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Odin hatte irgend etwas in der Fabrik auf Sörstranda drüben zu tun gehabt und war nun auf dem Heimweg. Er ruderte das kleine Stück über die Flußmündung zum Bollwerk in der Haabergbucht hinüber, auf die Weise brauchte er nicht oben herumzugehen, denn es war weit bis zur Brücke hinauf.
Dämmerung lag über dem Land, und mildes Wetter und Neuschnee, ein stiller, zarter Abend; Odin glaubte fühlen zu können, daß es Samstag und Feierabend war ringsum. Der Schnee war unerwartet früh gekommen, so daß die Leute schon überlegten: sollte das am Ende ein gutes Zeichen sein? Lange würde er wohl kaum liegenblieben.
Das Tageslicht hing noch in der Luft, im Norden und Westen. Ganz allmählich verblich es und ließ die Nacht kommen. Die Mondsichel zeigte sich weit drüben am westlichen Himmel, es war erst kürzlich Neumond gewesen.
Aber mitten in diesem Frieden war Odin unruhig. Irgend etwas aus früheren Zeiten, aus seinen Knabenjahren, quälte ihn und zerrte an ihm. An solchen Abenden war es nicht still im Meer. Er hätte mit den Heringsnetzen draußen sein sollen. Aber das ging nicht, denn es war Samstagabend. Und diese Fabrik verschlang fast seine ganze Zeit – er schaute zurück, während er ruderte. Es war eine Heringsfettfabrik drüben am Strand, ein niedriges Haus mit Blechdach, das noch viel weißer leuchtete als der Schnee; mit der Zeit sollte es größer werden! Aber viel Mühe hatte es gekostet und kostete es noch – – würde es denn nie von selber gehen?
»Neuschnee und Heringsschwarm«, murmelte er, als er das Boot an Land gezogen hatte, er blieb stehen, hielt den Vordersteven fest und schaute hinaus. »Neuschnee und Heringsschwarm, sagte man früher, ja.« Das Meer blinkte bei den Landzungen am Nordufer und verblaßte mit dem Tag über die ganze Bucht hin. Ein leichtes Gekräusel kleiner Wellen versuchte den Mond anzublitzen, kaum daß man es sehen konnte.
Da hört Odin Ruderschläge, irgendwo draußen. Ein Boot kommt. Leute, die auf dem Fischfang draußen gewesen waren, vermutlich; die Schläge folgen nun ziemlich rasch aufeinander. Odin bleibt stehen und wartet auf die Männer, ohne darüber nachzudenken. Jetzt erkennt er sie auch, es sind die Pettersenbuben, und sie rudern stramm. Er geht zur Bootslände vor und begrüßt sie. – »Habt ihr Gespenster gesehen, in der Bucht draußen, weil ihr so rudert? Ist was los draußen?« – »Der Heringsschwarm!« antworten sie, »dick wie Grütze steht er von der äußersten Bucht bis an die Landzunge hier, ja, wirklich!« Sie erzählen noch mehr davon und werden ganz eifrig dabei, denn das war ein ernst zu nehmender Schwarm. Odin steht still da und lauscht hinaus, während sie erzählen.
Jetzt hörte er es, ein feines Rieseln im Wasserspiegel, wie leises Plätschern am Strand, dann wieder wie ein heftiger Regenguß, und Unruhe und Schaudern überlaufen ihn, bis er nur noch ein kleiner Bub ist: das ist der Schwarm! – Ob sie im Sinn hätten, jetzt mit den Netzen hinauszufahren? fragt er. – Ja, freilich, sie würden ihre Fetzen herausholen, die Heringe könnten noch etwas erleben heute nacht!
»Nein, jetzt will ich euch etwas sagen, Burschen: Wir rufen die Leute zusammen und schaffen das Großnetz ins Boot; dann kreisen wir morgen früh den ganzen Schwarm ein. Das gibt einen Fang, sag' ich euch!«
Sie waren sofort dagegen, dies und jenes stand im Weg, aber er hörte nicht auf sie, schob das Boot wieder ins Wasser und ruderte hinaus. – »Ihr nehmt die Burschen aus der Gegend hier«, ruft er, »dann hole ich die oben von den Höfen!« – »Ja, ja!«
Der Schwarm stand mitten in der Bucht, der ganzen Breite nach. Odin konnte ihn im Meeresleuchten sehen, kaum daß die Fische dem Boot auswichen, und er sah sie über das ganze Wasser hin, wie sie die Oberfläche ritzten oder sich in die Höhe schnellten. Große Heringe, ja, und sie standen ziemlich dicht. Er konnte nicht bemerken, daß sie von Raubfischen gejagt wurden, der Schwarm stand mit seiner ganzen eigenen Schwere da. Odin ruderte rasch und still zurück und machte sich auf den Heimweg.
Von Vaagen nach Haaberg hinauf brauchte er nie lange, aber heute abend fand er, daß das Gehen so wenig verschlage, man hätte ein junger Bub sein und schnell laufen müssen. Er sah seine Häuser dort, die heute abend genau so waren wie an einem anderen Abend, sie lächelten ebenso jung und wohlzufrieden, hatten nicht vor, alt für ihn zu werden, so hatten sie ihn schon gar viele, viele Male zum Hof heimlaufen sehen. Er verlangsamte seine Schritte, ohne es zu wissen, und kam still heim wie gewöhnlich.
Aber Ingri sah trotzdem, daß irgend etwas los war. Sie merkte ihm alles so rasch an. – »Hast du wieder Verdruß in der Fabrik gehabt?« fragte sie. Nie waren ihre Augen so schön, wie wenn dieser Schimmer von Unruhe oder Angst über sie hinfuhr, und nie auch kam sie ihm so nahe wie in solchen Augenblicken. – »Nein, jetzt fahre ich hinaus und werde reich, Ingri, ich habe diesen Wohlstand des kleines Mannes satt, und du, weißt du, du hättest dein Lebtag lang reich sein sollen, das gehört zu dir. Wir – wir wollen mit den Netzen hinaus, denn die Bucht ist voller Heringe – ist es nicht schön vom Herrgott, daß er das Fischgerät noch hier liegen ließ, obwohl es verkauft ist? Ja, jetzt heißt's: lebt wohl, ihr armen Leute!«
Ingri lachte selten so, daß man es hörte, sie taute nur auf und lächelte ganz leise, und mit diesem Lächeln ging sie noch lange danach umher. – »Glaubst du denn, daß du Leute mitbekommst?« – »Leute? Die kommen wie die Hühner, wenn das Futter ausgestreut wird, sag' ich dir!« Er hatte schon angefangen, die Kleider zu wechseln, und dann saß er am Tisch und schlang das Essen hinunter. – »Streich mir ein paar Butterbrote, bis ich wieder hereinkomme!« Er nahm die Mütze und war schon bei der Tür. Der kleinste Bub, der Per, machte sich fertig und wollte mitkommen. Er müsse noch warten, sagte Odin, wer zum Fischen mitkommen wolle, müsse mindestens über vier Jahre alt sein; er könne später einmal hinuntergehen und sich die Heringe anschauen. Anders, der Älteste, stand am Tisch und räusperte sich. Der Vater verstand ihn: Der Junge war jetzt vierzehn Jahre alt und hielt sich für voll. – »Und du mußt daheim bleiben und der Mutter helfen, ja«, fügte er hinzu. – » Mitkommen!« schrie Per und stampfte auf. – »Die Rute liegt hinter der Holzkiste!« lachte Odin, und schon war er draußen, und Per mußte aufpassen, daß ihm nicht die Finger eingeklemmt wurden.
Odin ging zuerst zu Lauris. Sie suchten einander nicht oft auf, die Haabergbauern, aber sie taten sich doch gerne zusammen, wenn es darauf ankam. Er traf Astri auf der Küchentreppe draußen, auch sie wollte gerade ins Haus und blieb nun stehen und wartete. – »So, so, du kommst wohl, um unseren Neubau anzuschauen?« sagte sie und deutete dabei auf die Veranda vor der anderen Tür. »Bis jetzt hast du dir ja noch nichts daraus gemacht, ihn zu sehen.« – »Na, ganz so schlimm ist es doch auch nicht, gesehen habe ich ihn schon.«
Odin stand da und schaute hinüber, und sie stand da und wartete. »Du findest wohl, es sei nichts Gescheites?« – »Ich? Das weiß ich nun nicht. Ich verstehe so wenig davon. Früher gefiel mir das Haus besser, das muß ich zugeben.« – »Du findest, daß es zu großartig ist, nicht wahr? Du, der eine Art Prophet für die kleinen Leute in der Gemeinde geworden ist.« – »Ja, du weißt, der kleine Mann kommt bei mir immer wieder zum Vorschein«, lachte er, »das schmeckt mir wie dem Fuchs die Vogelbeeren.« Astri lachte mit. – »Ja, sei's wie's sei, die Veranda wirst du immerhin ertragen müssen«, sagte sie. – »Ich ertrage gar vieles, Kind. Aber eigentlich hätte ich mit dem Lauris etwas auszumachen.« – »Da mußt du drinnen suchen.«
Lauris saß in der Stube und las Zeitungen, die eben erst gekommen waren. – »Nun, was steht drin?« fragte Odin. – »Ach, wir haben bald lauter Frieden, überall.« – »Ist es wahr, haben die Leute noch wirklich soviel Vernunft, daß noch einmal Frieden wird. Worüber sollen die Blätter denn dann schreiben? Aber da wir schon vom Frieden reden, jetzt ist's zu Ende mit dem Frieden, der Hering ist da.« Odin erzählte, was notwendig war, und wollte Lauris zum Mitkommen überreden: »Wir brauchen ja auch einen Bas, weißt du.«
Lauris tat ein paar Züge aus seiner Pfeife, ging durch die Stube und spuckte in den Ofen. – »Das Großnetz?« sagte er. »Ich hab' ja doch kein Gerät, hab' es voriges Jahr verkauft. Du mußt erst in die Stadt und um Erlaubnis fragen.« – »Erlaubnis? Wir nehmen es ohne Erlaubnis – wir werden den Kerl in der Stadt reich und zufrieden machen, ohne seine Erlaubnis – – ja, du tust also mit?«
Lauris sah Astri an und sie ihn. – »Nein, ich mache mir nichts daraus. Außerdem haben wir morgen Kindstaufe; und was wollt ihr denn jetzt mit dem Hering anfangen? Gibt es denn Leute, die kaufen?« – »Aber freilich, freilich, nicht nur die Fabrik, sondern auch andere.« – »Die Fabrik, ja, hm – hm! Futter für die Fabrik. Nein, aber im Ernst, ich habe aufgehört mit dem Heringsfang. Ich mache es jetzt so, wie du immer gepredigt hast, halte mich in allem Ernst an die Erde, für sie und von ihr muß man leben, hat es nicht so geheißen?«
Da war nichts zu machen, und Odin wünschte gute Nacht und ging fort.
Auf den anderen Höfen brachte er alle Mann auf die Beine, und gegen Mitternacht waren sie im Netzschuppen unten und in voller Arbeit, um das Großnetz herzurichten. Das Boot war leck, aber immerhin schwamm es, und ebenso die kleinen Boote. Alles ging unter Lachen und Munterkeit vor sich, und selbst die Gottesfürchtigen taten mit und lachten zu den derbsten Spaßen. Ein Südländer war dabei, namens Kjeld, ein kurzer kleiner Stumpen, und Kjeld Stump wurde er auch genannt. Er war ein tüchtiger Fischer, aber er stolperte und fiel in einemfort, und einige von den jungen Burschen fielen genau so hin, sobald sie sich nur rührten. Herrgott, war das lustig in dieser Nacht.
Als es an der Zeit war, war das Netz in Ordnung gebracht, und die Männer gingen an Bord. Dunkel war es nicht, und gleich würde es im Osten hell werden. Da mußte es ja gut gehen! – »Daß doch der Lauris nicht mitkam«, sagte Odin, »zum Teufel auch, wen sollen wir jetzt als Netzmeister nehmen? Vierzehn Fischer und kein Bas?« – »Red doch keinen Unsinn!« sagte Kal Stranda, der Älteste der Schar. »Der Odin, der die Gemeinde regiert, der wird auch das hier regieren. Schlimmer kann das auch nicht werden.« – » Schlimmer, nein, schlimmer nicht!« lachte Odin. Und er nahm wirklich das Lot und stieg ins Leichtboot.
Still und blank lag die Bucht da, und ringsum war das Land weiß und still; – und die Burschen blieben schweigsam, während sie dahinfuhren.
Es dauerte nicht lange, da fühlte Odin den Schwarm am Lot, und sein Hosenhintern wurde immer länger und länger, wie es bei einem Netzmeister sein soll, ehe er das Kommando zum Auswerfen gibt. – »Gleich wird's losgehen!« sagten die Männer im Netzboot. Sie ruhten auf ihren Riemen aus. Aber Odin ruderte weiter hinaus, es sah aus, als rudere er durch lauter Heringe, und die anderen folgten nach. Endlich drehte er sich um und hielt Umschau, bat die Leute, weiterzurudern. Die Männer, die das Netz auslegen sollten, schoben die Mütze in den Nacken, und kaum fiel das Kommando, so sauste das Netz hinunter – das Spillboot mit dem Zugtau ruderte an Land. Sie sperrten die ganze Haabergbucht ab, soweit das Netz reichte.
Dann fingen sie sofort an, in die Bucht hineinzuziehen, sie zogen und schafften, bis der helle Tag über ihnen stand. Stiller friedlicher Sonntag – die Männer sahen auf, achteten jedoch kaum darauf, blanker Himmel und blanke See, und weiße Hügel und Berge, überall Feiertag. Aber man kann ein Großnetz nicht einfach so im Wasser hängen lassen, hier draußen, dem Meer vor dem Maul; sie zogen und sangen, zogen und sangen, es war auch dies eine Art Feier, fanden sie. Ein junger Kerl, kaum aus den Kinderschuhen, schaute auf und grinste über das ganze kleine breite Gesicht:
»Nein, schaut doch nur die Gottesfürchtigen an, wie die am Sonntag arbeiten!«
Sie lachten alle miteinander, was war da zu machen. – »Im übrigen«, sagte Odin, »jetzt noch kurze Zeit fest geschafft, und dann gehen wir heim und machen ein paar Stunden Feiertag. Dann schlagen wir die Bucht ins Netz und machen Schluß heute abend.«
Sie vertäuten Netz und Boote und gingen, als gerade die Kirchenglocken anfingen, zwischen den Bergen zu tönen. – »Die dort, die meinen es nicht böse«, sagte Odin zu den Bekehrten. »Die sind erleuchtet genug, um uns verstehen zu können.« – »So etwas kann auch nur der Odin ihnen ins Gesicht sagen«, meinten ein paar andere. »Er bringt's auch noch fertig, daß sie ihm das glauben.« – »So hat sich's angehört, ja.«
Um drei Uhr waren sie wieder da. Man kann sich nicht Zeit lassen, bis schlechtes Wetter kommt und alles verdirbt, wenn es sich um den Wohlstand handelt. Odin und der Unterbas ruderten mit dem Lot ein wenig ins Netz hinein. – »He?« fragten die Männer. – »Doch, sie sind schon noch da.« – »Dick?« – »Ja, das glaube ich fast, Leute.«
Mitten unter der Arbeit schauten sie zu Odin auf: Sollten sie das Netz wirklich zum Südufer einschlagen? – Ja–a. – Sollten sie denn nicht ans Haabergufer damit? – »Ach, ihr denkt ans Strandrecht!« lachte er. »Ihr glaubt, ich wollte meinem Nachbarn einen Streich spielen? Ich spiel' mir ja selber den gleichen Streich; wir besitzen hier das Ufer gemeinsam, der Lauris und ich. Aber das Netz hält nicht, wenn wir's hier bei den Felsen hereinziehen, und dort drüben ist der feinste Strand, den man sich denken kann – seid ihr denn noch nie mit dabei gewesen und habt ein Netz ausgelegt, Burschen?« – »Doch, doch, aber – Und Recht soll Recht sein«, ließen sie hören. Dann war also alles in Ordnung. Wenn er es so wollte. – »Und außerdem hat der Lauris ja das Netz dem Odin richtig vor der Nase wegverkauft«, sagten sie untereinander.
