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Die Gegensätze der menschlichen Existenz treten bekanntlich nirgends so handgreiflich zu Tage, als in einer Weltstadt. Hier brüstet sich der wahnwitzigste Luxus neben dem entsetzlichsten Elend. Während Tausende kein wichtigeres Problem kennen, als die Frage: »Wie werde ich heute meine Hundertfrancsnoten mit möglichst viel Behagen und Genuß losschlagen?«, erwachen andere Tausende mit dem niederdrückenden Bewußtsein, nicht so viel in der Tasche zu haben, um eine warme Suppe oder einen Bissen Brod bezahlen zu können. Zwischen beiden Extremen liegt eine ununterbrochene Kette von Mittelgliedern, deren nähere Betrachtung eben so unterhaltend als lehrreich erscheint. Wenn der Leser diese Ansicht theilt, so begleitet er uns vielleicht auf einer kleinen Rundreise durch die zahlreichen Etablissements der französischen Hauptstadt, in welchen die verschiedenen Klassen der Pariser Gesellschaft ihre Mahlzeiten einnehmen. Wir beginnen mit den Restaurants ersten Ranges, um schließlich in Regionen anzulangen, von denen man sich nur durch eigene Anschauung einen Begriff zu bilden vermag. Die Redensart: »Sie leben schlechter, als die Hunde«, hört in diesen Tiefen auf, eine Hyperbel zu sein; und als unterste Stufe der Scala finden wir jenes blasse Gespenst, das uns angrinst, wie ein Hohn auf die Menschheit – den Hungertod.
Die Stätten, an welchen die »Elite der Gastronomie« ihre schwelgerischen Mahlzeiten einnimmt, liegen fast sämmtlich im Mittelpunkte der Stadt, »zwischen Madeleine und Château d'Eau«, wie der Pariser zu sagen pflegt. Im »Café Anglais«, im »Café Bignon«, in der »Maison Dorée«, bei den »Drei provençalischen Brüdern«, bei »Véfour«, bei »Brébant« etc., kostet ein normales Mittagsessen kaum unter 20 Francs. Man versteht unter dieser Bezeichnung etwa folgende Speisen: Austern. Eine Suppe. Fisch. Braten. Gemüse. Süße Speise. Käse. Diverse Früchte. Eine Flasche Tischwein. Sobald man von dieser Norm abgeht und sogenannte erlesene Schüsseln beansprucht, steigert sich der Preis ins Unberechenbare. – So kostet z. .B. die zuerst im Café Anglais aufgekommene Camerani-Suppe per Teller 25 Francs. Sie besteht aus einer ebenso theuren, als absonderlichen Mischung, vornehmlich aus fetten Hühnerlebern, bei denen es aus feinschmeckerischen Gründen unumgänglich ist, daß die betreffenden Vögel nicht geschlachtet, sondern durch die Entladungen einer elektrischen Batterie getödtet worden sind. – Die echten Feinschmecker halten an dieser conditio sine qua non mit unglaublicher Hartnäckigkeit fest, und die Restaurants schlagen aus der Albernheit solcher Leute klingende Münze.
Zum richtigen Verständniß eines solchen Etablissements ist ein Blick hinter die Coulissen erforderlich. Verlassen wir daher das eigentliche Speiselokal, dessen luxuriöse aber langweilige Einrichtung so wie so wenig Bemerkenswerthes bietet und treten wir an die Stätte der Vorbereitung, – in die Küche!
Wir befinden uns in einer großen unterirdischen Halle. – Unsere Aufmerksamkeit wird zunächst durch einen riesigen Kamin in Anspruch genommen, vor welchem acht oder zehn Bratspieße von einem uhrwerkartigen Mechanismus in Bewegung gesetzt werden. – Auf dem Gesimse über dem Bratofen blitzt und funkelt, was der Koch seine Batterie nennt, d. h. die achtzig oder hundert kupfernen Kessel, Pfannen, Töpfe und sonstigen Gefäße. – Es ist vier Uhr. – Die Arbeit beginnt. – Der »Grand-Chef«, auch »Chef-Chef« geheißen, schreitet mit emsiger Würde auf und nieder und leitet die Thätigkeit seiner Untergebenen. Er prüft jedes Gericht; kein Mißgriff, keine Unregelmäßigkeit entgeht seinem Scharfblicke. Hier weist er einen Küchenjungen zurecht, dessen Kleidung in Unordnung gerathen ist; dort kritisirt er die Zubereitung einer Pastete; dort endlich wirft er eigenhändig ein paar Messerspitzen Pfeffer an eine mangelhaft gewürzte Sauce. Für seine Bemühungen erhält er ein sehr anständiges Gehalt, ein Neujahrgeschenk und einen Antheil an den Trinkgeldern der Kellner. Im Ganzen steht er sich nicht leicht unter 4000 Francs, wobei die freie Kost nicht mit in Anschlag gebracht ist.
