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Paris, im September 1869 Obgleich die nachmaligen Leistungen des berühmten Schriftstellerpaares geeignet sind, unser definitives Urtheil einigermaßen zu modificiren, so glaubte ich doch an dem vorliegenden Aufsatze, der im Jahre 1869 geschrieben wurde, keine Veränderungen vornehmen zu sollen, da solche unorganisch aufgekleisterte Emendationen stets zu Widersprüchen und Mißklängen führen. Ich schildere im Folgenden einfach meine Erlebnisse und Eindrücke von ehedem, unbekümmert um die späteren Albernheiten, deren sich die damals auch in Deutschland allgemein bewunderten Autoren schuldig gemacht haben..
Vor einigen Wochen äußerte ich gegen einen hiesigen Freund den Wunsch, die beiden Verfasser der » Histoire d'un Conscrit de 1813« kennen zu lernen, und fragte ihn, ob er in der Lage sei, mir zu diesem Zwecke ein Empfehlungsschreiben zu verschaffen.
»Wozu diese Umstände?« erwiderte er; »ich weiß allerdings unter meinen nächsten Bekannten zwei oder drei, die mit Erckmann-Chatrian sehr liirt sind, aber in Paris führen derartige Formalitäten zu unabsehbaren Weiterungen. Ich will Ihnen einen Rath geben. Chatrian hat eine Stelle in der Verwaltung der Straßburger Eisenbahn; jeder Schaffner gibt Ihnen Auskunft. Gehen Sie einfach nach dem Chemin de fer de l'Est, und stellen Sie sich selbst vor. Die beiden Schriftsteller haben so ungezwungene, patriarchalische Sitten, daß Sie auf diese Weise am sichersten und schnellsten zum Ziele kommen.«
Der Vorschlag leuchtete mir ein. Des andern Vormittags warf ich mich in eine Droschke, fuhr nach dem Bahnhof und drang durch ein wahres Labyrinth von Gängen, Vorzimmern, Sälen und Corridoren nach dem Cabinet vor, wo Alexander Chatrian gegen einen Gehalt von tausend Franken monatlich die Oberaufsicht über die Titres und Obligationen der Bahngesellschaft führt.
Der Vogel war ausgeflogen. »Herr Chatrian ist vor fünf Minuten zum Déjeûner gegangen,« erklärte mir einer der Unterbeamten.
Ich dachte: um so besser! erkundigte mich nach dem Restaurant, wo Herr Chatrian zu speisen pflegte, und bat schließlich um eine kurze Personalbeschreibung ...
»O, Sie brauchen nur seinen Namen zu nennen, – jedes Kind kennt ihn,« erwiederte der Employé lächelnd; »Herr Chatrian gehört bereits zu den legendenhaften Figuren der Metropole.«
Ich wußte genug. Zehn Minuten später befand ich mich in dem Duvalschen » Établissement de bouillon« an der Ecke des Boulevard Sébastapol und der großen Boulevards du Centre.
Die » Établissements de bouillon« sind trefflich eingerichtete Garküchen, in denen eine sehr gesunde und schmackhafte Nahrung, verabreicht wird Vergl. den Aufsatz »Küchenmysterien«., allein sie gelten bei der feinen Pariser Gesellschaft nicht für fashionable. Es erschien mir daher als ein nicht unwichtiger Zug in der Charakteristik des biederen Elsässers, daß er die Lockungen des Café Riche verschmähend, an dieser bescheidenen Stätte seinen Frühimbiß einzunehmen liebte.
Eine hübsche Kellnerin wies mich auf meine Frage an einen abgelegenen Seitentisch, wo ein kleiner Herr mit dunklem lockigem Haar und hoher Stirn damit beschäftigt war, ein gebratenes Huhn zu vertilgen. Seine stark ausgeprägten Gesichtszüge, sein martialisch geschwungener Schnurrbart, sein tiefdunkles Auge mußten gleich auf den ersten Anblick frappiren. Er war fein, jedoch nachlässig gekleidet. »Um den Hals trug er eine Binde à la Byron.