Odin merkte, daß sie ihn nicht nur mißverstanden, sondern ihm auch mißtrauten, und er sagte dies zum Unterbas: »Das sind tiefsinnige Leute! Merkwürdig, daß sie sich nicht schneller umdrehen können und keine schärferen Krallen haben, wenn doch das Zeug dazu in ihnen steckt! Daß sie die Krallen nie gebrauchen, wenn sie's doch andern zutrauen?« – »Na«, sagte der andere, »es haben eben nicht alle soviel Glück wie du. Nicht jeder kann sich ein Lachsrecht für beinahe nichts pachten. Und dann fischen, daß es unheimlich ist, den Fisch außer Landes schicken und die Mütze voller Gold kriegen, während die anderen in ihren alten Verkaufsrechten feststecken und wenig oder gar nichts bekommen. Und dann dieses Heringsglück, das du hast? Nein, da kann nicht jeder mittun.«
Odin lachte. Die Leute waren so lustig, wenn sie mit solchen Dingen kamen. »›Wenn es kommt, dann kommt es‹, sagte der Mann, als ihm das Haus über dem Kopf einfiel. Aber hier haben wir Heringe, Albert, und jetzt gibt's ein Leben und Treiben. Ein wenig Leben ist nicht schlecht, he?« – »Nein, das soll wohl wahr sein!« – »Na, ich weiß nicht, ob das so ganz wahr ist. Aber lustig ist es. Die Leute werden wieder mehr aufgekratzt, es rührt sich wieder etwas in der Gemeinde. Selbst wenn der Verdienst nicht so großartig ist.«
Albert seufzte, ein junger und nachdenklicher Mann. – »Nein, man weiß nicht – – man weiß nicht, was daraus werden kann.«
»Ja, ganz recht, Albert, damit hast du's getroffen. Gerade das ist das Lustige, daß man nie weiß, was daraus werden kann. Aber irgend etwas wird es, dieses Mal, das fühle ich an mir.«
Am gleichen Tag fand die Kindstaufe bei Lauris Haaberg statt und danach des große Taufessen. Sie hatten lange auf dieses Mädchen gewartet; die drei ersten Kinder waren Buben, und der Älteste zählte jetzt schon sechzehn Jahre. Astri trug ihr Kind selber zur Taufe. Das hatte sie auch bei den drei anderen getan.
Alle sagten es, alle bei der Kirche, daß Astri noch unverändert jung und aufrecht sei. Das gleiche konnten sie von Lauris sagen, der überdies noch ordentlich rund geworden war, er war nun ein stattlicher Mann. Und die Gevattern waren lauter ausgesuchte Leute und ebenso alle anderen Gäste: Ola Engdalen und seine feine Frau, der Lensmann mit seiner Madam, die Leute von Grönset und die Jungen auf Nesse, Frau Mina und Arthur auf Segelsund und so weiter. Aus den Obersten selber aber, wie aus dem Doktor und dem Tierarzt, hatten sie sich nichts gemacht, das sah man. Sie war nicht von der Art, die Astri. Sie sagte es selber, daß sie ihrer Meinung nach mit denen nichts zu tun habe, die gehörten auf eine andere Seite. Auch der alte Ola Haaberg war da. Er hatte sich sozusagen selber eingeladen – »ich will auch dabei sein und die Prinzessin einweihen, und außerdem möchte ich so gern wieder einmal Haaberg sehen; ich muß mir doch mein Heim noch ein letztes Mal anschauen, wißt ihr.«
Ola war jetzt richtig alt, weit über siebzig; aber doch war er manchmal noch jung und lustig wie früher. – »Wenn du es nur aushältst, auf den harten Wegen so durchgeschüttelt zu werden?« hatte Mina gesagt, ehe sie abfuhren; denn sie mußten den Wagen nehmen, der Schnee war auf der Straße nicht liegengeblieben. – »Ich hätte gehen können, weißt du«, sagte er, »wäre ich nicht so schlecht zu Fuß.« Und jetzt war er da, und er war es, der die Leute auftauen und in Schwung bringen mußte. – »Heutzutage wird viel mehr geredet als zu meiner Zeit, aber nie dann, wenn geredet werden soll«, meinte er lachend; »da haben sie es so eilig mit dem Schweigen, jeder einzelne. Und am schlimmsten ist es, wenn man nicht weiß, was man mit sich anfangen soll, drinnen in der Stube, und auch mit seinen Händen; früher habe ich nie bemerkt, daß einer daran dachte. Ja–a«, sagte er, nachdem alle eine Zeitlang draußen auf dem Hofplatz gestanden hatten und keiner als erster hineingehen wollte. »Ja–a, hier stehen wir. Und hier ist deine Veranda. Astri. Ja, ja. Du bist nicht für die Katz. So sieht es hier nun also aus. Hm! Hm! Hm! Der Hof wird kleiner, aber das Haus wächst, sagen wir.«
Astri hörte nicht zu, sie hatte anderes zu tun, mußte sich um das Kind bekümmern und war schon drinnen, kam dann wieder heraus und bat noch einmal die Gäste, einzutreten. Ihr Gesicht war ein ganz klein wenig starr, glaubte er zu sehen. Und Ola lächelte, dieses so seltsame Lächeln aus tausend kleinen Runzeln und Falten im ganzen Gesicht; nicht einer verstand ihn, und nicht einer konnte ihn leiden. Da drehte er sich herum und nahm sich ihre zwei ältesten Buben vor, die gerade im Begriff waren, die fremden Pferde in den Stall zu führen.
Peder, der Älteste, war klein und gedrungen und seinem Vater am ähnlichsten, ein stiller Bursche und in jeder Beziehung erwachsen. Der andere hieß Arne, und er war hell und groß, größer als der Bruder, obgleich zwei Jahre zwischen ihnen lagen. Er steckte voller Kinderstreiche; auch jetzt wieder kam er mit einem wildgewordenen Pferd dahergerast, es sah fast aus, als sollte es glatt über Ola Haaberg weggehen; aber er machte nur Spaß. Im letzten Augenblick wurde er des Tieres Herr und brachte es in den Stall. Er lachte zu Ola hinüber, so daß ihm der Schelm aus den blauen Augen leuchtete: »Ihr habt keine Angst gehabt, he?«
Ola droht ihm mit dem Finger: »Her mit der Rute, damit ich dir ein paar über den Hintern ziehen kann!« Dann ging er ins Haus hinüber und schalt dabei vor sich hin: »Diese Kinder heutzutage, es ist wirklich ein Jammer, daß man von ihnen wegsterben muß. Weiß Gott, ich will noch nicht!«
Man hatte übrigens in der letzten Zeit wenig von ihm zu hören bekommen. Er las die Zeitungen und mischte sich nie in die Gespräche der anderen; manche meinten, er vertreibe sich die Zeit mit Trinken. Heute aber war er sprühend lebhaft. Er ist wie die Schlange, die bei gutem Wetter auftaut, sagten die anderen. Astri und er waren immer wie gute Freunde gewesen. Sie sah, daß er wohl auch heute Leben in die Stube bringen würde; aber sie konnte sich doch nicht dazu überwinden, ihn gern zu haben. Er gehörte nicht hierher, hätte wohl nicht hier sein dürfen. Lauris merkte dies sofort, als sie ihn ansah, und zuckte mit den Achseln. Er redete quer durch die Stube hinüber zu den Leuten, mit denen Ola sich gerade unterhielt, sagte irgend etwas und erreichte bald, daß sie sich von Ola abwandten. Ola gab gar nicht acht darauf, er fühlte sich immer wohler und wohler, und noch ehe sie sich zu Tisch setzten, hatte er sie alle durch Politik und andere Sachen aufeinander losgelassen. Gerade als hätte er erst kürzlich mit ihnen geredet und wüßte von jedem, auf welcher Seite er stand, der eine da und der andere dort: der eine hielt es mit den Franzosen, der andere mit den Deutschen, und ein Dritter haßte sie alle miteinander, der eine stand auf der rechten Seite, der andere auf der linken, und nun waren die Meinungen ausgesprochen und mußten nach besten Kräften verteidigt werden.
Nach dem Essen schlief der Disput ein wenig ein. Man trank Kaffee und spielte auf dem Harmonium, und Ola saß drüben in der Oststube und hielt einen kleinen Mittagsschlaf. Es wurde immer friedlicher und friedlicher. Sie waren alle der Meinung, einer wie der andere, daß man eine Sache sehr wohl von mehreren Seiten aus betrachten könne. Aber wie sie so beieinander saßen, kam Ola auf einmal wieder angestiefelt. – »Ach, schau, schau!« lächelte er, »euch geht es ja wie den Hühnern in der Sandgrube beim schönen Wetter. Aber wo steckt denn der Odin?«
Astri sieht ruhig auf: »Er hat noch mit den Netzen zu tun, sie haben doch heute nacht hier in der Bucht den Schwarm eingeschlossen.« – »Und deswegen konnte er nicht herkommen? Ja, ja, es ist wohl so. Ja, es ist wahr, er plagt sich und schafft, und hier sitzen sie alle miteinander, und für jeden von ihnen fallen ein paar Schillinge ab, Strandrecht und Netzrecht und so überall ein bißchen.«
Es gab ihnen einen kleinen Ruck. Man hörte die Uhr an der Wand. Da sagte Astri, so laut, aber auch so ruhig, wie es oft ihre Art war: »Auf uns trifft kein Strandrecht, und Gott sei Dank dafür. Er hat das Netz am anderen Ufer eingeholt.« Dann wurde es wieder so still wie zuvor. – »Und das Gerät haben wir zur rechten Zeit verkauft!« lachte Lauris. Dies kam im gleichen Ton wie Astris Worte, hier regte sich niemand über Kleinigkeiten auf.
Ja, das sei doch merkwürdig, daß Odin das getan habe, fand einer. Das sei doch sonst nicht seine Art. Lauris rauchte nur, und Astri mußte schnell zu der Kleinen hinaus. – »Es gab sich wohl so«, sagte Lauris. – »Aber wie steht es denn jetzt mit den Heringspreisen?« fragte der Grönsetbauer. – Ja, wie steht es damit? Sie erwarteten sich Antwort von Lauris. – »Hm?« sagt auch Astri. Sie tritt dicht an ihn heran und klopft ihm auf die Schulter.
Lauris schüttelte den Kopf; er wußte nichts darüber. – »Nein, er ist ja jetzt Bankchef«, lachte Ola, »fragt ihn doch nicht nach Heringen. Er hat hier an Land seine Schute festgefahren, er steht auf festem Grund. Und der Odin, der ihm vorbeigesegelt ist und Bürgermeister in der Gemeinde ist und für uns alle wie ein Vater und Vormund sorgt, he? Ist das nicht ganz tüchtig von so einem jungen, dummen Kerl? Ja, ein paar haben ihm wohl dabei geholfen, er hat euch alle miteinander schön herumgekriegt! Ach ja, ich will nichts gesagt haben. Bald ist wieder Wahltag, kann ich mir denken – ja, du hast doch auch für ihn gestimmt, du, Ola Engdalen? Denn es war doch so richtig, was er sagte!«
Ola Engdalen war stets derjenige, der am wenigsten sprach. Er war besser gestellt als die meisten anderen, hatte eine Doktorstochter zur Frau und war überdies faul und langsam im Denken. Er rückte nur ein wenig auf seinem Stuhl hin und her. Der neue Bauer auf Vennestad fing allmählich an, sich aufzurichten und räusperte sich. – »Es sieht jetzt nach Frieden aus, in der Welt draußen, ja«, sagte er. »Aber hier im Lande und hier in der Gemeinde scheint es nun Krieg zu geben; so sieht es wenigstens für mich aus.« Er blickte die anderen ringsum an, und diese stimmten ihm zu: so sähe es aus, ja! Aber er für sein Teil wolle folgendes sagen, wenn er mutterseelenallein dastünde –
»Sag's lieber nicht, du!« warf Ola dazwischen.
Doch, er wolle es sagen, nun brauchten sie Frieden, und nun sollten sie sich rüsten, und zwar gehörig, alle, die wüßten, was sie wollten, und dann sollten sie zuschlagen! – »Den Krieg um des Friedens willen, ja!« wieherte Ola, er strahlte vor guter Laune. »Und der Odin, und alles, was sich kleine Leute nennt, die rüsten sich ihrerseits auch, und dann geht es los – es ist ein Jammer, von all dem wegzusterben! Seltsam, daß die Leute sich am liebsten um des Friedens willen bekämpfen. Aber – hm: Die Fabrik geht gut? Und Aktien habt ihr, und Geld habt ihr verdient?«
»Die Fabrik steht«, sagte Lauris trocken und stand auf. – »Streik und alles, was dazu gehört«, fügte er hinzu. »Wir halten Schritt mit der Zeit, so eilig sie's auch haben mag.« – »Es muß eine neue Leitung ernannt werden«, sagte der Grönsetbauer ernsthaft. »Der Odin ist nicht die ganze Gemeinde, nur deswegen, weil er uns in diese Geschichte hineingelockt hat. Fabrik und Verdienst, das kann alles schön und gut sein, aber, aber, ich sage euch –!«
Jetzt wurde alles wieder lebhaft, der eine meinte dies und der andere jenes, darüber aber waren sie sich alle einig, daß die Zeit vollkommen verrückt sei. – »Man sollte sie abschaffen!« lachte Ola und lehnte sich zurück. – »Ja, der Odin, der hat es fertiggebracht. Zuerst das große Armenhaus auf Vennestad, dann einen neuen Weg und die Bank, und zum Schluß noch die Fabrik über allem und über euch allen miteinander – ja, und dann noch all das, auf was ich mich jetzt nicht besinnen kann. Und ihr habt's mit ihm gehalten!« – Mit ihm? Sie mußten lachen. Sie hatten es nicht nur gesehen, sondern auch offen gesagt, welchen Weg dies nehmen würde! – »Nein, nein, nein!« lachte Ola. »Und trotzdem ist es nicht besser gegangen? Ja, der Odin, der Odin! Jetzt aber müssen sie sich ordentlich zusammennehmen, die Burschen, denn bald kommt der Lauris. Ja, es ist etwas Wahres daran, Lauris; es wird schon noch so weit kommen. Du hast doch die Bank von ihm geerbt und auch noch anderes und noch mehr, vergiß das nicht! Sie werden dich mit Gewalt zum König machen, du wirst schon sehen.«
Es war für die anderen so ungewohnt, zu hören, wie einer es mit dem Lauris aufnahm, sie wußten nicht, was sie anfangen sollten. So etwas tat sonst nur der Odin, aber bei dem war das eine andere Sache; und mit dem ließ Lauris sich nie ein. Dies tat er auch jetzt bei Ola nicht, sondern er stand nur da und schaute in eine Zeitung. Dann sagt er: »Wäre es so wie früher – so, wie es sein sollte – dann könnte ich euch jetzt ein Glas Punsch anbieten.« – Er solle doch so etwas nicht sagen, solle diesen wunden Punkt nicht berühren! Und im übrigen sei es wohl ganz gut so.
