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Zweites Buch. In der Jugend

Astri

1

Im Garten unten auf Haaberg stand ein großer Traubenkirschbaum. Im Frühling war er mit Blüten überschneit, und zur Herbstzeit leuchtete er schwarz von Beeren. Aber während der Blüte war er für Astri das Schlimmste, was sie kannte, trotz all seiner Schönheit. Denn der Duft, den er ausströmte, war genau so wie der Ton drinnen in der Stube und wie das, was Muhme Marjane dachte, wenn sie still stand und vor sich hinschaute; und es war etwas, wovor sie Angst hatte, denn sie wußte nicht, was es war. Und dann kam noch dazu, daß keiner von den anderen es merkte.

Heute war der Baum das Schönste, was sie sich denken konnte, denn heute leuchtete es schwarz und glänzend von allen seinen Zweigen, mit großen prallen Trauben von Beeren, die der Sonne entgegenstrahlten. Und es war wieder Sommer geworden, sie wußte nicht, woher er gekommen war, einen so schönen Tag hatte sie hier nie gehabt, seit sie denken konnte: Bläue und Sonne, Bläue und Sonne, wohin sie sich auch drehte!

Und oben mitten in der Krone des Baumes saß Marjane, die Klein-Muhme, wie sie genannt wurde, und ritt auf einem dicken Ast. Die Sonne schien auch auf sie herab, so daß ihr gelbweißes Haar zum blanken Sonnenschein wurde und ihr Gesicht noch weißer erschien; und das tat heute gar nichts, denn heute war nur gutes Wetter und Heiterkeit ringsumher. Es lärmte und tobte förmlich von all dieser Stille in der Luft, und unten auf dem Acker ratterte die Maschine und lärmte die Ernte ununterbrochen, jetzt hörte sie die Leute dort unten sogar lachen. Wenn sie die Augen schloß, so meinte sie, es singen zu hören, ganz deutlich.

Marjane war dünn wie ein Aal und von bleicher Hautfarbe, aber sie sah kräftig aus, wie ein Junge, und hatte einen unerschrockenen Ausdruck im Gesicht, so daß ihr zuzutrauen war, sie würde ohne weiteres von ihrem Platz dort oben herunterspringen. Das Haar stand ihr wirr, wie ein Kranz, rings um den Kopf. – »Und schon wieder hat sie Löcher in ihren Strümpfen!« Astri lächelte, so schlimm dies auch war. Jetzt aber wurde Marjane sie gewahr.

»Was stehst du denn da und gaffst?« rief sie durch die Laubkrone und zwischen den Beeren hinunter.

Astri lächelte nur zu ihr hinauf; sie war acht Jahre alt und hatte an dem einen Mundwinkel ein tiefes Grübchen. Ernsthaft war sie, wenn sie auch noch so vergnügt war, auch jetzt, da sie lächelte. – »Wirf mir ein paar Trauben herunter!« bat sie. – »Dir, du ißt ja gar keine Traubenkirschen!« Marjane lachte, ihre Stimme war schon dick und rauh von all den Beeren. – »Komm doch herauf, du Plumpsack!« fügte sie hinzu.

Astri stand da. Sie sah ihre Schürze an und ihre Schuhe. Dann schnaufte sie tief auf und fing zu klettern an. – »Ach, daß ich so dick sein muß!« flüsterte sie; die Finger taten weh, und an den Knien brannte es wie Feuer. Aber sie kam doch hinauf und fand einen schönen Ast, auf dem sie reiten konnte. So saß die Marjane da!

Dann brach sie in lautes Lachen aus. Es hörte sich seltsam ungewohnt und lärmend an. Marjane warf ihr einen raschen Blick zu: was hatte denn das Mädel jetzt auf einmal? – »Nein, nichts.« – »Hm.« Marjane drehte sich herum und wandte sich wieder ihrer Beschäftigung zu. Aber Astri sah sie im geheimen unentwegt an. Denn jetzt war sie wieder so, die Klein-Muhme.