Ich weiß nicht mehr, mit welcher Redensart ich mich bei dem einsamen Frühstücker einführte: gewiß ist nur so viel, daß nach wenigen Minuten ein Gespräch im Gange war, dessen Verlauf mich im höchsten Grade interessirte. Ich sagte Herrn Chatrian geradezu, daß ich die unbescheidene Absicht hätte, mich direct an der Quelle über ein psychologisches Räthsel aufzuklären. »Unsere deutschen Kritiker«, fuhr ich fort, »behaupten ein für alle mal, das gemeinschaftliche Produciren könne nie zu einer künstlerischen Einheit führen und doch liegt eine solche in Ihren Werken vor ... Es ist derselbe Stil, dieselbe Individualität, die uns aus jeder Zeile entgegentritt; nie und nirgends haben wir den Eindruck einer Mosaikarbeit ... Wie ist das möglich?«
Chatrian lächelte. »Das ist möglich«, sagte er, »sobald zwischen den beiden Mitarbeitern eine vollständige Identität der moralischen, politischen, religiösen und künstlerischen Anschauungen besteht; das ist möglich, sobald einem jeden von beiden das Kunstwerk selbst mehr am Herzen liegt, als der individuelle Ruhm; das ist möglich, sobald sich einer dem andern in wahrer Selbstverläugnung unterordnet und nie aus persönlicher Eitelkeit auf einer Meinung besteht, wenn seine Einsicht ihm sagen muß, daß die Meinung seines Gefährten die richtigere ist.«
»Wir sind«, fuhr er nach einer Pause fort, »in denselben Verhältnissen geboren und erzogen; dasselbe Licht hat unsere Augen gebadet, dieselbe Scenerie, dieselben Menschen haben auf uns ihren Einfluß ausgeübt: eine jetzt mehr als zwanzigjährige Freundschaft hat die obwaltenden Verschiedenheiten nach und nach geebnet, und was ja noch an Differenzen erübrigen sollte, das wird durch wahre Hingebung an die Sache vollständig unwirksam gemacht.«
Das war alles, was ich von Chatrian herauszubringen vermochte. Dies oder Aehnliches hatte ich mir selbst gesagt, aber das Räthsel schien mir durch diese vagen Andeutungen in keiner Weise gelöst.
Chatrian war im Uebrigen auffallend zurückhaltend. Als ich ihm mein Erstaunen darüber aussprach, daß er ungeachtet seiner ausgedehnten schriftstellerischen Thätigkeit noch Zeit finde, seinen Functionen bei der Ostbahngesellschaft zu genügen, lächelte er wiederum sein feines, sarkastisches Lächeln und sagte: »Meine Arbeit bei der Ostbahn besteht darin, die Andern arbeiten zu sehen. – Ich habe überdies mein Privatzimmer, in das ich mich jeden Augenblick zurückziehen kann.«
Das seltsame Benehmen Chatrians, dem es sichtlich nicht darum zu thun war, mich aufzuklären, reizte meine Neugierde. Ueber die Art und Weise ihrer gemeinschaftlichen Thätigkeit war ich trotz der mannigfachsten Anspielungen nicht im Stande, das Geringste zu ermitteln. Ich legte mit verschiedenen Hypothesen die Sonde an, in der Erwartung, er werde mir widersprechen. Umsonst! Geschickt wußte er jedem Griffe auszuweichen, und als er schließlich aufstand, seine Cigarre anzündete und mir einen vergnügten Nachmittag wünschte, war ich im Grunde so klug wie zuvor.
Ich mache mir keine Illusionen darüber, daß meine Methode der Selbsteinführung und die etwas indiscrete Art der Aeußerung meines Interesses Herrn Chatrian einigermaßen sonderbar vorkommen mußte; allein ich hatte eine Andeutung über meine Absicht fallen lassen, demnächst eine psychologisch-literarische Studie zu schreiben, und so war ich in seinen Augen gewiß hinlänglich entschuldigt. Wenn er gleichwohl den Mantel einer nahezu ängstlichen Reserve umhängte, so hatte er offenbar andre Motive, und ich war fest entschlossen, trotz aller Schwierigkeiten dahinter zu kommen.