Die Männer fingen an, Karten zu spielen, und Ola Haaberg unterhielt sich mit den Frauen, die bisher für sich geblieben waren. – »Wir überlegen gerade, ob wir nicht den Odin und seine ganze Wirtschaft absetzen sollen«, sagte er. »Wir rüsten uns. Und wenn ihr den Schaft halten wollt, dann will ich den Hieb schon führen. Jawohl, hier soll die Luft einmal reingefegt werden, wartet nur. Bisher hat er nichts als lauter Sommerwetter gehabt, aber so soll es nicht mehr weitergehen. Ja!«
Sie lachten und sahen ihn an. Er war ein lustiger alter Kauz. Aber Astri hatte nicht auf ihn achtgegeben.
Nach und nach wurde es still in der Stube. Nur noch Kartenspiel und dann und wann ein halblautes Wort waren zu hören, und Ola saß da und schaute um sich, unglaublich alt wirkte er auf seinem Stuhl. Von Aasels Hausgerät sah man nicht mehr viel, an dessen Stelle waren schönere Sachen gekommen, feine Dinge geradezu, gewiß, und die Stube war frisch gestrichen und hergerichtet worden, daß man sie kaum mehr wiedererkennen konnte. Ola ließ die Blicke darüber hinwandern. Stück für Stück: hm! hm! – seine Daumen kreisten umeinander, bis er das nächste Stück betrachtet hatte.
Dann setzten sie sich zum Abendessen, und dann kam der Augenblick, da die Gäste sich verabschiedeten. Die kleine Aashild schlief. – »Sie sieht aus, als wüßte sie, was für Taufgeschenke sie bekommen hat«, sagte Ola.
Ola fuhr nicht mit nach Segelsund. – »Ich seh es euch an, daß ihr mich hier über Nacht behalten wollt«, sagte er; »und der Weg ist mir auch zu lang. Möchte auch fast noch morgen zu Odin hinüberschauen, da ich doch schon einmal unterwegs bin. Es macht Spaß, den anzusehen, der vor dem Sturz steht.«
Es war ein schöner Sternenabend über allen Bergen, so ein richtiges Wetter, um im Freien zu sein. Und irgendwo hörte man jemand arbeiten und reden. – »Ach, das sind die Fischer unten bei Vaagen«, sagten sie untereinander.
Lauris und Ola blieben noch auf, als die anderen sich schlafen legten. – »Du siehst auch nicht viel müder aus, als ich bin«, sagte Ola. – Nein, Lauris war nicht müde. – »Und wenn du einen Tropfen in der Flasche hast, dann hol ihn jetzt her«, sagte Ola ernsthaft. Er zog die Unterlippe ein, und dadurch wurden seine Augen noch glänzender. Lauris stand auf und ging hinaus; kam dann mit einer Flasche zurück. Ola wurde ganz aufgeregt: »Aber sieht das denn so aus? So klar ist das, laß mich schmecken, Junge!«
Er kostete, und seine Augen wurden ganz klein und blickten selig. Dann machte er sie weit auf. »Mein Gott, Lauris, das ist ein Tropfen! Aber ich hätte sehen mögen, wie er zustande kam! Wie du ihn zusammen laboriert hast.« Er sieht Lauris genauer an: »Du bist ein Meister und ein vielseitiger Bursche!«
Er sagte es immer und immer wieder, je öfter er einen Schluck genommen hatte und je munterer er geworden war. Lauris lachte geduldig. – »Und ich verstehe gut, daß die Astri dich haben wollte. Wagemut, siehst du, unser alter Wagemut, und der Opferwille und all das. Sie ist Mutter, sie: sie braucht einen solchen Vater für ihre Kinder – nein, sie wußte es nicht, aber –; sie wußte es trotzdem. Für dich ist sie auch Mutter, sie hat einen Mann aus dir gemacht. Auf ihre Art. So gut es sich machen ließ – da habe ich nun ein paar tiefe Worte gesagt, hm? So gut es sich machen ließ«, wiederholte er.
Lauris gab ihm recht. Da kam Ola auf ein anderes Gespräch. »Aber daß der Ola das Netz unerlaubterweise genommen hat?« – »Ist das denn so schlimm?« – »Nein, nein. Aber das hat nur er sich getraut. – Was wollte ich doch eigentlich sagen?« Ola fuhr sich mit der Hand über den Schädel, fühlte alle die seltsamen Falten ab: »Na, es ist ja gleich. Ein bißchen Geld, das wir beide vergessen haben – du und ich – – dein Wohl, Lauris!«
Lauris sah immer wieder auf die Uhr, und endlich ließ Ola ihn los und ging schlafen. Lauris fühlte sich sehr erleichtert, es war, als sei er untergetaucht gewesen und käme nun wieder an die Luft empor.
Vorsichtig trat er in die Kammer ein. Sie schliefen alle beide, Astri und die Kleine. Aber Astri schlug die Augen auf und sah ihn an, das tat sie immer, wenn er in der Nacht hereinkam, wenn sie auch noch so tief schlief. – »Bist du ihn jetzt losgeworden?« murmelte sie. – »Endlich, ja.«
Astri schlief schon wieder fest. Lauris blieb stehen. Dann stahl er sich hinaus, still wie ein Dieb, zog die Windjacke an und ging fort. Draußen auf dem Hofplatz blieb er stehen und lauschte. Es war jetzt überall still. Nur das Meer rauschte leise bei dem guten Wetter. Er schlägt den Weg zum Strand hinunter ein, lauscht immer wieder und geht dann weiter. Unten am Bollwerk liegt ein Leichtboot, das andere ist in einiger Entfernung an Land gezogen. – »Sie haben also keine Wache aufgestellt, die dummen Burschen!« sagt er; steigt dann ins Boot, löst die Vertäuung und rudert hinaus. Kein Ruderschlag ist von ihm zu hören.
Drüben am Südstrand findet er den eingeschlossenen Schwarm, ein großes Netz mit vielen Lägeln. Er hält sich eine Weile dort fest, lauscht nach der einen Seite und späht nach der andern. Dann drückt er das Netz mit dem Ruder unter dem Boot durch und rudert in den Heringsschwarm hinein. Der Hering hat seinen Kreislauf noch nicht aufgenommen, er springt über die Ruder, und er schießt gegen das Netz, daß er weit darüber hinausspritzt. Große Heringe, fette Fische, soviel er sehen kann. Fünftausend Tonnen, sagst du? Wart ein wenig, ich habe mehr Erfahrung als du. Die Hälfte von fünftausend wäre auch schon nicht wenig. Zehn Kronen die Tonne mindestens, der Teufel hol ihn, das kriegt er.
Es ist so still, daß die Felsen ihm fast antworten: die Stille ragt senkrecht zum Himmel empor; Lauris hört es und lächelt. – Nein, nein, hier soll nichts Schlimmes geschehen, heute nacht. Solche Leute sind nicht unterwegs. Ich will nur nachsehen. Ich will dir nur zeigen, du Weibsbild, das du bist, daß ich dir heute nacht einen schönen Streich hätte spielen können. Und daß ich es nicht tue, wie du siehst. So bin ich nicht, was du auch sonst von mir glauben magst.
Er fährt wieder über das Netz hinweg und rudert heim, so ruhig, wie er gekommen war. – »Wir rechnen schon noch einmal miteinander ab!« sang er vor sich hin, eine kleine leise Melodie, die in der klaren Nacht versickerte.
Astri wachte auch jetzt auf, noch ehe er sich ausgezogen hatte. – »Warst du draußen?« es klang fast unruhig. – »Ja, nur einen kurzen Augenblick.« Er zieht sich im Dunkeln aus. – »Ich will dir übrigens erzählen, wie es ist: ich war draußen bei Odins Heringsschwarm, wollte sehen, mit was sie dicktun können.« – »Nun?« – »Ja, es ist ganz schön. Er hat noch einmal ein Mordsglück gehabt.« – »Hm. Aber daß du dir die Mühe machen mochtest, hinauszufahren!« – »Ja, du hast wohl recht, aber –. Ich hätte selber nicht gedacht, daß ich mich je mit so kleinen Sachen abgeben würde. Es ist wohl der Fischer, der in mir steckt.« – »Ja. Und wenn dich nun jemand gesehen hat?« – »Woher doch! Und das Netz hab' ich ja nicht angerührt, weißt du.« – »Das weiß ich wohl. Wärst du von der Art – – dann hätte er schon vor langer Zeit einpacken können. Das weiß er auch.« – »Kaum«, gähnte Lauris, »und schließlich ist es ja auch gleich.« – »Für uns ja. Aber es war doch merkwürdig, die Leute heute abend zu hören, gerade als stecke ein Wille in ihnen.« – »Sie haben sich nur so im Schlaf einmal gestreckt«, sagte Lauris – und gleich darauf schlief er auch schon selber.
Er schlief, und Astri lag da und sah hinaus. Nie war es so schön draußen wie mitten in der Nacht, wenn man so dalag und zwischen den Vorhängen hinausblickte. Ein Stern kam herbei und zog groß und still über die Scheiben hin. Ein anderer kam, mit einem anderen Licht, und ging den gleichen Weg. Eine seltsame Wanderung.
Da hörte sie Ola Haaberg oben in seiner Dachkammer husten. Beinahe hätte sie Lauris geweckt, denn jetzt gehörte nicht viel dazu, sie ängstlich zu machen. Was wollte er denn eigentlich hier im Haus, dieser Alte? Aber Lauris hatte sie nie ängstlich gesehen und sollte sie auch jetzt nicht so sehen. – Ja, ja, der Fischer in ihm hat ihn hinausgelockt. Sie kannten ihn nicht.
Am Tag darauf nahm Ola Abschied und tappte zu Odin ins Haus hinüber.
Odin war nicht daheim, und Ingri hatte keine Magd und war daher sehr beschäftigt, so daß Ola viel allein blieb.
Er saß da und hielt Umschau, wie bei Lauris. – »Hier ist es, wie wenn man früher zu jemand in die Stube kam«, sagte er zu sich selber. »Halt, nein, übrigens: hier ist der Otte mit seiner Kunst dagewesen, und da. und dort auch. Aber wohnen kann man hier wohl, das sehe ich, im Guten wie im Bösen. Aber war denn der Odin soviel daheim, daß er die Stube so herrichten konnte?« sagte er zu Ingri.
Ingri zuckte ganz leicht zusammen, so oft er sie anredete, sie bekam so schöne rote Wangen, und der Mund verlor diesen schwermütigen Zug von Glück, mit dem sie meistens umherging. Dann kehrten ihre Gedanken wieder zurück, sie blinzelte ein paarmal vergnügt und lächelte: »Ach ja, doch.« – »So, so, ist er also doch einmal in die Stube hereingekommen? Ja, dieser Junge! Aber richtig« – Ola räusperte sich und rieb sich das Knie –: »Ich soll dich von deinem Vater grüßen; er hat es mir aufgetragen.«
Wiederum flackerte die Röte über ihr Gesicht, es war so schmal und fein – man konnte sehen, wie es durch Augenlider und Brauen zuckte, so lebendig; es tat gut, dies zu sehen. – »Danke!« sagte sie nur, sie war schon wieder auf dem Weg hinaus. – »Ja, er kommt nicht allzuoft nach Haaberg«, lachte Ola. »Wir haben auch nicht viel miteinander gesprochen, in den paar Monaten, die er auf Segelsund war. Er hat das Regiment im Laden, und er führt ein strenges Regiment. Ich glaube wahrhaftig, er bringt die ganze Sache dort noch in Gang. Wie gesagt, ich soll dich von ihm grüßen. Und den Odin dazu.«
Ingri kam jetzt lange Zeit nicht mehr herein. Ola schüttelte den Kopf, seufzte ein wenig und lächelte ein wenig.
Da kehrte Odin heim und wollte zu Mittag essen, und Anders kam vom Acker her, die Hosen noch voller Erde. Ola saß da und zog schnuppernd die Luft ein. – »Ja–a, da kommen sie, die Burschen, gut gelaunt und mitten aus der Arbeit heraus; Vater und Sohn, ja. Ich fühle förmlich den Schwung in ihnen, selbst wenn sie stillsitzen. Es riecht nach Vorwärtskommen hier. Ein starker Geruch, puh, da muß ich niesen!«
Zwischen Ola und Odin kam es nie zu einem langen Gespräch, und heute hatten Odin und Anders besonders wenig Zeit. Ola ging auf dem ganzen Hof herum und sah sich alles genau an, Äcker und Häuser und alles, was es gab: Ja, es war gut gehalten. Odin und Ingri begleiteten ihn einmal. Da sagte Ola, es pfiff aus seiner Brust: »Aber weiter kommst du doch auch nicht, Odin, als wir und der Herrgott es zulassen. Was tust du dann, wenn dir der Weg einmal verschlossen ist? Das Allergrößte, vielleicht?« Odin hörte nicht darauf, Ingri aber betrachtete Ola, und jetzt fühlte sie nicht die geringste Furcht.
Am Abend fuhr Anders den Ola heim. Ingri kam zu ihm heraus, als er abfuhr. – »Grüß den Vater«, sagte sie. – »Nur keine Angst, Kind, ich werde ihn schon grüßen. Soll ich ihn also nur grüßen? Ja, ja.«
– – – Am gleichen Tag kam ein Heringsaufkäufer in die Haabergbucht herein, und am nächsten Tag noch einer. Sie hatten von dem Fang gehört. Im übrigen taten sie nicht so, als ob sie auf die Heringe sehr erpicht wären.
Die Fischer versammelten sich bei der Fabrik drüben, es sollte ein Entschluß gefaßt werden, wie die Fische verkauft werden sollten. Untereinander meinten die Männer, wenn sie die Fische jetzt gleich verkaufen könnten, so wäre ihnen das am liebsten, denn es wären ebensogut ihre Fische wie die des Netzmeisters, und von einer Besserung der Preise zu reden, sei reiner Unsinn. Sie standen da und warteten auf Odin, er kam wohl über die Bucht herüber. – »Er pflegt doch sonst der Erste zu sein?« – »Vielleicht war es ihm nicht Ernst mit dem, was er gestern sagte, daß er an die Fabrik verkaufen wolle? Jetzt, da die Fabrik im Streik ist?« – »Doch, doch, das war schon sein Ernst. Sonst hätte er das Netz wohl kaum an diesem Ufer eingezogen. Die Fabrik, das ist so gut wie er selber.« – »Da hast du schon recht!«
Es dauerte nicht lange, bis sie alle einer Meinung waren, und das kam nicht jeden Tag vor. Die Fabrik stand still, und mit der Bezahlung war es auch ungewiß; hier unten in der Bucht lagen die Schiffer und wollten Heringe haben. – »Wir verkaufen sie selber, wenn's notwendig ist, etwas ist besser als gar nichts! Die Fischer sind heute keine Sklaven und Hunde mehr, so wie früher.«
Da stand Odin plötzlich bei ihnen. Mit lauter und heller Stimme begrüßte er die Männer und trat mitten unter sie, drehte sich herum und sah zu den schönen Aufkäuferschiffen hinunter. Sie waren hoch in den Riggen. Und ihr Bug und ihre Linien so ausgesucht fein, Wohlstand und Unternehmungslust in eigener Person. – »Ja–a, Leute, jetzt müssen wir uns also fertigdividieren, wie der Anton sagt.« Er sah den Anton an, und Anton trat von einem Fuß auf den anderen und lächelte leise – lächeln, das taten sie alle. – »Ich habe mit dem Disponenten der Fabrik gesprochen, und er ist mit mir darin einig, daß man zehn Kronen für die Tonne bezahlen kann, übrigens nicht um einen Ör mehr. Dann wird es wohl am besten sein, wir machen es so. Sie taugen nicht alle zum Einsalzen, das wißt ihr. Die dort«, er deutete mit dem Kopf hinunter, »boten mir gestern acht Kronen. Vielleicht können wir sie noch bis auf zehn hinauftreiben, ich habe nichts dagegen.«
Die Männer erwiderten kein Wort und kauten. Endlich sagte einer: »Wenn sie das geben, dann ist es wohl am besten – –?«
Odin sah ihn rasch an und betrachtete dann einen nach dem anderen in der Schar. Er fühlte den Widerstand hinter all den Gesichtern, und in seinen Augen leuchtete es ein paarmal rasch auf. – »Am besten, sagst du?« – »Nein, nein, aber –.« – »Nein, du meinst nicht am besten; du meinst am sichersten. Am besten ist es, die Fabrik wieder in Gang zu bringen. Ihr seht die Arbeitslosigkeit genau so wie ich. Wir müssen doch auch an uns selber denken.« »Aber das Geld?« wandten gleich drei, vier auf einmal ein. – »Dafür habe ich schon einen Ausweg.« – »Und der Streik?« – »Wir erhöhen den Lohn, um gar nicht so wenig, dann kommt alles wieder in die Reihe. Weiter ist darüber nichts zu sagen. So ist es am richtigsten, von welcher Seite man es auch ansieht, ja. Diesmal sind wir es, die der Gemeinde helfen. Und im übrigen gibt es hier auch noch genug Heringe für die Schiffer, wenn euch die so am Herzen liegen. Zuerst tausend Tonnen für die Fabrik, wir fangen gleich morgen an; und heute abend fahren wir hinaus und holen die kleinen Netze herein, wir stehlen uns ein Boot hier und rudern hinüber, wir stehlen das deine, Anton?«
Sie waren schon im Gehen, er voran und sie hinterdrein, und alle miteinander hatten einen leichten Schritt. – »Jetzt glauben sie sicher, sie jagen mich«, lachte Odin innerlich. »Ach ja, ja, ich bin zu gar vielem gejagt worden.« Den Schiffern schenkten sie nicht einen Seitenblick.
