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In der Gemeinde

1

Als Odin heimkam, tat Iver, als sähe er ihn nicht, und dabei blieb es, er schenkte ihm auch späterhin keinerlei Beachtung. Elen merkte, wie dies dem Jungen naheging. Bald war es so weit, daß e r keinen anderen mehr sah als Iver. Er liebte ihn wohl kaum, und das war auch gleichgültig, fand sie, aber er hängte sich an ihn an und zeigte sich ihm, wo er nur Gelegenheit dazu fand, so daß sie beinahe hätte lächeln können. Nach und nach begann er Iver ähnlich zu werden, sowohl im Gehen wie im Stehen, und in dem, was er sagte, noch mehr aber, wenn er schwieg.

Seit jenem Mal, da Elen daheim gewesen war, kam Aasel dann und wann nach Vennestad. Sie ließ dann ihre Blicke gern auf Odin ruhen. – »Mir scheint, er wird immer schweigsamer?« – »Er redet wohl genug«, meinte Elen. – »Ja. Aber es war ein anderer Zug in ihm, damals in Kjelvika.« – »Ja, kann ich etwas dafür?« Und eines Abends fügte sie hinzu – es flog ein kleines hartes Lächeln über ihr Gesicht: »Er stammt ja wohl auch nicht von beredten Eltern. Aber ich habe schließlich noch mehr Kinder als nur den Odin. Schau her, Mutter! Der schenkst du nie einen Blick.« – »Doch, freilich sehe ich sie«, sagte Aasel. Aber Elen legte die Kleine wieder aufs Bett; die Großmutter schaute sie ja doch nicht an. Und sie erwartete wieder eines, das sah Aasel, und darüber freute sie sich.

Da hören sie einen Schrei draußen auf dem Hof und Wagengerassel und Pferdegetrampel. Sie laufen ans Fenster, sehen aber nur noch das Hinterteil von Bruna, der Stute, wie sie gerade über den Hofplatz läuft und durch die Stalltüre hineinrennt, und die Kristine, die ratlos und mit hängenden Kinnladen nachschaut.

Es war die Zeit der Frühjahrsbestellung, und die Männer fuhren Dünger auf die Äcker hinaus. Die Bruna war kein junges Pferd, aber sie war ein wenig ängstlich, wenn die Wagen zum Abladen umgestülpt wurden. Iver fuhr selber, und Odin war mit draußen und hackte den Dünger auseinander, der ausgebreitet werden sollte. Plötzlich schrak Bruna zusammen und brannte durch, und zwar so heftig, daß sie Iver die Zügel aus der Hand riß; der Wagenkasten fiel herunter, und die Stute raste davon. Iver ihr nach, was aber ganz aussichtslos war. Odin hatte die Sache mit angesehen: jetzt endlich ist er an der Reihe. Die Stute kommt in einem großen Bogen dicht an ihn heran, in vollem Lauf, und er steht bereit, sieht die Zügelenden unter dem Wagen und greift oben beim Gebiß zu, jetzt! Und da hängt er und baumelt, die Luft braust ihm wie ein Wasserfall um die Ohren. Brrr! schreit er immer wieder und will fester zugreifen, wird aber hin- und hergeschleudert und ist nahe daran, das Bewußtsein zu verlieren. Sein Gewicht hält die Bruna nicht auf, sie rennt jetzt ums Leben, aber loslassen konnte er auch nicht, selbst wenn er gewollt hätte, die Deichsel stößt und pufft ihn immer wieder, und als sie gerade über den Bach sausen, trifft sie ihn besonders hart. Iver läuft nach und ruft: Laß los, laß los! Denn jetzt hält das Tier auf den Hof zu und rennt in unverminderter Fahrt in den Stall hinein, daß die Wände nur so dröhnen.

Als Iver kam, standen Aasel und Elen schon bei dem Jungen. Er sah, wie ihm das Blut aus Mund und Nase rann, und fing an zu schreien, als sei er wütend:

»Warum hast du denn nicht losgelassen, du Schafskopf! Prügel solltest du haben, wahrhaftig!«

So schreit einer, den das Entsetzen gepackt hat, mußte Aasel denken. Sie wischte mit Elens Schürze das Blut ab. Elen ist bleich und wagt kaum zuzusehen. Sie führen den Knaben ins Haus, und Iver fängt an, das Pferd auszuschirren. Er kommt in die Küche nach und sagt laut und hastig: »Ist noch Leben in ihm?« Odin war bewußtlos, während sie ihm die Kleider auszogen und ihn wuschen, jetzt aber richtet er sich auf und sagt, soweit er vermag:

»Ja, ja. Es ist nur ein bißchen Nasenbluten. Wir haben eine Türe eingedrückt, aber –«

Aasel streichelte ihn ein paarmal, als sie ihn in den Dachraum gebracht hatten, und dann richtete sie sich gerade auf und sagte, sie glaube, daß er innerlich heil sei, Elen stand da, als habe sie dies nicht gehört. Dann sagt sie: »Ich bin doch froh, daß es ihm nicht s o bestimmt war. Daß es nicht aus ist mit ihm. Du mußt den Doktor holen, Iver.« Aasel versorgte ihn, so gut sie konnte. Am Kopf war ihm ein Stück Haut weggerissen, und am ganzen Körper hatte er Schrammen und Quetschwunden. Er winselte und jammerte, wenn sie ihm weh tun mußte, dann aber bat er flüsternd, man solle dem Iver nichts davon erzählen. – »Ich habe mich vergessen«, sagte er. – »Kleiner dummer Kerl!« seufzte sie. »Hast du denn deinen Stiefvater so gern?« Odin machte große Augen. – »Möchtest du nicht lieber zu mir kommen und bei mir bleiben? Ich bin doch deine Großmutter.« Als er eine Weile darüber nachgedacht hatte, sagte er: »Nein, das geht doch auch nicht gut.« – »Nicht?« – »Nein. Denn dann wäre ja die Mutter wieder allein.« – »Nein, nein, Odin, du hast schon recht. Irgendwo muß man hingehören. Dort, wo man einen braucht. Und – wenn's einmal soweit ist, dann kommst du. Nach Haaberg, meine ich.«

Der Doktor kam und verpflasterte ihn und flickte ihn. Odin nahm sich zusammen und überstand die Sache.

Elen merkte, daß der Junge von diesem Tag an verändert war, sowohl gegen sie als auch gegen Iver. Er schlich nicht mehr an der Wand entlang und machte sich klein. Zwar sprang er sofort auf, sobald Iver ihn um etwas bat, und sie sahen kaum, daß er je spielte. Aber bisweilen schaute er sie an, als frage er sich, was sie hier zu tun hätten. Ab und zu wiederholte er ihre Worte und wog sie förmlich ab. Ein paarmal lachte er Iver mitten ins Gesicht, so daß Elen glühend rot wurde. Im Herbst einmal war Iver gerade im Begriff, einen neuen Schaft für seine Axt zu machen. – »Das wird nichts Großartiges«, meinte der Junge. – »Kannst du einen besseren Schaft machen?« Iver blickte scharf auf. – »Nein, noch nicht, aber . . .«

Als der kleine Junge auf die Welt kam, wollte Odin nicht einmal zur Mutter in die Kammer hineinschauen. Und später mußte sie ihn dazu zwingen, das Kind auf den Arm zu nehmen. Es sah aus, als wollte er es wegwerfen, und gleich darauf fand sie es auch wieder auf dem Bett.

»Tu es doch um meinetwillen, Odin!« sagte sie einmal.

Da ging es wie ein eiskalter Wind über sein Gesicht; er stand da und sah sie an, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Du, du liegst ja mit ihm zusammen!« entfuhr es ihm; beinahe hätte er geweint.

»Du weißt doch, was der liebe Gott sagt: du sollst Vater und Mutter –«

»– ehren, ja! Ja. Und« – er zögerte ein wenig und wandte sich von ihr ab – »außerdem gibt es noch die Geister, die in Verwahrung sind, und alles das – ich glaube nicht mehr an sie!«

»Nein? Was ist das wieder für ein Unsinn –«

»Unsinn? In der Bibel steht's. Hast du sie nicht bemerkt?«

In dem Augenblick kam Iver herein. Scharf sagte er zu Elen: »Jetzt bist du wieder an der Mehltruhe gewesen und hast für die Kühe herausgenommen! Ich hab dir's doch schon so oft verboten!« Er sah sie vernichtend an, und noch kälter wandte er sich von ihr ab. Rot und beschämt stand sie da.

»Das hab' ich ja getan«, sagte Odin. »Für die Kuh, die neulich gekalbt hat.«

Iver und Elen sahen ihn beide gleich erstaunt an. Es schien fast, als wolle Iver hingehen und ihm einen Fußtritt versetzen, statt dessen aber wandte er sich Elen zu und sagte höhnisch: »Ja, dann warst also nicht du es, dieses Mal. Im übrigen seid ihr ja beide gleich viel wert. Du hast ja allerlei gelernt, in Kjelvika! Aber trau dich nur noch einmal –«

Odin lächelte ihm unverschämt ins Gesicht.

Elen folgte Odin nach, als er zur Stube hinausging. Ihr standen die Tränen in den Augen.