Während Chatrian in Paris damit beschäftigt ist, »Andre arbeiten zu sehen«, sitzt Erckmann wie ein Eremit in dem gemeinschaftlichen Landhause zu Raincy und handhabt die Feder. Chatrian hatte mir seinen geistigen Zwillingsbruder als einen »Bären« geschildert, der nur in den seltensten Ausnahmefällen Besuch annehme: »Geben sie Acht, die Bonne wird Ihnen sagen: Monsieur est sorti – und dann haben Sie's.«
Ich ließ mich durch diese dunkle Warnung nicht abschrecken, sondern zahlte meine Zeche und schritt kühn dem Bahnhofe zu. Eine halbe Stunde später saß ich im Coupé.
Raincy liegt einige Meilen östlich von Paris, an der Straßburger Linie. Der Name: Dorf würde für diese höchst eigenartige Niederlassung eben so wenig passen, als die Bezeichnung: Stadt, oder: Flecken. Raincy war ehedem ein großer, prächtiger Park und gehörte dem Könige Louis Philipp. Das zweite Kaiserreich confiscirte diese Besitzung und legte inmitten der romantischen Wildniß Boulevards an, die sich binnen Kurzem mit zahlreichen zerstreuten Landhäusern und Villas bedeckten.
Ein Gang durch die Straßen von Raincy bietet dicht nebeneinander die überraschendsten Gegensätze. Undurchdringliches Waldgestrüpp wechselt mit anmuthigen Gärten und labyrinthischen Schlingwegen. Bald wandeln wir an großen Erdbeer- oder Kartoffelfeldern vorüber, bald an einer schwereichnen Hausthüre mit breiter Marmortreppe. Jetzt glauben wir uns in ein elegantes Vorstadtviertel von Paris, jetzt in einen lauschigen Winkel des Thüringer Waldes oder des Spessarts versetzt. Ueberall herrscht jedoch der tiefste Friede, die feierlichste Sabbathstille. Kein Omnibus, keine Droschke stört hier die Betrachtungen eines schlendernden Parkperipatetikers. Nur dann und wann ein sonnverbrannter Blousenarbeiter, eine Landschöne mit Eier- und Butterkörben, – und wenn es hoch kömmt, ein langsam dahin rollender Gemüsekarren, – das ist die Staffage der Raincyschen Straßenscenerie ...
Das Landhaus der beiden » Unzertrennlichen«, wie der Volksmund sie seit lange betitelt, liegt weit, weit vom Bahnhofe, am Boulevard du Nord. Es ist eine kleine Reise, die bei einer brennenden Augustsonne ihre Strapazen hat. Anmuthig in die Umgebung von dichtbelaubten Kastanien und Buchen geschmiegt, bietet die zweistöckige Villa unsrer Elsässer das Bild der tiefsten Zurückgezogenheit, – ein Tusculum von durchaus deutschem Charakter, wie denn auch seine Bewohner ihrem Wesen nach mehr Deutsche als Franzosen sind.
Ich trat an die Gartenthüre und klingelte. Sofort ertönte ein lebhaftes Hundegebell, und als die »Bonne« mir öffnete, sprangen ein großer, schwarzer Neufundländer und ein muntrer Spitz schweifwedelnd auf mich zu und bewillkommten mich mit vieler Zuvorkommenheit. Dieser Empfang war nichts weniger als ungastlich, und so zog ich denn mit wachsendem Sicherheitsgefühl eine Karte hervor, und schrieb mit Bleistift auf die Rückseite:
»– désire voir Mr. Erckmann pour une minute et demie.«
Die Wirthschafterin hatte nämlich die Anwesenheit ihres Gebieters keineswegs in Abrede gestellt, sondern nur hinzugefügt, Herr Erckmann sei außerordentlich beschäftigt.
Nach wenigen Augenblicken kam mir aus der Thüre des Landhauses ein Mann entgegen, der das leibhaftige Wohlwollen in Person zu sein schien. Eine kräftige, etwas beleibte Figur von mittlerer Größe, mit kurzem, blondem, in sich zurückgebogenem Schnurrbart, weitblinkender Glatze und einem breiten, rosigen Vollmondsgesicht, – so trat Emil Erckmann auf mich zu und reichte mir, dem völlig Unbekannten, treuherzig und trotz alledem graziös und chevaleresk die biedre rundliche, grübchenreiche Rechte. Aus seinen kleinen grauen Augen blitzte ein ungebändigtes jugendliches Feuer, eine Klarheit des Geistes, eine Frische der Thatkraft, deren Eindruck wiederzugeben mir unmöglich ist. Ueber der ganzen Erscheinung lagerte der Schimmer eines ewig heiteren, glücklichen, sonnigen Gemüths.