Die Arbeit ging ihnen willig von der Hand, alt und jung hatte den gleichen Eifer. Odin sah dies nicht, dazu war er selber viel zu sehr beschäftigt, aber so war es, und so sollte es sein. Das war es, was die Zusammenarbeit mit den Leuten so leicht machte: daß einer den anderen wärmte. Odin schob den Hut in den Nacken und holte Atem, sah dort und da nach, vergaß sich alle Augenblicke und überlegte und wandte sich dann wieder seiner Arbeit zu. So war es wohl die ganzen Jahre hier gewesen, seit er mit ihnen arbeitete: er brachte das Lied in ihnen zum Klingen, und der Rest gab sich von selber.
Als sie das andere Großboot zu Wasser lassen, kommt Lauris dahergeschlendert, er scheint irgend etwas zu suchen, das er verloren hat. Odin redet ihn an, dämpft nach all dem Lärm die Stimme zum gewöhnlichen Gesprächston herab: »Du wolltest nicht mittun, hast du gesagt?« – »He! Nein, Geld will ich keines verdienen. Wenn er zu alt wird, dann ist er nicht mehr jung genug, sagte das Weib.« – »Das wäre nur ein Nimmersatt von einem Weib.« – »Ja, da hast du recht!« Lauris seufzte, friedlich und nachbarlich. – »Ja, richtig«, sagte Odin, »ich habe heute mit dem Besitzer des Netzes gesprochen, am Telephon.« – »So?« – »Alles in Ordnung! Er hatte übrigens schon davon gehört, hatte wohl auch ein wenig Angst gehabt. Aber nun ist's gut!«
Ein kleiner Schatten, kaum zu sehen, fuhr Lauris über das Gesicht. – »Der hat den Mund nicht halten können«, sagten die Männer untereinander. – »Und jetzt hat er eins abgekriegt«, fügten sie hinzu. Odin hörte das nicht, aber er ging mit seinen Bubenaugen dahin, sie wechselten in einemfort die Farbe.
Gleich darauf kamen Johan Grönset und Ola Engdalen und noch ein paar andere, im Sonntagsanzug und gleichsam, als hätten sie etwas vor. – »Da sind sie ja alle beieinander«, sagte einer. – »Die ganze Fabrikleitung, ja. Die Männer, die bei uns das Wetter machen«, lachten die anderen.
Odin grüßte, Gesicht und Stimme voller Arbeitseifer: »Ja, ich habe nach euch geschickt, aber ihr kamt zu spät, ihr könnt nur noch den Sand auf die Tinte streuen. Wir haben an die Fabrik verkauft, zunächst einmal tausend Tonnen. Ja, seid ihr einverstanden? Zehn Kronen die Tonne. Fette Heringe, seht ihr, lauter Fett, alles miteinander, wir schmieren die Fabrik so ein, daß sie eine Zeitlang von selber geht, hm? Da füttern sich die Burschen selbst, solange dies dauert.«
Er lehnte sich ans Boot und sah sie an, bis sie so wollten wie er. – Ja, sie könnten zwar nicht anders sagen, als daß dies wohl ganz gut bedacht sei, aber –. – »Na?« lachte Odin – »wenn es richtig bedacht ist, dann ist es wohl nicht so gefährlich, wenn auch ein oder zwei Aber dabei sind.« – »Aber der Disponent meinte gestern, daß – –«
»Das war gestern, Junge. Heute sieht die Sache anders aus. Ein neuer Tag, ein neues Gesicht, das wißt ihr doch?«
Die Fischer hatten den Atem angehalten. Aber jetzt war es überstanden. Die Leitung war der gleichen Meinung wie sie und Odin.
»Diesmal haben sie sich umsonst in ihren Sonntagsstaat geworfen«, lachte einer und schlug eine Ruderdolle ein.
Na, der Odin könne sich ja schließlich auch einmal verrennen, murrte einer. Trotz seinem Selbstvertrauen und seinem Mundwerk und allem miteinander. Ja, ja. Man würde ja sehen.
In diesem Augenblick kam Odin zurück, er hatte die Männer ein Stück weit begleitet, und kaum war er wieder da, sah alles ganz anders aus. War es richtig bedacht, so war es auch richtig gemacht. Und etwas mußte man ja auch wagen.
Die vier Männer, die heimwärts gingen, nahmen es auf die leichte Achsel. Sie waren doch erwachsene Leute. Odin hatte recht, das war das eine, und daß er ein wenig voreilig war, Herrgott, er war nun einmal so. »Das war mir eine schöne Beratung, zu der man uns da geladen hatte! Und du, Johan, du hast doch geschworen – –«
»Ich, geschworen? Nein, jetzt lügst du! Und im Grund waren wir doch dabei und stimmten auch mit ab.« Sie lachten alle vier.
Lauris schlenderte hinter ihnen her, am Ufer entlang, dann bog er ab und hielt auf ein Haus zu, das kürzlich errichtet worden war. Dort wohnte einer von den Fabrikarbeitern. Lauris erwähnte, daß sie nun bald Arbeit bekämen; er erzählte, was er wußte. – »Das wollen wir uns erst einmal überlegen«, meinte der andere. »Da müssen sie uns das geben, was wir verlangen. Oder es bleibt alles bis zum Frühjahr liegen und auch noch länger. Zu Weihnachten machen wir uns gründlich frei.« – »Woher doch! Ihr werdet das nicht zu bestimmen haben.« – »So–o?« – »Das werden der Odin und der Disponent entscheiden, wartet's nur ab!« – »Der Odin? Ja, ja, er ist zwar unser Mann. Aber trotzdem.« – »Ihr trottet doch dort hinterdrein, wo er vorangeht«, lachte Lauris. »Wie sich's auch gehört«, fügte er hinzu. – »Diesmal werden wir's uns aber doch überlegen. Wir lesen ja auch die Zeitung und wissen Bescheid; Schafe sind wir denn doch nicht.« – »Ja, Weisheit soll Reich und Land regieren, so steht es in der Heiligen Schrift. Ihr aber seid doch wie die Schafe, meistens. Bäh, bäh!« grinste Lauris. »Aber ich wollte ja etwas anderes sagen. Bäh, bäh«, meckerte er vor sich hin, wie er dasaß und überlegte.
– – – Die Fabrik kam wieder in Betrieb, und die Heringe, die sie nicht verarbeiten konnte, wurden für neun Kronen die Tonne an die Schiffer verkauft. Die ganze Woche über wurde fest gearbeitet, so wie Odin es sich wünschte, vom frühen Morgen an bis in die späte Nacht hinein, und nie auch nur eine Stunde Stillstand. Ingri lächelte hinter ihm her, wenn er fortging, und lächelte ihm entgegen, wenn er kam, und einmal meinte sie, ob er sich denn ganz zu Tode arbeiten wolle. »Hältst du's denn daheim gar nicht mehr aus?« sagte sie.
Er blieb stehen und lachte vor sich hin. »Ich hab' dir's ja schon einmal gesagt, Ingri, es ist nicht leicht, mit mir verheiratet zu sein; du hättest auf mich hören und mich in Frieden lassen sollen.« Sie lachte mit, aber sie hatte es nicht gern, wenn er in solchen Dingen Spaß trieb. Sie war so schlank, wie sie dastand, so fein und zart, man konnte fast nicht glauben, daß sie noch das Ende der Woche erleben würde; aber so war sie die ganzen fünfzehn Jahre gewesen, seit sie zusammenlebten. Sie ist von einer feineren und stärkeren Art als wir anderen, sagte er gerne. Und immer noch war es da, dieses junge scheue Blinken in den Augen, das er nie zu fassen bekommen konnte; oft stand sie vor ihm, als erwartete sie, daß er sie jetzt schlüge. – Man hatte sie bekommen, damit man behutsam mit ihr umging. – »Nein, du weißt doch, Ingri, bald werde ich mich aus dem ganzen Betrieb zurückziehen, und dann endlich wollen wir beide miteinander leben, du und ich. Aber ausruhen und feiern schmeckt so seltsam, wenn man so mittendrin steckt wie ich jetzt. Und dann muß es ja auch getan werden! Aber nächste Woche bleibe ich daheim. Du mußt eben den Anders bitten, daß er Holz für dich klein hackt, und mußt lieb und brav sein.« – »Das tut er schon von selber, er hackt schon das Holz, wenn er daran denkt.« – »Ja, ja, ja«, sagten sie alle beide, und so war es jeden Tag das gleiche, er eilte wieder hinaus.
Mitten in all dem wurde ihm auf einmal bewußt, daß der Tag für sie lang wurde, wenn sie auch das Gegenteil behauptete, und da fühlte er brennend heiß, wie fremd sie einander doch waren. So sollte es sein, zwischen ihnen beiden; aber es fehlte nicht viel, dann wäre er auf einen Sprung nach Haus gelaufen. So war es die ganzen Jahre her gewesen, er hätte daheim sein mögen und wissen, wie es ist, sie zu sein.
Endlich kam der Samstagabend, so daß er alles abwaschen konnte, was Hering und Arbeit hieß, er wollte nicht nur den Leib, sondern auch die Seele waschen, sagte er. Der Disponent kam zu ihm und wollte ihn auf dem Heimweg aufhalten, es gab wieder Unstimmigkeiten mit den Arbeitern, aber Odin wies ihn nur mit einem Lachen ab: er solle tun, was ihn gut dünke, fieren und wieder einholen, wie man es bei der Heilbutte machte, und gute Nacht und viel Glück dazu!
Am Sonntag war er zeitig auf, erledigte rasch ein paar Schreibereien und andere Dinge, die ihm als Bürgermeister oblagen, und dann wollte er seine freie Zeit ausnützen. Es hatte in der Nacht geregnet, so daß die Erde jetzt wieder schneefrei war, und Odin ging einen Sprung fort, auf sein Land hinaus, wie er es nannte, und sah sich dort um. Ingri hatte keine Zeit mitzukommen. Sie tat es sonst immer, obgleich sie sagte daß sie sich nichts aus dem Acker mache, es sei nur lustig zuzusehen, wie er alles anschaue.
Rasch war der Hof nicht gewachsen, aber er war schön so. Und nun lag ein Moor da draußen und wartete auf den Frühling, hier konnte einer nach Westen zu die ganze Welt gewinnen, ohne Schaden an seiner Seele zu nehmen.
Wenn Odin hier draußen war, drehte er sich gerne zum Hof um und betrachtete eine Weile die Häuser. Das Wohnhaus war klein im Vergleich zu vielen anderen in der Gemeinde, und namentlich im Vergleich zur alten Haabergstube, aber er hatte es ganz hübsch gemacht: es lächelte. Und die anderen Häuser lagen ringsherum und gehörten dazu, es konnte nicht anders sein. So mußte er es immer wieder sehen, sonst setzte sich in ihm der Gedanke fest, daß er ein Ungetreuer sei, daß er in der Gemeinde herumgewandert sei und sich mit unnützen Dingen abgegeben habe. Hier stand es und zeugte für ihn, blank und glaubwürdig.
Er war wieder auf dem Weg nach Hause. Dort mußte doch der Sonntag zu finden sein. – »Willst du heute rauchen?« fragte Ingri. – »Ja, das will ich meinen, jetzt zünde ich mir die lange Pfeife an, die du mir geschenkt hast, und dann bin ich einmal eine Zeitlang ein richtiger Bauer. Ich habe meinen Hof angeschaut. Ich begreife jetzt, wie man ansehen kann, was man gemacht hat, und wie man sehen kann, daß es gut getan war. Jetzt will ich mich in die Stube setzen und Sonntag feiern wie andere Leute auch. Nichts denken und nichts tun, nur Zeitung lesen.«
»Wenn du das nur könntest«, sagte sie. »Für dich bedeuten doch sonst Menschen und Lärm und Arbeit das Leben.« – »Nein, Ingri, Leben, das ist hier sein, allein hier, mit dir – – die Sorge solltest du dir sparen.« – »Ich?« – »Du, ja. Immer siehst du mir nach, gleichsam als solltest du mich verlieren, glaubst du nicht, daß ich das bemerke?« – Sie schüttelte den Kopf; dann lachte sie ein wenig vor sich hin; dann war sie wieder weit von ihm fort. – »Ich habe nie gewünscht, daß du anders sein möchtest, als du bist, Odin.«
So klang ihre Stimme oft, als höre man sie hinter einer Wand oder als träume man. Er mußte die ganze Zeit doch verflucht weit von ihr weg gewesen sein. Und sein Leben hatte darin bestanden, all die Dinge zusammenzudichten, die hier in der Gemeinde geschehen sollten. – »Aber heute, Ingri, heute ist unser Tag. Wir haben doch viele gehabt, nicht wahr?«
Sie errötete und sah ihn rasch und strahlend an: »Doch. Das haben wir.« Sie sah sich in der Stube um, betrachtete die Möbel, die Odin angefertigt hatte, und alles andere. Sie hatte mit den Dingen gelebt, Tag für Tag.
Da hörte man etwas draußen auf dem Gang, irgend jemand, der eine Weile zögerte, ehe er anklopfte. Es war der Lehrer in der Gemeinde und der vorläufige Küster, der Silberfuchs, wie er genannt wurde. Er hieß Vikesylt und stammte aus dem Westland im Süden; seit einem Jahr war er hier oben. Lächelnd strich er sich über das dichte silbergraue Haar und grüßte breit und sanft: Er sei eben draußen umhergegangen, in diesem gesegneten schönen Wetter, und nun habe er sich die Freiheit genommen und sei hergekommen, obgleich er keinen besonderen Anlaß habe und auch nicht gut bekannt sei. Er sei nun einmal der Ansicht, daß er den Bürgermeister der Gemeinde in seinem eigenen Haus begrüßen müsse. »Und dann ist doch auch ein so herrliches Wetter, gerade als wollte einen die Natur aus all der qualmigen und ungesunden Stubenluft zu sich herauslocken.« – »Und dann zu mir herein?« lachte Odin. – »Ja, du machst ja immer einen Spaß« – ungebeten setzte er sich hin, und Ingri und Odin beeilten sich, ihn zum Platznehmen aufzufordern.
