeit man die Wünsche und Neigungen der Besitzerin zu beobachten und zu befriedigen pflegt.

Fast eben so allgemein, wie die Eßwuth, ist die Manie, den »ersten Vorstellungen« anzuwohnen. Es gibt Leute, die einen Orchesterfauteuil mit fünfzig Franken bezahlen, lediglich um eine »première« mit anzusehen. Tags darauf, bei der zweiten Vorstellung, hätten sie es weit bequemer und weit billiger: aber sie würden für den Platz, der ihnen gestern mit fünfzig Franken nicht zu theuer erkauft erschien, am zweiten Tage keine zehn zahlen! Es ist vorgekommen, daß bei einer ersten Vorstellung vier- bis fünftausend Menschen zurückgewiesen werden mußten, weil das Haus bis auf den letzten Winkel vermiethet war; – und siehe da, bei der zweiten Vorstellung spielten die Künstler vor leeren Bänken. Das Neue reizt den Pariser eben lediglich seiner Neuheit wegen; selbst das Schlechte, Unbedeutende erringt sich einen vorübergehenden Erfolg, wenn es in irgend einer Beziehung »noch nicht dagewesen« ist. Oft genügt ein pikanter Titel, um ein schwaches Stück in Curs zu setzen: die Etiquette gilt mehr als die Waare, die Form mehr als der Inhalt. In vielen Fällen ist es überdies nicht einmal das Interesse an der Novität, was den Pariser in die »première« treibt, sondern lediglich das kindische Bestreben, ein theatralisches Ereigniß früher kennen zu lernen als so und so viele andere Sterbliche. Der echte Franzose setzt eine Ehre darein, über alle Zeitbegebnisse möglichst rasch unterrichtet zu sein. Es erfüllt ihn mit Stolz, von dem Selbstmord des Grafen X. und von dem Erbschaftsstreit der Familie Y. mehr zu wissen als der staunende Kreis von Freunden und Bekannten, der ihm mit schlechtverhohlenem Neide zuhört und seine Erzählung mit Oh's und Ah's begleitet. Ein Stück von Sardou womöglich schon in der Generalprobe gesehen zu haben, das ist fast ebenso rühmlich, als ein solches Stück zu schreiben oder zu spielen. Glücklich der Mensch, sagt Pascal, der über einer Armseligkeit die großen Räthsel des Lebens vergißt. Glücklich die Pariser!

 

Ende des zweiten Bändchens.

 


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