Ich bat ihn wegen meiner unbescheidenen Störung – die Feder hinter seinem Ohre bewies mir, daß ich ihn bei der Arbeit unterbrochen hatte – um Verzeihung und rückte unverblümt mit dem Zwecke meines Besuches heraus. Ich sagte ihm, ich bereite eine kleine Studie über »Erckmann-Chatrian« vor, d. h. nicht über ihre Werke, sondern über ihre Personen, und zu diesem Behufe hätte ich meine Helden von Angesicht zu Angesicht sehen müssen ...; bei Chatrian sei ich bereits gewesen, und wenn er nun liebenswürdig sein wolle, so würde er mir nicht grollen, sondern mich in seine Idylle am Boulevard du Nord einen theilnehmenden Blick werfen lassen.
Mit einer Artigkeit, die ich nicht genug rühmen kann, erwiderte mir der so seltsam überfallene Schriftsteller, es könne ihm nur schmeichelhaft sein, wenn man in Deutschland für seine Personalien so viel Interesse hege, und erbot sich, mir zu zeigen, was ich nur immer wünschte.
»Ich sprech' auch e bissel Deitsch«, fügte er in seinem gemüthlichen Elsässer Dialect hinzu, und in diesem Augenblicke kam er mir vor wie ein alter Bekannter.
Er führte mich nun zunächst in den Garten und zeigte mir seine Tauben, seinen Hühnerhof und die traulichen schattigen Plätzchen, an denen Raincy so reich ist.
»Arbeiten Sie zuweilen im Freien?« fragte ich.
Er verneinte. »Die Inspiration«, sagte er, »kommt mir nur an meinem Schreibpult.« – Können Sie sich denken«, fuhr er nach einer Pause fort, »daß es mir rein unmöglich ist, eine Scenerie zu beschreiben, so lange mich dieselbe umgibt? Ferne von meiner Heimat, dem Elsaß male ich ihn aus der Erinnerung. Wenn ich in einigen Jahren Raincy verlassen haben werde, so denke ich einen Roman hier an diesen romantischen Park-Boulevards spielen zu lassen ...«
Diese Bemerkung führte das Gespräch auf seine schriftstellerische Vergangenheit.
Er schilderte mir die Begebnisse, in deren Folge er die Mitarbeiterschaft mit Chatrian begonnen, folgendermaßen:
Ich bin am 20. Mai 1822 zu Pfalzburg im Niederelsaß geboren, und besuchte daselbst bis zu meinem 19. Jahre das Lyceum des Professors Perrot. Der vier Jahre jüngere Chatrian, der in Boldestenthal, nicht weit von Pfalzburg, das Licht erblickte, war bei meinem Abgang nach der Universität in demselben Lyceum Untersecundaner. Wir hatten von einander kaum Notiz genommen. Ich ging nach Paris, studirte Jura und machte meinen Doctor. Inzwischen war ich einmal wieder in Pfalzburg gewesen und hatte auch begreiflicher Weise meinen alten Lehrer Perrot besucht, mit dem mich eine intime Freundschaft verband.
»Nun, was macht die Schule?« fragte ich ihn, nachdem die erste Freude des Wiedersehens vorüber war.
»Ach Gott« seufzte er, »seit du weg bist, habe ich nur wenig Schüler, die für die Wissenschaft ein ernstes Interesse zeigen, oder eigentlich nur einen ...«
»Ich mußte laut auflachen. Aber Perrot meinte es ganz ernstlich.
»Und der eine wäre?« fragte ich neugierig.