Der Silberfuchs hatte sich in kurzer Zeit zu einem großen Mann in der Gemeinde gemacht. Anfangs waren die Leute ein wenig erstaunt über ihn, sie lachten und äfften ihn nach, er aber schritt groß und sicher und sanftmütig unter ihnen einher, hatte seine Berufung zu erfüllen, und das war keine geringe. Er wollte die Jugend erwecken. Odin war geradeswegs zu ihm hingegangen, um sich zu erkundigen, wozu die Jugend erweckt werden sollte. Der Mann sah ihn tiefsinnig an, mitleidig und erstaunt zugleich, und fing geduldig an, ihn aufzuklären. Soweit Odin aus der langen Antwort klug wurde, sollte die Jugend zu fast allem erweckt werden, angefangen bei der Liebe zur Erde, bis zur Verachtung alles dessen, was von der Erde gekommen ist. Odin hatte sich nicht weiter damit abgegeben. Der Lehrer war ein seltsamer Kauz, und irgend etwas Gutes war sicherlich an ihm. Am liebsten aber ging Odin ihm aus dem Weg. Er war ihm zu fremd.
Ingri ging mit einem verschmitzten Lächeln in die Küche, denn Odin sah aus, als habe er sich in die Zunge gebissen. Und der Silberfuchs redete. Nach und nach erfaßte Odin sein Anliegen, denn daß er eines haben mußte, war doch klar, so einer suchte jemand doch nicht ohne jeden Grund auf.
Es handelte sich um die Fabrik. Ja–a, das sei nun schön und gut, daß sie wieder in Betrieb sei, und noch besser, daß die Leute wieder etwas zu tun bekämen, denn Müßiggang sei aller Laster Anfang, ohne Zweifel. Man war Odin großen Dank dafür schuldig. Und er für sein Teil gehöre auch zu den Arbeitern. »Genau so wie du«, fügte er hinzu, »aber die Bauern, der norwegische Bauer, der sie sozusagen bezahlen muß – ich habe mit mehreren gesprochen, die der Meinung waren, daß es recht hart sei in diesen schweren Zeiten, diese letzte Lohnerhöhung.« – »Ja, richtig, du hast ja bereits Aktien, wie ich hörte?« – »Aktien, sagst du? Nein, was Aktien betrifft, so weiß ich mich frei von aller Schuld.«
Odin saß da und betrachtete ihn und hatte seine kleine Freude dabei: – Den Sonntag hast du mir genommen, Mikkel Mikkel: Reineke Fuchs., aber nicht meine Sonntagslaune. – »Du hast also nur eine Aktie?« sagte er.
»Ja, gleichgültig, was ich habe oder nicht habe, so verkenne ich doch durchaus nicht, daß man weit vorausschauen muß, daß man alle Dinge gleichsam mit Fernblick und mit Weitblick in Betracht ziehen muß. Aber davor haben sie Angst, viele in der Gemeinde, und ich kann mir nicht verhehlen, daß, wenn wir so weitermachen wie bisher und den Arbeitern eine Zulage um die andere bewilligen und wer weiß, was noch alles –«
»Du bist ein schlauer Kerl. Aber du solltest dich lieber um die Verkündigung der Heiligen Schrift und um Erweckung und solche Dinge kümmern.«
»Ja, spotte du nur! Ja, mein geringes Werk ist nicht groß, nach außen hin; aber das wage ich offen zu sagen, daß ich nach meiner Überzeugung wirke und in der Richtung, die mir meine Lebensanschauung vorschreibt – – ja, du hast auch eine Lebensanschauung, oder eine Lebensauffassung? Du sollst mir Antwort darauf geben, Odin! Denn die Jugend verlangt Klarheit in allen Dingen, so daß wir also wissen dürfen, wo du stehst. Die Jugend und die Zeit verlangen Klarheit. Der klare Gedanke ist es, der die Welt regiert.«
»Ja, das glaube ich gern. Da doch alles so gut geht.«
»Ja, gut ist ja nun ein relativer Begriff, das heißt, es ist so, wie man es nimmt. Aber du verstehst mich –«
Ingri kam wieder herein, und Vikesylt wandte sich ihr zu: »Ich habe so großes Vertrauen zu deinem Mann. Daß er ein Idealist ist, gleichgültig, was er tut und was er sonst sagt – innerlich gleichsam.« – »Ja, meinst du, das wüßte ich nicht«, erwiderte sie lächelnd. Odin konnte sehen, sie wunderte sich darüber, daß er diesem Burschen nicht die Tür wies, er hatte doch schon gar manchen hinausgeworfen, der auch nicht schlimmer war. Da überfiel sie das Lachen, packte sie, ohne daß sie sich wehren konnte: »Idealist, innerlich, haben Sie nicht so gesagt?«
Vikesylt lachte mit, schlau und verlegen. Die Wangen hingen ihm wie leere Beutel an den Mundwinkeln herab, die Augen verloren den Glanz und zogen sich in den Kopf zurück. Nach und nach kam das Kind in allen Zügen zum Vorschein. Jetzt erst war er der Silberfuchs. – »Ach richtig: ich sollte dich ja von deinem Vater auf Segelsund grüßen, ich war gestern dort.«
Ingri wurde rot, und ihren Nacken durchlief ein leises Zucken. – »Dein Vater ist ja eine große Stütze und Hilfe auf Segelsund geworden, seit er dorthin kam! Wie lange ist es nun her, seit er dort ist? Ich glaube, bald ein Jahr. Die Zeit vergeht so rasch, ist einfach nicht aufzuhalten. Ja ja, ja ja, so ist es. Ja–a. Und jetzt gedenkt er wohl, sich hier niederzulassen, nicht wahr? Ja, er hat bereits eine gute Position, ist sich wohl ganz klar über seinen Weg.«
Odin fragte, ob Vikesylt mit ihm gesprochen habe? – Doch, ganz richtig, er habe mit ihm gesprochen und noch dazu gar nicht so wenig. Auf einmal wird er munterer und fragt: »Er ist im Süden unten gewesen, so hat er, glaub' ich, gesagt?« Ingri sieht ihn starr und wehrlos an. Vikesylt ist die reine Treuherzigkeit: »Mir war's, als hättest du das einmal gesagt? Oder hat er das vielleicht gesagt?«
»Ja, er war eine Zeitlang im Süden.«
»Geschäftlich, war es nicht so?«
»Ja.«
In demselben Augenblick sah sie Odin an. Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht, rann fort und überflutete sie wieder. Odin lächelte ihr zu, die Brauen lustig hinaufgezogen, und wandte sich an den Silberfuchs: »Er war Geschäfte halber in der Hauptstadt.« Wiederum schoß die Blutwelle über Ingri hin. Sie mußte sich an den Tisch lehnen, und so blieb sie stehen, bis Vikesylt ausgeredet hatte und endlich Abschied nahm und ging.
»Daß er wirklich soviel Verstand hatte und fortging«, sagte Odin lachend, als er draußen war. »Das war so richtig eiserner. Es gibt viele solche, Ingri. Die Welt ist trotzdem rund. Hm?«
Da fragte sie: »Hast du das die ganze Zeit gewußt, Odin? Daß der Vater eine Strafe abgesessen hat? Und nie hast du davon geredet?«
»Nein, warum sollte ich auch? Es ist trotzdem unsere gemeinsame Sache – – es geht uns doch beide an.«
»Aber daß ich es sagen konnte, Odin, daß ich log!«
»Ach: es war ja nur der Silberfuchs.«
»Du hättest die Wahrheit sagen sollen, du, Odin! Um deiner selbst willen.«
»Du warst so seltsam, wie du dastandest, ich konnte nicht anders, als dir helfen. Und dann war's ja auch nur der Silberfuchs!«
Er umfaßte sie und zog sie mit sich hinaus ins Freie. – »Die Wahrheit sagen«, meinte er, »das ist wohl ganz schön und gut, aber es gibt doch größere Dinge, die man verteidigen muß. Denken wir nicht mehr daran, Ingri. Bei mir kommt's oft vor, daß ich so ein bißchen lüge, und das schlimmste dabei ist, daß ich eigentlich nicht immer dazu gezwungen bin – nun, jetzt habe ich das wohl beinahe überwunden.«
»Wenn es nur nicht am Vater ausgeht!« Sie hing ihren eigenen Gedanken nach und hatte seine Worte kaum gehört. – »So glücklich, wie er jetzt ist!« sagte sie. »Und ist doch früher unglücklich genug gewesen – er war immer so gut gegen mich. Glaubst du, daß es aufkommen wird, Odin? Denn das darf es nicht, hörst du!«
Nur die Mina auf Segelsund wisse darum, und mit der wolle er reden.
»Denn dann habe ich nicht nur den Vater, sondern auch dich in Schande gebracht – – und das könnte ich nicht aushalten!«
»Pah! Dafür werden wir wohl immer einen Rat finden. Siehst du nicht, wie schön es hier ist? Ringsum!«
»Nein. Nein, dazu bin ich jetzt nicht imstande, Odin. Für mich hat jetzt alles seine Farbe verloren.«
Er tröstete sie und nannte sie ein kleines dummes Ding, und es sah fast so aus, als käme sie wieder zur Ruhe. Und dann standen die Berge da und lächelten ihnen mit verschneitem Gesicht zu, und ebenso schauten der Waldrand und die Wiesen und der See und die hellen Wolken sie an. – »Nie ist der Tag so weit, Ingri, als wenn du mit mir draußen bist.«
Er nahm ihre Hand und stand eine Weile still. Da sagte sie:
»Aber daß ich es sagen konnte! – – Ich hätte nie heiraten dürfen. Ich wußte doch, daß es falsch war.«
Gegen Abend zog Odin sich an und ging nach Segelsund. Er sah ein Aufleuchten in Ingris Gesicht, als er sich auf den Weg machte, und da erst wurde er sich voll und ganz bewußt: mit dieser Sache hier mußte er zurechtkommen, er mußte sie darüber hinwegtragen, sonst ging ihnen alles schlecht hinaus. Na ja, er würde bei Mina schon bis zu ihrem wahren Menschen vordringen, und dann war er ja gerettet. Das war es ja im Grunde, was er stets getan hatte, er war immer bis zum Menschen in den Menschen vorgedrungen; hatte er sie erst einmal so weit, dann konnte er sich auf sie verlassen.
Er mußte erst dasitzen und Kaffee trinken, ehe er Mina unter vier Augen sprechen konnte, und dann war sie es, die ihn mit sich zu kommen bat. So war es häufig, wenn er von jemand etwas wollte, das hatte er schon oft beobachtet.
Drinnen im Arbeitszimmer saßen sie einander gegenüber. Sie hatte den Zwicker aufgesetzt. – »Du weißt, um was es sich handelt«, sagte sie – »und deshalb bist du auch gekommen, mach mir nur nichts anderes weis.« – »Ihr meint den Konsumverein?« – »Ja, mach du jetzt nur keine Geschichten, Odin, dazu bist du zu gut. Der Konsumverein, es war doch nicht deine Absicht, hierherzukommen und uns zu bitten, mit dem Handel aufzuhören?« –
»Nein, nein; wir können ja den Fäustling hinwerfen, wißt Ihr, oder den Handschuh; wir können ja alle Handelsleute hier in der Gegend wegkonkurrieren. He?«
Mina wuchs in die Höhe, mit heißen Wangen und sprühenden Augen: »Um keinen Preis! Niemals! Du hast sie alle miteinander auf deiner Seite, und klein sind sie, aber das hier? Nein!«
Er sitzt da und sieht sie ganz offen an. Ab und zu lächelt er ein wenig, mit den Augen oder mit dem Mund, ihr ist, als durchschaue er sie ganz und gar, und dies noch dazu, obwohl er an vielerlei Dinge denkt. So muß sie ihm schon einmal eine peinliche Minute lang gegenüber gesessen haben. – »Nein, das war die Muhme Aasel!« sagte sie auf einmal. – »Aber kannst du es denn nicht hinausschieben, Odin? Noch ein paar Jahre?« – »Das kann ich nicht, nein. Es liegt hier und wartet.« – »Das wirst du uns doch nicht antun, so bist du doch nicht, Odin?« – »Nein, nein. ›Ich bin geneigt, dies zu glauben‹, wie der Silberfuchs sagt.«
Er sah auf die Uhr und dachte dabei sogar daran, daß dies eine Bürgermeistergewohnheit sei, so auf die Uhr zu sehen, wenn man sich etwas überlegen wolle. – »Nein, diesmal hatte ich eigentlich etwas anderes vor. Es handelt sich um Euren Mann.« – »Ja?« – »Ja? sage ich auch.« – »Du siehst es jetzt doch ein, Odin, daß er Disponent der Fabrik sein sollte?« – »Nein, im Gegenteil! Laßt uns nicht vom Weg abkommen. Ihr glaubt doch selber nicht, daß er der richtige Mann dazu wäre.«
Er sah, wie ihre Wangen grau wurden und wie sie ihm innerlich recht gab; er lachte, aber er war seiner selber herzlich überdrüssig: »Ja, es ist hart, auch ein Mensch zu sein, manchmal. Aber es macht trotzdem Spaß. Nein, ich wollte mich erkundigen, ob er nicht die Leitung des Konsumvereins übernehmen wollte, wenn er zustande käme.«
Mina saß da und ließ sich Zeit. – »Ja, so«, sagte sie. »Ja, ja. Ich werde einmal mit ihm darüber reden.« – »Tut das, seid so gut. Aber laßt mich die Wahrheit sagen, dann lüge ich nicht. Ich hatte heute abend ein anderes Anliegen: ich wollte Euch um Ingris willen um etwas bitten. Sie würde es sich verflucht zu Herzen nehmen, wenn die Geschichte mit ihrem Vater in der Gemeinde herauskäme.« – »Glaubst du, daß ich ein Klatschweib bin?« – »Nein, dann säße ich nicht hier. Aber ich dachte, wenn die Leute Euch ausfragen? Nun, ihr beide seid ein wenig aus der gleichen Sippe; wenn auch entfernt, und Ihr wißt, wie empfindlich Ingri ist.«
Mina streichelte ihre Hände und sah sie an. Sie waren immer noch so jung wie früher, lang und schmal und weiß. Dann blickt sie auf und weiß keine Antwort. – »Könnte man es nicht so hinstellen«, meinte Odin, »daß er Geschäfte halber in der Hauptstadt war?« – »Es wird wohl nichts anderes übrigbleiben. Aber sie wird das nicht wollen.« – »Ich erst recht nicht!« lachte Odin. »Das ist es, was mir das ganze Leben so verekelt, daß man so vieles tun muß. Daß man um das Schlimmste herumgehen muß, bisweilen. Aber um ihretwillen tue ich es gern.« – »Ach ja, das Leben!« seufzte Mina. – »Nein, sagt nichts über das Leben! Denn das Leben ist das beste, was wir haben. Das Leben soll so sein, wie es ist. Aber Ihr wißt ja, wie empfindlich Ingri ist, was für ein merkwürdiges Verhältnis zwischen ihr und dem Vater besteht.«
Odin erhob sich und Mina stand gleichzeitig mit ihm auf und gab ihm die Hand: »Auf mich kannst du dich verlassen.« – »Danke! Ich weiß es.« – »Dann kommt er wohl schon bald zustande, dieser Konsumverein?« – »Nein, so schnell geht es mit solchen Dingen nie. Da muß ich erst noch vieles erledigen.« – »Ja«, seufzte sie, »es ist nicht leicht, viele Köpfe unter einen Hut zu bringen.« – »Ja, aber es ist doch auch wieder lustig, oft, hm?« – »Für dich, ja. Für dich ist die ganze Geschichte nur ein Tanz.«
Sie sah müde aus, eine kleine verwitterte Blüte. Er fühlte Lust, ihr über die dünnen Wangen zu streicheln, wo die krausen Haare ganz leicht grau wurden. Er tat es, ehe er sich's versah:
»Nur Mut! Auf einmal wendet sich das Blatt wieder, Ihr werdet sehen!«
»Ja, du Odin!«
In der Stube drüben trafen sie Ola Haaberg, der gerade kam und seinen Kaffee haben wollte, und Bonsach Arnesen, Ingris Vater. Arnesen war immer der gleiche, wenn Odin kam, er stand da und wollte fortgehen, kam aber nicht vom Fleck; kaum drehte Odin sich weg, sah Arnesen zu ihm hin, und erst nach und nach versuchte er ihm in die Augen zu schauen. Er war ein großer und feingebauter Mann, mit scharfen Gesichtszügen, aber weichen Augen. Als Odin mit ihm über Ingri redete, wurde er rot wie ein Kind, und gleich darauf ging er hinaus. Ola trank seinen Kaffee aus und wollte wieder in seine Kammer gehen, und Odin verstand dies so. als sollte er mitkommen.