Astri war offenbar tief in ihre Gedanken versunken gewesen, denn auf einmal sauste sie durch das Laub und durch die Luft hinunter, daß es ihr um die Ohren brauste, und dann wurde sie mit einem heftigen Ruck wieder hinaufgeworfen, dünkte es sie. Als sie zu sich kam, stand Marjane über sie gebeugt und hielt sie in die Höhe, stand da und wischte ihr ein wenig Blut ab, das aus einer Schramme im Gesicht sickerte. Sie untersuchte, wie es mit ihrer Schürze stehe. Die war noch einigermaßen gut davongekommen.

»Wenn du dir jetzt das Genick gebrochen hättest, was dann?« sagte Marjane.

Astri sah der anderen mitten ins Gesicht, erstaunt, ihre Züge bekamen einen vielfältigen Ausdruck.

»Dann wäre ich vor dir gestorben – – du fürchtest dich doch auch nicht vor dem Sterben?«

»Steh still jetzt, du Rotznase, wenn ich dich abputze! Nein, so etwas! Wie ein Sack herunterzufallen!«

Astri stand still und wartete, stand da und sah zu Boden, bis Marjane wieder hoch droben im Baum war; sie schämte sich, und das tat sie immer, wenn sie etwas zu Marjane gesagt hatte. Jetzt aber saß Marjane oben und sah ganz still zu ihr hinab, mitten durch das Laub hindurch, und Astri sah sie an. So hatten sie einander schon früher angesehen. Da wurde es still rings um sie; sie beide waren ganz allein und weit von allen Menschen fort. Dann lachte Marjane und kletterte von einem Zweig zum anderen, immer höher. Jetzt ist sie fast im Gipfel oben, sie hängt unter dem großen Ast, der bis ans Hausdach reicht, und pendelt Griff für Griff daran weiter hinaus bis zur Dachrinne, schwingt sich aufs Dach – und nun steigt sie weiter auf dem Dach hinauf, bis zum äußersten Dachreiter vor, hier richtet sie sich auf und geht auf dem Giebel bis zum Schornstein; hoch aufgereckt steht sie dort droben gegen den Himmel und jubelt – sie ist so herrlich übermütig.

Astris Gesicht leuchtete, und ihre Augen glänzten, ihr war es, als schreie sie mit.

Ja, denn so sollte es sein, und so wollte auch sie werden – war es nicht merkwürdig, daß nicht alle Menschen unerlaubte Dinge trieben und lachten und schrien? Jetzt aber lief sie zum Garten hinaus und um die Hausecke herum, so rasch, daß die Röcke flatterten, denn nun kletterte Marjane auf der anderen Seite vom Dach herunter, und dort stand die Leiter.

»Hall–lo–ih!« rief sie, der Ton lag wie ein blanker Bach hinter ihr in der Luft.

Sie solle doch nicht so närrisch schreien! – Es war die Großmutter, die Aasel, die in diesem Augenblick herauskam.

»Jo–ho!« lachte Astri und sah der Großmutter ins Gesicht; schwieg dann aber doch. »Mögt Ihr nicht solch einen Lärm auf Eurem Hof?« sagte sie.

»Doch, doch, mein Goldkind, lache und schreie du nur nach Herzenslust.«

Eines Abends saß Astri, als Aasel herauskam, mit ihrer Puppe auf der Haustreppe; sie saß da und redete mit ihr. – »Sei doch jetzt still, du Plumpsack!« sagte sie. »Glaubst du denn, daß du so frühzeitig sterben mußt? Du bist doch so rund und rot!«

Als Aasel wieder hineinging, saß sie da und hatte die Puppe vergessen. Entweder saß sie da und schaute hinaus, wie die Abendwolken westlich über dem Meer brannten, oder sie mußte sich stillhalten und wie ein Erwachsener denken. – »Bist du immer noch hier?« fragte die Großmutter. Die Kleine sah ruhig zu ihr auf. – »Was denkst du denn alles, sag mir's doch?« Nach und nach trat auf Astris Gesicht ein Lächeln: »Im Sommer will ich Hüterbub sein!« – »Was – noch dazu ein Bub?« – »Nein, aber hüten will ich, meine ich.« – »Warum denn?« Damit wollte sie nicht herausrücken.