»Du darfst nicht mehr lügen, Odin!«

»Damit hat's keine Gefahr. Das nächste Mal kannst du dich ja selber auf die Hinterbeine stellen.«

Sie stand da und sah ihn noch vor sich, lange nachdem er schon gegangen war: So hell lachte er ihr entgegen und sah sie an, die Augen waren nicht blau, das sah sie, sie waren grau, trotzdem schien es blau aus ihnen heraus, und sein Antlitz wurde offener, je länger sie es betrachtete, wurde heller und stärker, wie das Land bei gutem Wetter – dann wandte er sich ab und ging seiner Wege. – »Wer weiß, ob aus dir noch einmal etwas Gescheites wird«, sagte sie und lächelte. »Alan muß es nehmen, wie es kommt, in Gottes Namen.«

Später geschah es immer und immer wieder, daß er ihr irgend etwas abnahm. Und wenn er auch nichts weiter tat, als daß er hereingeschlendert kam und einfach da war, wenn Iver seine schlechte Laune an ihr ausließ; denn da machte es Iver keinen Spaß mehr. – »Was willst denn du hier?« sagte sie einmal zu ihm. »Ich habe dich doch nicht holen lassen – schließlich muß doch der Iver auch seine Meinung sagen dürfen, ohne dich zu fragen, oder?« Odin machte ein etwas langes Gesicht und sah sie an; als er aber fortging, lächelte er.

2

In dem Winter, ehe Odin den Konfirmandenunterricht besuchte, verdingte Lauris sich als Knecht auf Hinter-Vennestad. Odin fragte ein paarmal, konnte es nicht glauben. Und dennoch hatte er die ganze Zeit auf Lauris gewartet.

Nach Hinter-Vennestad war Odin seit seiner frühesten Kindheit kaum mehr gekommen. Die Leute waren dort so kalt. Jetzt ging er immer öfter und öfter hin. An den Sonntagabenden versammelten sich gern viele junge Leute dort. Es gab hier ein paar heiratsfähige Töchter, und der neue Knecht brachte so viel Leben auf den Hof. Dann und wann tanzten sie. Kristine war immer da, sie war seit vorigem Jahr dem Pfarrer entronnen und durfte nun tanzen. Odin war unerlaubterweise dabei. – »Meinetwegen kann er hingehen, wo er mag«, sagte Iver, und Elen sagte, sie wisse nicht, ob er sich von ihr noch etwas dreinreden lasse.

Für Odin war es, als käme er wieder in das wildeste Kjelvika hinaus, er fühlte sich wie ein kleines und verwildertes Wesen, dem sich ein Erlebnis nach dem anderen aufdrängte und das nie damit fertig wurde; jetzt war das Abenteuer hier und nicht dort.

Sie saßen oft im finstern Dachraum oben, die Burschen untereinander, in einem unglaublich großen und weiten Dachraum, mit dem dunklen Gebälk dicht über ihren Köpfen und mit Betten längs den Wänden, und an der einen Wand ging ein Bohr vom Ofen unten herauf, so daß es bei jedem Wetter warm genug war. Die erwachsenen Burschen rauchten, daß das Halbdunkel in blauem Rauch rings um sie stand. Manchmal hatten sie eine Flasche bei sich, und das war die Hauptsache, sie ging, wie die Feierlichkeit selber, zwischen ihnen herum, einmal oder zweimal, dann verschwand sie wieder. Wenn sie ihm wirklich einmal angeboten wurde, traute sich Odin kaum daran zu nippen. Oft saßen sie da und redeten von den Mädchen, nur halbe Worte und Meinungen, die aus dem Dunkel kamen und wieder ins Dunkel versanken, ein kleines Aufleuchten, dann und wann, das fragte und lachte und erzählte. Odin dünkte dies wie die Flasche, so unerlaubt anzuhören und nicht zu entbehren. Die Welt füllte sich mit flüsterndem Dunkel, mit Dachkammern und Betten und langen Nächten, von denen nur wenige wußten; da und dort leuchtete ein Antlitz auf und lachte mit verschmitzten Augen und verschwand wieder. Mittendrin erklang dann wieder die Ziehharmonika: einige kleine Erinnerungen vom Feld und vom Meer draußen und von früheren Zeiten, ein paar Takte aus Tanznächten und von Zukunft und gottlosem Glück; sie zehrten so seltsam süß und weh an einem. In einem Augenblick war man winzig klein und außerhalb, im nächsten trug es Odin im Saus durchs ganze Leben, denn auf ihn und auf niemand anderen hatte es gewartet.

Unten saßen die Mädchen und vertrieben sich auch die Zeit. In den Dachraum wagten sie sich nicht hinauf, wenn die Burschen dort waren. Odin wurde kalt, und er verstand sie: sie mußten sich hier fernhalten. Dann ging es zu ihnen hinunter, und dann spielten sie Weihnachtsspiele im Dunkeln, mit Flüstern und Aufschreien, ein Einfall war dümmer als der andere, und lustig war alles miteinander. Es konnte vorkommen, daß man, ehe man sich's versah, einem Mädchen auf dem Schoß saß und sie ihre Arme einem um den Rücken legte. Mitten drunter zündete Lauris dann plötzlich ein Zündholz an und beleuchtete die beiden. Einmal machte dies ein anderer, und da saßen Lauris und Kristine auf der Bank und hielten einander umschlungen – das tat nichts!

Da erklang die Ziehharmonika wieder und fegte den Himmel rein: Die ganze Welt mit ihrer Herrlichkeit lag vor einem, der kahle Kjelvikastrand und der Sund, auf dem nur der Mondschein schimmerte, und die ganze Gemeinde und alle anderen Gemeinden, wo die Menschen und das Glück wohnten; und ein großer und starker Kerl ragte über alle hinweg und ging seinen Weg – es war wohl unbeschreiblich merkwürdig, erwachsen zu sein! Dann zündeten sie die Lampe an, und dann tanzten sie.

Odin lebte noch die halbe darauffolgende Woche in diesen Erinnerungen. Immer wieder sah er auf einmal den Tanz vor sich: So wiegten sie sich dahin; so schön waren sie, wenn sie sich im Kreise drehten. Kristines Haarschopf leuchtete unter der Lampe auf und auch ihr weißes weiches Gesicht, und so hielt sie den Tänzer umfaßt, wenn es der Lauris war. Seinen Körper durchlief ein kalter Schauer: Zuweilen war der Lauris nachts bei ihr im Dachraum.

An manchen Abenden kam Iver nach Hinter-Vennestad und blieb eine Weile sitzen, und häufig auch ein paar andere von den Nachbarn. Dann gab es keinen Tanz, aber die Abendstunden wurden darum nicht langweiliger. Man saß da und schwätzte. Jeder erzählte, was sich in der Gemeinde zugetragen hatte, jetzt oder in früheren Zeiten. Für Odin war dies wie Geschichte und Abenteuer; er vergaß sich so, daß er gar nicht merkte, wie er mit halboffenem Munde dasaß. Es lag eine solche Macht in dem, was vor sich gegangen war, man fühlte es wie ein schweres Gewicht. Einmal redeten sie von einem von Juwika, einem richtigen Heiden von einem Mann, der die Menschen ins Meer hinausjagte. Ein anderes Mal erzählten sie von dem alten Anders Haaberg; der war auch ein gefährlicher Mensch gewesen. Sie schwiegen, als sie merkten, daß e r dabei war, und er setzte sich auf seinem Stuhl zurecht. Er saß mitten unter ihnen und war ein erwachsener Bursche. Oft gerieten sie in die Politik hinein, und da packten sie einander hart an. Er wunderte sich, daß sie sich nicht wirklich in die Haare gerieten. Eines Abends redeten sie leise und vorsichtig, man konnte nicht klug daraus werden, was sie sagten, nur so viel war zu verstehen, daß sie irgendeinem in der Gemeinde zu Leibe rücken wollten; sie verschworen sich, so dünkte es ihn; irgend etwas würde geschehen, und zwar bald. Odin trug diesen Eindruck lange mit sich herum, rief ihn sich ins Gedächtnis und ließ ihn wachsen, bis er einen Streit über der ganzen Gemeinde sah, wie in den schönsten alten Zeiten. Aber man hörte nichts weiter davon. Sie brachten es wohl doch nicht zum richtigen Feuer, oder was wurde sonst daraus?

Aber trotzdem waren die Leute in der Gemeinde ganz lustig. Sie waren wie die Muscheln, mit denen er früher gespielt hatte, in weiter Ferne gleichsam, aber lebendiger. So hatte er über die Wikinger geherrscht; sie taten das, was er von ihnen verlangte; richteten viele starke Dinge aus.

Dann und wann hörte er von seinem Vater sprechen. Es war nichts weiter von ihm zu erzählen, als was er gesagt oder getan hatte. Sie erwähnten ihn nur wie irgendeinen anderen aus der Gemeinde. Er war nichts Besonderes, soviel Odin verstehen konnte, aber trotzdem hörte es sich so an, als hätte er die anderen besiegt. Erst kürzlich hatte er sich einen kleinen Hof auf dieser Seite des Fjords gekauft, hatte ihn zu einem schamlos hohen Preis gekauft und sich sogar hinterher noch mit offenen Augen betrügen lassen, und dort hauste er nun und schreinerte. Es hieß, daß er das eine oder andere Stück an reiche Leute in der Stadt verkaufe. Er war für sie ein seltsamer Kauz. Odin fand, das mache nichts aus.

In diesem Jahr kam der Sommer ganz plötzlich, mit Mairegen und Juniwärme, es grünte und blühte auf Feldern und Wiesen, so daß die Menschen kaum ihren Augen trauten. Die Sonnentage lagen über dem Land und hielten die ganze Woche hindurch Feiertage, und der sommergrüne Glanz zitterte über Wiese und Wald, es war so recht ein junges und übermütiges Glück. Bisweilen regnete es. Ströme von Wasser kamen herab, eine wohltätige Flut, es schimmerte in Feuchtigkeit und Wachstum, daß einem ganz übermütig und unerschrocken zumute wurde. Dann herrschte wieder blanker Sonnenschein.