Drinnen blinzelte Ola ihm verstohlen zu: er habe etwas anzubieten. Keinen hausgebrannten Schnaps, nein, woher doch, sondern rechtfertige Dinge – »nein, wahrlich, mich haben sie mit ihrem Gesetz nicht wie einen Dieb in der Nacht überfallen, ich habe rechtzeitig vorgesorgt! Aber trinkst du wirklich solches Zeug, Odin?« – er sprach leise, damit niemand es hören sollte. – Ja, Odin konnte dies nicht leugnen. Mochte doch der neue Küster statt seiner enthaltsam sein, wenigstens eine Zeitlang. – »Ah, du bist ein schlauer Kerl, Odin, hm, hm! Du bist mir allzu schlau.«
Sie saßen eine Weile beieinander und unterhielten sich. Da klopfte es an die Tür, und schon war die Flasche verschwunden. Es war der Vorstand des Arbeitervereins, Engelbert Olsen, er hatte gehört, daß Odin hier sei.
Engelbert hatte nacheinander ein paar Höfe besessen, hatte dann den Kramladen in der Haabergbucht geführt, und jetzt arbeitete er in der Fabrik. Glück hatte er nicht viel gehabt, aber er besaß einen guten Kopf und einen frischen Mut. Er und Odin waren gute Kameraden gewesen, und Odin hatte ihm verschiedentlich geholfen. –
Auf einmal stand die Flasche wieder auf dem Tisch. – Nein, danke, Engelbert wollte nichts haben. – »Aber so etwas!« – Nein, er sei enthaltsam, um der Arbeiter willen, denn die hätten es nötig. »Ich mache es nicht so wie der Odin«, fügte er hinzu. – »Ja, dann kriegst du auch nichts mehr, Odin«, lachte Ola, »ihr könnt ja mit eurer Politik dasitzen. Die Menschen werden so schlau! Ich ziehe jetzt bald meine Schuhe aus und schleiche mich ins Wasser. Ich bin schon überall herumgegangen und habe Abschied genommen. Dann könnt ihr dasitzen und schlau sein, zum Wohl!«
Odin schaute auf die Uhr, er wollte heim. Es war ihm nicht recht, daß er jetzt hier saß. In diesem Augenblick fiel Ola auch schon über ihn her: »Wie kannst du nur immer so von deiner Frau weggehen? Abend für Abend bist du weg! Sie ist doch auch ein Mensch!« – »Ja, hätte ich sie nicht!« lachte Odin – »um ihretwillen könnte ich noch zum Dieb und Spitzbuben werden!« – »Warum hast du ihren Vater nicht zum Disponenten in der Fabrik gemacht?« sagte Ola, »ach richtig, er war ja noch nicht aus dem Süden heimgekommen, hm, hm!«
Engelbert wachte auf und fragte, was denn dieser Arnesen für ein Mann sei und was er denn im Süden unten getrieben habe?
Ola ließ seine Blicke auf ihm ruhen, tat aber so, als habe er seine Frage nicht gehört. Er wandte sich wieder Odin zu und taute immer mehr und mehr auf: »Oh, ich weiß, mein Junge, ich weiß gar vieles. Aber ich schweige; ich bin stark wie ein Bär. Du sagst, du könntest deiner Frau zuliebe zum Dieb und Spitzbuben werden? ›Auch deine Seele soll ein Schwert durchbohren‹, hab nur keine Angst. Ihr Vater, zum Teufel, was willst du denn mit ihm?« wendet er sich an Engelbert. »Frag die Mina, die weiß es!« – Odin wurde es immer unbehaglicher zumute, bei jedem Wort, das hier gesagt wurde, ihm war, als stünde ihm noch mancherlei bevor. Jetzt aber versuchte er Engelbert von Ola abzulenken; er sprach vom Konsumverein. – »So nach und nach tröpfelt es jetzt herein.« – »Das ist wohl ganz schön und gut«, meinte Engelbert, »aber es kommt eben doch sehr darauf an, von welcher Seite es kommt. Wenn die Arbeiter mittun sollen, dann müssen sie die Macht haben. Der Leiter muß aus ihrer Mitte gewählt werden, das ist die erste Bedingung.« Engelbert versuchte Odin in die Augen zu sehen, immer und immer wieder, und schließlich wurde er ganz böse auf ihn, weil es ihm so schwer fiel. – »Den Leiter, den habe ich bereit, aber wozu sitzen wir hier und reden«, er stand auf und schlug Engelbert auf die Schulter, so daß er zusammenknickte: »Jetzt gehen wir!«
Engelbert kam mit. Ola trank sein Glas aus und kam an die Türe nachgestolpert, versuchte die anderen um jeden Preis aufzuhalten. – »Wie kann man die Leute nur so stramm halten!« sagte er, »ja, ich meine nicht nur dich«, – er versetzte Engelbert einen Stoß in die Seite – »er hält sie doch alle am Zügel. Wie hast du es zum Beispiel mit den Heringen gemacht? Du selber hast verkauft, und gekauft hast du auch selber, und trotzdem stieg der Preis so blödsinnig hoch.«
»Kindergeschwätz!« sagte Odin. »Überall kleine Kinder, wo man sich hinwendet.« Dann fügte er einige Worte hinzu, daß die Fabrik die Schiffer gezwungen habe, das zu bezahlen, was sie bezahlen sollten, dies hielt er für ein gutes Werk. Ein paar Kronen mehr für die Tonne.
Ola tat, als sei er entsetzt. »Wenn du jetzt lügst, dann ist es schlimm. Lügst du aber nicht, dann ist es noch schlimmer. Und der Lauris, der ist der Allerschlimmste von allen miteinander – – ich will einen Brief hinterlassen zum Schluß. Einen, der dir helfen soll, wenn sie deiner Herr werden wollen, Odin, hihihi!«
Sie verabschiedeten sich und machten sich ans Fortgehen. Engelbert wollte zum Jugendheim auf Lauvset gehen, so daß sie ein Stück weit den gleichen Weg hatten. Odin schritt rasch aus, und es wurde nicht viel geredet zwischen den beiden. Die Luft war kühler geworden und strich dem Gesicht mit einem ruhigen frischen Zug entgegen. In ihr war kein Verrat. So konnte es einem manchmal entgegenwehen, mit neuer Luft über der ganzen Gegend und mit einem neuen Atemzug. Und Sterne und Himmel und Berge und Felder stimmten bei. – »Mögen sie doch reden und sich gebärden, soviel sie wollen«, sagte er, ohne sich dessen bewußt zu sein, – »es kann uns nichts anhaben. Es kann uns nichts anhaben, außer wir wollen es, Ingri – na! – Gehe ich zu rasch? Ja, du mußt dich dazuhalten, ich will jetzt heim. Und so feines Wetter jetzt, nicht wahr – man spricht von dem, was ewig jung ist! So, du willst heute nacht tanzen? Ja, freilich; ich sollte eigentlich auch dabei sein. Nun ja, gute Nacht also und viel Vergnügen!« Odin fühlte, als er dem anderen die Hand reichte, daß er Engelbert noch auf seiner Seite hatte, fühlte es wie eine klare und gute Wahrheit. So daß ihn fast die Lust zum Singen überfiel.
Anders stand draußen, als er heimkam. Er stand still auf dem Hofplatz, so wie junge Menschen manchmal stehen können, Odin aber war es, als würde es dadurch doppelt still zwischen den Häusern. – »Wartest du auf mich?« sagte er.
Nein, das tat Anders nicht. Er blickte auf. Tief und ruhig war sein Blick, Odin schrak fast darüber zusammen. So hatte einen auch die Großmutter angesehen.
»Die Mutter wartet wohl auf mich?«
»Ich weiß nicht. Sie meinte vielleicht, du seist ins Jugendheim gegangen.«
»Ach du, Anders!« lachte Odin, er ging rasch hinein.
»Das hast du nicht geglaubt!« sagte er zu Ingri, »daß ich zum Tanzen hinübergegangen sei?«
»Nein«, lächelte sie, die Augen voller Glück, – das Glück, das auf der Angst schwimmt, dachte er.
»Hast du den Vater gesehen?« fragte sie.
»Freilich, ich soll dich grüßen, und auch von der Mina. Und die Mina hat mich verstanden, du kannst ruhig sein, Ingri. Ach, ich wünschte, es wäre schwer, dich trockenen Fußes hinüberzutragen – aber warte nur ab!«
Einen Augenblick flog Angst über sie hin, eine große glückliche Unruhe:
»Sag so etwas nicht, Odin!«
Als Vikesylt aus Odins Stube hinaustrat, stand er eine Weile da und hielt leise witternd Umschau. Dann nahm er den Stock und ging und kehrte bei Lauris ein. Hier trat er noch stiller auf und ließ die Augen noch ehrfürchtiger über die Wände gleiten:
»Ach, wie gemütlich!« seufzte er. »Nein, ich fühle mich jetzt so, wie ich mich immer gefühlt habe, und wie ich auch zu euerm Nachbarn sagte: Ich bin ein Bauer, sagte ich. Bauer. Es liegt viel in diesem Wort, und noch viel mehr, je tiefer man sich hineingräbt und grübelt. Selbstverständlich. Denn darüber muß man sich klar sein und darf es nicht übersehen, daß eine Kluft ist, sozusagen, zwischen Bauer und Arbeiter, sie sind zwei Gegensätze, geradeheraus gesagt, ja, das ist nun also meine geringe Meinung über die sozialen Verhältnisse hier im Lande.«
Er redete lange und über viele Dinge, und mitten drin geriet er in Erstaunen über den Konsumverein: sollte nicht der Arnesen dort Leiter werden? Odins Schwiegervater? Denn der war ja Geschäfte halber in Kristiania gewesen, soviel seine Tochter erzählt hatte – er war wohl lange dort, nicht wahr? Und er war ein ordentlicher Mann, es war Christenpflicht, dies zu glauben. Dann redete er von den Bauern und der Fabrik und dem ganzen Lohnkampf dort, es sei kein kleinerer Kampf als der zwischen Aristokrat und Demokrat, so daß jeder sich dorthin stellen müsse, wo er hingehöre. »Und da wäre dein Mann so ungefähr der Führer der Bauern und der Vertreter der aristokratischen Lebensanschauung!« sagte er und gab Astri die Hand zum Abschied. Er löste sich in blanke Hochachtung auf und ging.
»Tölpel!« murmelte Lauris. – »Ja«, sagte Astri. Aber sie blieb lange in Gedanken versunken, stand da und strich mit der Hand über den Stuhlrücken. – »Ja, ja, so ist es wohl«, meinte Lauris. – »Was?« fragte Astri. – »Ja, ich bin ganz deiner Meinung.« – »Daß nun eine Versammlung einberufen werden muß? In der Fabrik?« – »Generalversammlung, ja, eine außergewöhnliche: verflucht noch einmal! Wie der alles verfahren hat.« – »Du mußt vorher erst ein wenig mit ihnen reden. Es ist nicht zu früh, wenn sie merken, daß du auch noch da bist. Aber darüber, daß er das Netz am anderen Ufer eingezogen hat, darüber darfst du nichts sagen.« – »Ah! Glaubst du, ich bin ganz auf den Kopf gefallen?« – »Und von der Geschichte mit Ingri und ihrem Vater sagst du auch nichts – wir wissen es nicht, Lauris. Denn du sollst den Leuten genau so in die Augen schauen können wie er, sollst einem jeden in die Augen schauen können, dem du begegnest.« – »Ja, hör jetzt nur auf, ich weiß, was ich will und was nicht! Weibergeschwätz.« – »Still doch, Lauris. So etwas sagt man nicht. Aber ich muß offen gestehen, das hätte ich nicht von der Ingri geglaubt. Nun, es ist wohl auch nicht so leicht für sie. Wenn die beiden es unbedingt so weit in der Gemeinde bringen wollen.«
Astri ging umher und biß sich dabei auf die Lippe, sie rückte die Blumen am Fenster zurecht und schob auch sonst alles auf einen anderen Platz. – »Da ist nichts zu machen«, sagte sie ein paarmal. – »Was meinst du damit?« – »Man kann zu so vielem gezwungen werden. Sich in dieses Geschwätz hineinzumischen – ich glaubte, damit würden wir verschont werden. Aber daß dieser Disponent fortwährend seine rechte Hand sein soll! Daß Odin auch so blind sein soll?« – »Ja, du hast recht.« – »Ja, meinethalben können sie uns ja gerne von allem ausschließen, was in der Gemeinde vor sich geht. Aber wenn sie gar nicht sehen wollen, wohin das führt, wenn sie sich alle miteinander zu Pack und kleinen Leuten machen!« – »Ja, er hat gearbeitet, der Odin«, lachte Lauris.
Er ging gleich nach Mittag fort und kam noch später heim als Odin. Er war an vielen Plätzen gewesen. Auf dem Heimweg kam er an Lauvset vorbei, und dort traf er Engelbert und ging ein Stückweit mit ihm. Engelbert redete immer ganz offen, man sollte hören, was er meinte, und dann auch mit der eigenen Meinung herausrücken, und am liebsten hatte er, wenn sie sich's überlegten und ihm recht gaben. Auf Lauris war er böse, denn der war in allem Bauer und Gegner, und es war selten eine ordentliche Antwort aus ihm herauszubringen. Heute abend zog Engelbert schwer gegen die Bauern los. Die Bauern seien vieles, was nicht gut sei. Vor allem aber seien sie Wursthäute, in die die Arbeiter unentwegt hineinstopften, und doch würden sie nie voll, denn man hätte vergessen, sie unten zuzubinden. Sie seien zehnmal schlimmer als die großen Herren in der Stadt.