Als aber die Großmutter im Haus war, ging Astri um die Ecke herum und sagte vor sich hin, in dem stillen grauen Herbstdunkel, zu den Äckern und zu den Bäumen:

»Die Marjane – – die fährt jetzt fort von uns. Ganz weit weg!«

Sie sagte es ein paarmal, so daß es ihr zitternd und frierend über den ganzen Körper lief. Dann sprang sie hinein, wie ein wildes Pferd wollte sie durch die Stube traben und wollte sie auf den Kopf stellen. Aber das war nicht möglich, heute abend sowenig wie an irgendeinem anderen Abend. Es war viel zu still da drinnen, nein, das konnte nur die Marjane fertigbringen. Die konnte die Stille zerreißen, ja, so daß die Großmutter und die Mutter von ihren Sitzen auffuhren. Ach ja, wenn man erst einmal groß war, dann –

Aber dann war die Klein-Muhme nicht mehr hier. Das aber wußten die anderen nicht, niemand. Bis dahin war sie den gleichen Weg gegangen, den Muhme Marta, die Taubstumme, gegangen war; zu Jesus und den Engeln und dorthin.

»Hast du dein Abendgebet schon gesprochen?« fragte Andrea, als sie zu Bett lagen.

»Ja, ich bin grad mittendrin, ich war schon bis zum – – nein, jetzt muß ich wieder von vorne anfangen.«

Die Mutter hörte, wie es drüben im Bett eifrig schnaufte und betete.

2

Vier, fünf Jahre vergingen, ehe das eintrat, was Astri schon gewußt hatte. Marjane wurde krank und starb. Da war sie zwischen siebzehn und achtzehn, und Astri war etwa zwölf Jahre alt. Es kam so plötzlich. Die Marjane, die immer so gesund war? sagten die Leute. Aber der Doktor meinte, sie habe es schon lange in sich getragen, da es nun so rasch ginge. Und wenn Aasel genau darüber nachdachte, so fühlte sie deutlich, daß es immer so gewesen war, ihre Munterkeit hatte den Tod vorausgesagt, wie es in einem alten Wort hieß. Es war die Schwindsucht, die gleiche Krankheit, die Astris Vater dahingerafft hatte, und so ungefähr hatte es sich auch bei ihm gezeigt: der Mut war größer gewesen als die Kraft. Die Schwindsucht war etwas Unerforschliches, das sich in der Sippe eingenistet hatte. Sie sollte sogar erblich sein. Wenn nur nicht sie es war, die die Marta mit sich genommen hatte. Ihre älteste Tochter erwähnte Aasel nur, wenn niemand es hörte.

»Es muß wie ein Urteil darin liegen!« seufzte Aasel eines Abends.

Dieses Wort war das einzige, über das Astri nachdachte. – Urteil, sagte sie oft im Gehen oder Stehen, und wenn sie still saß, dünkte es sie, irgend jemand flüstere es dicht hinter ihr oder singe es in weiter Ferne.

Marjanes Gesicht war immer weißer und weißer geworden, mit brennend roten Rosen auf den Wangen, und die Augen immer mehr wie Glas, wie leeres schimmerndes Glas. Astri biß sich auf die Lippe oder zwickte sich in den Arm, wenn die Hustenanfälle kamen. Im übrigen stand sie regungslos an der Türe und sah Marjane an. Denn nun war die Klein-Muhme schon weit gekommen. Sie wußte jetzt gar vieles. Und die anderen waren zurückgeblieben.

Die Großmutter weinte wohl innerlich, so glaubte sie, und die Mutter ebenso – warum hatten sie solche Angst vor dem Urteil? Sie wußte übrigens mehr als das. Marjane starb von ihrem Liebsten weg, und er war ein – nur ein armer Bursche von irgendeinem Häuslerhof. – »Es ist so traurig«, sagte sie einmal. – »Was denn?« fragte Aasel. – »Daß er so arm sein muß, meinte ich.« – »Wer denn?« Aber Astri schwieg plötzlich und machte sich aus dem Staub.