In der Johannisnacht waren die jungen Leute auf der Tanzwiese. Diese Nacht war die blaueste und schönste Nacht, die Odin je erlebt hatte. Die Niederungen verschwanden in weißen Nebelschwaden, aber der Wald und die Höfe lebten im Schlaf mit neuen Gesichtern auf und die Berge ringsum standen groß und still da und erblauten. Weit draußen sah man die Schäre gegen den Himmel.

Odin tanzte nicht viel. Beim Tanz verschwand er so in der Menge. Er stand lieber da und sah zu und hörte die Meisen zwischen den Bergen aufklingen; sie fingen den Ton so tief und einsam auf. Da erblickte er Karen-Anna unter den anderen. Sie tanzte so lustig wie nur irgendeine. Gleichsam als wäre sie nie draußen auf der Wiese von Kjelvika gewesen.

Er ging auf die Anhöhe hinauf, wo das Feuer brannte, setzte sich dorthin und betrachtete die Feuer der anderen Gemeinden, wo eine andere Jugend ihre Freuden hatte. Er wünschte sich auf die Kjelvikaweide zurück. – »Aber einmal werde ich hinuntergehen und tanzen, Burschen!« sagte er plötzlich. »Es hat keine Eile damit, aber einmal werde ich es tun.« – »Wohl erst dann, wenn dein Vater die Versicherung bekommen hat?« fragte einer. Odin starrte ihn an. – »Laß das aus dem Spiel«, sagte Lauris – er hat noch nichts davon gehört. Komm, Odin!« sagte er und schickte sich an, den Hang hinunterzugehen.

Aber Odin wollte es wissen. Sein Herz hatte zu klopfen angefangen, er hörte das und wunderte sich darüber. – »So, du weißt nicht, daß er in der vorigen Nacht die Häuser auf seinem Hof angezündet hat? Daß sie verbrannt sind, richtiger gesagt. Entweder wird er nun reich, oder –«

»Du lügst!« fuhr Odin drein. Und ehe er sich's versah, war er mitten im heißen Krieg. Ganz wild ging er auf die anderen los, er war so wütend, daß das Schluchzen ihn fast erstickte. – »Du lügst!« war das einzige, was er hervorbrachte. Ihm schwebte der Gedanke vor, daß sie gehorchen und schweigen müßten, er schlug nach dem ersten besten, der nur den Mund zu einem Lächeln verzog. Schließlich griff er nach einem Prügel. Endlich hatten die anderen ihn untergekriegt und gaben ihm das, was ihm gebührte.

Da kam Lauris und rettete ihn. Er ging sogar mit. ihm bis zum Bach hinunter und wusch ihm das Blut ab. Erwachsene Leute kamen hinzu, blieben stehen und schwiegen, oder sie sagten irgend etwas. Da schaut Odin auf, begegnet ein paar gedankenarmen Gesichtern und lächelt ihnen zu. Dann geht er zur Tanzwiese hinüber und tanzt bis in den hellen Morgen hinein.

Tagsüber schlief er, ging dann in die Küche und holte sich etwas zu essen, und dann machte er sich auf den Weg nach Osten. Auf einmal kam der Vater hinter ihm her. Zuerst wußte er nicht, was es war, fühlte nur eine leise Unruhe in sich, meinte stehenbleiben zu müssen, tat es aber nicht. Jetzt war er da und grüßte. – Sein Bart und sein Gesicht sind wie bei Jesus, dachte Odin, wozu soll das gut sein? Sie gingen Seite an Seite weiter.

Während Odin schlief, hatte es geregnet. Schwarz glänzten die regennassen Felsen, die wie geschliffen in der Sonne dalagen. Nach und nach warfen sie die Strahlen geradeswegs zurück und blendeten die Augen; nach einiger Zeit verschwand die Sonne wieder. Es kam ein neuer Schauer.

Der Vater ging dahin und sah zu Boden, aber er räusperte sich ab und zu, und Odin fühlte, daß er jetzt bald etwas fragen würde. – »Nun, du bist also heute nacht auf der Tanzwiese gewesen«, sagte Otte. – »Ja, versteht sich. Ich geriet in eine Rauferei, du hast es wohl gehört?« – »Ja, ein wenig davon.« Jetzt wendete der Vater Odin das Gesicht zu. Es war fein und still, Odin hatte etwas Ähnliches noch nie gesehen. Der Bart war weich wie Seide. Otte lächelte wie ein junger Bursche: – »Ja, so ist es wohl, Odin. Aber du solltest größer sein als sie. Du darfst nie hart auf hart setzen, wenn du jetzt einmal erwachsen sein willst. Es ist nicht anders, als wenn du mit einem Schornsteinfeger raufst: du kannst zwar siegen, aber du wirst schwarz dabei. Wer erwachsen genug ist, der hält lieber die andere Seite hin, wenn man ihn schlagen will.«

Odin dachte im Weitergehen über diese Worte nach, und dann sagte er: »Hat es bei dir gebrannt?« – »Ja, Odin, das hat es. Bis auf den letzten Fetzen ist alles verbrannt. Und jetzt wollen sie mich zum Dieb stempeln; sie behaupten, ich hätte selber das Feuer gelegt.« – »Ja?« – »Mögen sie doch, die Wahrheit kommt schließlich doch heraus.«

Odin bekam brennrote Flecke auf den Wangen. Er lachte, doch es klang hart.

»Ja, ich kenne das. Aber es schmeckt mir nicht – pfui Teufel!«

Otte ging weiter und sah ihn unverwandt an. Seine Stirn zog sich zu feinen kleinen Falten zusammen, und unter seinen Augen kräuselte sich die Haut, er war wohl dem Lachen nahe.

Jetzt standen die Regenwolken über ihnen, und Odin mußte umkehren. Die Wolken türmten sich wie Felswände über den Felswänden ringsum auf, und das Land darunter war dunkelgrün, wandte einem ein schwermütiges Antlitz zu. Die Klippen und der felsige Strand jenseits des Fjords leuchteten unter dem Regenschauer seltsam weiß und nahe auf, gleichsam als wollten sie sagen, daß sie so seien und nicht anders. – Odin war bis auf die Haut durchnäßt, noch ehe er heimkam. Er lief und lachte, während ihm der Regen über das Gesicht herunterrann: – »Es war nur gut, daß ich es doch noch gesagt habe!«

Während seiner Abwesenheit war Ola Haaberg dagewesen und hatte mit Elen geredet. Sie sagte nicht eher etwas davon, als bis sie unter vier Augen mit ihm war, indes er gerade die Kleider wechselte. – »Sag mir nur, Odin, was möchtest du am liebsten werden?« – »Werden?« – »Ja, der Ola Haaberg war hier, der Oheim. Er gehöre nicht zu denen, die den Menschen um jeden Preis helfen wollen, sagte er. Aber aus dir könne vielleicht etwas werden; wenn du dich zusammennehmen willst.« – »Ja, schön, heute nacht habe ich mich mit den anderen herumgeprügelt, sie kamen und sagten, der Vater sei ein Lump.« – »Ola hat es erzählt.« Elen sah ihn schwermütig an. »Wenn du fortgehen und etwas lernen wolltest, sagte er, so wolle er sehen, was sich tun ließe. Wenn du dich so aufführst, daß du konfirmiert wirst, sagte er noch. Denn du warst tüchtig auf der Schule.«

Odin sah, wie Angst und Freude zugleich in ihrem Gesicht miteinander stritten.

»Dann will ich zur See!« sagte er.

»Das darfst du nicht, Odin! Du darfst nicht von mir fortreisen!«

»Nein, du weißt ja, es war auch nicht mein Ernst.« Er sah sie noch einmal an. »Glaubst du nicht, daß aus mir etwas Ordentliches wird?«

Es klang ein so starkes Versprechen durch diese Worte, sie wunderte sich nicht, daß er sich jäh abwandte und ging.

3

Eines Abends ruderten Odin und Lauris gemeinsam zum Fischen hinaus. Übrigens saß jeder in seinem eigenen Boot.

Das Wetter war klar, und die Fische bissen nicht gut an, sie mußten weit hinausrudern, ehe sie etwas Brauchbares fingen. Rings um alle Schären und am Strand herrschte silberblanke Sommernacht, und der Gutwetterdunst verwandelte das Land, so daß es unendlich weit entfernt zu sein schien. Der Gedanke an die Menschen dort war wie ein Traum.

Auch in dieser Nacht wußte Lauris nicht viel zu reden. Es war ein wenig still geworden zwischen den beiden seit jenem letzten Abend im Sommer, da Odin den anderen rettete: Sie ruderten damals um die Wette hinaus, es galt stets als Erster an den Fischschwarm zu kommen, wenn er sich irgendwo zeigte; das Wetter war still, aber es herrschte ein wenig Dünung. Da schwenkt Lauris zu knapp bei der Blindschäre ein, und im selben Augenblick bricht sich die Dünung und erfaßt ihn. Der Sturzsee selber entkam er, aber das Boot wurde von der See fortgerissen, und ehe man's recht begriff, lag es kieloben auf dem Wasser. Odin ruderte rasch hinzu und holte Lauris herein, dann drehten sie das Boot um und sammelten alles auf, was auf dem Wasser schwamm. Sie lachten, als es überstanden war, und Lauris nicht am wenigsten. Aber Odin merkte nach und nach, daß Lauris immer wieder darüber nachdachte und nicht zufrieden damit war. Ein paarmal hatte er Odin vorgeworfen, daß dieser es daheim erzählt habe. Odin hatte es erzählt; das war doch ein ganz schöner Fischzug gewesen? Nun war es zu spät, sich darüber zu ärgern – und wer ihm etwas nachtrug, der konnte ihn gern haben; das war zum Lachen. Außerdem kitzelte ihn immer wieder der Gedanke: was konnte Lauris ihm denn schließlich dafür antun? Warum rückte er nicht damit heraus? Aber sie waren Freunde geworden. Lauris war ein guter Mensch, tief drinnen im Innersten, fand Odin.