Seine nächsten Untergebenen sind die »Chefs de partie«, deren jeder drei oder vier Gehilfen zur Seite hat. Je nach ihren Functionen heißen diese Unterköche rôtisseur (Brater), entremetier (Zwischengerichtler), légumier (Gemüsler), saucier (Saucenkoch) etc. Der Rôtisseur hat außer der Oberaufsicht über die Bratspieße die Verantwortlichkeit für alles Gebackene, Geröstete oder Geschmorte, während der Entremetier neben den süßen Speisen auch die Suppen besorgt. Alle haben ein Fixum von mindestens 1800 Francs. Eine nicht weniger wichtige Rolle spielt der Aufseher der Speisekammer. Er übermittelt seinen ausübenden Kameraden das erforderliche Material an Fleisch und Fischen. Die Speisekammer befindet sich unmittelbar neben der Küche; die Vorräthe liegen auf Lattengerüsten und werden durch täglich erneuertes Eis frisch erhalten. (Das Café Riche verbraucht an Eis im Durchschnitt täglich drei Centner.) Der Aufseher der Speisekammer ordnet überdies alle kalten Gerichte und die sogenannten Garnituren, jene Verzierungen, bestehend aus Gelée, harten Eiern, Gurken, Früchten etc., in deren künstlerischer Anordnung er ein wunderbares Geschick zu entwickeln pflegt. Er steht sich fast auf 3000 Francs jährlich.
Die »Gehilfen« sind mit dem vierten Theil dieser Summe zufrieden: dafür haben sie ein Anrecht auf das » bijou«, auf die Reste, für die man in der Wirthschaft selbst keine Verwendung mehr hat. Das » bijou« wandert gegen eine mäßige Zahlung in die Markthallen und findet dort willige Abnehmer.
Zu einer Küche ersten Rangs gehört ferner ein eigens hierzu angestellter Spüljunge; in den kleineren Wirthschaften liegen diese Geschäfte den »Gehilfen« ob. – Der Spüljunge erhält nur 60-70 Francs per Monat, allein es erschließt sich ihm eine Quelle des Verdienstes in dem riesigen Napfe, in welchem er die Teller und Schüsseln reinigt. Er schöpft das Fett ab, welches im Spülicht an die Oberfläche steigt, und verkauft es, in kleine Fäßchen gefüllt, an die Seifenfabrikanten. Der Spüljunge des Restaurants Vachette erzielt auf diese Weise eine Nebeneinnahme von monatlich 300 Franken! Wenn die Arbeit an dem dampfenden Kessel nicht gar so aufreibend wäre, so würde dieser Posten der beste im ganzen Lokal sein, allein wie die Bergleute in den Quecksilbergruben, leidet der Spüljunge meist an einer unheilbaren Krankheit.
Wenn wir nun außerdem das sehr beträchtliche Kellnerpersonal und die bedeutende Miethe in Erwägung ziehen, so können wir uns über die hohen Ziffern der Speisekarte kaum wundern, zumal das Bereithalten aller erdenklichen Gerichte, die manchmal ganze Wochen hindurch nicht verlangt werden, die einzelnen Schüsseln ungemein vertheuert. Der jährliche Umsatz in einem Restaurant ersten Rangs zählt nach Hunderttausenden; die Gäste dieser Kategorie bestehen aus vergoldeten Diplomaten, reichen Aerzten und Advokaten, Parvenüs aller Art, zweideutigen Frauenzimmern, Mitarbeitern des »Figaro«, Herzögen und Opernsängern.
Steigen wir eine Stufe abwärts. Als Typus der Häuser zweiten Rangs mag die Wirthschaft von Bonvalet am Boulevard du Temple gelten. – Der Uneingeweihte merkt beim ersten Anblick wenig Unterschied. Nur das Publikum dünkt ihm weniger vornehm. Die Speisen sind theilweise ebenso vortrefflich, als in den Restaurants der vorigen Gattung; nur ihre Auswahl ist etwas beschränkter. Auch der äußere Luxus des Lokals ist nicht ganz so splendid, wie er in No. 1, aber noch immer glänzend genug, um das Gefühl eines verschwenderischen Ueberflusses in uns zu erwecken. Das wesentliche Kennzeichen dieser Klasse im Vergleich zu der vorgenannten ist ihre verhältnißmäßige Billigkeit. Hier kann man sich schon einmal die Zügel schießen lassen, ohne vor der bevorstehenden Rechnung Alpdrücken zu empfinden. Fleischspeisen, Fische, Pasteten sind sämmtlich von tadelloser Qualität; der Wein ist gut und billig; drei Personen können für 2 Napoleons alle erdenklichen Genüsse haben. Ein normales Essen, bestehend aus Suppe, Fisch, Braten, Gemüse und Dessert, sowie einer halben Flasche Wein, kostet nicht leicht über 6 Franken, wobei zu bemerken ist, daß die Portionen für einen ganz bedeutenden Hunger berechnet sind. – Das Publikum, welches diese Lokalitäten besucht, gehört dem Mittelstande an.