Sie mußte bis ganz hinter die Scheune gehen. Aber auch dort war es gleichsam nicht erlaubt, es zu sagen, es war nur etwas so Großes, daran zu denken: daß sie ihn haben wollte und daß dann nichts daraus wurde. – »Ja, ja«, nickte sie schwer vor sich hin. »Das ist das Urteil.«

Andrea sah sich in dieser Zeit ein paarmal nach der Kleinen um. Sie bat sie öfters, zu ihr zu kommen und auf ihrem Schoß zu sitzen. Kam sie dann aber und saß eine Zeitlang auf ihren Knien, so war sie trotzdem immer weit weg. Die Mutter hatte nie versucht, viel mit ihr zu sprechen, sie spürte, daß dies nicht gelingen würde. Gleich von Anfang an, da Andrea merkte, daß sie ein Kind bekommen würde, hatte sie gefühlt, daß es ein Mädchen sein würde, und wie es nun auch ging, so hatte sie sich doch darüber gefreut. Aber es war jämmerlich wenig, um es der Aasel zu zeigen. Trotzdem hielten die Großmutter und die Kleine am festesten zusammen, für sie war es keine Enttäuschung. Die beiden hatten gar viel Gemeinsames. Sie gehörten zusammen. – »Schau dich nach Astri um, damit sie nicht so allein sitzt«, sagte Aasel in dieser Zeit oft zu ihr; »ich werde so alt und stumpf, ich vergesse sie manchmal ganz.« – »Ja«, sagte Andrea. »Aber ich kann wohl nicht viel mit ihr anfangen. Ich bin ein fremder Mensch für sie, so sieht es aus. Nein, sie gehört nicht zu den Meinen«, fügte sie für sich allein hinzu.

Als aber Marjane ausgekämpft hatte und auf der Totenbahre lag, kam Astri herbei und umklammerte die Knie der Mutter, sie war kreidebleich, und ihre Wangen waren von Tränen naß:

»Ich will nicht sterben, Mutter!«

Die Mutter wagte kein Wort zu sagen. Sie war schon froh, daß Astri sich nicht schämte und wieder davonlief.

»Ja, Astri, jetzt haben wir nur noch dich«, sagte Aasel am Abend nach dem Leichenbegängnis.

»Ja, ich weiß es.«

»Weißt du das? Woher weißt du das, Astri? Was weißt du denn eigentlich, Kind?«

Die Großmutter war bisweilen so ängstlich, oft lief es wie ein Zucken über ihr Gesicht, man fühlte fast, wie irgend etwas sie quälte.

»Nein, ich habe nichts damit gemeint, Großmutter.«

Da stahl sie sich lieber hinaus, hinter die Häuser, und weit fort auf die Wiese – dort spiegelte sich der Mond in den Eisnadeln und in dem Rauhreif ringsum. Denn dort konnte sie vor sich hinsagen, daß nun sie an die Reihe kam. – »Ja, ja«, sagte sie. »Vor dem Urteil habe ich keine Angst. Das will ich schon auf mich nehmen.«

Aber schon am Tag darauf lächelte sie darüber, obwohl es doch wahr war, und Aasel glaubte eine Veränderung an ihr zu bemerken. Denn es war nun einmal so, die Leute hörten sie oder sahen sie, gleichgültig, wo sie auch steckte, die ganze Gemeinde und jeder einzelne. »Vielleicht gilt es nur der Großmutter? – Aber meinetwegen kann es gerne kommen!« sagte sie.

Sie solle doch nicht umhergehen und an den Tod denken, meinte Aasel. – »Nein, das tue ich ja auch nicht! Es gibt ja noch so viel anderes als nur Sterben, das weiß ich wohl.«

Dann zog sie mit dem Großvater los, um Torf heimzufahren. Der Großvater war ein lustiger Kauz: er sah und hörte nichts anderes als nur das, was er selber trieb, aber bisweilen pfiff er vor sich hin, und dann ließ er es wieder sein, und wenn ihn irgend etwas quälte, dann war er nahe daran zu fluchen, das sah sie, und das war lustig. Da bekam der Tag doch ein anderes Gesicht. Bei ihm hätte sie auch über den derbsten Fluch lachen können; wie die Klein-Muhme. – »Schau her, du!« sagte sie und hielt ihm ihren rechten Zeigefinger hin. – »Ja, was denn?« – »Meine Warzen vergehen!« – »So?« – »Ja, sie müssen vergehen, wenn man sie an einer Leiche reibt.« – »O du! Du hast das wohl gar getan?« – »Ja.« Sie sah ihn glücklich an: »Ich habe sie an ihrer Hand gerieben.« – »Warst d u es also, die eines Abends in der Dachkammer oben umherging?« – »Es war am Abend, ja.« – »Hm. Du bist also nicht nachtscheu? Und vor Toten fürchtest du dich auch nicht?« – »Nein? Sind sie denn gefährlich?« – Sie glaubte zu sehen, daß er über sie lächelte.