Die Fische wollten nicht mehr anbeißen, und die beiden Burschen lagen vor der Bucht und dachten ans Heimrudern. Da fing Lauris an, von den Mädchen zu reden. Er zündete sich eine Pfeife an, saß da und warf von Zeit zu Zeit einen Blick auf Odin. – »Du!« meinte er und sah dem Bauch nach. »Du bist doch noch nie bei einem Mädchen gewesen. Nein, aber ich weiß von einer, ich, da können die andern einpacken! Hier, oben in Vika, Junge! Erinnerst du dich an sie? Die Karen-Anna Jörnstranda, Karen-Anna Jensen, wie sie sich jetzt nennt. Wenn du abends heimgerudert bist – he, hast du nie gemerkt, daß ich dann hier zurückblieb?« – »Bist du denn bei ihr gewesen?« – »Ja, freilich war ich das, wer sonst?« – »Ja, ja, aber. Aber du hast doch nicht bei ihr liegen dürfen?« Es klang, als sei Odin aufgewacht und wisse nicht, wo er sei. – »Ja, was denn sonst?« Lauris runzelte die Stirn. »Aber wie es dir in diesem Punkte gehen würde, das ist eine andere Frage. Übrigens, die will ich allein für mich haben. Sie ist sechzehn Jahre alt, gerade im rechten Alter.«

Odin erinnerte sich, daß Karen-Anna im vergangenen Jahr konfirmiert worden war, zusammen mit Kristine. Sie stand so nachdenklich in der Kirche. Sie war schöner als alle anderen. Und er war der einzige, der dies sah. Aber seit der Zeit hatte er nicht mehr an sie gedacht, hatte es nur so in sich herumgetragen und gewußt, daß irgendwo ein guter und kostbarer Schatz liege. Lauris war nicht bei ihr gewesen, er log, so wahr er dasaß. Bei Kristine war er gewesen, das war eine andere Sache.

»Wollen wir hinrudern?« fragte Lauris. Odin wurde rot: Das könnten sie ja immerhin tun. Und sie taten es. Als sie an der Bootslände waren, sagte Lauris: »Nun, soll ich? – oder du? Denn einer muß aufs Boot aufpassen, weißt du; der kann dann auch zugleich die Fische ausnehmen.« Odin versuchte nachzudenken, aber die Gedanken fuhren ihm durcheinander, und so sprang er an Land.

Er mußte hin. Wie etwas Altbekanntes und Feststehendes wurde ihm nun klar, daß er und Lauris um ein Mädchen kämpfen mußten, daß sie vielleicht bis aufs Blut kämpfen mußten, bis auf den letzten Blutstropfen, denn das war Jugend und Leben, und so hatten es auch die Alten getrieben, das fühlte er. Und das sollte die Kristine wissen, und die Karen-Anna gehörte ihm und keinem anderen – und wie war es denn eigentlich, wenn man so zu einem Mädchen kam? – Du mußt es einmal mitmachen, was bist du sonst wert? sagte er zu sich selber, und dann war kein Halten mehr: den Weg hinauf und über den Hofplatz, geradeswegs zur Scheune hin. Alles stand still und sah ihm nach, die Blumen und die Häuser und die Berge standen still und wunderten sich. Was war nur in den Odin gefahren? Er hielt inne und holte Atem, fühlte, wie ihm das Herz klopfte – und warum traute sich denn der Lauris nicht? Aufs Boot aufpassen? Ach, glaub's doch nicht! Das Herzklopfen riß ihn weiter. Jetzt stieg er zur Scheune hinauf und trat durch die Türe. Genau so mußte es sein, wenn man der Lauris war, ein freier Bursche, und kein Hindernis kannte. Ein merkwürdiges Leben.

Sie lag allein dort und schlief. Er setzte sich zu ihr. Sie erschrak zuerst sehr, denn sie erkannte ihn nicht. Endlich machte sie ihm Platz.

»Ja, bist du es denn?« fragte sie.

»Ja, freilich bin ich's.«

»Bist du allein? Warst du nicht zusammen mit dem Lauris auf dem Meer?«

»Ach so, du weißt über den Burschen Bescheid? Ja, er sitzt drunten und paßt aufs Boot auf. Wenn er nicht gerade bei einem anderen Mädchen ist, der treibt sich überall herum.«

»Das glaube ich nicht. Ja, übrigens – –«

Sie ist ein wenig still. Kaum daß sie ihre Hand unter seinen Kopf legt.

»Hast du nicht geglaubt, daß ich komme? Hast du geglaubt, es sei der Lauris?«

»Ich weiß nicht.«

Sie war so fein und gut. Sie kannte kein Unrecht. Er liegt lange Zeit da, denkt nicht daran, sie zu berühren. Ihm ist, als würde er wie sie. Jetzt aber fühlt sie wohl, daß sie ihm gehört, so wie sie es früher gefühlt hatte; sie legt den Arm um seinen Hals; sie atmet dicht an ihn gedrückt, noch dichter an ihn gedrückt.

– – – Er hatte geschlafen, sprang auf und lief zur Tür. Die Sonne scheint auf allen Bergen, und die Vögel schreien draußen schon laut. Es ist Tag. Er hört, wie sie lacht, ihr altes Schelmenlachen, und er sieht ihre Augen vor sich, sie glänzen blank und sind voller Übermut, jetzt, da er so spät daran ist und fortlaufen will. Aber daß sie jetzt lachen konnte? Denn das hätte Kristine machen können. – »Gute Nacht also!« Er suchte nach seiner Mütze und lief fort. Er hörte, wie sie ihm »Nacht« nachrief. Der Morgenduft war wie ein Hindernis, durch das er hindurchmußte. Er legte sich einem wie eine süße Last auf die Brust und verwirrte die Gedanken.

Das Boot war nicht da. War nirgends zu sehen. Nein, er hätte das auch nicht erwarten sollen, es war jetzt hellichter Tag, und Lauris und er waren keine Freunde und sollten es nicht einmal sein. Odin stand ruhig da und lächelte: Konnte Lauris nicht auf schlimmere Streiche verfallen? Er konnte ja den Landweg gehen und hatte Überfluß an Zeit. Alles andere würde sich schon finden.

Auf dem Heimweg begegnet er drei Männern, die auf den Barschfang wollten. Er begegnet ihnen gerade bei einer Wegbiegung, macht sich dickhäutig und grüßt, gleichsam als käme er von der Kirche oder vom Kramladen. – Aha, er war schon unterwegs? Um diese Zeit? Sie standen da, machten die Augen klein und waren glücklich, und er antwortete mit dem gleichen Blinzeln. Er hätte ihnen gerne mit Worten eingestanden, woher er kam.

Er ging den Richtweg über das Moor zur Haaberg-Bucht und traf Lauris noch an, der gerade erst die Tür zum Bootsschuppen aufgemacht hatte. – »Du bist ja überhaupt nicht mehr gekommen«, sagte Lauris. Odin lachte nur. Und jetzt war es gleich etwas ganz anderes, an Karen-Anna und an die Nacht in der Scheune zu denken. Nein, er hatte es nicht geträumt, ihn mochte sie und nicht den Lauris. Und wenn etwas Unrechtes daran war, so stand er hier.

Sie brachten das Boot in die Hütte, nahmen die Fische und gingen. Lauris fragte nicht. Sie waren zwei erwachsene Burschen; und sie vertrugen sich gut.

Nicht lange darauf begann Kristine nach ihm zu sehen, Wenn sie in seine Nähe kam, und eines Abends fragte sie, wie es denn in Vika ginge.

Odin erschrak darüber nicht. Aber er erschrak darüber, daß er nun bereit war, sich auch mit ihr einzulassen. Denn wohin würde es führen, wenn er das täte? Da wäre der Lauris wieder zu klein geworden. Und keiner hätte sich darüber gefreut. – »Und du, der morgen vor dem Pfarrer stehen soll?« lachte sie, sie sah ihn von oben bis unten an. Er merkte, wie er rot wurde, und ärgerte sich darüber.

Später kamen ihm verschiedene Gerüchte zu Ohren. Eines Abends nahm ihn die Mutter unter vier Augen vor: »Odin, es ist doch wohl nicht wahr, was man sich von dir erzählt?« – Unberührt stand er da und sah sie an. – »Alan sagt, du seist bei diesem Fratz in Vika gewesen?« – »Du bist wohl nicht recht bei Trost!« lachte er. – »Nein, nein, ich wußte ja, daß es nicht wahr sei. Jetzt, da du gerade konfirmiert werden sollst. Und so etwas tust du überhaupt nicht, das weiß ich.« – »Nein, ich glaub's auch nicht.« – »Du redest die Wahrheit, nicht wahr? Mir gegenüber?« Odin bekam rote Flecke auf den Wangen, aber er lächelte nur: – »Ich werde doch nicht mein ganzes Leben lang schwindeln?« Da glaubte sie ihm. Diesmal bin ich ihr zu stark gewesen, dachte er.

Denn es war eine Frage der Macht, das erkannte er jetzt und wunderte sich darüber. Das war es, was man brauchte. Denn alles andere war nichts. Da blieb man einer wie – ja, wie der Vater!

»Es schmeckt mir nicht!« sagte er. »Und die Karen-Anna – da können die anderen einpacken.«

4

Doch am Samstag vor der Konfirmation wurde er, gerade als sie heimgehen wollten, zum Pfarrer hinaufgebeten. Der Pfarrer saß am Tisch und drehte ihm den Rücken zu, bat ihn jedoch, sich zu setzen. Odin war mehr neugierig als ängstlich. Entweder handelte es sich um das eine, oder es war etwas ganz Besonderes, etwas von der Art, wie der Küster der Mutter gegenüber erwähnt hatte. Jetzt drehte sich der Pfarrer um. Da sah Odin, was es war; und ein Zittern fuhr ihm bis in die Knie und Waden hinunter.