»I nun, der junge Bauernsohn aus Boldestenthal, der Chatrian ... – Erckmann, den Burschen solltest du näher kennen lernen, – ich glaube, ihr paßt zu einander.«
Er lud uns beide zum Nachtessen ein, wir waren zusammen bis gegen Mitternacht, trennten uns in gehobener Stimmung, aber das war Alles. Chatrian gefiel mir recht gut, ich lernte seine bedeutende Begabung würdigen, allein ein Gedanke an eine gemeinsame Thätigkeit kam uns beiden nicht in den Sinn. Ich reiste wieder ab und hatte die Geschichte bald vergessen. Chatrian absolvirte inzwischen sein Abiturienexamen, und da ihn seine Eltern für den Kaufmannsstand bestimmten, so ging er nach Belgien in ein Glaswaarengeschäft.
Abermals verflossen zwei Jahre, und abermals besuchte ich Pfalzburg und meinen alten Freund Perrot. Wen treffe ich da bei ihm auf seinem Zimmer? Niemand anders als Chatrian, der seinem Prinzipal Knall und Fall aufgesagt und sich hoch und theuer verschworen hatte, lieber zu sterben, als in die Brüsseler Zwangsjacke zurückzukehren. Diese Selbständigkeit machte mir den jungen Mann interessant. Perrot zeigte mir gelegentlich eine Abhandlung über eine wichtige sociale Frage, zu deren Bearbeitung Chatrian inmitten seiner täglichen Plackereien Muße gefunden hatte, und die Arbeit frappirte mich so, daß ich dem Verfasser meine Vorschläge machte ...
Chatrian acceptirte. – Ich will Sie mit einer detaillirten Schilderung der Schwierigkeiten, welche wir zu überwinden hatten, ehe wir mit unsern Schriften durchdrangen, nicht ermüden. Unsere ersten Feuilletons erschienen im » Démocrate du Rhin«: acht Tage später war das Blatt von Regierungswegen unterdrückt ... Wir schrieben ein vieractiges Drama: »Der Elsaß im Jahre 1814«: zwei Tage vor der Aufführung legte der Präfect sein Veto ein. Ein Jahr später gingen wir nach Paris. Mit Mühe hatten wir uns Eingang bei dem Feuilleton der » Revue de Paris« verschafft: vierzehn Tage später wurde die » Revue de Paris« von dem Gouvernement suspendirt ...
Da offerirte uns der » Moniteur Universel« gegen ein sehr anständiges Honorar sein Rez-de-Chaussée. Wir brauchten damals Geld ... und somit acceptirten wir ...
Unsere politischen Ansichten erlaubten uns jedoch nicht, diese Mitarbeiterschaft fortzusetzen. Hätten wir nur Feuilletons im eigentlichen Sinne geliefert, so konnte uns die politische Färbung des Blattes, das sie abdruckte, gleichgültig sein. Allein wir producirten vorzugsweise Novellen und Erzählungen, deren Charakter eine Tendenz erheischte – und die Unterdrückung dieser Tendenz aus Rücksicht auf die Richtung des publicirenden Blattes schien uns mit unserm Gewissen und unserer Ueberzeugungstreue unvereinbar.
Wir gaben also den »Moniteur« auf, und waren nunmehr wieder auf dem alten Fleck. Unser Genre sagte den Franzosen nicht recht zu. Unsere Bildung war eine zu deutsche, um dem damaligen Pariser Publikum sympathisch zu sein ...
Zehn Jahre lang pochten wir vergeblich an die Pforten der Pariser Redactionen, bis endlich das » Journal des Débats« unsere Specialität begriff und einen größeren Roman von uns veröffentlichte, der gründlich durchschlug. Gleichzeitig machte uns die » Revue des deux mondes« glänzende Anträge – und unser literarisches Glück war gemacht.«
Erckmann hielt inne. Seine Augen leuchteten. Die Erinnerung an die bestandenen Kämpfe hatte ihn sichtlich ergriffen. Ich schwieg, denn ich fühlte, daß eine banale Bemerkung ihn verletzen würde.