Aber daheim in der Stube verschwand er wieder, der Großvater. Dort mußte man sich an die Großmutter halten; denn dort galt nur sie etwas.

– – – Im übrigen wuchs Astri schnell, und mit ihrer Gesundheit hatte es auch keine Not. Und alles wechselte und wechselte, und wenn man Lust dazu hatte, so konnte man leicht heute über das lachen, worüber man gestern noch geweint hatte. Man konnte auch über das lachen, was feststand: Nämlich: daß wir sterben müssen, wenn die Zeit da ist. Denn es gab ja noch so unglaublich viel anderes. In der Schule war ein hübscher Kerl, er hieß Haakon, und als sie eines Tages ein Pfänderspiel spielten, wurde er dazu verurteilt, sie zu küssen, noch dazu auf den Mund. Zuerst bat sie herzlich darum, es ihr zu erlassen oder das Taschentuch dazwischen halten zu dürfen, aber es wurde ihr von allen Seiten abgeschlagen, und so kam Haakon denn auf sie zu. Da lief sie fort, in den Gang hinaus und die Treppe hinauf, wollte sich in den Dachraum einsperren, die Türe hatte aber kein Schloß, und er und die anderen Kinder stemmten sich heftig dagegen, sie konnte sich nicht mehr wehren. Es war Sommer, und das Fenster stand offen, und in dem Augenblick, da die anderen hereinstürzten, nahm sie einen Anlauf und sprang zum Fenster hinaus, sie wollte sich einfach umbringen. Sie landete in einer Sandgrube und fühlte, daß sie noch am Leben war. Von da an ließen die anderen sie in Frieden. Sie ließen sie mit gar vielen Dingen in Frieden. Dann war da noch ein anderer Bub, er hieß Odin, und mit ihm war es wirklich ein Jammer, er ließ sich so leicht auslachen und zum Narren halten und hatte eine Gabe, die dümmsten Streiche auszudenken. Er war ein Geschwisterkind von ihr, aber sie machte sich nicht das geringste daraus. Und auf Segelsund hatten sie eine Verwandte, die hieß Mina, Frau Mina, und sie war wirklich eine Dame und unheimlich fein – sie hielt einen oft fest, schaute einem mitten ins Gesicht und sagte, man sei ein schönes Mädchen, sie fragte sogar, was man werden wollte! Astri wollte so fein werden wie sie. – Ich will heiraten, hatte sie das erstemal geantwortet. Später antwortete sie nicht mehr. Sie hatte es nicht nötig.

Dann wurde sie konfirmiert, und im Jahr darauf kam sie nach Segelsund in die Schule. Es war nur eine Schule für Mädchen, und Frau Mina hatte sie errichtet. Die Mädchen lernten dort weben und nähen und die Arbeit im Stall; Ola Haaberg, der frühere Küster, sang mit ihnen, und der Hausherr hielt Vorträge. Die anderen fanden, Astri sei so still, sie glaubten sogar, sie sei böse, wenn die anderen herumtollten und lustig waren. Und dann schaute sie einen immer so lange an, ehe sie antwortete; sie konnten nicht viel mit ihr anfangen. Aber ab und zu einmal konnte auch Astri ausgelassen sein und mit den anderen so toben, daß die ganze Stube auf dem Kopf stand. Am ärgsten trieb sie es, wenn Frau Mina hereinkam und die Mädchen zur Ruhe mahnen wollte, denn dann sah sie ihr offen ins Gesicht und lachte: Hier war es so schrecklich still! Oder: Kannst du den Lärm gar nicht leiden? Das ist doch lustig.

Sie waren im ganzen dreizehn Mädchen, und an manchen Abenden, wenn vom Hausherrn Vortrag gehalten wurde, kamen auch noch jene, die im Jahr vorher hier gewesen waren.