Der Pfarrer hatte etwas über ihn gehört. Er wollte, daß es nicht wahr wäre; denn Odin war ein guter Konfirmand gewesen, ein sehr guter Konfirmand, und hatte den Eindruck gemacht, als habe er eine Zukunft vor sich.

Odin zog seinen Blick zurück, aber wie ganz von selber sah er den Pfarrer wieder an und hielt dessen Blick stand.

»Jetzt frage ich dich, Odin: Warst du in der Scheune bei einem Mädchen in – ja, wo war es doch?«

»Wie soll ich das wissen?« wollte Odin gerade antworten, er stand gleichsam in den Kleidern eines anderen da. »In Vika vermutlich«, sagte er leise.

»Es ist also wirklich wahr?«

»Ja, ich leugne es nicht.«

Der Pfarrer sah ihn genau an, versuchte in ihn einzudringen.

»Du weißt, was das bedeutet, Odin?«

Odin schwieg. Der Pfarrer sprach jetzt eine ganze Menge, er stand auf und ging in dem kleinen Baum auf und ab, und Odin stand da und vernahm alles wie im Traum. Einmal mußte es doch wohl aufhören? Jetzt schien dem Pfarrer der Atem auszugehen, er blieb dicht vor ihm stehen und sah zu Boden; er war ganz rot über dem schwarzgrauen Bart:

»Geschah – – geschah etwas, das – –«

Odin schwieg eine Weile. Dann sah er zur Wand hinüber:

»Und wenn es so wäre, würde ich es doch nicht sagen. Um ihretwillen. Im übrigen sind wir verlobt, sozusagen.«

Rings um ihn wurde es neblig, und alles schien ihm so gleichgültig; einen Augenblick lang sah er Karen-Anna vor sich, und dann die Mutter; sie flossen ineinander und waren dann verschwunden, und jetzt stand er mutterseelenallein vor dem Pfarrer. Der Pfarrer redete jetzt nicht mehr freundlich, und nun kam es, das harte Wort: Er wollte ihn nicht konfirmieren! Die Jugend in der Gemeinde hier war bisher eine Musterjugend gewesen, jetzt aber war es beinahe ein Sodom und Gomorrha. Und er wollte keine Schuld haben. Odin könne gehen!

Odin konnte sich noch ganz gefaßt verabschieden, und auf der Treppe lächelte er sogar vor sich hin: Soso, so trieben sie es also in Sodom und Gomorrha? Aber als er draußen vor dem Haus stand, sagte er zu sich selber: Jetzt geht's ganz schief, Odin, jetzt bist du zurückgewiesen und abgetan! Du wirst sehen, noch ehe du heimkommst, ist dir das Herz in die Hose gerutscht. Er redete die ganze Zeit auf dem Heimweg laut mit sich selber, anders konnte er seine Gedanken nicht klären. – Die Leute werden das nie verstehen. Dazu müßten sie an meiner Stelle sein. Aber du wirst schon damit fertig. Du brauchst dich nicht um sie zu kümmern.

Er begegnete Astri Haaberg, seiner Base, die wollte gerade nach Segelsund zum Landhändler, so daß sie ein Stückweit den gleichen Weg hatten. Sie war im vergangenen Jahr konfirmiert worden. Er hatte nie auch nur im geringsten auf sie geachtet, hatte sich nichts daraus gemacht, mit denen verwandt zu sein. Sie war sehr ernsthaft, und auf einmal sagte sie: »Ist es wahr, hat man dich zurückgewiesen, Odin?« – »Was geht das dich an?« – »Nein, du hast recht. Aber wir sind doch Geschwisterkinder. Das war doch eigentlich kein Grund, dich hinauszuschmeißen, finde ich – und wer hat es eigentlich dem Pfarrer zugesteckt, was meinst du?«

Er mußte sie anschauen. Sie hatte ein merkwürdig unerschrockenes Gesicht, aber irgendwo beim Mund hatte sie einen weichen Zug – ihr war es ernst damit, wenn sie sagte, daß sie zur gleichen Sippe gehörte wie er. Sie sagte noch verschiedenes – er begriff nicht alles, aber ihm tat es gut, es zu hören. Er mußte rascher gehen, eigentlich hätte er schon viel weiter sein müssen.

»Na, nun kann sie ja ihre Freude haben an ihrem Bankert, die Mutter! Jetzt kann sie ja ihre Freude haben!« Er hörte, daß er laut sprach, aber schließlich war es ja gleichgültig, schließlich durften auch zwei es hören.

»Ja, das ist traurig.«

Er hörte, wie sie sich verabschiedete, und jetzt stand sie wohl da und sah ihm nach. Ja, die tat sich leicht!

Als er daheim in die Küche kam, hörte er den Stiefvater, wie er gerade mit der Mutter zankte:

»Wie wäre es, wenn du selber auch einmal einen Torfsack holtest, was meinst du?«

Auf Odin gaben sie kaum acht.

»Ja, jetzt hat mich der Pfarrer zurückgewiesen!« sagte er.

Sie drehten sich kaum nach ihm um, meinten, er rede irgendwelchen Unsinn.

»Doch, doch, es ist mein Ernst. Für dieses Jahr ist's mit der Konfirmation vorbei.«

Elen sah, daß er die Wahrheit sprach, obwohl er ganz gleichgültig dastand, und Iver wiederum sah es ihr an. »Der Grund?« grinste Odin. Der würde ihnen noch früh genug hinterbracht werden; schön sei er nicht. Kristine war ebenfalls in der Küche, gewahrte er nun, sie stand bei der Bank und schaute hinaus. Sie drehte sich auch jetzt nicht herum. – »Plagt ihn doch jetzt nicht mit dem Erzählen«, sagte sie, »und im übrigen wißt ihr es ja ohnehin schon.« Sie trug eine helle Jacke und hatte einen schwarzen Lackgürtel um die Mitte. In ihrem Haar steckte ein großer Kamm von der gleichen Farbe wie das Haar. Den hatte sie wohl von Lauris bekommen. Im selben Augenblick lächelte Odin, sein Gesicht war steif wie Holz: Das also war Lauris' Absicht gewesen, und sie hatte ihm dabei geholfen. Es brachte sofort Erleichterung, als er dies erkannte.

Iver geht hinaus. Er lächelt der Mutter teuflisch zu.

Da wurde Odin wütend, ballte die Faust und rief hinter ihm her: »Dich will ich schon noch klein kriegen, dir will ich's einmal so zeigen, daß du's nicht so schnell vergißt, du – –«

Sein Blick fiel auf die Mutter, die ihn anstarrte, als habe sie ihn noch nie gesehen; er fühlte eine brennende Lust, die ganze Sache noch schlimmer zu machen, etwas zu tun, was ganz verrückt und was ein schweres Unrecht gegen sie gewesen wäre; aber er steckte die Fäuste in die Taschen und ließ es sein. Er wußte nicht, ob es sich wirklich so verhielt, doch ihn dünkte, sie sähe weiter in ihn hinein denn je, so tief ängstlich um ihn und dennoch seiner froh. Und Kristine blinzelte vor lauter Staunen und betrachtete ihn von oben bis unten, kam gleichsam immer näher und näher an ihn heran.

Die Mutter stellte ihm etwas zu essen hin, und Kristine ging ihrer Wege. Als er einmal vom Essen aufsah und zur Mutter hinblickte, bemerkte er, daß sie geweint hatte. Er erinnerte sich an den Konfirmandenanzug, den sie für ihn hergerichtet hatte, den ganzen Sommer hindurch hatte sie dafür gespart und auf die Seite gelegt; er war aus feinstem dunkelblauen Tuch.

»Warum hast du eigentlich damals geleugnet, als ich dich fragte?« sagte sie. »Daß du gelogen hast! Und dazu mir gegenüber! Das hätte ich nicht von dir geglaubt, Odin.«

»Ich noch weniger!« Da fliegt das Lächeln wie ein kalter Hauch über sein Gesicht. »Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens – das muß es wohl sein. Ich begreife es nicht. Aber konfirmiert werde ich auf alle Fälle; nächstes Jahr.«

Elen fragte, ob er gehört habe, daß Otte Setran gestern wieder beim Verhör gewesen sei? Daß er seine Häuser absichtlich angezündet habe? – »Glaubst du es denn?« fragte er. – Sie wußte nicht, was sie glauben sollte. Sie wußte gar nichts mehr. Odin blieb sitzen, als denke er nach.

Noch ehe Odin mit dem Essen fertig war, kam Iver herein und hinter ihm Kristine und die Magd, und sie verbreiteten helles Entsetzen in der Küche: Der Bär war ins Land gekommen, er hauste in den Bergen und zerriß die Schafe. Von Nesse und von anderen Höfen her hatte man Nachricht gesandt, und wer seine Schafe noch nicht daheim hatte, der mußte sich jetzt eiligst auf die Reine machen. Iver fuhr in seine Joppe, er wußte nicht, wo er zuerst hinlaufen sollte: »Wir sollten zu den Nachbarn senden – wir sollten Leute mitnehmen! Aber drüben auf Hinter-Vennestad holen sie ja ihre Schafe jeden Abend in den Sommerstall, und die Männer dort sind nicht daheim.«

Odin zog sich um und war draußen, noch ehe Iver die richtigen Stiefel an den Füßen hatte. – »Es wird wohl das beste sein, wenn wir uns beeilen?« sagte er, – es wurde schon bald Nacht. Iver ergriff die Axt und kam nach, denn er besaß keine Büchse. – »Die Axt?« meinte Odin erstaunt. – »Ja, fürchtest du dich vielleicht?«

Nun zogen sie los. Die Weiber wagten kaum bis ans letzte Haus zu folgen.