Er zeigte mir nunmehr sämmtliche Räumlichkeiten des Hauses Chatrian bewohnt den untern Stock, Erckmann den obern. Unten, gleich dem Eingang gegenüber, befindet sich der gemeinsame Speisesaal, ein etwas altfränkisch möblirtes, aber höchst gemüthliches Zimmer. Schwere Bänke aus Eichenholz stehen an den Wänden entlang. Das bekannte Bild »Rouget de Lisle, die Marseillaise vortragend«, hängt über der Thüre, und rechts und links prangen zwei prächtige Nachbildungen der Venus von Milo und des Belvederischen Apollo. Die übrigen Zimmer sind moderner ausstaffirt; indeß athmen auch sie eine wohlthuende Einfachheit. Im obern Stock sind zwei gastliche Fremdenzimmer hergerichtet. Erckmanns Arbeitsstube ist ein kleines blautapezirtes Quadrat ohne jeden äußeren Schmuck. Auf einem runden Tische aus Tannenholz ist eine kleine pultartige Einrichtung angebracht, und rings herum am Boden liegen Stöße von Büchern und Manuscripten. Nie sah ich eine regelmäßigere Schrift, als die Erckmanns: in den langen Zeilen seiner Quartbogen ist keine Ausweichung, keine Unebenheit zu bemerken; das Ganze sieht fast aus wie armenische Typographie. Die Bibliothek der beiden Freunde besteht fast ausschließlich aus historischen und philosophischen Werken: die belletristische Literatur der Gegenwart ist gar nicht, die classische nur sehr spärlich vertreten. Erckmann sagte mir später einmal, jedes Genießen fremder Schöpfungen sei für ihn mit dem eigenen Produciren unvereinbar.
In einem Nebengebäude befindet sich ein allerliebstes Billardzimmer, dessen Wände mit Alterthümern aller Art geschmückt sind. Dieser Platz ist das Rendezvous eines kleinen Kreises von Pariser Schriftstellern, Künstlern und Theaterdirectoren, die sich hier allwöchentlich einmal einfinden, Bier trinken, caramboliren und Erckmann-Chatrians treffliche Cigarren rauchen. Erckmann selbst ist in die Geheimnisse des Billardspieles nicht eingeweiht, und oft sitzt er noch stundenlang oben in seinem »blauen Loch«, wie seine Freunde zu sagen pflegen, während es unten schon toll genug hergeht. Er muß sich alsdann noch eine Scene von der Seele schreiben, – sonst ist er für den ganzen Abend unbrauchbar.
Im Uebrigen fehlt der allerliebsten Villa Nichts, was zum Comfort gehört. Ein Badezimmer, ein hübscher Balkon und eine Veranda bedürfen kaum der Erwähnung, denn sie verstehen sich bei einem französischen Landhanse von selbst.
Nachdem ich alle diese Einrichtungen ausgekundschaftet hatte, setzten wir uns an den Eichentisch im Speisesaal; die Bonne brachte in einem humpenartigen Steinkruge schäumendes Straßburger Bier, die Cigarren wurden angezündet, und nun erzählte mir mein gefälliger Wirth, was ich zu wissen brannte: nämlich, wie Erckmann-Chatrian arbeitet. Lassen wir den wackeren Pfalzburger selbst reden: –
»Chatrian fährt jeden Morgen um neun Uhr nach Paris, und kehrt jeden Abend um sechs Uhr wieder hierher zurück. Ich bin dagegen Tag für Tag von früh bis spät zu Hause: den Schluß können Sie sich selbst ziehen. Sie werden die Thätigkeit Chatrians und seine Bedeutung für mich und unsere Arbeiten nicht unterschätzen, wenn ich Ihnen sage: Chatrian hat, seitdem wir mit einander zu thun haben, noch nicht die Feder angesetzt!«
Ich drückte mein Erstaunen ans. – »Ja, so ist es,« fuhr er fort. »Da haben Sie das ganze Geheimniß der Stileinheit, welche selbst unsre Gegner in unseren Romanen nicht wegläugnen können: der Stil aller unsrer Schriften ist mein.«
Ich begriff jetzt, warum Chatrian sich geweigert hatte, mir reinen Wein einzuschenken. Offenbar fürchtete er, eine oberflächliche Beurtheilung werde aus der wahren Kenntniß der Thatsachen einen einseitigen Schluß ziehen. Daß das Verdienst Chatrians bei ihren gemeinsamen Leistungen indeß kein Geringes ist, wird aus dem Folgenden erhellen.