Die dritte Klasse umfaßt alle diejenigen Wirthschaften, welche Diners zu festen Preisen geben. – An ihrer Spitze steht das »Diner de Paris« im Passage Jouffroy; Preis: 4 Fr. 50. – Wer es nicht vorzieht, sich die freie Wahl seiner Gerichte vorzubehalten, der mag in einigen dieser Wirthschaften seine Rechnung finden; im Allgemeinen ist jedoch wenig von ihnen zu halten. Von 4 Fr. 50. geht es abwärts bis zu 65 Centimes; allein schon bei 2 Franken beginnt das Uebel. – Es besteht eine große Anzahl von Wirthschaften, welche für 1 Franken 50 Centimes ein Essen geben, das auf den ersten Anblick das Unmögliche zu leisten scheint: Eine Suppe, drei Gerichte nach Belieben, ein Dessert, eine halbe Flasche Wein, und Brod à discrétion. Ich möchte jedoch Niemanden rathen, auf diesen Köder anzubeißen. Wer nur 1½ Franken auf sein Diner verwenden kann, der versuche sein Heil in den »Etablissements de Bouillon« von Duval oder Porret. Er wird dort allerdings sehr haushälterisch zu Werke gehen müssen, denn die Portionen sind sehr, sehr klein, und um satt zu werden, dürfte er sich genöthigt sehen, der Suppe und dem Brod stark zuzusprechen, allein er ist doch wenigstens sicher, eine gute, schmackhafte, gesunde Nahrung zu finden, während die »Diners à 1 Fr. 50.« in den andern Lokalitäten nur für sehr abgehärtete Gaumen genießbar sind. – Man hat es oft räthselhaft gefunden, wie ein Wirth, bei der übermäßigen Theuerung aller Lebensmittel, im Stande sein mag, für 1 Fr. 50 Cent. die oben angeführten Leistungen zu bieten. Allein sehen wir einmal näher zu. Eine Suppe! Verdient das grünlichgelbe Gebräu, das man uns auftischt, diesen Namen? Unter drei Gästen lassen zwei ihren Teller unberührt; er wandert in die Küche und wird wieder in den Kessel gegossen. Auf diese Weise macht sich die Sache billig. – Eine Portion Fisch! Wenn Dir der Appetit nicht vergehen soll, so befrage den Turbot, den man Dir reicht, nicht um seine Biographie; iß muthig drauf los und halte dir die Nase zu. Die Restaurants dieser Art kaufen die Reste aus den Centralhallen auf und suchen den Mangel an Frische durch starkduftende Knoblauchsaucen und dergleichen zu bemänteln. Auch das Wildpret leidet an ähnlichen Schwächen, abgesehen davon, daß der Chef-de-Cuisine zwischen Katze und Hase keinen strengen Unterschied macht. Das Roastbeef erinnert an die Wettrennen von Vincennes und Vésinet; hunderte von lebensmüden Mähren finden im Restaurant à prix fixe ein ruhmloses Grab. Das Dessert besteht aus einem bescheidenen Apfel, einer halben Orange, oder einigen Pflaumen. In Summa kostet die ganze Geschichte noch keinen Franken. Dem Ausländer pflegt namentlich die »halbe Flasche« Wein zu imponiren; das Staunen hört jedoch auf, wenn man erfährt, daß das Faß, aus welchem der Restaurant 800 halbe Flaschen schenkt, mit Octroi und Steuer nicht mehr als 120 Franken kostet.