Jetzt aber würden die Bauern bald selber ihre eigenen Würste stopfen, sagte Lauris. »Täten wir, wie sich's gehört, dann würden wir jetzt die Fabrik niederreißen und die Gemeinde von dem ganzen Gesindel säubern.«
Engelbert wunderte sich über solche Worte von Lauris. Er freute sich. – »So, so, da bläst jetzt wohl ein frischerer Wind? Gott gebe es! Dann wollen wir uns um die Wurst raufen. Aber du, Lauris, du bist nur eifersüchtig auf den Odin. Du weißt ja, nun ist er Bürgermeister geworden, und – ja, das Strandrecht hat er dir auch weggeschnappt. Und die Fabrik im Betrieb, mitten vor deinen Augen – mit ihm wird man schwer fertig! Außerdem hätte er nicht mehr als sieben Kronen für die Tonne mit Heringen erreichen können, wäre nicht die Fabrik gewesen. Das ist ärgerlich, nicht?« – »Ach Unsinn!« sagte Lauris. – »Nein, kein Unsinn, es ist wahr; er hat es selber heute abend gesagt.«
»Wenn's darauf ankommt, werden wir ja sehen, ob du dich noch daran erinnerst.«
»Ich glaube fast, der Odin steht schon für sich selber ein, jetzt wie früher.«
Lauris räusperte sich ein paarmal; dann sagte er, der Odin habe es gut verstanden, die Leute an der Nase herumzuführen. – »Fängst auch du damit an?« erwiderte Engelbert, er war ganz verdutzt. »Glaubst du wirklich, er führt mich auch an der Nase herum?« – »Nein, bist du verrückt?« grinste Lauris. »Im übrigen, Engelbert, es macht Spaß, mit dir zu reden. Wir werden uns schließlich noch ganz gut vertragen.«
Still und verdrossen ging Engelbert weiter. Lauris' Worte verfolgten ihn, von einem Baumwipfel zum anderen, von einem Erdhügel zum anderen; er war höchst unzufrieden mit sich. –
In der Zwischenzeit saß Astri daheim. Sie dachte nicht, so schien es ihr, sie sah zurück, gar manches kam ihr in den Sinn und zeigte sich ihr und stand bis auf den heutigen Tag noch lebendig vor ihr. So konnte es in letzter Zeit oft mit ihr geschehen und besonders, wenn Lauris weg war. Oft, wenn sie so dasaß, konnte sie ihn sehen, von allem Anfang an, zuerst sein verschlossenes Gesicht und dann den ganzen Mann. Dann durchlief sie wieder dieses Beben, so wie sie es früher durchlaufen hatte; sie wußte, sie hätte es ebenso empfunden, wenn sie ein Kind gewesen wäre und sich mitten in der Nacht im Wald verirrt hätte und wenn sie gerade den Weg, vor dem sie sich am meisten fürchtete, hätte gehen müssen. – Sie riß sich los und sah ihre ältesten Buben vor sich. Peder und Arne, der eine so wie er und der andere so wie sie, und trotzdem waren sie etwas anderes und noch mehr als das, jeder für sich. »Sie waren es, die ich liebte«, sagte sie; »ich wußte doch, daß ich sie bekommen würde.« Es tat gut, dies sagen zu können, es so sehen zu können, wie es wirklich war.
Mitten drin tauchte Odin auf, ein junges und lächelndes und starkes Gesicht. Sie sah ihn ruhig und genau an, und bisweilen lächelte sie zurück: »So ist's recht, so ist's recht, mach nur so weiter, vorwärts, immer vorwärts! Bald verrennst du dich und steckst fest. Dann erst kommt meine Zeit, dann kommt unsere Zeit!«
Dann war Lauris wieder da, und jedesmal war er mehr so, wie sie ihn haben wollte. Und stets war er so, daß sie dieser kalte Schauer überlief. War der Mann, den sie haben mußte. – Aber jedesmal stand er hinter Odin, und anders konnte es wohl nicht sein. Jetzt sah sie Odin, wie er seinerzeit hier baute. Er hatte eine unerhörte Arbeit auf sich genommen, aber er brachte sie doch zuwege; und je schwieriger es ging, desto froher wurde er. Oder vielleicht: ihm wurde nichts schwer, es gab sich alles von selber. Und in jener Zeit war Lauris nicht mehr wert, als daß er sich ihm in den Weg stellte. Odin wußte darum, und trotzdem nahm er die Hilfe an, als sie kam, und war froh; Astri zuckte heute noch zusammen, wenn sie daran dachte. Dann kam der Streit hier in der Gemeinde, wegen des Altersheims und der Bank und der Aufteilung des Kreises und des Weges und allem miteinander, und nun zum Schluß die Fabrik, und Odin, der junge Kerl, der wie ein Sturmwind darüber hinfegte und alles zuwege brachte. Aber den Lauris kannte keiner.
Und jetzt kam er. Sie saß da und sah ihn still an, als er eintrat und als er seine Joppe über den Stuhl warf; sie konnte es ihm nicht abgewöhnen; jedesmal machte er es so, wenn er hereinkam; sie sah ihn an, während er sich an den Tisch setzte und zu essen anfing. Er blickte sie an, ein paarmal, und dachte an seine Angelegenheiten, unerschütterlich, wie er zu sein pflegte. – »Was sagen sie nun also, die Leute?« fragte sie endlich. – »Wo sind denn die Buben?« – »Sie sind schlafen gegangen. Peder war einen Sprung im Jugendverein.« – »Was die Leute sagen?« murmelte er. »Ach, sie fangen allmählich an, sich den Schlaf aus den Augen zu reiben, einige unter ihnen.« – »Das ist auch nicht mehr zu früh. Haben sie irgendeine Zeit festgesetzt? Für die Versammlung, meine ich?« – »Ach ja, das auch. Mittwoch abend soll sie sein, wurde verabredet.«
Astri wurde schimmernd rot. Sie war sonst meistens blaß. Ein paarmal zuckte es in ihren Brauen, wunderbar fein, und die Augen bekamen einen starken, freien Glanz:
»Dann sollst du vortreten und zuschlagen, daß es einmal ausgibt!«
Lauris tat einen Zug aus seiner Milchschüssel, war mit dem Essen fertig und suchte sein Rauchzeug hervor. – »Soviel braucht's diesmal gar nicht«, sagte er. – »Nein, wenn den Leuten nur einmal die Augen aufgehen würden«, meinte sie. Das aber sei seine Sache. Länger dürfe man es nicht mehr anstehen lassen.
»So?« Er drehte sich um und sah auf die Uhr, murmelte etwas vom Stall und von den Pferden. Astri nahm einen Anlauf:
»Denn sie haben ein Recht darauf, sich das von mir zu erwarten, die ganze Gemeinde. Und – – soviel Rückhalt müssen unsere Buben doch haben; sie brauchen es. – Die haben nicht die Sippe hinter sich.«
»Nein, Gott sei Lob und Dank dafür!« summte er leise vor sich hin.
Am Mittwochabend herrschte Oststurm. Der Fjord toste laut, und die steilen Felsen standen da und sangen im Sturm. Odin lächelte oft diesem Wind zu, und er lächelte auch heute abend, als er zur Versammlung in die Fabrik ging. »Ja, freilich, wir sind doch zu zweit; ich höre dich ganz genau, höre dich schon, auch wenn du nicht so laut bist!« Brausend jung und übermütig kam der Wind über Moore und Wälder her, und von Zeit zu Zeit warf er sich von den Hängen und Bergsätteln herab und schüttelte die Häuser und warf den Menschen Sand und Steinchen in die Augen. Man mußte sich mit dem vollen Gewicht nach vorne legen, wenn er einem gerade entgegenstand, und die Füße gehörig einstemmen, hatte man ihn von der Seite her. »Heute abend ist er schlecht aufgelegt«, sagten die Leute.
Der Abend wuchs unter hohem, bleichem Himmel heran, unter einem nackten Winterhimmel, der sich jetzt mit einem grüngelben Schimmer in weiter Ferne und einem rotgelben Sturmrand am Meer sehen ließ. Still und grau lag die Gemeinde zwischen den Bergen da, sie ließ den Abend kommen und den Wind toben, es tat merkwürdig gut, dies zu sehen. Alles will seine Zeit haben.
Nach und nach kamen die Leute herbei, da ein Mann und dort zwei oder drei, und manchmal sah man mehrere, die sich zusammengetan hatten. Beinahe jeder Häusler besaß eine Aktie, das hatte Odin durchgesetzt. Da kamen sie. Es dünkte Odin, und dies war ihm schon oft widerfahren, er sähe die Gemeinde, und das Wetter, wie es durch sie wurde: Grau und öde lag der Abend zwischen den Felsen, grau und öde war alles miteinander, und der Himmel kalt und trostlos, und der Wind kam wie ein Feind oder ein verjagter Geist; so empfand er ihn für sie. Und so war es, wenn man einherschlich und zur Versammlung mußte: es mußte eben geschehen, da half nichts. Und er sollte ihr Vertreter sein, durch dick und dünn.
Einige waren bereits vor Odin gekommen, andere langten gleich nach ihm an, und er ging umher und redete mit ihnen. – »Was meint ihr, gibt's schlechtes Wetter, Leute?« fragte er. Sie lachten und fanden, daß das Wetter doch ohnehin schon schlecht genug sei. Da ging er wieder fort. Er wußte, sie gaben ihm immer recht, solange es ihrer so wenige waren. Er ging hinaus und redete mit den Arbeitern, hauptsächlich mit Engelbert. – »Nur ein kleiner Regenschauer«, sagte er zu allen. »Aber was ich eigentlich sagen wollte, das Wetter ist nicht mehr recht sicher, und wenn es zu heftig wird, dann müssen wir ein wenig fieren – ihr seid doch alle miteinander Segler?«
Sie waren darin ganz seiner Meinung. Wenn es jetzt, in der dunklen Winterzeit, nur so einigermaßen ging, dann mußte man schon zufrieden sein. – »Nein,« sagte Odin, »nicht zufrieden gerade; wir warten nur auf eine bessere Brise.«
Als Odin wieder hineinging, war die Stube voll. Er setzte sich auf seinen Platz als Versammlungsleiter, nahm das Buch und schrieb etwas hinein. Dann lehnte er sich auf seinem Stuhl ein wenig zurück und sah sie alle an, lächelte und bat sie, ihm zu sagen, weshalb sie hierhergekommen seien. Ein Mann vom Osten drüben legte einen Brief auf den Tisch. Er war von Ola Engdalen, der darum bat, von seinem Posten in der Leitung zurücktreten zu dürfen. – »Er muß bis nach Neujahr warten, bis zur Jahresversammlung«, sagte Odin und legte den Brief in die Protokollmappe.
Endlich erhob sich der neue Vennestadbauer und bat um das Wort. Er stammte nicht aus der Gemeinde hier und war unbefangener als die anderen. – »Die Fabrik, das sind wir«, sagte er und schaute um sich. »Wir, die das Geld dazu hergegeben haben.« Er kaute ein paarmal an diesem Satz und nahm dann wieder einen neuen Anlauf. »Die Fabrik ist ins Stocken geraten, und so, wie die Zeiten jetzt sind, ist darüber nichts zu sagen. Jetzt aber ist sie wieder in Betrieb gesetzt worden, mit Hilfe von teueren Einkäufen und Erhöhungen des Lohnes, eines Lohnes, der schon vorher zu hoch war.« Nach und nach wurde er immer ruhiger, und mit starken und sicheren Worten legte er dar, wie es nun weiterhin gehen würde: niedrigere Preise für Heringsfett, Zinsverlust und Betriebsverlust – er nannte lauter Zahlen – und schließlich ernstliche Arbeitsstockung, wenn die Besitzer ausgesaugt waren und mit leerem Geldbeutel dastanden. Mit anderen Worten: Dies hier sei der Tod für die Fabrik, und nun frage er die anderen um ihre Meinung.
Da und dort schon hatten die Leute gebrummt, sei seien einig mit ihm, und jetzt löste sich die Stille, und in der ganzen Stube wurde eifrig gesprochen. Ja, so verhielte es sich, dies bedeute den Tod für die Fabrik, und nun wollten sie erklären –
Wäre es eine andere Fabrik, betonte er weiter, handelte es sich um auswärtige Leute und auswärtiges Geld, ja, und wären es Geschäftsleute, dann wäre es etwas anderes, dann würde er sagen – –
Aber er konnte es nicht mehr sagen, der Faden war ihm abgerissen, und er setzte sich. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn.
Odin saß ruhig da. Er hatte diese Männer schon oft so gesehen. Mochten sie doch erst eine Zeitlang durcheinanderreden, das schadete nichts. Dann nahm er sich zusammen und bat sie, einer nach dem anderen zu sprechen, nun aber hatten sie auf einmal nur noch wenig zu sagen. Endlich klopfte er auf den Tisch und erhob sich. Er wandte sich dem Vennestadbauern zu: Wer ihm denn eigentlich alle diese Zahlen ausgerechnet habe? Der Mann läßt seine Blicke durch die Stube wandern, ebenso Odin, und viele schauen in der gleichen Richtung; sie treffen auf Lauris.
»Nun, Lauris?« sagt Odin. »Red doch lieber selber!« er wendet sich lachend an ihn.
Sie lachten mit, wenn Odin lachte; so war es schon immer gewesen. Es machte eine Sache nicht schlechter, wenn man sie von dieser Seite her anpackte.
Lauris stand auf. Er redete gleichgültig, auch er behielt die eine Hand in der Hosentasche. – »Daß du uns in diese Fabrikgeschichte hineingehetzt hast, darüber wollen wir nicht mehr reden.« – »Warum hast du dann überhaupt Aktien gekauft?« warf Odin ein. – »Wir wollten es doch wenigstens versuchen«, fuhr Lauris fort. »Aber jetzt sehen wir den Weg vor uns: Es geht schief. Der sogenannte Disponent und der Vorsitzende, es scheint fast, als könne es ihnen nicht schnell genug schief gehen. Wegen der Fischer, die um ihren Kaufpreis kamen, will ich nichts weiter sagen, sie hätten selbst Halt rufen können. Aber wohl tut es ihnen nicht. Wir aber, wir sind Bauern und müssen uns steif machen, wir können uns doch nicht lebendigen Leibes auffressen lassen oder zusehen, wie die ganze Gemeinde ins Verderben kommt, – wir können unser Geld nicht zum Fenster hinauswerfen, denn wir haben keines. Und außerdem handelt es sich ja doch um mehr, als man zunächst denken sollte. Wenn wir stets und immer nachgeben, dann reißen sie ihr Maul nur noch weiter auf, die sogenannten Arbeiter, wir haben auch in diesem Punkt eine Verantwortung, wir zerstören uns selber die Arbeitskraft; sie verschlingen einem ja bald den ganzen Hof, wenn man gezwungen ist, mit ihnen zu arbeiten.«
Odin lächelte noch, sah sie alle an und hörte ihnen zu. In der Stube saßen lauter brave Leute, und nun durften sie wieder loslegen. Die Worte Bauer und Arbeiter flogen überall umher. Er stand auf und klopfte auf den Tisch, um sich Gehör zu verschaffen.
»Wir sind doch alle miteinander Arbeiter, lassen wir doch lieber dieses Wort fort bei unserem Kampf. Zunächst und vor allem sind wir Menschen.«
»Nein! Nein!« erklangen Gegenrufe.
»So, also nicht? Dann sollten wir vielleicht versuchen, es zu werden?«
Noch lachten sie mit; als er aber im Ernst fragte, ob sie wirklich im Sinn hätten, die Fabrik stillstehen zu lassen, schwoll es wie ein Sturm gegen ihn an: »Ja! Ja! Jetzt soll Schluß sein – – reißt den ganzen Dreck nieder – lieber verkaufen wir den Schund – zum Frühjahr ist es doch wieder das alte Lied!« Es war nicht möglich, durch dieses Stimmengewirr hindurchzudringen.