»Jeden Abend nach Tische,« erzählte Erckmann weiter, »wenn die Bonne von Neuem die Humpen gefüllt, beginnt unsre gemeinschaftliche Thätigkeit. Ich lese dann zunächst vor, was ich den Tag über geschrieben habe. Chatrian besitzt in hohem Grade, was man Compositionstalent nennt. Fast immer hat er in dieser Richtung etwas an meiner Arbeit auszusetzen. Ich, vorzugsweise Colorist, verfalle nur allzuleicht in den Fehler, die Perspective zu vergessen, und z. B. unwichtige Nebenpersonen mit einer gleichen Detailmalerei zu beehren, wie die Hauptcharaktere. Hier legt denn Chatrian sein Veto ein. Er weist mir mit einem kritischen Scharfsinn, den ich nicht genug bewundern kann, die Irrthümer und Schwächen meiner Anordnung, meiner Entwickelung nach und streicht mit stoischer Hartherzigkeit alles Ueberflüssige und Unmotivirte. Auch in stilistischer Hinsicht besitzt er ein ungemein feines Gefühl; er hat ein Verständniß für die Nuancen der Rede, für die Abdämpfungen der Begriffe, wie kein Zweiter. Demungeachtet würde er, seinem eignen Geständniß zufolge, nicht so wie ich, im Stande sein, die eigentliche Ausarbeitung zu übernehmen. Chatrian ist kein Prosaiker. Seine Verse sind dagegen allerliebst und erinnern mehr als alle übrigen französischen Poesien an die deutschen Lyriker. Ist nun der erste Theil unsrer Aufgabe, die Durchsicht des bereits Vollendeten, erledigt, so beginnt die Vorbereitung, Besprechung und Sichtung dessen, was ich etwa am folgenden Tag vorzunehmen gedenke. Der Plan des ganzen Werkes liegt uns selbstverständlicher Weise vor, ehe ich überhaupt die Feder ansetze: diese Präparation für den andern Tag bezieht sich immer nur auf die Einzelheiten unsres Entwurfes. Hier kommt denn das Talent Chatrians zu seiner vollen Geltung. Er ist Meister im Gruppiren; er hat einen tiefen Blick für die Verschlingungen der Intrigue; er versteht es, den Charakteren Relief zu geben. So sitzen wir oft bis Mitternacht und länger den Bleistift in der einen, die Brieftasche in der andern Hand, und tauschen, halblaut redend, unsre Gedanken aus. Um ein Uhr hat die Wirthschafterin Auftrag, uns an die Bürgerpflicht der Ruhe zu erinnern. Gehorchen wir alsdann ihrer Mahnung nicht, so löscht sie uns die Lampe aus. Es ist indeß ein paar Mal vorgekommen, daß wir im Dunkeln bis gegen drei Uhr fortdebattirten. Seitdem haben wir die Bonne autorisirt, zu Zwangsmaßregeln zu schreiten: sie hat das Recht, nach ein Uhr ein Hackebretconcert anzustimmen, das uns jede Conversation unmöglich machen würde.«
Ich mußte laut auflachen. Archimedes und seine Cirkel fielen mir ein, und die ganze Komik dieser nächtlichen Scene trat so lebhaft vor meine Seele, daß es mich Mühe kostete, meine Zwerchfellmuskeln wieder zur Ruhe zu bringen.
Auch Erckmann lachte herzlich mit.
»Ja,« sagte er schließlich, »so ist's! Wie wir collaboriren, so können es alle, selbst die größten Poeten, ohne daß sie fürchten müssen, die neun Himmlischen zu beleidigen! Sagen Sie das Ihren Landsleuten!«
Noch einmal goß er die Becher voll bis zum Rande, erhob das Glas und sprach mit warmer, klangvoller Stimme:
» A votre santé!«
» A votre santé!« erwiderte ich, und nie war dieser Wunsch aufrichtiger über meine Lippen gekommen.
Zwei Minuten später saß er wieder oben, an dem vierten Bande seiner » Histoire d'un Paysan«. Wenn diese Zeilen die Presse verlassen, ist das Buch vielleicht schon erschienen.