Der Himmel war bewölkt, und es raschelte leise und regnete, und der Westwind jagte gleichmäßig über das Land hin. Iver und Odin liefen mehr als sie gingen, den Feldweg entlang und den Hang hinauf. Im Wald war es bereits dunkel. Immer und immer wieder blieben sie stehen und lauschten. Keine Glocke. Die Schafe hatten sich in den letzten Tagen hier am Waldrand aufgehalten, und nun waren sie vermutlich weiter nach Westen gezogen, dem Wind entgegen. »Sie können auch weiter im Osten sein«, meinte Odin, denn dort hatte er sie im vergangenen Herbst ein paarmal gefunden, in einem Bergeinschnitt, wo sie Schutz vor dem Wetter suchten.

Immer und immer wieder hörten sie etwas im Wald hinter sich rascheln, und dann und wann trabte es schwer und entfernte sich wieder; und auf einmal hörten sie ihn selber. Er schnaubte und brummte, so daß einem das Blut erstarren konnte. Iver packte Odin beim Arm. Dann ließ er los und zog die Schultern hoch: Ob es nicht etwa bloß der Wind oben bei den Felsen gewesen war? – »Es war der Wind«, sagte Odin. »Aber wäre es nicht am besten, wenn der eine jetzt nach Westen hinüberginge und der andere einen Bogen nach Osten zum Bergeinschnitt machte?« – »Nein, so dumm bin ich nicht«, sagte Iver, »was täte ich dann, wenn er dort wäre? Wir wollen zuerst nach Osten gehen. – Hast du Angst?« fragte Iver mehrere Male. Und vielleicht zitterte seine Stimme dabei ganz leicht. – »Ja, ein wenig. Aber es ist doch auch ganz lustig. Was meinst du, werden wir ihn wirklich sehen?« – »Schweig still!« sagte Iver. Sie waren lange unterwegs. Odin ging die ganze Zeit voraus. Jetzt hörte er, wie Iver sogar ganz bebend atmete, zwei- oder dreimal mußte er stehenbleiben und seine Notdurft verrichten. Odin wunderte sich nicht darüber, denn Iver war eigentlich Seemann und nicht an Berge und Bären gewöhnt. Aber hier roch es nun nach Schafen zwischen den Tannen, hier waren sie erst kürzlich gewesen.

Auf einmal hörten sie etwas dahinspringen. Wiederum packt Iver Odin beim Arm, und sie bleiben mit einem Ruck stehen. Da ist es Odin, als habe er eine Schafglocke leise klingeln hören, und er läuft dem Ton nach, und Iver, der hinter ihm herrennt, hält ihn zurück: »Du gehst nicht hin, hörst du! Er ist da, du darfst nicht hingehen!« – »Nein, ich laufe!« und schon lief er dahin, schlug einen Bogen um das Geröllfeld und die Schafherde, stieg über ein Gewirr von faulen Zweigen und hohem schlüpfrigen Gras, er weiß nicht, wem er gehorcht, aber das Herz hämmert in ihm und die Freude macht ihn heiß, und es kribbelt ihm am ganzen Körper: dort sind die Schafe, und jetzt rettet er sie, dem Bären mitten vor der Nase weg! Er treibt sie auf die Flucht heimwärts, sieht den Bären in nächster Nähe, greift aber noch besser aus und rennt vor ihm her, schielt über die Schulter zurück, ob er nachkommt, weiß es nicht gewiß und treibt die Schafe noch schneller weiter; es war ein ungeheuer großes und schwarzes Geschöpf.

Iver kam hinterher gestolpert. Er murmelte vor sich hin und sagte immer wieder:

»Gegen Kinder ist er nie so arg! Jetzt haben wir aber Mut und Glück gehabt – er ist uns doch wohl nicht auf den Fersen, oder?«

»Nein, nein!«

Als sie beim Moor unten angelangt waren und den breiten Weg am Wald entlang vor sich hatten, sagte er:

»Ich will noch einen Sprung zu ihm hinübergehen und hören, wie die Sache steht. Zum Pfarrer meine ich – den werden wir schon klein kriegen!«

Odin tat, als höre er nicht.

Doch als sie zum Hof kamen, trat Elen ihnen feiertäglich gekleidet entgegen, und als sie in der Küche saßen und von ihrem Abenteuer mit den Schafen und dem Bären erzählt hatten, sagte sie, sie sei beim Pfarrer gewesen. »Der Ola war übrigens auch dort. – Und das Ende vom Lied ist, daß er versprochen hat, dich trotzdem zu konfirmieren«, sagte sie.

Odin sitzt da und betrachtet die Mutter, ein Zug nach dem anderen zeigt sich auf ihrem Gesicht, aber er hört nur die Hälfte von dem, was sie erzählt, und kümmert sich nicht viel darum. So war sie noch nie gewesen, und so stark und froh ist sie, daß ein Leuchten von ihr ausgeht. Das war es, was er gewußt hatte, sie mußte auch so aussehen können. Von nun an brauchte sie niemand mehr, der für sie einstand.

»Bedankst du dich nicht einmal bei deiner Mutter?« sagte Iver.

Odin sieht ihn an, gleichsam als müsse er darüber nachdenken, was denn das für einer sei; dann schaut er wieder weg.

Kristine stand im Dunkeln draußen vor dem Haus, als er hinausging. Sie legte den Arm um ihn:

»Na, habt ihr den Bären gesehen? Wenn er dich nun angefallen hätte?«

»Ja, freilich haben wir ihn gesehen. Nein, übrigens, ich glaube doch kaum. Aber ein Tier war es, wir sahen einen Schimmer von ihm, es war irgend etwas Großes und Schwarzes.«

Jetzt aber kam es ihm zum Bewußtsein: mitten in dem Bergeinschnitt lag eine windgefällte Kiefer und wandte ihnen, die vom Westen kamen, die mächtigen schwarzen Wurzeln entgegen; das war wohl der Bär im Dunkeln gewesen. Und an einem stürmischen Abend tappt und raschelt es ja immer im Wald.

»Ist es wirklich wahr, bist du vorgesprungen und hast die Schafe gerettet? Denn der Iver – – «

»– – – dem wäre recht geschehen, wenn er sie alle miteinander verloren hätte, jawohl, und noch mehr dazu.«

»Hast du wirklich bei der Karen-Anna gelegen? Du bist doch ein Mordskerl! Aber es ist ja nur eine Häuslerdirne, Odin!«

Ja, jetzt konnte er mit der Kristine anfangen, was er wollte. Es war ein seltsam süßer und lebendiger Gedanke. Zu gleicher Zeit aber wußte er so klar, daß es Burschen gab oder einmal gegeben hatte, die nur die Hände in die Taschen schoben und es sein ließen, jawohl! Sie ließen es sein. Er lächelte im Dunkeln, so daß er sich fast schämte: »Was hast du von jenen Mädchen, die du haben kannst!« Einen Augenblick lang sieht er ein Gesicht vor sich und dann auch die ganze Gestalt, so flackernd leicht und fein, es ist die Meerfrau aus dem Traum: »Gewinnst du mich, Odin, dann ergeht es dir schlecht; und siegst du nicht über mich, dann geht es auf und ab mit dir.« – »Da kommt jemand!« log er und machte sich von Kristine los.

»Dein Vater war heute abend da!« rief sie ihm nach. »Wollte dich wohl treffen. Deine Mutter war beim Pfarrer.«

Sie hörte ihn nicht antworten und ging darum in die Küche hinein. Dort erzählte sie Iver und Elen das gleiche. Keines von ihnen sagte etwas. Kristine wußte nicht, ob sie überhaupt zugehört hatten. Iver ging hinaus und wollte die Pferde für die Nacht hereinholen, sie waren drüben bei den Eichen in der Nähe der Scheune angepflockt. Auf dem Hofplatz draußen blieb er stehen und rief nach Odin, er solle kommen und ihm helfen. Er erhielt keine Antwort. – »Er muß doch wohl kommen?« murmelte er, denn er war diese Arbeit nicht recht gewöhnt.

Odin hatte keine Lust zu antworten. Er brauchte seinen Frieden, wenigstens ein paar Minuten lang. Es tat gut, so dazustehen, mitten in der Nacht und im Wetter. Da konnte man erfahren, wer man war und wer nicht. Der Sturm brauste in der Dunkelheit wild dahin, mit Wolkenmähnen wie schwarzen Rauch hinter sich – jetzt hob er den Kopf und wieherte über das Land hin. Man konnte dastehen, die Hände in den Taschen, als ginge es einen nichts an. Dann kam es einem gleichsam zugeflogen, das, was man wissen wollte. – »Und der Vater«, sagte er, »er ist vielleicht doch der Stärkste. Er, der es geschehen ließ.« In dem Augenblick kam Iver um die Ecke und lief ins Haus, stürmte gleich darauf wieder mit dem Licht heraus, und Elen hinter ihm her, sie rief etwas, fragte, ob es wahr sei; sie liefen zu den Pferden hinüber. Odin ging nach. Das Licht leuchtete unten an dem großen Graben, beleuchtete einen Pferdeleib, der dort auf dem Rücken lag. Die Stute stand daneben, den Kopf hoch in die Luft gereckt. Jetzt sah Odin die Gesichter der anderen. Sie waren gelb und wie leblos. Rings um sie stand die Dunkelheit.

Das Fohlen war tot. Die Vorderbeine waren gekrümmt, aber die Hinterbeine hielt es steif von sich gestreckt. Der Grabenrand war zerfetzt, und Erde und Sand lagen ringsum verstreut.