Wir sind nunmehr bei der eigentlichen Volksküche angelangt. – Die große Masse des Verbrauchs und der Mangel an allem äußeren Comfort ermöglicht hier das Beschaffen einer unsrer Ansicht nach besseren und gesünderen Nahrung, als in den Wirthschaften mit festen Preisen. Hier speist der bemitteltere Arbeiter. – Als Vertreter dieser Klasse mag die »Californie« an der Barrière du Maine gelten. – Dieses Riesenetablissement verbraucht monatlich 100 Ochsen, 500 Hämmel, 350 Kälber und 2500 Kaninchen. Seine Säle fassen 2000 Personen. Man sitzt dort an rohen Holztischen und ißt von irdenen Platten. Jeder Gast holt sich seine Portion selbst aus der Küche und zahlt sofort beim Empfang. Kellner im eigentlichen Sinne des Wortes gibt es nicht; sie sind durch handfeste Hausknechte ersetzt, welche die Ordnung aufrechtzuerhalten, und eintretenden Falls die Ruhestörer an die Luft zu befördern haben. Der Wein wird in Krügen servirt; die Flaschen würden eine zu verführerische Handhabe bei Streitigkeiten bieten. Das Publikum macht einen Lärm, der jeder Schilderung spottet; es wird fortwährend gesungen, gepfiffen und auf die Tische getrommelt; dazwischen lassen fahrende Spielleute ihre schreienden Melodieen erklingen; Bettler wimmern um eine milde Gabe; Hunde bellen und Gläser klirren, – kurz, es ist eine babylonische Wirthschaft. Wenn ein Gast aufsteht, so stürzen sechs, acht gierige Gesellen auf die Speisereste, die er aus dem Teller gelassen, und prügeln sich um einen abgenagten Knochen, oder um eine ausrangirte Kartoffel. Man speist hier bequem für 80, 90 Centimes, – allein starke Nerven sind eine unerläßliche Vorbedingung ...
Die Volksküche wird kleiner, schlechter, ärmlicher. – Der übermüthige Lärm verstummt. Wir befinden uns an einer Stätte des Elends. Treten wir ein. Welche Umgebung! Ein enges, niedriges, verräuchertes Loch, dessen ungesunde Atmosphäre uns fast den Athem benimmt. Ein schmutziges altes Weib verabreicht für drei Sous ein abenteuerliches Gericht, dessen Ingredienzien wir auf den ersten Anblick nicht unterscheiden können. Wir sehen näher zu, – Fischköpfe, Knochen, Fleischreste, Brodfragmente, Kohlblätter ... dies alles mischt sich hier, halbverfault, in grauenvollem Durcheinander. Es sind die verdorbenen Ueberbleibsel aus allen möglichen Markthallen, Restaurants und Fleischerladen ... Die technische Sprache bezeichnet dieses bunt zusammengesetzte, gräßliche Mahl als » arlequin« ... Die Reste sind großentheils von der Straße aufgelesen; die Lumpensammler, welche Abends die Kehrichthaufen durchstöbern, rühmen sich, die Hauptlieferanten dieser Wirthschaften zu sein ... In den Polizeiannalen von Paris ist ein Fall verzeichnet, der für die Arlequins und ihre Geschichte charakteristisch erscheint. Aus Gesundheitsrücksichten wurde früher allwöchentlich in den hiesigen Markthallen eine Razzia auf verdorbene Fische angestellt: die erbeuteten Opfer fuhr man nach der Villette und warf sie dort in die Cloaken. Eines Tags verhafteten die Sergeanten zwei Burschen, welche hier »im Trüben« fischten, d. h. die Fische aus jener unbeschreiblichen Flüssigkeit wieder herausholten, um sie, horribile dictu, für menschliche Gaumen herzurichten.
Wo sind wir hingerathen! Welche Gegensätze: das Café Riche und der Arlequin! Aber so scheußlich dieser Auswurf auch sein mag, er fristet doch noch nothdürftig das Dasein.
Die unterste Stufe der »Dineurs« von Paris dinirt gar nicht. – Die amtlichen Berichte schweigen von den Opfern des Hungertodes. Gleichwol steht es fest, daß jährlich viele Hunderte dem Mangel an Nahrung erliegen. Auf 16 Menschen kommt hier ein Paria, der weder besitzt noch erwirbt ... Was vermögen die Wohlthätigkeitsanstalten gegen ein so riesiges Elend! Die Summen, über die sie verfügen, sind lächerlich klein im Vergleich zum obwaltenden Bedürfniß; – es trägt dem Einzelnen täglich etwa einen Centime! Wenn aber beispielsweise jeder, der mehr als fünf Franken für sein Diner verwendet, auch nur ein Zwanzigstel von dem, was er in die großen Restaurants wandern läßt, dem darbenden Proletariat zukommen ließe, so wäre mit einem Schlage geholfen! Leider weiß die eine Hälfte der Gesellschaft absolut nicht, wie die andre lebt: was kümmert sich der Boulevardier um die Entbehrungen der Faubourgs!