Odin sah erstaunt aus. Dann wurde er ernst, er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und befahl Ruhe. Sie gehorchten, aber sie sahen ihn feindselig an. Zornig waren sie oft gewesen, dieser Zug aber war neu: und dort drüben an der Wand saß Ola Haaberg und machte sich über die ganze Sache lustig. – Meine Sippe, dachte Odin. Eigentlich müßte doch die ganze Gemeinde von ihr abstammen? Ein moosbewachsenes Geschlecht von Fjord zu Fjord. – »Überlegt's euch!« rief er, »geht heim, Leute, und überlegt's euch, ihr wißt ja noch gar nichts von Preisen und derlei Dingen. Laßt uns doch vernünftig sein wie erwachsene Menschen, so haben wir's früher auch schon gemacht. Laßt uns noch eine Woche zuwarten und dann die Fettpreise hören; das kann unter Umständen die ganze Rechnung umwerfen, die ihr heute abend aufgestellt habt. Ihr müßt bedenken, das hier ist kein Spaß und keine Kleinigkeit. Glaubt ihr denn, ich wollte etwas, was der Fabrik zum Schaden gereicht? Oder ich möchte euch etwas Böses antun? Glaubt ihr das schon lange?«
In diesem Augenblick erkannte Odin, daß er wieder die Macht über sie besaß, es fuhr ein frischer Strom quer durch ihn hindurch. Ein ganz leiser Stich folgte mit, daß es ihm im Grunde ganz gleich war, welchen Weg die Leute wählen wollten, aber die Freude lag darüber, sie sollten den richtigen Weg einschlagen, mochte es gehen, wie es wollte.
Da fängt Lauris an, und seine Stimme durchschneidet die Stille: »Du sagst, wir wüßten die Preise nicht. Wir wissen aber immerhin, daß du die Fabrik dazu benützt, die Preise bei den anderen in die Höhe zu treiben – daß es teuere Heringe sind, die du uns verschafft hast. Ein paar Kronen zuviel für die Tonne, hm? Und das sollen wir bezahlen?«
Odin sieht zu Engelbert hinüber, der dort bei der Tür steht. Der hatte erst kürzlich durch Odin eine Aktie bekommen. Er sieht zu gleichgültig und zu unbeteiligt aus, wie er dort steht, er hat es wohl dem Lauris gesteckt. Odin schweigt. Er denkt an verschiedenes, aber mitten drin durchzuckt es ihn auf einmal, daß sie ihn wiederum feindselig anschauen. Bin ich wirklich irgendwo verwundbar? Er lacht innerlich.
Nun hat die Stimmung in der Stube umgeschlagen. Mitten in den Lärm hinein ruft einer: »Wir haben kein Vertrauen mehr in die Leitung! Wir wählen uns eine neue Leitung!« – Alle rufen das gleiche.
Die drei anderen Männer der Leitung waren bleich geworden und standen sofort auf: Sie würden mit Freuden ihre Sachen nehmen und gehen. Aber Odin ruft: »Sie sollen uns doch lieber hinauswerfen!« Er fing bereits an, Zettel auszuteilen.
Lauris und der Vennestadmann wurden mit allen Stimmen gewählt, dann kamen Ola Haaberg und der Bauer von Juwika – die beiden besaßen viele Aktien – und der Fünfte wurde Odin, nachdem zwischen ihm und einem anderen gelost worden war. Da schlug er sich auf die Schenkel und lachte laut: Jetzt müßten sie ihn wahrhaftig wieder zum Vorsitzenden wählen!
Die Leute hatten sich beruhigt, und viele stimmten bei: »Nur zu! Dann fangen wir die gleiche Geschichte wieder von vorne an!« Lauris sagte, es sei am besten, wenn die Leitung jetzt gleich einen Vorsitzenden wähle, so daß man besser Klarheit darüber gewinne, was die Versammlung wolle und was nicht. Lauris wurde gewählt, mit allen Stimmen. Odin sah auf, die Stirn voll lustiger Falten, ringsum lachten die Leute, und Lauris sah sie an und nickte: er wollte die Sache schon auf sich nehmen.
Sie machten eine kleine Pause. Odin hatte Kaffee kochen lassen. – »Wie jener sagte, der sich mit zwei Polizisten abraufte: ›Wenn ich jetzt nicht bald verschnaufen kann, dann schaff ich's nicht mehr länger!‹« sagte er, als der Kaffee kam. Er hörte, wie über ihn geredet wurde. – Begreifst du, daß er verlor? – Einmal muß der Anfang gemacht werden. Ola Haaberg kam zu ihm und hielt sich den Bauch. »Jetzt bist du aber ordentlich auf den Hintern gefallen, ha, Odin?« – »Woher doch! Aber hingefallen, das bin ich wohl. So geht es, wenn man sich nicht festklammert. Aber daß es mich nicht mehr angreift?« wunderte er sich selber.
Im übrigen war die Stube nun mit gemütlichem Kaffeegeschwätz erfüllt.
Mitten in all dem Reden hörte Odin, wie Lauris und der Disponent aneinandergerieten und mehrere zu Lauris hielten. Odin versuchte in die Nähe zu kommen, aber noch ehe er verstehen konnte, worum es sich handelte, sprang der Disponent auf, kreideweiß im Gesicht, und fragte, ob dies so zu verstehen sei, das Lauris ihn loswerden wolle? »Schweig still und setz dich hin, Mann!« sagte Lauris, so gebieterisch, wie nur ein Schiffer das zuwege bringt. – »Ich lasse mir nichts befehlen!« erwiderte der andere. – »Nun, das hast du nicht allein zu bestimmen.« Und einer der anderen warf dazwischen: »Du wirst es doch wohl noch aushalten, auch wenn du nicht mehr den Odin als Amme hast.« – »Eines will ich dir sagen«, erklärte Lauris, »und zwar dies: du bist nicht unentbehrlich, vergiß das nicht, von nun an.«
Odin und ein paar andere versuchten ein gutes Wort einzulegen, aber der Disponent war schon so aufgebracht und wurde durch Lauris' Grinsen immer wütender, daß die Worte fielen, ehe sich's einer versah: »Jawohl, ich kündige meine Stellung, jetzt noch, in diesem Augenblick! O nein, ich schlucke das nicht hinunter, nimmermehr!« – »Aber mein lieber Freund, das verlangt ja auch keiner vor dir«, lachte Lauris, er war jetzt freundlich und sanft. »Jetzt, da die Fabrik ohnehin stillgelegt werden soll«, meinte er lächelnd zu den anderen.
Der Disponent stammte von irgendwo im Westland. Er war ein ruhiger und stiller Mensch. Aber hatte er erst einmal etwas gesagt, so stand es wie festgenagelt. Er bahnte sich einen Weg durch die Schar und ging hinaus. Odin sah seine hohen, breiten Schultern in der Türe. Was geschehen ist, ist geschehen.
Ja, was sie nun machen wollten? fragte Odin, als einige Zeit verstrichen war. Lauris rauchte, und die anderen beobachteten ihn und warteten: Was sie nun machten? Lauris hatte endlich gehört. – »Machen?« meinte er fragend. – »Ja, ohne Disponenten?« Er rauchte wieder, bis die anderen innerlich ganz mürbe waren. – »Wir brauchen doch keinen Disponenten, wie ihr das nennt, wenn die Fabrik stillgelegt werden soll.«
Zuerst schwiegen sie eine Weile. Dann kam einer mit der Frage, und nach ihm fragten sie alle: »Soll denn die Fabrik wirklich stillgelegt werden? Wenn wir die Sache genau betrachten?« Odin erkannte die Unsicherheit in allen Gesichtern, bald zuckte und zog es nach der einen Richtung, bald nach der anderen, nun waren sie in etwas hineingeraten, was ihnen nicht behagte; ohne sich dessen bewußt zu sein, wünschten sie sich einen, der herginge und sie wieder auf den richtigen Weg stellte. Sie sahen zu ihm hinüber, viele, wohl aus alter Gewohnheit. Sie waren Bauern, so nannten sie sich, und hätten sich daran halten sollen – er war es, der sie in diese Geschichte hier hereingelockt hatte.
Er puffte Lauris in die Seite, daß der nun seinen Platz einnehmen und eine Entscheidung treffen solle. Lauris blickte tatsächlich auf, wollte aber erst noch ein paar Züge rauchen. Als dies geschehen war, trat er an den Tisch vor und legte die Hand auf den Stuhlrücken, sah über die Versammlung hin und bat sie, auf ihn zu hören. – »Nun ist die Frage, wollen wir die Fabrik stillstehen lassen, oder trauen wir uns, den Betrieb aufrechtzuerhalten.« Sie sollten sich darüber aussprechen, bitte schön, jeder habe das Wort!
Odin ergriff das Wort. – »Ich kann nicht anders sagen, als daß ich die größte Lust habe, meiner Wege zu gehen«, erklärte er. »Wir sind heute abend doch ein wenig zu – kindisch. Die Wahrheit ist wohl die: wir haben uns hier etwas aufgetan, wovon wir wenig oder gar nichts verstehen. Aber so ist es ja im ganzen Land, das weiß jeder, der heutzutage eine Zeitung liest. Wir brauchen uns deshalb nicht zu schämen, denn so ist es in der ganzen Welt, nur daß wir weniger geschickt sind, das alles auszuglätten. Und hier stehe ich, der für die ganze Sache verantwortlich ist, ihr könnt mich hängen, wenn sich das lohnt. Diese ganze Fabrik –, wir hätten lieber gar nicht damit anfangen sollen. Und nun meine ich«, – er richtete sich auf und verlieh seinen Worten ihr ganzes Gewicht, aber er stand mit einem ruhigen Lächeln da: »Ich meine folgendes: legen wir den Betrieb jetzt still, so machen wir doch lieber gleich richtig Schluß damit. Geld haben wir verdient, und noch können wir den ganzen Krempel verkaufen, wir können ja zugeben, daß wir uns nicht mehr weitertrauen oder daß es ein Fehlgriff war. Wir haben es eben mit der Angst bekommen, und nun – –«
Es wurde totenstill. Einer nach dem anderen sah zu Lauris hinüber um ein rettendes Wort. Der räusperte sich und stand auf. – Nein, die Fabrik wolle er nicht ganz aufgeben und auch nicht den Betrieb stillegen, jetzt, nachdem der Mißgriff getan sei. Er habe sich folgendes zurechtgelegt: Man solle den Betrieb aufrechterhalten, aber die letzte Lohnerhöhung für die Arbeiter müsse zurückgenommen werden; dann könnten sie sich bis zum Frühjahr umtun; sie hätten sich die Sache noch nicht genügend überlegt. Einen Disponenten? Ja, wenn sie einen brauchten, so würden sie wohl immer einen finden; er glaube, ein Mann wie Arthur Ween auf Segelsund würde seine Sache hier gut machen.
Die Worte über die Fabrik fielen auf guten Boden. Einer nach dem anderen stand auf und erklärte sich einverstanden mit dem Vorschlag des Vorsitzenden. So war diese Sache entschieden, und Odin lächelte. Er ergriff das Wort und warnte sie, trotz allem, sie sollten nicht vergessen, daß man bei solchen Dingen immerhin verlieren könne, und nun hätten sie es ja, wie gesagt, mit der Angst bekommen. Er sagte dies ganz unbeschwert, denn er wußte, daß er seine Gewalt über sie verloren hatte. Ja, das war nun vorbei; sie hörten nicht auf ihn. Odin lächelte wiederum.
Arthur saß an der Wand, ihm gerade gegenüber. Er versuchte zu Boden zu blicken, aber er mußte doch wieder aufschauen und Odins Augen begegnen. Er wechselte ein paarmal die Farbe. Schließlich, als es einen Augenblick still war, stand er auf und sagte, er wage nicht, den Posten eines Disponenten zu übernehmen. Er suchte ein wenig nach Worten, sah Odin noch einmal an, nur mit einem ratlosen Augenaufschlag, und sagte dann, wenn sie für die erste Zeit einen Mann brauchten, der die Sache übernehmen könnte, so wüßte er einen, und sie vielleicht auch. Es sei Bonsach Arnesen. – »Er ist mit meiner Frau verwandt«, sagte er, »aber ich erwähne ihn trotzdem, dann könnt ihr machen, was ihr wollt; er hat schon öfter solche Posten innegehabt, sowohl im Norden wie im Süden.«
Lauris sah Odin an, ein kleines böses Grinsen fuhr aus den schmalen Augen über ihn hin. Die Leute meinten, wenn sie Arnesen bekommen könnten, so wären sie gerettet. Einstweilen ja, fügte Lauris hinzu. Und so war das abgemacht. Sie unterhielten sich noch untereinander und waren sehr zufrieden: im Grunde hatten sie alle miteinander ihren Willen durchgedrückt.
Odin ergriff zum letztenmal das Wort und sagte, er wolle nicht mehr in der Leitung bleiben, nachdem der Lohn herabgesetzt worden sei. »Es fiel uns ein wenig schwer, das gebe ich zu, aber ich habe ihnen diese Zulage versprochen und mag nicht davon abgehen.«
Da steht Engelbert in der Türe. Er möchte darauf vorbereiten, daß es nun wieder Streik gäbe. Es kam zu einem scharfen Wortwechsel dort bei der Türe, der sich zu einem richtigen Geschrei steigerte, aber Engelberts Stimme war über ihnen allen. Odin arbeitete sich bis zu ihm vor und bekam ihn zu fassen, schob ihn ein wenig aus der Menge heraus und legte ihm die Hand auf die Schulter. – »Du mußt nachgeben, auch wenn du recht hast, so gescheit bist du doch selber. Der Lohn wird steigen, ganz von selber, laß es nur erst einmal eine oder zwei Wochen unter den Kesseln brennen. Ich habe mit den meisten von deinen Kameraden gesprochen, und sie sind der gleichen Ansicht wie ich.«
»Niemals!« rief Engelbert. »Diesmal fieren wir nicht um einen Finger breit!«
Odin lachte, wie es so seine Art war, und schüttelte ihn ein wenig: »Du hast recht, aber du mußt trotzdem ein wenig fieren.«
Engelbert sah ihn wütend an, auf einmal, hatte gleichsam vorher nicht erkannt, wen er vor sich hatte:
»Und das sagst du, Odin! Du? Dann wissen wir also, daß du unser schlimmster Feind bist. Da gehst du her und schmeichelst dich ein und machst dich gut Freund mit uns – du, nimm dich in acht!«
Jene von den Männern, die unterschrieben hatten, drängten sich nun herbei, wollten hinaus, und einige mischten sich jetzt in diesen Streit. Odin verabschiedete sich und ging, er vergaß Unterschrift und alles andere. Es hatte keinen Sinn, einem Wütenden Vernunft zuzureden, das war das Schlimmste, was man tun konnte.
Odin tat sich mit einer ganzen Schar zusammen, die in der gleichen Richtung gehen sollte wie er. Der Wind blies zu scharf, es war unmöglich, miteinander zu reden. Aber Odin war es leicht zumute, er hätte am liebsten mit dem Wind geredet und ein Lied gesungen, denn dies war der Ton eines freien Mannes, eines alleinstehenden und freien Mannes, den sie nie zu fassen kriegen konnten. Und der Himmel und der Saum der Berge und alles rings um ihn war ihm vertraut und lieb, war so, wie es immer gewesen war, und hielt zu ihm wie auch schon früher.
Ingri war nicht sehr erfreut darüber, daß man den Vater als Disponenten eingesetzt hatte. Sie sagte nichts, aber ihr Gesicht zuckte, so wie ein Haus, wenn ein richtiger Windstoß darüber hinfährt. Als Odin jedoch erzählte, wie er auf der Versammlung verloren hatte, sah sie ihn mit einer tiefen, verborgenen Freude an und lachte: »Da hast du's endlich einmal!« – »Ja«, gab auch er lachend zu, »und das Schlimmste ist, daß ich die ganze Geschichte noch hätte drehen und wenden können, aber ich tat es nicht. Es hätte sich weiß Gott wohin drehen können. Und dann drehte es sich doch noch nach der richtigen Seite. Einige waren ganz böse, ich kannte sie gar nicht mehr wieder. Aber es kam mir so gering vor, über sie zu siegen. Und schließlich drehte es sich doch nach der richtigen Seite! – Und all das nur wegen dieser Heringe, die hierher kamen und Unruhe ins Meer brachten!« schloß er gähnend.