Iver und Elen stehen da und sehen einander an, betrachten von Zeit zu Zeit das Tier. – »Dort, dort unten am Rain habe ich es angepflockt«, sagte Iver. – »Ja«, erwiderte Elen und schaute hin. »Aber ich habe es nicht angerührt. Ich habe nicht einmal an das Pferd gedacht.« – »Ja, ich auch nicht«, versicherten Kristine und die Magd, die auch hinzugekommen waren. Elen sah Odin an. Iver hob die Laterne hoch, so daß der Lichtschein gerade auf Odins Gesicht fiel. – »Warum kamst du denn nicht, als ich dir rief?«

»Glaubst du etwa, daß ich es war?« Es klang, als lache er innerlich.

Das Licht stand wie gelbe Glut vor ihm. Da richtete Iver sich auf, und das Licht leuchtete nach einer anderen Richtung. »Ja, ja. Das hat ein Feind gemacht.«

Da durchliefen Odin Erinnerungen aus früheren grauen Tagen: ein Mann, der auf den Fjord hinausgejagt wurde, eine tote Kuh im Meer, ein toter Widder, ein Bursche, der in der Weihnachtsnacht herumstolperte und hinfiel. Und die Dunkelheit wurde lebendig und zottig rings um sie; das Licht vermochte nicht dagegen anzukämpfen. Er hörte Iver murmeln:

»Er hat doch heute abend gesagt, er wolle mir's noch einmal zeigen.«

»Aber du weißt doch – –!« hörte er die Mutter sagen. »Und dann seid ihr doch gleich darauf in den Wald gegangen.«

Iver nahm die Stute beim Halfter und führte sie in den Stall, und die anderen kamen mit. Odin folgte leise pfeifend. Elen kämpfte gegen das Wetter an. Der Wind wollte ihr die Kleider vom Leibe reißen, rüttelte und zerrte an ihr und verunstaltete sie. Odin mochte nicht hinsehen.

»Und es ist doch den ganzen Tag hier keiner vorbeigekommen?« meinte Elen fragend, als sie wieder in der Küche waren. – »Nein, nicht soviel ich gesehen habe. Außer dem Otte Setran«, sagte Kristine. Da stand Iver mit der Laterne in der Türe. Jetzt war er es, der pfiff. Nur ganz leise vor sich hin.

Die Männer von Hinter-Vennestad kamen herüber und halfen das Fohlen aus dem Graben herauszuziehen und es noch in der Nacht abzuhäuten. Odin mußte dabeisein und ihnen leuchten. Iver ließ fast kein Wort fallen, und auch die anderen sagten nicht viel. – Abdecker! dachte Odin. Das war doch wohl die niedrigste Arbeit auf der Welt. Iver mußte man beinahe für einen Hund ansehen, wie er dastand und zog und zerrte; es tat einem fast leid um ihn.

Niemand sprach mehr von Otte Setran, weder in dieser Nacht noch später.

5

Die Konfirmation war rasch und leicht überstanden, fand Odin. Man schaute ihn zwar ein wenig an, aber das war das einzige.

Am Abend trat er in die Kammer und setzte sich, die Mutter war gerade mit ihrem kleinen Kind beschäftigt.

»Du bist so still«, sagte sie.

»So?«

»Du glaubst doch wohl nicht, daß – – daß dein Vater uns das angetan hat? Das Pferd umgepflockt hat?«

»Nein, wer sagt denn das?«

»Es müßte denn sein, daß er es in Gedankenlosigkeit gemacht hat, wenn es sich wirklich so verhält. Er kann doch nicht so schlecht sein!«

»Aber ich habe gewünscht, daß es so gehen sollte!« sagte Odin auf einmal.

»Aber Odin!«

»Doch. Denn ich sah das Pferd drüben am Wiesenrand, als wir in den Wald liefen – ich wünschte ihm den Tod an, das ist wahr! Nur glaubte ich nicht, daß sie mich erhören würden.«

Elen saß lange da und sagte nichts. Die Dämmerung ließ ihr Gesicht grau erscheinen, und die Kammer schien so eng, als könnte man kaum darin atmen. – »Und noch dazu dieses Fohlen«, sagte sie endlich. »Das er so teuer gekauft hatte und an dem wir soviel Freude hatten.« – »Aber ich wollte doch nicht, daß es auch, andere treffen würde«, sagte Odin. Seine Stimme klang eingeschüchtert. »Ich dachte gar nicht an dich«, fügte er hinzu. – »Da siehst du, wie es mit diesen Dingen geht. Nun weißt du es also. Wenn du auch nur einen schlagen willst, triffst du doch zwei oder drei. Ja, schließlich: – ein anderer kann noch schlimmere Dinge wünschen. Aber das, was ich wünsche, trifft niemals ein, das ist nun auch wieder ein Trost.«

Sie saß eine Weile da und sah ins Halbdunkel hinaus. – »Ich habe einmal von einem Mann gehört.« – »Ja?« – »Er wünschte, daß ein Stein vom Berg herabstürze und seine Frau und sein Kind erschlüge. In diesem Augenblick brachte der Herrgott eine ganze Steinlaue ins Rollen, und man hat nie wieder etwas von diesen beiden gesehen!« – »Ist das wirklich wahr, Mutter?« – »Ja, es war sogar der Großvater, wenn du's wissen willst.« Odin blieb sitzen und dachte darüber nach. Dann klang es fast, als lache er: »Merkwürdig, daß es mir genau so ergehen muß wie ihm. War er denn zufrieden, oder –?« – »Das glaube ich nie und nimmer. Er hat es nur schwer überstanden. So hat man mir erzählt, ja.«

Odin stand auf, als einige Zeit vergangen war:

»Ach, Dummheiten! Ich glaube nicht ein Wort davon. Die Aasel, die Großmutter, die kann an so etwas glauben. Auch der Otte Setran, vielleicht.«

»Odin!« Dies klang scharf und auch verletzt. – »Na ja«, fügte sie hinzu, »ich mache mir ja nichts mehr aus ihm, er ist nicht der, für den ich ihn einmal gehalten habe. Aber du solltest doch nicht gegen den Iver aufmucken und ihm etwas Böses anwünschen, das hat der Iver nicht um dich verdient, und um mich auch nicht, daß du's nur weißt, und außerdem ist es häßlich. Jeden Abend bete ich zum Herrgott, er solle einen ordentlichen Jungen aus dir machen, und ich glaube auch noch daran, ganz fest.«

Sie redete lange Zeit, Odin schien es, als fiele es ihr ebenso schwer, aufzuhören wie anzufangen. Schließlich konnte er gar nicht mehr glauben, daß sie es war, die da redete. Aber sie war es dennoch, mehr denn je, und noch dazu dicht bei ihm, ein kleines, wehrloses Frauenzimmer. Man mußte ihr helfen und nicht – –

Er wartete einen Augenblick ab, da sie nichts sagte, und schlüpfte hinaus. Es hatte doch gar keinen Zweck, daß sie soviel nur zu ihm allein sagte. Sie konnte ja schließlich darauf verfallen, etwas zu sagen, was er nicht hören wollte – er wollte nicht so eine Art Schoßkind für sie sein! Da wäre sie nicht mehr die, die sie für ihn gewesen war.

Niemand konnte erklären, wie es mit dem jungen Pferd zugegangen war. Odin glaubte immer wieder, nun sei er endlich zu Ende damit, aber so oft er einem Menschen begegnete, ging das Gerede wieder von neuem an. – »Ich drehe der ganzen Sache einfach den Rücken!« sagte er und tat es auch. Gleich darauf dachte er voll Staunen darüber nach, ob der Vater wirklich so schlecht sein könnte, das Tier beim offenen Graben anzupflocken. Oder ob der Herrgott ihn als sein Werkzeug benützt hatte. Um den zu züchtigen, der Böses wünschte? – »Der Herrgott, ja«, sagte er oft vor sich hin. Er lauschte auf den Sturm und auf das Meeresbrausen, blieb oft stehen und sah rings um sich: Es war alles wirklich schön. Er konnte durch und durch froh werden. Aber den Herrgott selber konnte er nicht zu fassen kriegen. Die anderen hatten ihn gleich bei der Hand, stets und ständig, die konnten mit ihm reden, wann sie wollten. Er mußte doch sehr merkwürdig sein; das war alles, was Odin herausbrachte. – So, so, durchfuhr es ihn oft, er wünschte einen Stein auf sie herab, der Anders Haaberg. Das ist aber allerhand. Und er hat es mit knapper Not überstanden.

Wenn er so vor sich hinschaute, dann war er der alte Anders, und rings um ihn war die alte Zeit ganz geistergrau und warm von unglaublichen Dingen, man konnte geradezu wild werden und unheimliche Lust bekommen, über die ganze Gegend hinzufahren und sie zu zerstören und sie von neuem aufzubauen, man konnte schlimme Sachen wünschen! Dann aber war der Herrgott da und sagte halt, ließ die Steinlaue aufs Geratewohl herabgehen, zeigte sein Antlitz in den Wolken zur Nachtzeit und richtete eine Mauer vor einem auf. Später wurde man dann blind, ja. Kam nicht weiter. Weiter waren sie nicht gekommen, kein einziger. Da zog etwas in ihm, daß er sich ganz kalt werden fühlte: »Aber ich, ich muß doch wohl um einen kleinen Schritt weiterkommen? Ist es nicht so gemeint?«

Das ferne Sausen oben am Hang, das war die Zeit selber, die dahinrann und rann, ohne Ende. Und er?

Ja, aber zunächst gab es hier viel anderes zu denken, und eines mußte er gleich tun: er wollte nach Vika gehen und mit Karen-Anna reden; er mußte hören, wie sie es nahm. Und wenn sie es schwer nahm, so sollte sie doch wissen, daß sie ihn hatte. Sie war jetzt über sechzehn Jahre alt. Er würde nicht die Steinlaue auf sie herabwünschen, wenn es darauf ankam! Er war bis jetzt ein Juwiking gewesen, das erkannte er und lächelte dazu.