Aasel wollte wissen, worüber er rede. Astri stand da und dachte nach; dann schaute sie auf und lächelte: »Ja, wenn ich das nur wüßte. Ich war so in meine Handarbeit vertieft. Aber es hörte sich schön an.« Aasel lachte: »So gut also hörst du zu? Nun, hoffentlich sind wenigstens die anderen tüchtiger.« – »Ja, im Zuhören schon. Aber die Mina nimmt es so genau beim Nähen – schau her, da kannst du's sehen! Doch, übrigens einmal sagte er, wir sollten uns vor den Burschen in acht nehmen.« – »Oho!« – »Ja, ist das so merkwürdig? Außerdem sagt er vieles, was noch besser ist; er sagt, das Leben sei etwas ganz Großes. Das Leben! sagt er. Vom Tod spricht er nie; und das ist ja auch nicht nötig. Von dem spricht keiner.« – »Weiß der denn etwas vom Leben?« – »Nein, nein, aber –. Es sei schwer, sagt er. Es sei eine Kunst. Eines Tages sagte er übrigens – –«

»Nun, was denn?« wollte Aasel wissen. – »Ach was! Er sagte nur, daß man immer jemand finde, der einem leid tue, jemand, der einen brauche, so sagte er – ist das nicht schön?« Sie sah die Großmutter fest an, mit ganz wachen Augen, blinzelte ein paarmal, gerade als sei sie streitlustig und warte auf einen Kampf. Aber Aasel saß da und schwieg, und Astris Spannung ließ nach, und sie plauderte wieder weiter: »Im übrigen ist es die Mina, die auf Segelsund regiert. Aber warum hat sie eigentlich den halben Hof verkauft? Und warum hat Oheim Ola sein Küsteramt aufgegeben? Er ist jetzt übrigens lustiger, ich glaube, er könnte einen Stein zum Singen bringen – warum hat er nicht geheiratet?«

Aasel schüttelte den Kopf: »Darauf kann ich dir nicht antworten, Kind.«

Nein, das wußte Astri. Die Menschen konnten nie auf etwas antworten. – »Aber daß die Mina kein Kind bekommt?« – »Darauf kann ich dir erst recht nicht antworten.« – »Ja, aber warum kann sie da nicht still sein? Warum muß sie sich an mich hängen und über so etwas mit mir reden! Ich mag mit ihr nicht über solche Dinge sprechen!« – »Sagt sie denn etwas?« – »Ja, sie geht herum und seufzt, das Leben sei nicht so leicht, aber sie wolle nicht klagen! Und vielleicht gehe es einem jeden so, wie er es verdiene, und – ach was. ich mag es nicht erzählen. Kummer und Mißerfolg, soll man da lang darüber reden? Ist das denn etwas so Schlimmes?«

Aasel hörte nicht genau zu; sie saß da und dachte, so rede nur einer, der des Redens ungewohnt sei. Ohne dieses Kind hätte ich nicht leben können, seufzte es in ihr.

Aber gegen das Frühjahr zu geschah etwas, was Astri nicht hatte erzählen wollen. Sie tat es trotzdem. Denn sonst wäre es stets an ihr hängengeblieben, und sie wäre nie mehr rein geworden. Bei der Großmutter konnte man alles von sich abladen, was man nicht mit sich herumtragen wollte, und doch war es darum nicht anders, als hätte man es nicht erzählt.