Eines Abends stahl er sich hinaus und machte sich auf den Weg. Es war ein gewagtes Stück, denn es war bereits ein wenig Schnee gefallen, und da konnte man leicht feststellen, wo einer hinging. Ja, ja, mochten sie es doch sehen!

Es war ein herrlicher Abend mit Sternen am Himmel, und die Baumwipfel rings um die weißen Äcker standen so nahe um einen herum, jeder Ast hielt unbeweglich still vor lauter Staunen in dem guten Wetter. Das ließ das Blut schneller kreisen.

Doch er fühlte sich unsicher. Manchmal schien es ihm, als treibe es ihn zur Eile, und gleich darauf, wenn er dann rasch dahinschritt, wollte es ihn aufhalten und zur Umkehr bewegen. So etwas war ihm gänzlich unbekannt. Stets hatte er sich angetrieben gefühlt, wenn er etwas tat: Zu beiden Seiten Nebel, heller blinder Nebel, und vor ihm das blaue Licht, dort, wo er hinsollte. So gingen sie ihren Weg, die Alten.

Und jetzt erst durchfuhr es ihn wie ein Messerstich: wenn das Unglück es nun wollte, dann stand es schlimm mit der Karen-Anna, dann hatte sie ihm etwas zu erzählen, und dann blieb ihm nichts anderes übrig, als sie zu heiraten, wenn es an der Zeit war. Denn so war es in Kjelvika, und so sollte es auch in der übrigen Gemeinde sein, ein Wort ist ein Wort und ein Mann ist ein Mann!

Aasel Haaberg? dachte er, während er weiterging – was hat sie mit all dem zu schaffen? Aber er sah sie so deutlich vor sich. Sie starrte ihn an. Er gab ihr den Blick zurück, mitten ins Gesicht; denn hier ging er, und diesen Weg mußte er gehen. Ja, diesen Weg, das wollte sie, aber sie warnte ihn. – »Geh heim und leg dich schlafen!« sagte er.

Er sah Licht in der Küche von Vika, stahl sich ans Fenster und schaute hinein. Karen-Anna war allein drinnen. Sie saß da und nähte an etwas. Es war übrigens nur eine kleine Tischdecke! Ganz rot und gut war Karen-Anna, aber so feierlich über den Brauen und das Gesicht so still. Vielleicht war sie ein so unschuldiges Geschöpf, daß sie so aussah, wenn sie sich unbeobachtet wußte. Niemand hätte geglaubt, daß sie einen mit kleinen Schelmenaugen anlachen konnte, und noch viel weniger hätte man ihr zugetraut, daß einer sie so lange plagen könnte, bis sie gut gegen ihn war.

Die Tür ging fast von selber auf, und Karen-Anna fuhr so zusammen, daß sie vom Stuhl aufsprang. Ihre Augen wollten Ihn nicht erkennen. – »Nein, aber Odin!« flüsterte sie, ganz verwirrt.

Ja, hier war er, und guten Abend und sonst alles Gute! Er setzte sich ruhig hin, suchte Pfeife und Tabak hervor, die er sich in letzter Zeit gekauft hatte: »Hast du Angst vor mir?« Er sah sie lustig an, und dabei flog ein leichtes Zucken über seine Stirn. Sie blickte nur auf ihre Arbeit; und jetzt begann er zu rauchen.

»Nein, Karen-Anna, ich werde gleich wieder gehen. Ich will nur – – mit dir reden. Bist du böse auf mich?«

Sie sah auch jetzt nicht auf, und er wartete ruhig.

»Ich weiß nicht, was ich bin«, antwortete sie endlich.

»Es kann sein, daß du Grund dazu hast. Aber du sollst es trotzdem nicht sein, hörst du!«

Er wartete und rauchte, und jetzt endlich schaute sie auf. Ihre Blicke glitten über ihn hin, Stück für Stück betrachtete sie ihn, gleichsam als mache es ihr Spaß, so langsam zu schauen. Und jetzt war auch wieder das alte Blinken in ihren Augen:

»Man könnte ja fast glauben, der Bendek säße hier!«

»N–ja!« – er mußte ebenfalls lächeln – »aber ich wollte hören, wie es um dich steht – – ich wollte hören, wie du es nimmst?«

Wie Nordlichtschimmer flog das Lächeln über ihr Gesicht, so bleich und still:

»Das kommt doch wohl auf eins heraus.« »Doch nicht so ganz, meine ich. He?«

Sie hatte wieder ihre Arbeit vorgenommen, und er wußte nun nichts mehr zu sagen. Er fragte nur, für wen sie diese Arbeit mache – für ihn vielleicht? Zu Weihnachten? Noch einmal begegneten ihre Blicke den seinen:

»Schleck dir den Mund nur nicht zu früh!«

Da stand er auf und streckte sich, ging ein paar Schritte durch die Küche und kehrte wieder um, schob die Hände tief in die Taschen. Über ihr Gesicht zuckte es einmal ganz flüchtig, jetzt würde er wohl kommen und sie umarmen, er war so froh, es sah aus, als tobe die Freude durch seinen ganzen Körper. Aber er rührte sie nicht an.

»Nein, weiter wollte ich nichts hören. Es steht also nicht schlimm um dich. Das war es, was ich wissen wollte.«

Er machte sich bereit zu gehen. Dann sah er auf die Uhr und gähnte; nun müsse er wohl wieder heimwandern. Ob sie ihn nicht ein Stück weit begleiten könne? Er stellte die Frage, noch ehe er sich's recht überlegt hatte.

»Ich wage es nicht!« sagte sie.

»Nicht?«

»Nein, das – – glaub es nur.«

Sie sah auf, und nun erkannte er es deutlich, sie würde ihm nichts abschlagen, worum er sie bäte. Und sie wurde immer schöner, je länger er sie ansah – wenn er jetzt nicht gleich heimging, würde er es nicht mehr zuwege bringen, sie von sich zu lassen. Auch sie merkte, wie allein sie beide waren. Das machte das Atmen schwer. Ihn dünkte, die ganze Küche warte darauf, daß er etwas sage; ein Wort für Lebenszeit.

»Ist es lange her, seit der Lauris hier bei dir war?« fragte er auf einmal.

»Der Lauris?« Sie blickte ruhig auf und wandte sich dann wieder ihrer Handarbeit zu.

»Ach so, ist der vielleicht gar nicht dagewesen?«

»Nein, davon habe ich nichts gemerkt.«

»Nein, freilich! Aber du mußt ihn recht schön grüßen, wenn er wiederkommt. Nun, gute Nacht also!«

Er hörte nicht, ob sie antwortete.

Wie ein Nebel hingen die Sterne am ganzen Himmel. Die Milchstraße war eine große weiße Brücke von Gebirge zu Gebirge, quer über die Gemeinde hin.

Und da war die Scheune. Und der Heimweg. Jetzt schritt er aus. – »Ja, das war nicht schön von mir«, sagte er zu sich selber; er sagte es ein paarmal, während er über das Moor nach Osten ging. – »Nein, aber ich konnte nicht anders. Ich mußte mich aus dieser Sache herausziehen. Ich kann ja wiederkommen. Wir wollen abwarten und sehen.«

Wer aber stand neben einem und warnte einen, wenn es darauf ankam? Denn an die Geister glaubte er nicht mehr, das tat niemand in der ganzen Gemeinde. – Der Anders Haaberg war doch wirklich ein Krüppel von einem Menschen. Weil er es nicht aushielt, mit einem Lappenmädchen verheiratet zu sein. Für den, der in der Gemeinde vorwärtskommen wollte, war es freilich etwas ganz anderes. Dort waren ja die Alten nie gewesen. Und für den, der die Meerfrau bekam, war es erst recht etwas anderes; für den war es nicht leicht. Er war dazu verurteilt zu verlieren, wenn er mit anderen Menschen zusammenkam.

Er lief dahin, als sei er durchgebrannt, und nach und nach lief er immer schneller, es machte ihm Freude. Es fehlte nicht viel, und er wäre noch weit über Vennestad hinaus gelaufen.

»So!« sagte er, als er auf der Haustreppe daheim stehenblieb. »Jetzt bin ich also da.« Er war durchs Laufen in Schweiß geraten und hatte seine Ruhe wiedergefunden. So ruhig war er schon lange nicht mehr gewesen.

Aber am Tag darauf beobachtete die Mutter ihn aufmerksam. Er kam ihr so unruhig vor. Er merkte, daß sie ihn etwas fragen wollte, und ging deshalb umher und wartete auf diese Frage.

»Wo warst du heute nacht, Odin?« fragte sie.

Er stand da und sah sie offen an, sah, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg.

»Heute nacht, ja. Was ich heute nacht tat, tat ich um deinetwillen! Mehr sage ich nicht darüber.«

Ihre Augen wurden größer und glänzender, es war ein neues Leben in ihnen, sie sahen ihn zugleich ängstlich und erfreut an; sie umfaßten ihn ganz und hielten ihn fest. – Aber sie glaubt sicher, es sei spielend leicht gegangen! dachte er.

»Hier habe ich einen Brief«, sagte er.

Sie blinzelte ein paarmal, erstaunt und scheu.

»An meinen Vater.«

»Was willst du denn von ihm? Jetzt?«

»Es ist nur eine Frage.«

»Ja, ja, Odin. Ich bin nur froh, daß du anders bist als er. Und von mir fortreisen, das tust du mir doch nicht an, nicht wahr?«

»Nein? Das tue ich dir wohl nicht an? Nein, wie gesagt, es ist nur eine Frage.«


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