Auf Segelsund wohnte Astri in einer kleinen Kammer neben dem Kontor. Eines Abends, sie hatte still dagesessen und gelesen, hörte sie jemand in das Arbeitszimmer kommen und dort gleich bei der Türe stehenbleiben. Der Mann selber war es nicht. Dann hörte sie sagen: »Ach, sitzt du da und weinst?« Astri lauschte; es war der Buchhalter. Sie hatte nicht gedacht, daß vorher jemand in der Stube nebenan gewesen sei, jetzt aber hörte sie Minas Stimme: »Was willst du denn hier?« Lange Stille; dann machte er ein paar Schritte. Astri vergaß, daß sie hier saß und lauschte. – »Kannst du denn nicht deiner Wege gehen!« sagte Mina klagend. – »Du machst dir ja doch nichts aus mir«, erwiderte er. – »Ja, das habe ich doch schon gesagt, aber –« – »Soll ich fortreisen, nur deswegen, weil ich mir etwas aus dir mache, he?« fragte der Mann. Da kam es schluchzend und unter Tränen: »Es ist einzig und allein deine Schuld, ich weiß es ganz genau! Du warst es, der mich schon als junges Ding verführte, und du bist es, der – – ja, ich sehe wohl, daß Arthur ein kleiner Mann ist und – – doch er soll nicht um deinetwegen leiden! Aber ein bißchen weniger hart hätte der Herrgott mich strafen können, denn ich wußte nicht – – in Gottes Namen, wofür lebe ich denn eigentlich – und kämpfe ich?« Nun blieb es still. Dann sagte er, nur leise: »Es ist doch nicht so sicher deine Schuld, daß du kein Kind bekommst, oder?« – »Schweig still, hörst du! Ich ertrage es nicht, daß du etwas Schlechtes oder sonst etwas über Arthur sagst, du sollst augenblicklich weg von hier!« – »Ja, ja, wenn du mich entbehren kannst, so wie es jetzt steht, dann –« – »Mag es gehen, wie es will, und das Geld sollst du wiederbekommen, alles, was du hineingesteckt hast – denn ich weiß nicht, was geschehen kann, wenn du hier bleibst, es könnte das schlimmste Unglück eintreffen, ich weiß oft nicht – kannst du denn nicht fortreisen!«

Da raffte Astri sich auf und riß sich los, sie öffnete das Fenster so leise wie möglich und sprang hinaus, mitten auf die vereiste Erde, so daß sie hinfiel. Noch lange danach brannten ihre Wangen so, daß sie sich kaum vor anderen sehen lassen mochte.

Aasel nickte nur. Sie wußte schon alles. – »Du wirst es wohl wieder vergessen«, sagte sie. – »Ja–a. Ich kann Frau Mina deswegen schon in die Augen schauen, aber –. Und mir –«, sie stand eine Weile da und blinzelte in die Sonne oder was es nun war, »– mir kann widerfahren, was will. Wenn mir nur überhaupt etwas widerfährt. Wenn nur ein wenig Leben ins Haus käme!«

– – – Im Jahr darauf reiste sie nach Süden, um die Landwirtschaftsschule zu besuchen; kaum war sie dort fertig, mußte sie wieder heim zum Leichenbegängnis ihres Großvaters.

Aasel empfing sie und redete mit ihr, als sei nichts geschehen. – »Ja, er hielt nicht mehr länger zusammen«, sagte sie nur. » Ich habe das Leben offenbar zu ruhig genommen, ich halte noch manches aus, scheint es. Aber wie ist es denn dir ergangen?« – »Ach, so leidlich. Es war lustig dort. Aber manchmal fanden die anderen, ich sei zu still, und manchmal fanden sie, ich sei zu wenig still. Ich lerne nach und nach dazu«, fügte sie hinzu. »Weißt du schon, der Arne Finne war dort.« – »Was ist denn das für ein Gewächs?« – »Er war doch einmal auf Segelsund und wollte Knecht dort sein, er ist aus der Stadt, und jetzt will er Landmann werden, seiner Gesundheit wegen.« – »Ach so, dann ist er am Ende gar der Sohn von Finne auf der Säge, wie sie ihn nennen?« – »Ja, ich glaube, so ist es ungefähr.« – »Ja, ja, ja. Ja, so. Du bist jetzt wohl so halb und halb verlobt?« Astri lacht: »Nein, woher doch?« – »Na, dann ist's ja gut. Denn in der Sippe ist nichts als lauter Krankheit.« – »Ja, er ist blaß; er ist anders als alle anderen. Er sieht verurteilt aus.« – »Hier nach Haaberg taugt er nicht, nein. Das zehrt noch Stärkere auf als ihn, das sieht man. Und soviel Geld haben sie jetzt auch nicht mehr, es schaut mir beinahe nach Konkurs aus.«

Astri lächelte ihr zu – die Großmutter war so alt und erfahren, wie sie so dasaß.

»Ich bekam übrigens gestern einen Brief von ihm. Aber ich werde nicht darauf antworten. Nein, ich tue es nicht. Obwohl man gar manches zuwege brächte, hier im Haus.«

»Da hast du wohl recht, Astri. Da hast du wohl recht, ja.«

»Manchmal bin ich ganz verrückt darauf, das ganze Haus auf den Kopf zu stellen. Oder – irgend etwas richtig Schönes und Gutes zu tun!«


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